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Tokio. London. Paris. Malcolm Parker hat sich seinen Traum vom Fliegen erfüllen können. Im engsten Wortsinn: Er ist Pilot. Er verdient gut, die Frauen liegen ihm zu Füßen und jeder bewundert ihn – er hat eigentlich alles erreicht, was er sich vom Leben gewünscht hat. Aber die Nächte fühlen sich immer einsamer an und die Tage viel zu lang. Claire Watefield musste schon vor vielen Jahren ihre Träume begraben. Sie ist desillusioniert und nicht mehr das 16-Jährige Mädchen von damals, das von Malcolm Parker auf einem weißen Ross träumte. Aber heute, 12 Jahre und viele erfüllte und unerfüllte Träume später, stehen sie sich wieder gegenüber. Und Malcolm kann nicht fassen, dass seine kleine Claire nicht mal mehr ein Lächeln für ihn übrig hat. Er erkennt, dass sie wohl der einzige große Traum ist, auf dessen Erfüllung er noch hofft. Der Roman ist ein Einzelband.
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Seitenzahl: 235
Vorwort
Prolog
Malcolm
Claire
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Epilog
Danksagung
Über den Autor
»Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht.«
-Christian Morgenstern (1905) -
Jasmin Schürmann
c/o Autorenbetreuung/Caroline Minn
(Impressumservice)
Kapellenstraße 3
54451 Irsch
Lektorat/Korrektorat: Katrin Schäfer
2. Korrektorat: Anna Werner
Cover/Umschlaggestaltung: Sabrina Dahlenburg
1997
Brooklyn, New York
Claire
»Seid ruhig!«, schrie Mrs. Waters quer durchs Zimmer.
Alle Kinder hörten auf herumzubrüllen und zu schreien. Ich konnte sie sehr gut verstehen. Mrs. Waters sah furchterregend aus. Sie wog sicher so viel wie ein Elefant, roch ganz komisch und guckte total böse. Und obwohl ich erst ein paar Stunden hier war, schien sie mich nicht zu mögen. Gran hatte immer gesagt, dass man jeden, egal wen, mit ganz viel Respekt entgegenkommen sollte. Immerhin erwartete das der andere auch von mir.
»Das ist Claire. Sie wird ab sofort hier mit euch leben.«
Ich biss mir auf meine Unterlippe. Eigentlich sollte ich das nicht machen, aber Gran war nicht mehr da, und wenn ich von so vielen Kindern angestarrt wurde, siegte die Nervosität.
»Ich habe dir die Regeln erklärt«, sprach mich Mrs. Waters jetzt direkt an.
Ich nickte hastig.
Keine Gewalt.
Keine Süßigkeiten.
Keine Lügen.
»Gut, dein Zimmer kennst du bereits. Dann mach dich mit den anderen mal bekannt. Viel Erfolg.«
Keine Ahnung, was sie mit ,Viel Erfolg‘ meinte, aber als sie hinausging und mich allein zurückließ, war es plötzlich gar kein schlechter Gedanke mehr, mit der Elefantenlady mitzugehen.
Hier lebten ungefähr 30 Kinder. Das Waisenhaus an der Baker Street in Brooklyn war längst überfüllt. Aber das Jugendamt hatte keine Ahnung, wohin ich sonst gesteckt werden sollte. Also landete ich doch hier.
»Hey, du! Warum bist du hier? Ist deine Mutter auf Crack?« Drei Jungen, die mindestens ein bis zwei Köpfe größer waren als ich, umzingelten mich sofort. Der Größte von ihnen hatte mich angesprochen und musterte mich aufmerksam. »Heroin?«, fragte er weiter, als ich keine Antwort gab, sondern lieber an meinem Hasen schnüffelte. Er roch immer noch nach Gran und das beruhigte mich.
»Ich rede mit dir!«
»Was ist Heroin?«, fragte ich vorsichtig nach.
Der Große verdrehte genervt die Augen.
»Lass sie in Ruhe, Finnigan!«
Ein Junge, der etwas größer war als ich, stellte sich zwischen mich und die großen Jungs.
»Dein Ernst, Parker? Seit wann interessieren dich kleine Mädchen?«
Ich war ziemlich verwirrt. Dieser Parker sah nicht gerade aus, als wäre er viel älter als ich. Wobei seine Haltung viel erwachsener wirkte. Er hatte kurzes schwarzes Haar und starrte ohne Angst die Jungen an. Mutig war er.
»Seit wann kümmert ihr euch um kleine Mädchen?«, konterte der Junge. »Sucht euch andere Opfer.«
Und tatsächlich ließen die drei Jungen uns in Ruhe und verschwanden.
»Danke. Die haben mir echt Angst gemacht«, sagte ich.
Der Junge drehte sich zu mir um. Wow. Hatte der tolle funkelnde Augen.
»Die sind harmlos, wenn man sie genauer kennt.«
»Ich bin Claire«, stellte ich mich vor. »Meine Gran ist gestorben, deswegen bin ich hier. Ich wusste, dass sie sehr krank war. Und jetzt gibt es keinen mehr, der sich um mich kümmert. Na ja, außer Onkel Hase. Willst du ihn auch mal halten? Er ist total weich, hilft mir immer beim Einschlafen.«
Ich hielt ihm den Hasen hin, aber den schaute er sich nur kurz an.
»Wie alt bist du, Claire?«, fragte er stattdessen.
»Ich bin sieben Jahre alt«, antwortete ich ihm stolz. »Im Dezember werde ich schon acht. Meine Gran hat gesagt, dass ich bald eine junge Lady bin.«
»Für sieben Jahre redest du ganz schön viel.«
»Und wie alt bist du?«, fragte ich.
»Elf.«
»Für elf bist du ganz schön unhöflich. Wie heißt du jetzt eigentlich?«
Der Junge grinste. »Ich bin Malcolm. Aber hier werde ich nur Parker genannt.«
»Warum? Malcolm ist ein schöner Name. Gran hat immer gesagt, man muss seinen Namen mit Stolz tragen. Man hat doch nur einen.«
Malcolm sah mich eine Weile einfach nur an. »Deine Gran ist eine kluge Frau.«
»Sie war die Beste«, verkündete ich stolz und versuchte mich an ihre Regel zu halten: Denke stets mit einem Lächeln an mich und nie mit einer Träne.
Im Augenwinkel erkannte ich die drei Jungen, die zu uns sahen. Alle drei wirkten nicht glücklich.
»Du Malcolm, ich glaube nicht, dass die nett sind. Die gucken so böse.«
Malcolm folgte meinem Blick.
»Ach, mach dir keine Sorgen.«
Wieder schaute er mich an und ich fühlte mich sofort sicher. Auch wenn ich ihm irgendwie nicht glauben konnte.
»Hast du schon den Speiseraum gesehen? Wenn du nachts Hunger bekommst, kann ich dir einen geheimen Weg dorthin zeigen.«
»Aber Mrs. Waters hat gesagt ...«
»Pass auf, Claire. Die erste Regel hier drin lautet: Was Mrs. Waters nicht weiß, macht sie nicht heiß.«
Ich speicherte diese Regel ab und würde die Erinnerung daran nie vergessen, wie meine Lieblingsbonbons, die ich mir abends immer ins Zimmer geschmuggelt hatte, damit Gran nichts davon mitbekam.
So lernte ich also Malcolm Parker kennen, den ersten Jungen, der mir das Gefühl gab, nicht allein auf der Welt zu sein ...
Sie würden mich so verdreschen. Entweder heute Nacht, wenn alle schliefen, oder sie würden darauf warten, mich im Laufe des Tages irgendwann in eine dunkle Ecke zu drücken, um mir da eine Lektion zu verpassen.
Aber ich konnte nicht zulassen, dass sie diesmal eine 7-Jährige verprügelten!
Finnigans Opfer wurden immer jünger, was ganz und gar nicht für den Penner sprach. Man, wie oft hatte ich mich mit denen angelegt? Wenn sie versuchten, mir mein Frühstück zu klauen, oder sie mal wieder meine Hausaufgaben ins Klo spülen wollten. Wenn sie mir dumm kamen, wehrte ich mich bis zum Erbrechen.
Und ehrlich, wer konnte diesem Mädchen überhaupt etwas Böses wollen? Es war schon schlimm genug, dass sie in dieses Loch gekommen war. Aber jetzt auch noch Finnigan? Das würde ich nicht zulassen.
»Ach, mach dir keine Sorgen«, log ich sie an, während Claire die Jungs genau beobachtete.
Ich musste sie ablenken. Sie sollte Finnigan nicht noch wütender machen.
»Hast du schon den Speiseraum gesehen? Wenn du nachts Hunger bekommst, kann ich dir einen geheimen Weg dorthin zeigen.«
Claires Augen wurden kugelrund vor Schreck. Die Augen waren mir als erstes aufgefallen, als sie gerade da vorne stand. Sie hatte ihren Plüschhasen an sich gedrückt und hoffte wohl, im Boden zu versinken. Aber ich konnte nur diese Augen ansehen. Sie waren grasgrün und funkelten wie kleine Diamanten. Wobei Diamanten ja nicht grün waren? Sie glitzerten halt.
Claire war ein hübsches kleines Ding, und ich hoffte nur, dass Finnigan einfach nur eine 7-Jährige mit einem Plüschhasen sah.
»Aber Mrs. Waters hat gesagt ...«, versuchte sie mir zu erklären, aber ich ließ sie nicht mal ausreden.
»Pass auf, Claire. Die erste Regel hier drin lautet: Was Mrs. Waters nicht weiß, macht sie nicht heiß.«
Keine Ahnung, warum ich immer schon Mrs. Waters Worte anzweifelte. Wenn man hier lang genug lebte, lernte man schon früh, wie sehr Mrs. Waters einem am Arsch vorbeigehen konnte.
»Du meinst, wir sollen uns nicht an die Regeln halten?«, fragte sie mich fassungslos.
»Ich sage nur, nicht jeder Erwachsener hat recht. Die wollen uns das nur weismachen.«
Wieder bekam sie diesen ungläubigen Blick. Dann bekamen ihre Augen noch mal eine intensivere Farbe.
»Wow. Wenn das meine Gran wüsste. Und sie wäre total froh, dass du mir geholfen hast, Malcolm. Danke noch mal!« Sie lächelte und sorgte im ersten Augenblick dafür, dass ich völlig sprachlos war.
Wann hatte sich das letzte Mal jemand bei mir bedankt? Wann hatte man mich das letzte Mal mit Malcolm angesprochen?
Claire war ein komisches Mädchen. Sie heulte nicht, sie redete ganz offen über ihre tote Gran, die wohl ihr einziger Vormund gewesen war, und schien über ihr Los nicht gerade traurig zu sein. Lag es daran, weil sie noch nicht wusste, was es bedeutete, in einem Waisenhaus zu leben?
»Ich habe dir doch gesagt, Finnigan und die Jungs sind eigentlich in Ordnung«, log ich sie wieder an. Warum hatte ich das Bedürfnis, ihr die heile Welt vorzuspielen? Vielleicht kam da der Große-Bruder-Komplex aus mir heraus? Immerhin hatte ich nie Geschwister gehabt.
»Ich glaube dir nicht, Malcolm. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn sie uns so böse angucken. Aber du bist größer als ich und ein Junge. Du hast bestimmt auch schon Muskeln. Du beschützt mich. Ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen. Ich bin müde. Bist du morgen auch wieder hier?«
Ich nickte. Am liebsten hätte ich laut gelacht. Wohin sollte ich sonst gehen?
Aber ihre Frage war berechtigt.
Ich konnte erst drei Tage später mein Zimmer wieder verlassen. Finnigan und die Jungs hatten mir diesmal mehr als die Leviten gelesen.
Aber es hatte sich gelohnt. Ich hatte die Schläge eingesteckt, die für Claire bestimmt waren. Und so lernte ich Claire Watefield kennen, die mir meinen ersten Traum erfüllt hatte. Ich war nicht mehr allein …
2017
Boston
»Okay, Samira, was haben wir jetzt alles?«, fragte ich meine Sekretärin und sah auf die Akten, die für mich seit Wochen lebensnotwendig waren.
»Den Kostenvoranschlag haben wir hier, die Modelle auch, dazu genaue Details über das Projekt finden Sie in diesen Ordnern.«
Samira hatte alles genau geordnet. So, wie ich sie drum gebeten hatte.
»Sehr gut. Kopien für die Kunden sind auch dabei?«
»Ja, alle Details sind in zweifacher Ausführung, Miss Watefield.«
»Gut«, seufzte ich zufrieden auf. »Dann sind wir perfekt vorbereitet.«
Samira lächelte zufrieden.
Sie arbeitete jetzt seit zwei Jahren für mich. Seitdem ich das Projekt betreuen durfte. Zwei lange Jahre der Planung, und morgen würde ich endlich unseren Kunden mitteilen können, dass der Bau losgehen würde.
Ein Erfolg, an den ich ab und zu nicht mehr glauben wollte.
Ich sah zufrieden aus dem Panoramafenster. Mein Büro befand sich in der 12. Etage und der Ausblick auf die Stadt war immer noch etwas ganz Besonderes. Ich vergaß oft, wie wenig selbstverständlich das alles war.
»Ihr Flieger geht um drei, die Tickets liegen bereits am Terminal.«
»Danke, Samira. Es ist Zeit für die Mittagspause. Nehmen Sie die, bevor ich noch mit irgendwas anderem komme«, lächelte ich ihr dankbar zu. Ich wusste, dass sie seit letzter Woche quasi Doppelschichten schob. Und das alles würde ich ihr nicht vergessen.
Samira war nur wenige Jahre jünger als ich und war mindestens genauso ehrgeizig wie ich.
»Danke. Möchten Sie vielleicht auch noch etwas essen?«, fragte sie noch nach.
»Nein, nein. Ich werde im Flugzeug etwas essen.«
Dann verschwand sie und ließ mich mit all den nervösen Gedanken allein zurück. Wenn der Wolkenkratzer erst einmal stand, würde es ruhiger werden.
Seufzend stand ich von meinem Schreibtisch auf und legte die Dinge noch einmal zusammen, obwohl alles bereits schon sortiert war. Aber doppelt hielt besser.
»Nervös?«
Simon war hereingekommen und lächelte mich an. Das tat er immer. Er bat Samira jedes mal, ihn nicht anzumelden, und dann stand er plötzlich in meinem Büro. Gut, er war der Boss hier. Wer, wenn nicht er konnte sich das leisten?
»Warum sollte ich nervös sein? Der Deal steht seit zwei Jahren«, antwortete ich ihm und versuchte mich wieder professionell zu verhalten.
Simon war Ende 30, gehörte zu den reichsten Junggesellen in Boston, und war mein Boss. Dazu sah er höllisch attraktiv in diesen Armani-Anzügen aus. Und weil ich wusste, was für eine eine Wirkung ich auf ihn hatte, schliefen wir seit einem halben Jahr miteinander.
»Claire ...«
Simon setzte sich mir gegenüber und blickte mich nachdenklich an. In letzter Zeit machte er das immer wieder. Er wollte versuchen, mich zu lesen. Das jedoch erwies sich als schwierig. Ich zeigte niemanden, wie es wirklich in mir aussah. Denn Schwäche zeigen, war für eine junge Frau in dieser Position das Todesurteil. Nichts ging über die Karriere.
»Ich muss los. Mein Flieger geht gleich. Ich rufe dich heute Abend an, wenn ich angekommen bin«, antwortete ich und packte alle Sachen zusammen.
»Ich kann dich gerne zum Flughafen bringen«, sprach er und stand auch auf.
»Ach was, ich nehme mir ein Taxi.«
Ich lächelte, gab ihm einen Kuss auf die Wange und ließ ihn allein in meinem Büro zurück.
Als ich ein Taxi gefunden hatte und wir losfuhren, war ich erleichtert.
Ich mochte meinen Job, war stolz darauf, es so weit geschafft zu haben. Aber das mit Simon wurde langsam kompliziert. Ich war kompliziert.
Nein, jetzt konnte ich mich wirklich nicht mit meinem Privatleben beschäftigen.
Vierzig Minuten später kam ich am Flughafen an und während ich den Weg zum Check-in nahm, überflog ich mit dem Handy meine E-Mails.
»Guten Tag«, begrüßte mich die Airline-Mitarbeiterin, als ich beim Check-in ankam.
»Mmh ...«, seufzte ich und löschte unwichtige Spam-Mails. »Claire Watefield, mein Ticket ist bereits hinterlegt.«
Samira hatte mir noch einmal die wichtigsten Details zugesandt, damit ich eine To-do-Liste dabei hatte.
»Da haben wir Sie ja. Businessclass oder ...«
Ich sah von meinem Handy auf und schenkte ihr einen Blick, der alles sagte.
»Okay, Businessclass. Ich bräuchte dann noch Ihren Ausweis, Mrs. Watefield.«
»Miss Watefield«, klärte ich sie auf und sperrte mein Display.
Die Airline-Mitarbeiterin mit dem süßen Namen Sandy - war das ihr Ernst? - begann etwas zu stottern, als sie mich weiter nach meinen Personalien fragte.
Wie ich unqualifiziertes Personal doch liebte.
»Bitte sehr. Begeben Sie sich zum Gate 24. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in New York.«
Ihre letzten Worte erwischten mich unvorbereitet. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mein Ticket an mich zu nehmen. Ich bedankte mich nicht, noch sagte ich irgendwas anderes.
New York. Jedes Mal, wenn wir über diese Stadt sprachen, war es einfach eine Stadt. Aber jetzt gerade war sie die Stadt, die Erinnerungen brachte, die ich einfach nur vergessen wollte.
Ich durchlief Sicherheitszonen, ging an Duty-Free-Shops vorbei, und das alles nahm ich irgendwie nicht wirklich wahr.
Wann hatte ich das letzte Mal an früher gedacht?
Ich seufzte, als mir bewusst wurde, was ich da wieder machte. Die Zeiten des Kummers, der Heulerei und auch der Wut waren vorbei. Ich sollte gar nichts mehr fühlen, wenn ich an früher dachte. Es existierte einfach nicht.
Als ich endlich am Gate ankam, waren bereits die meisten im Flugzeug.
Ich übergab der Mitarbeiterin mein Ticket, dann durfte ich weiter.
Plötzlich klingelte mein Handy in der Hand. Es war Simon. Seufzend schüttelte ich den Kopf, nahm aber ab.
»Simon, was gibt es noch? Ich steige gerade ins Flugzeug!«
»Ich wollte nur sichergehen, dass du den Flieger bekommst. Ich habe gehört, es gab mehrere Unfälle in der Innenstadt. Aber es erleichtert mich, dass du durchgekommen bist. Der Auftrag ist einer der wichtigsten für unsere Firma, Claire. Du sollst wissen, dass ich an dich glaube.«
Er glaubte an mich. Das sagte er immer, wenn es einen wichtigen Auftrag gegeben hatte. Ich lächelte, weil mir auch schon als Zehnjährige dieser Satz oft gesagt wurde. Vor allem, wenn ich unsicher war und höllische Angst vor etwas hatte.
»Danke, ich melde mich, wenn ich gelandet ...«
Ich wollte gerade ins Flugzeug steigen, als die Crew einen der Piloten begrüßte.
»Entschuldigt, der Verkehr war eine Katastrophe«, sprach der Mann, der mit dem Rücken zu mir stand.
Ich runzelte die Stirn, während Simon mir irgendwas erzählte.
»Macht nichts, wir haben es auch gerade so geschafft«, antwortete eine der Stewardessen.
»Claire? Hörst du mir überhaupt zu?«, hörte ich Simon jetzt durch den Hörer fragen.
Ich verdrehte die Augen, weil ich heute wirklich viel zu verwirrt war. Das musste aufhören. Der Mann vor mir war einfach ein Pilot und kein Schatten aus meiner Vergangenheit. Vielleicht half es mir, wenn ich mir gleich einen Drink genehmigen würde.
»Ich muss jetzt auflegen. Ich melde mich dann heute Abend. Bis dann.«
Ich legte auf und starrte in braune Augen, die mir den Atem nahmen.
Das konnte nicht wahr sein!
2017
Boston
Malcolm
Die Dusche wurde abgestellt, während ich in meinem Schlafzimmer auf meinem Sessel saß und hinausschaute.
Der Wecker zeigte 23.15 Uhr an. Die Nacht war wolkenlos und die Sterne am Himmel machten den Ausblick perfekt.
»Es war schön«, sprach Gabriela, die ich vor drei Stunden in der Flughafenbar kennengelernt hatte.
Ich nickte, während ich weiter hinausschaute.
»Na dann«, murmelte sie und schien darauf zu warten, dass ich noch etwas sagen würde.
»Brauchst du Geld für ein Taxi?«, fragte ich und drehte mich zu ihr um.
Gabriela war eine attraktive Frau. Rassig dunkles Haar, ein kleiner spanischer Akzent, was wollte man mehr, wenn man unverfängliche One-Night-Stands bevorzugte?
»Danke, das Geld bekomme ich gerade noch zusammen«, schnaubte sie, und wieder mal hatte ich mich geirrt. Sie war enttäuscht, obwohl ich ihr nie etwas versprochen hatte.
Meine Güte, was erwartete sie denn? Dass ich eine Frau, die bereitwillig mit einem Fremden in einer Uniform mitgegangen war, vom Fleck weg heiraten würde?
»Gut, dann schönen Abend noch.«
Gabriela fluchte auf Spanisch, als sie mein Apartment verließ, aber diese Stille nach ihrem Abgang war pure Magie. Zumindest so lang, bis sich wieder mein Kopfkino bemerkbar machte. In letzter Zeit passierte das öfter.
Seufzend lehnte ich mich in den Sessel zurück und nahm einen Schluck von meinem Drink.
Fünfundzwanzig Jahre alter schottischer Whisky. Auch das war etwas, was früher noch unglaublich auf der Zunge schmeckte. Jetzt war er immer noch gut, aber ich genoss es nicht mehr so sehr.
Die Frauen, das Geld, die Karriere ... das alles fühlte sich immer weniger »gut« an. Aber sollten sich langersehnte Träume nicht genau so anfühlen?
Es war immer noch ein unbeschreibliches Gefühl, wenn ich im Cockpit saß und fliegen durfte. Aber was brachte diese Freude, wenn alles andere sich nicht richtig anfühlte?
Ich fuhr mir durch mein müdes Gesicht. So langsam sollte ich ins Bett. Wenn ich morgen noch Sport machen wollte, bevor es zum Flughafen ging, brauchte ich genug Schlaf.
Ich stand auf und sah auf mein Bett mit dem zerwühlten Laken. Seufzend zog ich die Decke weg und legte mich einfach ohne hin. Ich fand nur sehr schwer in den Schlaf, aber ich fand ihn ... und das war es, was zählte.
»Scheiße, warte Parker!«, rief mir John zu, und ich drehte mich um, ohne aufzuhören mich zu bewegen.
»Komm schon, es sind nur noch drei Meilen«, sprach ich ihm Mut zu.
Mehrmals die Woche joggten John und ich im Boston Common Park. John arbeitete für die gleiche Airline wie ich. Er war Single und hatte Zeit ohne Ende, wenn er nicht im Cockpit saß. Also lebte er die perfekte Kopie meines eigenen Lebens.
»Ehrlich, Alter. Wie kannst du morgens schon so fit sein, wenn du abends eine Braut nach Hause mitgenommen hast? Ich ... ich bin immer noch völlig fertig«, murmelte er und stützte sich auf das Geländer der Brücke, die wir schon zur Hälfte überquert hatten.
Ich lief zu ihm und gönnte mir dann erzwungenermaßen eine Pause.
»Du musst mir dein verdammtes Geheimnis verraten«, sprach John weiter und fuhr sich durch sein feuchtes Haar.
»Da gibt es kein Geheimnis«, seufzte ich und lehnte mich auch an das Brückengeländer.
John schnaubte und ich verdrehte die Augen.
»Sie ist bereits gestern Abend wieder gegangen.«
»Ernsthaft? Mann, die war heiß. Ich hätte mich wenigstens bis heute Morgen mit ihr vergnügt.«
Ich fuhr mir frustriert durch die Haare. Früher war das auch genau mein Ziel gewesen.
»Was ist los mit dir, Parker? Du wirkst seit Wochen ziemlich nachdenklich außerhalb des Cockpits.«
Ich nickte, weil es stimmte. Meinen Job würde ich niemals vernachlässigen, dazu besaß ich einfach zu viel Vergangenheit. Aber im Rest meines Lebens?
»Keine Ahnung, was los ist. Ich denke einfach viel nach und ...«
Meine Smart-Watch meldete sich gerade.
»Ich muss langsam wieder zurück«, verabschiedete ich mich. »Mein Flug geht um drei.«
»Alles klar. Wir sehen uns dann!«
Ich nickte und joggte dann zurück nach Hause.
Es war erstaunlich, wie sehr die Menschen sich von Uniformen blenden ließen.
Das fragte ich mich jedes Mal, wenn ich den Flughafen betrat. Die Kinder staunten, die Frauen lächelten und die Männer ... na ja, die würden womöglich so einiges tun, um an meiner Stelle zu sein.
Es war schon immer mein größter Traum gewesen, riesige Maschinen über den Ozean zu bringen. Tausende Flüge später war die Leidenschaft immer noch nicht verschwunden, aber mein Leben fühlte sich anders an. Unbefriedigter.
»Captain Parker«, begrüßte mich auf dem Weg zum Gate eine der Airline-Mitarbeiterinnen.
»Hallo.« Ich lächelte leicht. Mehr war nicht drin. Flughafenmitarbeiterinnen waren tabu, vor allem die Stewardessen. Ich hatte keine Lust auf Dramen am Arbeitsplatz. Und außerdem war die Flughafenbar praktisch DIE erste Anlaufstelle für schnelle Nummern.
Ich schaute auf meine Uhr. Verdammt, in fünfzehn Minuten sollte die Maschine abheben. Wenn dieser dumme Stau nicht gewesen wäre, wäre ich sicher eine halbe Stunde eher hier gewesen.
Ich lief zum Gate, am Schalter vorbei und entschuldigte mich sofort bei der Crew, als ich ins Flugzeug stieg.
»Entschuldigt, der Verkehr war eine Katastrophe«, informierte ich sie.
»Macht nichts, wir haben es auch gerade so geschafft«, antwortete Lydia mir, und sofort war ich mehr als erleichtert.
»Sind bereits alle Passagiere eingestiegen?«, hakte ich nach und nahm meinen Hut ab.
Ich wollte gerade hören, was Lydia mir zu sagen hatte, als eine ganz andere Stimme hinter mir zu hören war.
»Ich muss jetzt auflegen. Ich melde mich dann heute Abend. Bis dann.«
Ich erstarrte regelrecht. Mein Rücken war dermaßen angespannt, dass ich nicht einen Moment an einen Irrtum glaubte.
Ich drehte mich um und starrte in die einzigen Augen, die mich jemals an grünes Gras erinnert hatten.
Das konnte nicht wahr sein!
Claire
»Malcolm«, murmelte ich völlig überrascht.
Er war es wirklich. Leibhaftig. Und er war Pilot geworden. Seinen Traum hatte er sich also erfüllen können.
Und da kam das imaginäre kalte Wasser, um mir klarzumachen, dass der Mann vor mir zwar Malcolm war ... aber er war noch immer der Mann, der mich verlassen hatte ohne ein einziges Wort des Abschiedes. Und dieser Mistkerl ist Pilot geworden! Pilot!!!
»Darf ich Sie zu Ihrem Platz bringen, Miss?«, fragte mich eine der Stewardessen.
»Claire, ich ...«, hörte ich seine kehlige Stimme, ignorierte sie aber.
»Natürlich dürfen Sie das. Heben wir gleich ab? Ich habe noch wichtige Termine«, machte ich den Leuten hier klar.
Es änderte nichts. Es änderte gar nichts, flüsterte ich mir in meinem Kopf immer wieder zu.
Dann war er eben hier. Pah. Was änderte das? Es änderte alles. Während ich mir Sorgen machte, dass dieser Mistkerl vielleicht ertrunken im Hudson lag, erschossen, beraubt ... keine Ahnung, eben nicht mehr am Leben war, war dieser Arsch einfach nur gegangen.
Ich lief an ihm vorbei. Oh, mein Gott. Er benutzt immer noch dasselbe Deo.
Meine Schultern hoben sich, weil ich mir sicher sein musste, mich unter Kontrolle zu haben.
Man brachte mich zu meinem Platz, der natürlich nur zwei Reihen hinter dem Cockpit lag. Wie war das? Ich flog Businessclass? Verdammt. Was gäbe ich jetzt für Economy!
»Wenn Sie etwas benötigen, betätigen Sie bitte den ...«
»Ich fliege nicht das erste Mal. Danke«, antwortete ich ihr und atmete erst einmal aus, als sie mich allein ließ. Ich war wohl eine der letzten Passagiere, die das Flugzeug bestiegen hatten, denn die Türen wurden bereits geschlossen.
Ich setzte mich in meinen komfortablen Sitz und schloss für wenige Sekunden die Augen. Nicht mal das Beben meiner Lippen hatte ich bemerkt, aber jetzt, da ich hier saß, war es glasklar. Malcolm ...
»Meine Damen und Herren«, ertönte Malcolms männliche Stimme durchs Flugzeug. »Mein Name ist Malcolm Parker und ich bin heute Ihr Pilot. Meine Co-Piloten auf der Strecke Boston - New York sind heute Lance Walkers und Jeffrey Dinozo. Momentan fegt ein leichtes Gewitter über uns hinweg. Das wird aber keine Auswirkungen auf unsere Pünktlichkeit haben. Wir wünschen Ihnen eine schöne Zeit bei uns.«
Ich sah hinaus. Tatsächlich. Es regnete in Strömen. Und dann blitzte es und ich zuckte vor Schreck zusammen.
Mein Puls beschleunigte sich automatisch. Ich krallte meine Hände in die Stuhllehne und versuchte mich wieder zu beruhigen. Toll! Erst Malcolm. Jetzt dieses Gewitter. Konnte es noch schlimmer kommen?
Ich schloss wieder die Augen, um zur Ruhe zu kommen. Dann begann ich zu zählen. Aber es half nichts. Das Zittern wurde immer größer.
Und dann dachte ich an etwas, dass ich schon ewig nicht mehr zugelassen hatte.
***
1998
New York
Es blitzte. Es war laut und ich verkroch mich unter meiner Bettdecke. Dabei weinte ich und konnte mich einfach nicht beruhigen.
»Hör auf, Claire! Ich will endlich schlafen«, meckerte Sissy mich wütend an. Das tat meine Mitbewohnerin die ganze Zeit über. Warum verstand sie nicht, dass mir das Angst machte? Deswegen schluchzte ich weiter in meine Decke.
»Aarrgh. Ich fasse es nicht!«
Ich hörte Decken rascheln.
»Ich hole jetzt Parker.«
»Warum?«, fragte ich nach und schaute unter der Decke hoch zu ihr. Wir schliefen in Etagenbetten und die Zimmer waren ziemlich klein. Hasi war nicht mehr bei mir, weil er vor einer Weile in der Waschmaschine kaputt gewaschen wurde. Aber ich durfte meine Puppen behalten und deswegen war das schon okay so.
»Weil er wissen will, wenn du Angst hast«, antwortete Sissy mir und verließ so leise wie möglich unser Zimmer.
Ich schaute ihr so lange nach, bis der nächste Blitz kam und ich mich wieder unter der Decke versteckte.
Ich zitterte und hoffte, dass es bald vorbei wäre ...
Dann hob sich die Decke plötzlich.
»Claire?«
»Malcolm? Ich habe Angst!«
»Das musst du nicht«, sagte er und setzte sich zu mir aufs Bett. Sissy kletterte hoch und legte sich wieder schlafen. »Es ist nur Gewitter, und wir sind hier drin geschützt. Uns kann nichts passieren.«
Ich versuchte, ihm wirklich zu glauben. Malcolm log mich nie an. Aber ich hatte dennoch Angst. Es war so laut.
Ich wimmerte beim nächsten Blitz. Malcolm seufzte.
»Komm, rutsch rüber. Ich habe keine Lust, dass Sissy noch einmal in mein Zimmer kommt. Ich bleibe so lange bei dir, bis du eingeschlafen bist.«
»Wirklich?«
Ich sah ihn im Dunkeln nicken und machte ihm Platz in meinem Bett.
Er legte sich auf die Decke und nahm mich in den Arm. Meine Puppe drückte ich selbst an meine Brust.
»Warum willst du wissen, wenn ich Angst habe?«, fragte ich ihn in der Dunkelheit.
»Damit ich auf dich aufpassen kann, Claire«, antwortete er mit ruhiger Stimme.
Ich lächelte. »Außer Gran hat noch nie jemand auf mich aufgepasst.«
»Dann wird es doch Zeit, dass ich das hier übernehme.«
»Danke«, hauchte ich und schloss langsam die Augen.
Gegenwart
Er hatte das all die Jahre gemacht. Malcolm ließ niemals zu, dass ich während eines Gewitters in der Nacht alleine bleiben musste. Selbst wenn es Gewitter am Tag gab, und wir auch schon auf der Highschool waren, war er da für mich. Ich versteckte mich dann immer in der Bibliothek, und Malcolm hielt mich im Arm oder erzählte mir irgendeine Story, damit ich abgelenkt wurde.
Der Flug verlief reibungslos. Natürlich ignorierte ich die interessierten Blicke der Stewardessen. Vermutlich fragten sie sich, wer ich wohl war. Immerhin hatte mich deren heißgeliebter Pilot angesehen, als wäre ich eine Fata Morgana.
Er war auch überrascht gewesen. Malcolm hatte wohl gedacht, ich säße auf der Straße. Immerhin war ich damals nicht einfach abgehauen.
Die Lampe für das Anschnallen erlosch, nachdem das Flugzeug seine Parkposition erreicht hatte. Ich war schon viele hundert Male geflogen, aber heute war ich wohl noch nie so schnell aufbruchsbereit gewesen, wie jetzt gerade.
Als die Türen geöffnet wurden, rannte ich regelrecht hinaus. Okay, ich lief schneller als gewöhnlich.
»Claire, warte!«
Mist. Mussten Piloten nicht irgendwas erledigen, wenn sie gelandet waren?
Ich blieb ruckartig stehen und seufzte, machte mich bereit, als ich mich umdrehte.
Da stand er also. Malcolm Parker. Der Junge, den ich nicht nur mochte, sondern ...
Ich sah ihn an. Er wirkte selbst etwas unentschlossen. Was zum Teufel hatte er denn für Probleme? Hatte er keine Eier, sich dem zu stellen, dessen er sich vor 12 Jahren nicht gestellt hatte?
Malcolm
»Höhe?«, fragte ich.
»18.808 Fuß«, antwortete Jeffrey mir.
Ich atmete aus. Der Flug lief wie geplant. Wir hatten keine Verzögerung und das Gewitter hatten wir überflogen.