Lost Lake - Stille Wasser - Emily Littlejohn - E-Book
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Lost Lake - Stille Wasser E-Book

Emily Littlejohn

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Beschreibung

Eiskalte Lügen.

Detective Gemma Monroe wird zu einem Vermisstenfall am Lost Lake in der Nähe der Kleinstadt Cedar Valley, Colorado, gerufen. Dort trifft sie auf drei Freunde, die am Seeufer gezeltet haben. Die Vierte aus der Gruppe, Sari Chesney, ist in der Nacht spurlos verschwunden. Sari ist stellvertretende Kuratorin im örtlichen Museum, in dem an diesem Abend eine Gala stattfinden soll. Ein Projekt, an dem sie monatelang gearbeitet hatte und das sie niemals absichtlich verpassen würde.

Als Gemma beginnt, die komplexe Dynamik der vermeintlich engen Freundesgruppe zu verstehen, wird klar, dass mehr als eine Person lügt und dass das stille Wasser des Lost Lake noch weitere schrecklichere Geheimnisse bergen könnte ... .

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Über das Buch

Eiskalte Lügen.

Detective Gemma Monroe wird zu einem Vermisstenfall am Lost Lake in der Nähe der Kleinstadt Cedar Valley, Colorado, gerufen. Dort trifft sie auf drei Freunde, die am Seeufer gezeltet haben. Die Vierte aus der Gruppe, Sari Chesney, ist in der Nacht spurlos verschwunden. Sari ist stellvertretende Kuratorin im örtlichen Museum, in dem an diesem Abend eine Gala stattfinden soll. Ein Projekt, an dem sie monatelang gearbeitet hatte und das sie niemals absichtlich verpassen würde.

Als Gemma beginnt, die komplexe Dynamik der vermeintlich engen Freundesgruppe zu verstehen, wird klar, dass mehr als eine Person lügt und dass das stille Wasser des Lost Lake noch weitere schrecklichere Geheimnisse bergen könnte ... .

Über Emily Littlejohn

Emily Littlejohn wurde in Southern California geboren und wohnt nun in Colorado. Sie lebt dort mit ihrem Mann und ihrem betagten Hund.

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Emily Littlejohn

Lost Lake - Stille Wasser

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Uta Hege

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Danksagungen

Prolog

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Kapitel dreißig

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreißig

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel vierunddreißig

Kapitel fünfunddreißig

Kapitel sechsunddreißig

Kapitel siebenunddreißig

Kapitel achtunddreißig

Kapitel neununddreißig

Kapitel vierzig

Kapitel einundvierzig

Kapitel zweiundvierzig

Kapitel dreiundvierzig

Kapitel vierundvierzig

Kapitel fünfundvierzig

Kapitel sechsundvierzig

Impressum

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Für David und Carrie, Peter, Bill und John.

Geschwister seit Geburt, und Freunde, weil ihr es sein wollt.

Ein Leben ohne euch alle kann ich mir nicht vorstellen.

Danksagungen

Ich danke meiner wundervollen Agentin, Freundin und Erstleserin Pam Ahearn, Elizabeth Lacks, die das Buch angenommen, und Catherine Richards, die es bis zum Schluss begleitet hat. Bessere Lektorinnen und Redakteurinnen als euch beide gibt es nicht. Genauso danke ich dem Rest des Teams – Nettie Finn, Sarah Schoof, Melanie Sanders –, dessen Hilfe einfach unbezahlbar ist, und Kathy (Nana), ohne die ich dieses Buch nie hätte schreiben können. Mom, David, Carrie und Ana, ich liebe unsere täglichen Gespräche, und natürlich Chris und Claire – alles, was ich tue, tue ich für euch.

Prolog

Irgendetwas weckt sie in den frühen Morgenstunden auf.

Hinter der dünnen Nylonwand herrscht Dunkelheit, und da sie erst nach Mitternacht ins Zelt gekrochen sind, schätzt sie, dass es jetzt zwischen vier und fünf Uhr morgens ist. Bald wird die Sonne aufgehen, und dann beginnt ein neuer Tag. Mit einem weiteren Frühstück, einem weiteren Marsch, einem weiteren Mittagessen und dem nächsten Streit.

Sie spitzt die Ohren und erkennt, dass die Geräusche, die der See macht, andere als am Abend sind. Die sanfte Brise, die das Laub der Bäume rascheln ließ, hat sich gelegt, die streitlustige Quakerei des Ochsenfrosches ist verstummt, und selbst das Eis, das knirschend an die Ufer stieß, als sie ums Lagerfeuer saßen, hat vorübergehend die Arbeit eingestellt.

Tatsächlich ist es totenstill, und diese Stille hat sie aufgeweckt.

Sie richtet sich behutsam auf und sieht zu Mac. Er liegt mit einer Hand auf seinem Bauch, der anderen in den Tiefen seines Schlafsackes neben ihr auf dem Rücken und schnarcht leise. Mit dem leicht offenen Mund und den zusammengezogenen, dicken Brauen sieht er wie ein kleiner Junge aus.

Vielleicht hat er ja gerade einen Alptraum, den hätte er auf jeden Fall verdient.

Doch dann fühlt sie sich schlecht und fragt sich, ob das Baby vielleicht seine dichten Brauen und seine roten Haare haben wird.

Und fragt sich weiter, ob das eine Rolle für sie spielt.

Sie krabbelt vorsichtig aus ihrem Schlafsack und dann weiter aus dem Zelt. Schiebt ihre Füße in die Wanderschuhe und steht, ohne erst die Schnürsenkel zu binden, auf. Sie streckt sich und schaut sich dann im schwachen Licht des abnehmenden Monds auf dem Zeltplatz um. Fünf Meter weiter, auf der anderen Seite des noch glimmenden Lagerfeuers, steht ein zweites Zelt.

Noch gestern waren die beiden Menschen, die jetzt dort schlafen, Fremde, aber vielleicht haben sie die Bekanntschaft ja infolge der erzwungenen Nähe und nach all dem Wein und Gras in der Zwischenzeit vertieft.

Selbst davon wäre sie inzwischen nicht mehr wirklich überrascht.

Sie geht zum Rand des Zeltplatzes, und auch wenn sie sich nicht bis ganz ans Ufer wagt, starrt sie das dunkle, stille Wasser an und überlegt, woher es seinen düsteren Namen hat.

Lost Lake. Verlorener See.

Die Luft ist eisig, und erschaudernd kreuzt sie die Arme vor der Brust und lenkt den Blick aufs andere Ufer, an dem sie am Abend ebenfalls den Rauch von einem Lagerfeuer wahrgenommen hat. Anscheinend war noch jemand anderes verrückt genug und hat die Nacht auf dem gefrorenen Boden hier an diesem kalten See verbracht.

Sie setzt sich langsam wieder in Bewegung, um ins Zelt zurückzukehren und sich dort in ihrem Schlafsack aufzuwärmen.

Und immer noch ist die Umgebung totenstill.

Kapitel eins

Ich stand am Ufer des Lost Lake und schirmte meine Augen mit der Hand gegen das grelle Licht der Sonne ab. Eine Sonnenbrille hatte ich nicht dabei, nachdem im März und im April der Himmel praktisch durchgängig bewölkt gewesen war, doch dieser zweite Sonnabend im Mai war einer dieser milden Frühlingstage mit Temperaturen um die sechzehn Grad und einem leuchtend blauen Himmel, der einen die graue Winterzeit beinah vergessen ließ.

Ich hatte Kopfschmerzen von all dem Pinot Noir, den ich beim Abendessen mit meinem Verlobten Brody Sutherland getrunken hatte, und nach einer allzu kurzen Nacht mit meiner kleinen Tochter, die jetzt gerade ihren ersten Zahn bekam. Ich kniff die Augen zu und lauschte auf die Sprache des Verlorenen Sees. Das Eis am Ufer, das mit leisem Knirschen schmolz, das junge Laub der Espen, das sich in der milden Brise flüsternd miteinander unterhielt, das Aufspritzen des Wassers, als ein Adler zielgerichtet wie ein Stealth Bomber herabgeschossen kam, um einen Fisch zu fangen, der dort arglos seine Kreise zog.

Die Szene hätte friedlich wirken sollen, aber sie erschien mir grob und schmutzig, so, als hätte jemand eine Bleistiftskizze angefertigt und danach mit Fettfingern daran herumgewischt.

Es würde nicht mehr lange dauern, und dann fielen Heerscharen von Wanderern und Anglern in der Gegend ein. Die Wanderer, um die herrliche Lupinenblüte zu genießen, die das Markenzeichen dieses Berges war, die Angler, um die fetten Barsche und Forellen aus dem See zu ziehen.

Aber so früh im Jahr?

Um diese Zeit war höchstens eine Handvoll Leute hart genug, sich die zwei Meilen durch den geschmolzenen Schnee und Matsch bergauf zu quälen.

Zumal um diese Zeit die Bären aus dem langen Winterschlaf erwachten und entsprechend hungrig waren.

Ich schlug die Augen wieder auf, kehrte dem See den Rücken zu und blickte auf die kleine Gruppe, die um das erloschene Lagerfeuer stand.

Was hatten sie hier oben am Lost Lake gewollt?

Es gab in der Gegend noch ein Dutzend anderer Zeltplätze, die man deutlich leichter erreichte. Das Wasser war eiskalt, und von den wilden Blumen, die den Berg im Sommer übersäten, sah man noch nichts. Jetzt am frühen Mittag war es hier zwar durchaus angenehm, doch ohne Sonne fielen die Temperaturen in den Keller, und ich war mir sicher, dass es auf dem kalten Boden letzte Nacht nicht gerade kuschelig gewesen war.

Und trotzdem hatte sich die Gruppe diesen Zeltplatz ausgesucht. Von der ein Mitglied über Nacht verschwunden war.

Sari Chesney.

Eine junge Frau, verloren gegangen am Verlorenen See.

Wieder knackte Eis am Ufer, und es klang derart gespenstisch, dass ich eilig zu der Gruppe lief und mich dabei bemühte, der Collage der verschlammten Fußabdrücke, die gleichzeitig aus dem Nichts zu kommen und ins Nichts zu führen schienen, aus dem Weg zu gehen.

Sie waren zu dritt, und während mir die beiden Männer stumm entgegensahen, meinte die Frau: »Ich habe wirklich große Angst, dass ihr was zugestoßen ist.«

Sie hatte mir bereits erzählt, sie sei Saris beste Freundin und heiße Allison, auch wenn ihr Ally lieber sei.

»Hat Sari so was vorher schon einmal gemacht? Ich meine, dass sie einfach abgehauen ist?«

»Noch nie. Sie ist total verantwortungsbewusst und käme nie auf die Idee, uns einen solchen Schrecken einzujagen.«

»Genau. Und deshalb habe ich wie Ally kein gutes Gefühl bei dieser Angelegenheit, Detective Monroe«, stimmte ihr Mac Stephens zu.

»Bitte, nennen Sie mich Gemma.«

Mac war Saris Freund, ein Bär von einem Mann mit wild zerzaustem rotem Haar. Ihn hatte ich als Einzigen der drei schon mal gesehen. Er war Krankenpfleger im städtischen Krankenhaus und hatte meiner Tochter ihre ersten Impfungen verpasst. Wobei er andersrum anscheinend nicht mehr wusste, wer ich war.

»Bestimmt hat jemand sie entführt«, fuhr er mit banger Stimme fort. »Der See liegt abgelegen wie die Hölle, deshalb hätte jeder sich hier auf den Zeltplatz schleichen und sie mitnehmen können, ohne dass es jemand mitbekommt.«

»Entführungen sind selten, und vor allem war Sari hier ja nicht allein.« Ich zeigte wieder auf den See. »Ich hasse es, das Offensichtliche zu fragen, aber ist es möglich, dass sie einfach schwimmen gegangen ist?«

Die beiden schüttelten den Kopf, und mit einem besorgten Blick auf Mac erklärte Ally mir: »Als kleines Mädchen wäre Sari einmal fast bei einem Bootsunfall ertrunken und ist überhaupt nur mit hierhergekommen, weil Mac sie dazu überredet hat.«

Er funkelte sie zornig an. »Das ist nicht wahr, Ally, das weißt du selbst. Es stimmt, sie hat tatsächlich Angst vor Wasser, aber da sie gerne wandert und gern campt, hat sie sich ebenfalls auf diese Tour gefreut.«

Ich blickte auf den zweiten Mann, Jake Stephens, Macs Cousin, der bisher stumm geblieben war.

»Bisher gibt’s keinen Hinweis darauf, dass hier ein Verbrechen vorliegt. Sari ist erwachsen, und es ist ein gutes Zeichen, dass auch ihre Schlüssel, Führerschein und Smartphone nicht mehr aufzufinden sind. Das deutet darauf hin, dass sie freiwillig hier verschwunden ist.« Ich denke an die paar Vermisstenfälle, denen ich in meinen sechs Jahren bei der Polizei von Cedar Valley nachgegangen bin. In allen Fällen bis auf einen waren die Personen innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder aufgetaucht, und auch der Typ, der nicht zurückkam, wurde irgendwann in einer Wohngemeinschaft in Las Vegas ausfindig gemacht.

Auch Ally schien es sich noch mal zu überlegen, denn sie nickte zustimmend. Mit ihren roten Wangen sah sie aus, als hätte sie sich bei der Wanderung am Vortag einen Sonnenbrand geholt. »Ich wette, Sie haben recht. Sari kann manchmal etwas seltsam sein und hatte in der letzten Zeit viel Stress in ihrem Job. Es könnte also durchaus sein, dass sie nicht schlafen konnte und deswegen aufgestanden und zurück in ihre Wohnung ist.«

»Obwohl sie dann im Dunkeln ganz alleine durch den großen, bösen Wald zum Parkplatz hätte laufen müssen?«, fragte Jake und starrte Ally unter seinen wirren schwarzen Haaren und der blauen gestrickten Beaniemütze hervor an. Mit seinen Anfang zwanzig war er ein paar Jahre jünger als die beiden anderen, und der Blick der schwarzen Augen hinter seiner dicken Hornbrille war seltsam ausdruckslos.

»Warum denn nicht? Wenn ich derart gestresst gewesen wäre, hätte ich das vielleicht auch getan.«

Ein neuerliches lautes Knirschen lenkte meinen Blick zurück zum See. Auch diesmal ließ das Sonnenlicht mich blinzeln, als ich auf die sanften Wellen sah, die in der milden Frühlingsbrise auf der Wasseroberfläche wippten. Der Anblick hätte mich beruhigen sollen, doch mir kam es so vor, als winkten mir die Wellen wie die Hände einer Gruppe böser Wassergeister zu.

Dann hustete einer der Männer, und ich wandte mich der Gruppe wieder zu. »Und Sie sind sich ganz sicher, dass sie mitten in der Nacht verschwunden ist?«

Mac Stephens nickte nachdrücklich.

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«

»Wir sind uns eben sicher«, meinte er und kratzte sich am Kopf. »Wir sind erst gegen eins in unser Zelt. Wir, hm, wir hatten ziemlich viel getrunken, und als ich so gegen sechs mal pinkeln musste, habe ich gesehen, dass sie nicht mehr in ihrem Schlafsack lag. Ich dachte, dass sie vielleicht auch mal muss, nur war ich zu dem Zeitpunkt eben noch nicht wieder völlig nüchtern, deshalb bin ich gleich zurück ins Zelt und sofort wieder eingepennt. Und als ich gegen neun die Augen wieder aufgeschlagen habe, war sie weg. Das heißt, da war sie immer noch nicht wieder da. Also habe ich die anderen geweckt, und wir haben nach ihr gesucht. Und dann ist Jake zurück zum Parkplatz, denn hier oben haben die Smartphones keinen Empfang. Erst hat er Saris Nummer ausprobiert, und als dort nur die Mailbox ansprang, hat er einen Notruf abgesetzt.«

Ich zog mein eigenes Smartphone aus der Tasche, überprüfte das Signal und sah, das es zu schwach war für ein Telefongespräch.

»Ist Ihnen auf dem Weg zum Parkplatz irgendetwas aufgefallen, was seltsam oder anders als auf Ihrem Weg hierher zum Zeltplatz war?«, wandte ich mich an Jake.

Mit einem schmalen Taschenmesser schnitzte er an einem dünnen Zweig, und ich betrachtete die Späne, die er auf den Boden fallen ließ. »Was sollte mir da aufgefallen sein?«

Ich spitzte nachdenklich die Lippen, denn im Grunde wusste ich das selbst nicht. »Ein anderer Wanderer, Spuren von Sari oder vielleicht Abdrücke von irgendwelchen Tieren?«

Jake schüttelte den Kopf. »Da war nichts, aber schließlich hatte ich’s auch eilig, deshalb habe ich mich nicht genauer umgesehen. Auch wenn ich auf dem Weg zurück hierher, nachdem ich bei euch angerufen hatte, nicht mehr ganz so schnell gewesen bin. Ich habe immer wieder angehalten und nach ihr gerufen.« Er hielt sich die Hände trichterförmig an den Mund und machte es mir vor. »Sari! Sari!«

Ally fuhr zusammen und herrschte ihn mit ungehaltener Stimme an: »Hör auf. Im Ernst. Hör auf.«

»Schon gut.« Mit einem gleichmütigen Achselzucken ließ er die Hände sinken und nahm seine Schnitzarbeit wieder auf.

»Natürlich haben wir die Gegend abgesucht«, ergriff jetzt wieder Mac das Wort. »Es hätte schließlich sein können, dass sie irgendwo gestürzt ist und jetzt ohnmächtig daliegt. Und danach habe ich mir Saris Rucksack vorgeknöpft. Erst war ich froh, als ich ihr Portemonnaie und Smartphone nicht gefunden habe, weil man solche Sachen schließlich mitnimmt, wenn man geht. Doch dann habe ich Angst gekriegt. Wo könnte sie denn ganz allein im Dunkeln hingelaufen sein? Weswegen hätte sie allein zwei Meilen durch den dunklen Wald zurück zum Parkplatz laufen sollen?«

Er wühlte kurz in seiner Tasche und zog einen Schlüsselbund daraus hervor. »Hier, sehen Sie, ich habe meine Schlüssel noch, und Jake hat extra nachgeguckt und sagt, mein Van würde noch auf dem Parkplatz stehen. Und ganz egal, was Ally sagt, so mutig und so dumm, alleine durch den dunklen Wald zu laufen, wäre Sari nicht gewesen. Sie hätte sicher nicht riskieren wollen, dass sie von einem Puma oder Bären hier oben angefallen wird.«

Er zeigte auf den Wald, der den See umgab, und sein dickes Wollhemd rutschte weit genug herauf, dass ich die Waffe sah, die im Bund seiner Hose steckte.

»Haben Sie dafür eine Genehmigung?«

Anscheinend überraschte es ihn, dass mir die Waffe aufgefallen war, dann aber nickte er und meinte: »Selbstverständlich. Auch wenn ich das Ding nicht offen tragen darf. Es ist eine Neun-Millimeter. Müssen Sie sie sehen?«

Nur, wenn wir eine Leiche finden, in der eine solche Kugel steckt.

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, aber tragen Sie sie so, dass sie tatsächlich nicht zu sehen ist, okay?« Dann wandte ich mich wieder meinem eigentlichen Thema zu. »Wie sieht es aus? Besteht die Möglichkeit, dass Sari sich von jemandem hier oben hat abholen lassen?«

Auf diese Frage hatte keiner von den dreien eine Antwort, und ich dachte, dass die Sache wirklich seltsam war.

Noch nicht verdächtig, aber seltsam, und allmählich hätte auch ich wirklich gern gewusst, was hier geschehen war.

Obwohl das Lagerfeuer nicht mehr brannte, glomm die Asche weiter nach. Ich roch den Rauch des Feuers und daneben einen Hauch Marihuana, der dem gesamten Platz ein etwas schmuddeliges Flair verlieh.

Was hatte das Quartett zu dieser Jahreszeit an einem so entlegenen Ort gewollt? »Warum hier oben?«, fragte ich.

»Sie meinen, warum wir gerade hier gezeltet haben?«, fragte Mac zurück. »Ich habe schon als Kind hier oben am Lost Lake kampiert, aber noch nie so früh im Jahr. Ich wollte einfach wissen, wie es ist, wenn hier noch Schnee liegt und der Boden gefroren ist. Und da Jake noch neu hier in der Stadt ist, dachte ich, es wäre witzig, das mal zu probieren.«

»Ich hatte nie zuvor von diesem Ort gehört«, mischte sich Ally ein. »Ich nehme an, er heißt nicht ohne Grund Lost Lake.«

»Sie sagten, Sari hätte Stress in ihrem Job gehabt. Was macht sie denn beruflich?«

»Sie ist zweite Kuratorin im Historischen Museum«, klärte mich ihr Freund mit einem stolzen Lächeln auf, doch Ally fügte einschränkend hinzu: »Vor allem ist sie total erschöpft. Sie hat wegen der bevorstehenden Gala jede Menge Zwölf- bis Dreizehn-Stunden-Schichten eingelegt und würde dieses ganz besondere Ereignis deshalb sicher nicht versäumen wollen. Insbesondere, weil ihre Chefin eine blöde Hexe ist, und sie bestimmt gefeuert wird, wenn sie sich heute Abend dort nicht blicken lässt. Und Sari kann es sich nicht leisten, ihre Arbeit zu verlieren.«

Die Gala war der Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen, um die Gründung der Gemeinde Cedar Valley würdig zu begehen. Vor hundertfünfzig Jahren hatten die Gründerväter die erforderlichen Dokumente unterschrieben, durch die aus dem Bergbauaußenposten in den Bergen Colorados eine echte Stadt geworden war. Die große Gala wurde durch das ortsansässige Historische Museum ausgerichtet, und im Anschluss fanden eine Reihe Feiern anderer Organisationen statt.

Ich knabberte an meiner Unterlippe, denn was hatten dieser schmuddelige Platz und ein gefrorener See mit einer jungen Frau zu tun, die am Vortag eines von ihr mit organisierten Großereignisses verschwunden war? All das ergab nicht den geringsten Sinn, und mir war irgendwie nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich wie bei anderen Vermisstenfällen erst mal vierundzwanzig Stunden warten sollte, um zu sehen, ob sich dieses Rätsel nicht vielleicht von selbst löst.

»Okay. Dann fahren Sie jetzt aufs Revier und melden Sari als vermisst. Ich brauche außerdem ein aktuelles Bild von ihr, eine Beschreibung der Sachen, die sie letzte Nacht getragen hat, und müsste wissen, ob sie irgendwelche Muttermale, Tätowierungen oder sonst was hatte, woran man sie identifizieren kann.«

»Verdammt«, entfuhr es Mac. »Sie haben gesagt, dass wir uns keine Sorgen machen sollen.«

»Hören Sie zu: In neun von zehn Fällen tauchen vermisst gemeldete Personen von alleine wieder auf. Vielleicht hat sich ja Sari über irgendwas geärgert oder sich nicht gut gefühlt. Der Platz liegt hoch genug, dass sie vielleicht mit der Höhe nicht zurechtgekommen ist und desorientiert war, als sie wach wurde. Oder vielleicht hat sie sich mit irgendwem getroffen. Was auch immer – ich kann Ihnen versichern, dass es für die meisten Rätsel eine simple Lösung gibt. Nur haben Sie mir Sari als verantwortungsbewusste junge Frau beschrieben, die sich wochenlang für diese Gala abgerackert hat und auf die Arbeit im Museum angewiesen ist. Deswegen ist es etwas seltsam, dass sie ausgerechnet heute von der Bildfläche verschwunden ist, und ich will einfach meine Sorgfaltspflicht erfüllen, auch wenn es sicher keinen Grund zur Sorge gibt.«

Mac nickte zustimmend. »In Ordnung. Sie sind die Expertin.«

Plötzlich schob sich eine Wolke vor die Sonne, schluckte Licht und Wärme, und erschaudernd drehte ich mich um. Ich wollte den Verlorenen See nicht mehr im Rücken haben, und als ich aufs nun rabenschwarze Wasser starrte, fiel mir erstmals auch der dichte Wald am anderen Ufer auf. Die Coloradofichten wirkten wie ein Puffer zwischen See und Berg, mit zunehmender Höhe aber dünnte der Bestand an Bäumen aus und wurde oberhalb der Baumgrenze durch struppiges Gebüsch ersetzt.

Dann zog die Wolke endlich weiter, und die Sonne tauchte wieder auf. Ich hatte das Gefühl, als nähme ich ein Blitzen zwischen all den Fichten auf der anderen Seite wahr, dann aber blinzelte ich kurz, und es war nicht mehr da.

Ein anderer Camper oder Wanderer?

»Haben Sie das gesehen?«

Ally schob den Kopf aus einem Sweatshirt, das sie gerade hatte anziehen wollen, und sah mich fragend an. »Was meinen Sie?«

Ich blinzelte noch mal, das Blinken aber blieb verschwunden, und urplötzlich wollte ich so schnell wie möglich weg von diesem unheimlichen See mit seinem schwarzen, kalten Wasser und dem ruhelosen Wind.

Ich fühlte mich hier irgendwie nicht wohl.

»Egal. Wahrscheinlich war es einfach eine Spiegelung im Wasser.«

Jake hüstelte und rieb sich das Genick. »Und was ist mit dem zehnten Mal?«

»Entschuldigung?«

Er ließ sein Taschenmesser und den Zweig, an dem er pausenlos herumgeschnitten hatte, auf den Boden neben eine Plastikwasserflasche sowie einen halb gegessenen Müsliriegel fallen, nahm seine Brille ab und rieb sie sorgfältig mit einem Zipfel seines Sweatshirts blank. »Sie haben gesagt, in neun von zehn Fällen tauchten als vermisst gemeldete Personen wieder auf. Und was ist mit dem zehnten Fall?«

Das war ein Weg, den ich bestimmt nicht würde gehen wollen.

»Es ist noch viel zu früh, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen«, wich ich seiner Frage aus. »Vor allem sollten wir jetzt wirklich langsam gehen. Packen Sie Ihre Sachen, und dann fahren Sie bitte aufs Revier, erstatten offiziell Vermisstenanzeige und geben Ihre Aussagen zu Protokoll. Ich selber fahre erst einmal zu Saris Wohnung, denn vielleicht ist sie ja dort.«

»Kann ich mitkommen? Ich habe einen Schlüssel für die Tür«, erklärte Mac.

»Okay. Dann fahren Sie mit mir.«

»He, Mac, ich habe noch was vor«, wandte sich Jake an seinen Cousin. »Vor allem bin ich Sari gestern überhaupt zum ersten Mal begegnet, und ich muss mir dringend eine Arbeit suchen, wenn ich nicht … Ich brauche wirklich dringend einen Job.«

Mac raufte sich frustriert das dicke rote Haar. »Wir reden hier von meiner Freundin, die verschwunden ist, und du weißt selbst, wie oft ich andersrum schon für dich da gewesen bin.«

Jake nickte widerstrebend. »Ja. Natürlich, du hast recht. Ich werde für dich da sein, Bro.« Er zog sich die blaue Mütze tiefer in die Stirn. »Am besten packen wir jetzt erst mal alles ein.«

Die drei verteilten sich und gingen verschiedenen Tätigkeiten nach. Ally und Mac bauten die Zelte ab, und Jake zog Plastiktüten voller Müll und Essen aus den hohen Ästen einer dicken Kiefer, die ein wenig abseits stand. Die Bären in der Gegend waren neugierig und immer hungrig, und auch wenn sie ohne große Mühe einen Baum erklimmen konnten, um die Tüten, die dort hingen, zu durchwühlen, wurden sie auf diese Weise von den Zelten fortgelockt.

Ich sah mir die Umgebung um den Zeltplatz an und dachte an das warme Lagerfeuer letzte Nacht, die glühende Spitze eines Joints und Flaschen, die von einer kalten Hand zur anderen gewandert waren.

Vielleicht lag es an dem warmen Frühlingstag, vielleicht am See, der abermals im Sonnenlicht wie ein türkisfarbenes Ei in einem Korb aus Coloradofichten und zerklüfteten, uralten Steinen lag.

Vielleicht lag es an dem Rotwein, den ich in den letzten Wochen viel zu oft zum Abendessen und danach noch trank, vielleicht auch an der Müdigkeit nach einer Nacht mit wenig Schlaf und einer anstrengenden Wanderung den Berg hinauf.

Aus welchem Grund auch immer konnte ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was hier am Lost Lake geschehen war.

Ich konnte nur den schlammig-feuchten Boden sehen, das erloschene Feuer, die zwei bunten Zelte, die vier Rucksäcke und die drei Leute, die hier grimmig Ordnung machten.

Erst später sollte ich an das Geräusch des Eises an dem Morgen, an den Adler, der sein Frühstück aus dem Wasser holte, und an die vier Freunde denken, die am Tag zuvor hier angekommen waren. Jetzt waren sie nur noch drei und packten in gedrückter Stimmung das, was von dem ausgelassenen Abend übrig war. Sie wirkten wie Geister ihrer selbst in einer neuen Welt, in der es möglich war, dass eine Freundin einfach über Nacht verschwand.

Und später, sehr viel später sollte ich die Dinge, die ich an diesem Vormittag entschied, aufs Schmerzlichste bereuen.

Kapitel zwei

Im Jahre 1837 folgte Harris Theroux, der als unerschrockener Landvermesser für die Continental Fur Company durch die Bergwelt Colorados streifte, einem Zwölfender durch einen dichten Fichtenwald den Berg hinauf. Er war enttäuscht, als sich die Spur des Hirschs im Unterholz verlor, doch die Enttäuschung wurde durch den Anblick mehr als wettgemacht, der sich ihm plötzlich bot.

Er hätte nicht gedacht, dass es so wunderschöne Orte wirklich gab.

Eine halbe Quadratmeile leuchtend blauen Wassers schmiegte sich juwelengleich in eine längliche Vertiefung zwischen Bergen, deren schneebedeckte Gipfel man zwischen den Wolken in der Sonne schimmern sah. Dazu umgab ein dichter Wald den See, als wollte er ihn schützen und bewahren, indem er ihn vor aller Welt verbarg.

Der Landvermesser errichtete sein Lager nah am Wasser. Der See war voll Forellen, die keine Angler kannten und deswegen völlig furchtlos waren, und bald saß er an einem Lagerfeuer und schlug sich den Bauch mit einer fetten Schönheit voll. Und als der Mond den Platz der Sonne übernahm und Stern um Stern am abendlichen Firmament erschien, wurde der See erst dunkelblau und schließlich samtig schwarz.

An dieser Stelle endete das Tagebuch.

Ich stelle ihn mir gerne vor, wie er die Worte niederschreibt und dann mit vollem Bauch, zufrieden und in Einklang mit der Welt die Augen schließt.

Als er nach einer Woche nicht zurück ins Basislager kam, schickte das Unternehmen einen dreiköpfigen Suchtrupp los. Die Männer folgten seiner Spur bis zu der Stelle, wo er auf den Zwölfender gestoßen war, den Berg hinauf und dann hinunter bis zum See. Dort fanden sie Theroux, der offenbar von einem riesengroßen Grizzlybären überfallen, verstümmelt und halb aufgefressen worden war. Sie sprachen ein Gebet, nahmen die Überreste mit und trugen seinen Fundort in die Karte ein, die er von der Gegend angefertigt hatte.

Und das Gewässer tauften sie Lost Lake.

Mac übernahm die Führung, danach kamen Jake und Ally, und ich bildete den Schluss des kleinen Zugs. Ich hatte Saris Rucksack übernommen, und aufgrund des halb geschmolzenen Schnees und Schlamms, der an den Schuhen saugte, war der Weg vom See zurück genauso mühsam wie der Weg den Berg hinauf.

Hätte Sari Chesney diesen Weg im Dunkeln ganz allein gehen können?

Vielleicht.

Wobei sie womöglich auch nicht allein gewesen war.

Wir liefen schweigend hintereinander her. Mac und Ally trugen leichte Wanderkleidung, die für solche Touren wie geschaffen war, und bahnten sich problemlos ihren Weg über das rutschige Gestein und lockere Geröll, doch Jake hatte zu kämpfen, denn die glatten Sohlen seiner Ledersneaker boten keinen echten Halt, und sein erschreckend dünnes Baumwollhemd war schon nach ein paar Metern klamm und durchgeschwitzt.

Ich wusste, dass mein Partner, Detective Finn Nowlin, solche Leute »Halbschuhtouris« nannte: unerfahrene Wanderer, die schlecht vorbereitet waren, und (seiner Meinung nach) unweigerlich gerettet werden mussten, weil sie keine Ahnung hatten, was es in den Bergen alles zu beachten galt.

Normalerweise hätte Finn mit mir zusammen auf diesen Notruf reagiert, aber er war dieses Wochenende unterwegs. Wenn man mich nicht an einem Samstag angerufen hätte, hätte ich wahrscheinlich einen von den anderen Kollegen mitgenommen, doch wir hatten viel zu wenig Leute, und ich hätte keinen von den anderen extra wegen dieser Sache aus dem Wochenende holen wollen. Vor allem hatte ich es als geübte Wanderin auch mühelos allein den Berg hinauf zum See geschafft.

»He, Jake? Wie kommt es, dass Sie heute früh zum Parkplatz runter sind?«, erkundigte ich mich und bahnte mir behutsam einen Weg an einem umgestürzten Baum vorbei.

»Ich habe mich freiwillig angeboten, denn aus meiner Sicht ergab das einfach Sinn. Mac kennt sich gut hier in der Gegend aus, deswegen ist er dortgeblieben und hat die Umgebung abgesucht. Und Ally ist ein Mädchen, deshalb hätte ich sie sicher nicht allein den Berg hinunterlaufen lassen wollen. Ich bin durchaus für Gleichberechtigung, für Feminismus und den ganzen Blödsinn, aber wenn’s drauf ankommt, seid ihr Frauen doch ganz dankbar, wenn ein Mann sich ritterlich benimmt, nicht wahr?« Bei diesen Worten blieb er stehen, drehte den Kopf und blickte mich durch seine dicken Brillengläser an. »Da fällt mir ein … brauchen Sie Hilfe?«

»Danke, nein. Ich nehme an, dass Mac und Ally heute Morgen völlig außer sich gewesen sind?«

»Natürlich waren sie das. Wir alle drei. Wären Sie das etwa nicht gewesen, wenn Sie morgens wach geworden wären und eine Ihrer Freundinnen plötzlich wie vom Erdboden verschluckt gewesen wäre?«

»Doch, natürlich hätte ich dann große Angst um sie gehabt.«

Eine knappe Stunde, nachdem wir den See verlassen hatten, kamen wir am Parkplatz an. Inzwischen war es Nachmittag und Stunden her, dass Mac das Fehlen seiner Freundin aufgefallen war.

Ich nahm den Rucksack ab und lehnte mich gegen die Kühlerhaube meines Dienstfahrzeugs. Außer dem alten, ramponierten Jeep stand hier nur noch Macs Van, obwohl es auf dem Boden zwischen den verschlammten Schlaglöchern und Haufen feuchten Schnees noch jede Menge anderer Reifenspuren gab.

Das hieß, es war nicht zu erkennen, ob Sari Chesney hier vielleicht in einen Wagen eingestiegen war.

Ich zog mein Smartphone aus der Tasche, und tatsächlich hatte ich hier wieder besseren Empfang als oben am Lost Lake. Auch Mac zerrte sein Telefon hervor und wählte Saris Nummer, legte wieder auf und stellte grimmig fest: »Es springt noch immer gleich die Mailbox an.«

Sie stellten ihre Rucksäcke zu dem von Sari auf den Boden, richteten sich wieder auf und streckten die müden Glieder aus. Sie alle waren schmutzig und verstaubt und rochen nach Erschöpfung, Angst und Schweiß.

Ich ließ sie erst zu Atem kommen, doch dann sah ich auf meine Uhr und fragte: »Ally, waren Sie schon einmal auf dem Polizeirevier und wissen, wo das ist?«

Sie nickte, und ich sah den Schweiß, der über ihre Wangen lief. Ihr langes, dunkles Haar war wild zerzaust, und mühsam zwängte sie die wirren Strähnen in einen Pferdeschwanz. »Ich war zwar noch nie da, aber ich bin dort schon vorbeigefahren. Was tue ich, wenn ich da ankomme?«

»Ich melde Sie telefonisch an. Dann werden die Kollegen Ihnen ein paar Formulare geben, die Sie ausfüllen müssen, aber wenn Sie möchten, warten Sie dort ruhig auf Mac und mich. Wir gucken nur kurz nach, ob Sari vielleicht einfach heimgefahren ist, und kommen danach sofort aufs Revier.«

»Okay. Ich hoffe, sie ist dort.«

»Ich auch.«

Sie gingen zu Macs Van, er drückte Ally seine Autoschlüssel in die Hand, verlud zusammen mit den beiden anderen das Gepäck, nahm Ally in den Arm und sprach noch kurz mit Jake. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber Ally verzog das Gesicht, und Jake kroch eine heiße Röte in die Wangen. Dann kletterten die beiden in den Van, und Mac stieg zu mir in den Jeep.

Ich hatte schon den Motor angelassen, und als wir vom Parkplatz fuhren, meldete ich Jake und Ally telefonisch auf der Wache an. Danach bat ich Mac um Saris Nummer, und als abermals die Mailbox ansprang, hinterließ ich eine Nachricht mit der Bitte, mich sofort zu kontaktieren.

Mac hatte die Hände in den Schoß gelegt und hörte unbehaglich zu.

»Was machen wir, wenn Sari nicht zu Hause ist?«

»Dann orten wir ihr Smartphone, überprüfen ihre Kreditkarten und sprechen mit ihrer Familie, ihren anderen Freundinnen und Freunden und mit ihrer Arbeitgeberin. Aber ich verspreche Ihnen, Mac, die Chancen, dass sie ganz schnell wieder auftaucht, stehen wirklich gut.«

Inzwischen hatten wir die Vororte der Stadt erreicht, und er sah schweigend aus dem Fenster, bis er meinte: »Da, am besten fahren Sie durch die Seventh Avenue, wenn Sie nicht all die Ampeln in der Main Street mitnehmen wollen. An Verwandten gibt’s im Grunde nur noch Saris Mutter Charla, aber die hat Alzheimer und lebt im Pflegeheim. Ich glaube, es heißt Carver Estates oder so.«

»Das kenne ich. Das tut mir leid zu hören. Auch meine Oma Julia ist dement, deswegen weiß ich, dass das eine wirklich heimtückische Krankheit ist.«

»Das ist nicht leicht für Sari, auch wenn ihre Mom zum Glück ein bisschen Geld hat und sehr gut versichert ist. Sie könnte niemals für die Pflege zahlen, die Charla braucht, weil sie auch so schon immer knapp bei Kasse ist. Aber schließlich hat sie auch einen teuren Geschmack. Hier geht es rechts. Am besten parken Sie da vorne bei dem Stoppschild. Die Tür zu ihrer Wohnung ist die zweite links, die mit der grünen Fußmatte.«

Ich hatte kaum den Motor abgestellt, als er schon aus dem Wagen sprang und quer über die Straße schoss. Mit Mühe holte ich ihn ein und legte eine Hand auf seinen Arm. Er war ein großer, breitschultriger Kerl, und ehe er Gelegenheit bekam, mich einfach abzuschütteln, sagte ich mit eindringlicher Stimme: »Warten Sie. Ich gehe als Erste rein, denn vielleicht finden sich Beweise in der Wohnung, falls ihr doch was zugestoßen ist. Dann könnte dies ein Tatort sein.«

Er übergab mir seinen Schlüsselbund und zeigte auf den bronzenen Schlüssel, der dort zwischen lauter silberfarbenen hing. »Der hier. Es gibt ein Drehschloss und dazu noch einen Riegel, aber mit dem Schlüssel gehen beide auf.«

Ich nickte, und als ich die Tür behutsam aufschob, drang ein klägliches Miauen an mein Ohr. Entschlossen schob sich Mac an mir vorbei, drückte die Tür wieder ins Schloss und rief: »He, Babe. Bist du zu Hause?«

Erneut legte ich die Hand auf seinen Arm und hielt ihn diesmal richtig fest. »Was habe ich gesagt? Sie müssen kurz hier vorne warten. Genau hier. Sie warten, und ich sehe mich schnell in der Wohnung um.«

Er nickte knapp. »Ja, sicher, tut mir leid.« Er wurde rot, und mir kam es so vor, als bliebe er nur widerstrebend stehen.

Ich ging den Flur entlang ins Wohnzimmer, von dem aus man nach rechts in eine kleine Küche und nach links in einen schmalen Korridor gelangte, durch den man ins Schlafzimmer mit jeder Menge Poster an den dunklen Wänden und ein sauberes, helles Badezimmer kam.

Die Katze saß im Bad vor einem Katzenklo und sah mich misstrauisch aus großen Augen an. Ich lugte um das Tier herum und erkannte, dass die Katzentoilette abgesehen von einem einzelnen Häufchen sauber war. Danach trat ich den Rückzug an und ging zurück zu Mac.

Er knabberte nervös an einem Fingernagel, aber wie es schien, hatte er sich wirklich nicht vom Fleck gerührt.

»Hat Sari jemanden, der ihre Katze füttert, wenn sie mal nicht da ist?«

»Ja. Ein junges Mädchen, das gleich nebenan mit seiner Mutter wohnt. Das ist nicht gut. Sie liebt das blöde Vieh und würde es niemals sich selbst überlassen, nicht einmal für einen Tag.«

Mac hatte recht. Das war nicht gut. Erst diese Gala und jetzt auch noch dieses Tier.

Ich sah mich noch mal gründlicher in Saris auffallend aufgeräumter Wohnung um. Neben der Spüle stand ein angeschlagener, aber sauberer orangefarbener Becher, und die Arbeitsflächen waren blank geschrubbt. Die Böden waren ordentlich gewischt, die Teppiche so frisch gesaugt, dass sogar noch die Abdrücke des Staubsaugers zu sehen waren, und die Kissen auf dem Sofa so prall, als ob sie erst vor Kurzem gründlich ausgeschüttelt worden wären.

An der Wand mir gegenüber, neben einer abgesperrten Schiebetür, die zur Terrasse führte, hingen ein paar Fotos. Ich ging durchs Wohnzimmer und sah sie mir genauer an. Sie waren zu verschiedenen Tageszeiten an verschiedenen Orten aufgenommen worden, aber immer lächelten darauf die beiden selben jungen Frauen fröhlich in die Kamera.

Ich erkannte eins der beiden Mädchen und riss überrascht die Augen auf.

Mac schien meine Verblüffung zu bemerken, denn mit schnellen Schritten trat er neben mich und zeigte auf die andere junge Frau. »Das ist Sari. Sie sehen sich verblüffend ähnlich, finden Sie nicht auch?«

Ich starrte immer noch die Fotos an. Die Mädchen waren beide klein und zierlich, und sie hatten beide langes, dickes, dunkles Haar. Wobei man aus der Nähe selbstverständlich auch die Unterschiede sah. Sari hatte leuchtend grüne Augen und war weiß, wogegen Ally dunkelbraune Augen hatte und eindeutig Asiatin war.

»Sie könnten Zwillingsschwestern sein.«

Mac nickte. »Allerdings. Was manchmal ziemlich seltsam ist.«

Auf anderen Fotos sah man Sari in Gesellschaft einer Gruppe junger Mädchen, und ich fragte Mac: »Und diese Mädchen? Wer sind die?«

Er wies auf eins der Bilder und erklärte mir: »Sie gehen zu Sari in die Nachmittagsbetreuung. Meist sind sie zu sechst oder zu siebt.«

»Sie scheint ein wunderbarer Mensch zu sein.«

»Auf jeden Fall. Ich dachte, dass wir sie hier finden würden«, fuhr er fort und sah sich suchend um. »Aber sie war nicht hier. Die Wohnung riecht … steril. Und sie ist viel zu aufgeräumt. Wenn Sari hier gewesen wäre, hätte sie sich was gekocht oder auf jeden Fall geduscht. Sie liebt das Duftzeug, das es in Parfümerien gibt, deswegen riecht es in der ganzen Wohnung nach Vanille, wenn sie duscht.«

Inzwischen war die Katze aus dem Bad gekommen und miaute jämmerlich im Flur.

»Barnaby! He, Barney!«, lockte Mac, und als der Kater seinen Namen hörte, kroch er langsam auf uns zu. Er war ein wunderschönes Tier, mit grauem Fell und riesengroßen goldenen Augen, und fing an zu schnurren, während er mir um den Knöchel strich. Ich bückte mich und tätschelte ihm sanft den Kopf, und als er sich laut schnurrend weiter an mir rieb, war ich mir sicher, dass sein Frauchen nicht zurückgekommen war.

»Sie sagen, Saris Mutter lebt in einem Pflegeheim hier in der Stadt. Hat sie noch andere Verwandte?«

»Nein. Sie ist ein Einzelkind, und es hat sie entsetzlich mitgenommen, als ihr Dad vor ein paar Jahren an Krebs gestorben ist. Sie meinte damals, dass sie jeden Halt verloren hätte, obwohl sie und ihre Mom sich ebenfalls sehr nahestehen.«

Ich konnte nachvollziehen, wie es ihr gegangen war, denn ich war ebenfalls ein Einzelkind und hatte meine Eltern schon in jungen Jahren bei einem Verkehrsunfall verloren. Die Trauer und die Angst, die ich danach empfunden hatte, hallten bis heute in mir nach, und erst nach Jahren hatte sich das Gefühl gelegt, dass ich in eine Welt hineingeschleudert worden war, in der es keine Schwerkraft gab und nichts mich mehr am Boden hielt.

»Sind Sie okay?«, erkundigte sich Mac in sorgenvollem Ton. »Sie sind mit einem Mal ganz blass.«

Ich lächelte ihn an. »Es geht mir gut. Am besten füttern wir jetzt noch den Kater, und dann fahren wir aufs Revier.«

Mac packte Katzenfutter, ein paar Näpfe und ein bisschen Spielzeug für den Kater ein und setzte Barnaby in die Transportbox, die im Flurschrank stand. Im Anschluss schrieb er Sari eine kurze Nachricht, dass er ihren Kater mitnehmen würde, legte sie ihr auf den Küchentisch und wandte sich zum Gehen.

»Haben Sie alles, was Sie brauchen?«

»Ja.«

Er ging voran, schloss sorgfältig von außen ab und führte mich in die Tiefgarage, in der Saris blauer, ziemlich verstaubter Honda stand.

»Wenn möglich, fährt sie mit dem Bus oder dem Rad, und ich weiß wirklich nicht, wann sie zum letzten Mal mit ihrem Auto unterwegs gewesen ist.«

Wir gingen wieder los, doch auf dem Weg zu meinem Wagen blieb er plötzlich stehen, stellte den Korb mit Saris Kater ab, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Er atmete geräuschvoll aus, dann aber richtete er sich entschlossen wieder auf und stieß mit rauer Stimme aus: »Verdammt. Ich dachte wirklich, dass sie heimgefahren wäre. Wo zur Hölle steckt sie?« Er sah Richtung Westen, in Richtung des Verlorenen Sees, und fragte noch mal: »Was zur Hölle ist mit ihr passiert?«

Ich wünschte mir, ich könnte es ihm sagen, aber da ich ihm die Antwort schuldig blieb, hing die Frage weiter in der Luft.

Kapitel drei

Als Mac und ich auf das Revier kamen, hatten Jake und Ally bereits ihre Aussagen gemacht, und während der Beamte vorne Ally half, die notwendigen Formulare auszufüllen, schickte Mac ein aktuelles Bild von Sari auf mein Telefon.

Ich druckte mir das Foto aus und prägte es mir ein. Sie trug darauf ein längeres, rot-schwarz kariertes Baumwollhemd, verwaschene Jeans, kniehohe, braune Lederstiefel, und sie lächelte den Fotografen an. Auch Mac und Ally waren auf dem Bild und trugen ebenfalls Flanellhemden und Jeans.

Sie wirkte jung, gesund und strahlend.

Als ob sie glücklich wäre, weil noch das gesamte Leben vor ihr lag.

Mac zeigte auf das Bild. »Das wurde kurz vor Halloween im letzten Herbst gemacht. Das Hemd hier hat sie auch am See getragen, aber über schwarzen Jeans.«

»Und was für Schuhe hatte Sari gestern an?«

»Stiefel. Schwere Wanderstiefel.«

Ich ging kurz die schriftliche Vermisstenmeldung durch und wollte wissen: »Hat sie irgendwelche Muttermale oder ist sie tätowiert?«

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft meldete sich Jake zu Wort. »Was spielt das denn für eine Rolle?«

Offensichtlich hatte er den Automaten mit den Snacks gefunden und sich eine Tüte Chips geholt. Und jetzt zog er die Dinger einzeln aus der Tüte, sah sie sich genau von allen Seiten an und schob sie sich in einem gleichförmigen Rhythmus in den Mund.

»Wir müssen einfach alles wissen, was uns vielleicht weiterhilft«, gab ich ein wenig ausweichend zurück. Die Wahrheit, dass uns diese Dinge bei der Identifizierung einer Leiche helfen könnten, hätte seine Ängste und die der beiden anderen sicher nur verstärkt.

»Sie hat ein Stern-Tattoo im Nacken, und am rechten Knöchel hat sie noch ein vierblättriges Kleeblatt«, meinte Mac, und ich notierte mir die Infos auf der Rückseite von Saris Bild.

»Und wie geht es jetzt weiter?«, wollte Ally wissen.

»Nun, ich mache meinen Job, und Sie drei warten erst mal ab. Ich werde ein paar Telefongespräche führen und ein paar Dinge überprüfen, aber wie gesagt, die meisten Leute tauchen innerhalb von ein paar Stunden wieder auf. Sie dürfen nicht vergessen, dass es kein Verbrechen ist, auf Tauchstation zu gehen, und vielleicht musste Sari einfach mal für eine Weile weg von allem.«

»Warum?«, erkundigte sich Jake. Inzwischen hatte er die Chipstüte geleert und knüllte sie zusammen, aber meine Antwort schien ihn echt zu interessieren.

Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, vielleicht wurde ihr ja einfach alles irgendwie zu viel. Hätten Sie selbst noch nie mal einfach so für kurze Zeit verschwinden wollen?«

»Natürlich, und zwar jeden gottverdammten Tag«, räumte er feixend ein. »Aber so bin ich nun einmal.«

»Genau, doch so ist Sari nicht. Sie ist nicht so wie du«, fuhr Mac ihn an und wandte sich an mich. »Sie ist ein sehr verantwortungsbewusster Mensch, das haben wir Ihnen doch schon gesagt. Und diese Gala heute Abend – dabei hätte sie groß rauskommen wollen.«

»Und deshalb nehmen wir ihr Verschwinden auch so ernst.«

Es gab für sie auf dem Revier nichts mehr zu tun, deswegen brachte ich sie an die Tür. »Sie sollten weiterhin versuchen, Ruhe zu bewahren. Werden wir uns heute Abend auf der Gala sehen?«

Sie schüttelten den Kopf, und Mac meinte: »Sari hatte mir zwar eine Einladung besorgt, aber die habe ich dann meiner Schwester überlassen, denn ich habe heute Abend Dienst im Krankenhaus.«

Und Ally fügte noch hinzu: »Da brächten mich keine zehn Pferde hin. Mit den verstaubten, alten, reichen Knackern, die da hingehen, habe ich beim besten Willen nichts am Hut.«

Dabei beließen wir es, und als sie sich zum Gehen wandten, schwor ich ihnen, sie sofort anzurufen, wenn es irgendwelche Neuigkeiten gäbe, und sie sagten mir dasselbe zu. Doch als ich ihnen hinterhersah, wusste ich mit einem Mal, warum mir schon den ganzen Tag lang unbehaglich war.

Einer von ihnen log.

Ich konnte zwar nicht sagen, wer oder warum … doch einer von den dreien machte mir was vor.

Noch einmal sah ich mir das Bild von Sari Chesney an. Nach allem, was ich bisher von ihr wusste, war sie eine liebevolle Tochter, eine treu sorgende Freundin, eine engagierte Angestellte, liebte Tiere und war während ihrer Freizeit für benachteiligte Kinder da.

Doch wenn es eine Sache gab, die mir in den sechs Jahren als Polizistin klar geworden war, dann, dass kein Mensch im wahren Leben ohne Fehler war und jeder eine bösartige, wenig einnehmende Seite hatte. Ich machte auf dem Absatz kehrt und zog die Tür der Wache auf. Jetzt war ich wirklich neugierig herauszufinden, was für ein Mensch sich hinter Sari Chesneys breitem Lächeln verbarg.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, legte eine Akte an und nahm mir vor, mit meiner Suche bei der Mutter anzufangen, denn schließlich hatte Mac erzählt, die beiden Frauen würden sich sehr nahestehen.

Ich suchte mir die Nummer des von ihm genannten Pflegeheims heraus und fragte telefonisch an, ob in den letzten Tagen irgendwer bei Charla Chesney zu Besuch gewesen war. Die Frau, mit der ich sprach, Miss Rosa, bat mich, kurz zu warten, damit sie im Gästebuch nachsehen könnte, und nach wenigen Sekunden kam sie wieder an den Apparat.

»Sind Sie noch dran, Detective? Sari war am Donnerstag für eine Stunde hier.«

»Aber danach kam niemand mehr bei ihr vorbei? Seit Donnerstag hat Charla niemand mehr besucht?«

»Nein, Ma’am. Wir führen genauestens Buch über die Gäste der Bewohner unseres Heims. Seit Mrs. Chesney hier vor ein paar Jahren eingezogen ist, kommt Sari jede Woche zwei-, dreimal vorbei. Ich glaube also nicht, dass sie vor Montag, Dienstag noch mal wiederkommt. Ist was passiert?«, fragte Miss Rosa in besorgtem Ton. »Es gibt doch sicher einen Grund, warum Sie diese Fragen stellen.«

Ich gab ihr eine ausweichende Antwort und bat sie, mich anzurufen, falls sich Sari blicken ließ. Kurz überlegte ich, ob ich mit Charla sprechen sollte, doch ich wollte sie nicht unnötig in Angst versetzen. Und wenn ich mit ihr sprechen müsste, täte ich das besser nicht am Telefon. Ich wusste nicht, wie weit die Krankheit bei ihr fortgeschritten war, zu meiner Oma Julia aber drang man in persönlichen Gesprächen besser durch als nur mit einem Telefonanruf.

Als Nächstes rief ich im Historischen Museum an und hinterließ dort Saris Chefin eine Nachricht mit der Bitte, mich zurückzurufen, weil wir auf der Suche nach der zweiten Kuratorin des Museums waren.

Ich ging noch ein paar E-Mails und Papierkram im Zusammenhang mit einem Fall, den ich vergangene Woche abgeschlossen hatte, durch, und dann trat ich den Heimweg an. Auf meiner Fahrt nach Hause hielt ich noch kurz bei der Reinigung und holte dort mein Kleid, das ich am Abend auf der Gala tragen wollte, ab. Es war ein trägerloser, bodenlanger Traum aus nachtschwarzem Satin, und ich kam mir darin wie eine Hollywoodschauspielerin in einem Spionagethriller vor.

Auch wenn das Kleid ein halbes Jahr nach der Geburt von meiner Tochter noch nicht wieder wirklich locker saß. Zwar hatte ich den größten Teil des Schwangerschaftsgewichts inzwischen wieder abgebaut, die Pfunde, die geblieben waren, aber waren von meinem Bauch hinabgewandert, weshalb meine Hüften und vor allem meine Schenkel immer noch ein bisschen voller waren. Ich fand es schrecklich, dass mich solche Dinge interessierten, doch ich war nun einmal meine alte, sportliche Figur statt weicher Rundungen gewohnt.

Behutsam legte ich die elegante Robe in den Kofferraum meines Wagens und versuchte, mich dafür zu wappnen, unter meinem Kleid ein Stützmieder zu tragen und von dem Genuss von allzu vielen Appetithäppchen und Cocktails abzusehen. Ich hatte schließlich Glück, dass mir ein Ticket für die Gala zugefallen war, denn das Museum war so klein, dass es nur eine stark begrenzte Zahl an Eintrittskarten gab, die alle schon seit Wochen ausverkauft waren. Ich würde dort als Gast meines Vorgesetzten, Polizeichef Angel Chavez, sein, denn netterweise hat er zu seiner eigenen noch zwei weitere Karten für das Fest gekauft und sie auf dem Revier verlost, wobei das Glück mir selbst und meinem Kollegen Lucas Armstrong hold gewesen war.

Auf meiner Fahrt quer durch die Stadt deutete vieles auf die einwöchige Hundertfünfzigjahrfeier hin, die heute Abend ihren Anfang nehmen sollte. Ich hätte mich auf diese Festlichkeiten freuen sollen, aber aus welchem Grund auch immer hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich versuchte, meine Ängste abzuschütteln und mir einzureden, dass das unvorhersehbare Wetter schuld an meiner seltsamen Bedrücktheit war. Der Frühling in den Rockies ist in einem Augenblick noch sonnenhell und prächtig, und im nächsten schieben sich die Wolken vor die Sonne, und es wird erschreckend kalt.

Inzwischen hingen die Wolken vom Lost Lake auch über Cedar Valley und verdunkelten das ganze Tal. Die scharlachroten Flaggen, die an den Laternenmasten hingen, flatterten wie Fahnen einer aufziehenden Armee im Wind, und selbst die weißen Pavillons in den verschiedenen Parks wirkten apokalyptisch wie Atombunker, die keinen echten Schutz mehr boten, weil die Katastrophe bereits eingetreten war.

Ich fuhr absichtlich etwas langsamer, als ich in Höhe des Museums war. Es handelte sich um einen großen, weitläufigen Bau, der mit grauen Flusssteinen verkleidet war, und sah mit seinen Bleiglasfenstern und den Türmen aus wie eine Burg. Damit die abendlichen Gäste nicht die Zufahrten mit ihren PKWs versperrten, stellte eine Handvoll Leute leuchtende, orangefarbene Kegel auf dem Parkplatz und der angrenzenden Straße auf.

Ich bog links ab, und als ich durch den Canyon nach Hause fuhr, dachte ich über die Ereignisse des Morgens nach und kämpfte weiter gegen die Verzweiflung an, die mich genauso niederdrückte wie die eisengraue Wolkenwand das Tal.

Zu Hause traf ich meine Tochter Grace und unsere Nanny Clementine im Garten an. Sie saßen dort auf einer Decke, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen, und wie immer hatte unser Basset Seamus sich an ihrer Seite ausgestreckt. Ich nahm Grace auf den Arm und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, bis ihr Kopfschütteln mir zeigte, dass sie dieses Übermaß an Zärtlichkeit ein bisschen übertrieben fand.

»Wir kriegen Regen«, stellte Clementine mit dumpfer Stimme fest. Ich fragte mich, was los war, denn sonst war sie wesentlich gesprächiger, wenn ich nach Hause kam.

»Wahrscheinlich. Aber warum bist du überhaupt noch hier? Ist Brody noch nicht wieder da?«

Sie stopfte ein paar lose Strähnen ihrer rosa-blonden Haare unter eine violette Colorado-Rockies-Baseballkappe und erklärte augenrollend: »Vor einer Stunde hat er mir getextet, ob ich noch ein bisschen länger bleiben kann. Anscheinend ging’s um irgendeine Videokonferenz, die länger geht. Aber schon gut. Das wird Sie etwas extra kosten, aber kein Problem. Obwohl jetzt Wochenende ist. Da sollten Sie und Brody hier bei Ihrer Tochter sein und etwas als Familie unternehmen.«

»Ich danke dir für deinen weisen Rat.«

Achselzuckend und mit einem schwachen Lächeln tat sie meine spöttische Bemerkung ab, und ich stand da und sah auf diese schlaksige Studentin in den abgeschnittenen Jeans und dem zu großen Strickpulli hinab. Sie wirkte viel zu jung, um schon das College zu besuchen, ganz zu schweigen davon, allein auf meine Tochter aufzupassen, wenn ich bei der Arbeit war.

»Geht es dir gut? Du wirkst ein bisschen … abgelenkt«, stellte ich schließlich fest.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin okay. Es geht um meinen Freund, aber schon gut …«

»Kann ich was für dich tun? Für dich bin ich wahrscheinlich eine alte Frau, aber ich kenne mich durchaus mit diesen Dingen aus.«

Sie senkte den Kopf, doch es war nicht zu übersehen, dass sie rot geworden war. »Ich komme schon zurecht. Aber danke für das nette Angebot. Und wenn Sie jetzt zu Hause sind, kann ich doch sicher gehen. Ich habe nämlich einen Termin im Nagelstudio, und danach fahren ich und Tori noch zur Feuerwache, um den Kerlen beim Waschen ihrer Autos zuzusehen.«

Mit einem mühsam unterdrückten Augenrollen antwortete ich: »Na klar. Wir sehen uns dann am Montag. Vielen Dank, dass du jetzt extra länger hiergeblieben bist. Ich weiß, dass Grace sich immer freut, wenn sie mit dir zusammen ist.«

Clem rappelte sich von der Decke auf und fiel mir überraschend um den Hals. »Ich mag Sie. Sie sind nett, denn Sie bezahlen mich pünktlich, und Sie sagen nichts zu meinen Haaren. Und dazu sind Sie noch ein Cop. Das heißt, Sie wären meine Heldin, wenn ich Helden hätte. Aber das ist nicht der Fall.«

Kaum, dass sie uns verlassen hatte, fing es an zu regnen, und nach wenigen Minuten schwoll der Niederschlag zu einer regelrechten Sintflut an. Ich legte Grace in ihre Wiege, bevor ich weiter in die Küche ging. Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr in den Bauch bekommen, und nach der Wanderung zum See und dann noch mal zurück zum Parkplatz stopfte ich jetzt gierig ein paar Hummus-Cracker in mich rein. Die aber machten mich nicht wirklich satt, weshalb ich über einer Schüssel Hähnchen-Nudel-Salat saß, als Brody endlich von der Arbeit kam.

»Hi, Schatz. Es tut mir leid, dass es so spät geworden ist«, sagte er zur Begrüßung.

Ich hatte einen vollen Mund, deswegen nickte ich ihm einfach zu, und lächelnd beugte er sich über mich und gab mir einen Wangenkuss.

»Unser Vertragspartner in Tokio war zu blöd, um sich die Uhrzeit unserer Videoschalte richtig zu notieren, deswegen musste ich noch ewig warten, bis sie irgendwann zustande kam. Man sollte meinen, die ganze Technik, die wir heutzutage haben, würde es uns leichter machen, aber nein.«

Ich hatte wieder einen vollen Mund und nickte abermals.

Brody war Geologe, und nach beinah zwanzig Jahren Feldarbeit an so entlegenen Orten wie dem nördlichen Alaska und der Mongolei hatte er einen Job bei einer hiesigen Beraterfirma angenommen, bei dem es um internationale Schürfverträge ging. Obwohl er mit der Arbeit gutes Geld verdiente, war der größte Vorteil, dass er jetzt normale Arbeitszeiten hatte und die meiste Zeit zu Hause war.

Was allerdings nicht hieß, dass unsere Beziehung deshalb einfach war. Nachdem er mich einmal betrogen hatte, fiel es mir noch immer schwer, ihm zu vertrauen. Ihr Name war Celeste Takashima, und sie hatte das Talent, im ungünstigsten Augenblick in meinen Gedanken aufzutauchen, so als ob sie spürte, wann es Zeit für einen Auftritt war. Wobei es half, dass er jetzt jede Nacht an meiner Seite schlief. Und dass er unserem Kind ein wirklich wunderbarer Vater war. Deswegen hatte ich inzwischen seinen Heiratsantrag angenommen und hoffte, er erwies sich nach der für diesen Herbst geplanten Hochzeit als genauso wunderbarer Ehemann.

Wir würden wirklich heiraten.

Vor einem Jahr war mir bei diesem Wort der kalte Angstschweiß ausgebrochen, und inzwischen dachte ich tatsächlich über Hochzeitskleider, eine Gästeliste, Blumen und eine oder, wenn es nach mir gehen würde, eine ganze Reihe Torten nach.

Wir sprachen über Dinge, über die man sich mit seinem Partner unterhielt: wie unser Tag gewesen war, wie es unserer Tochter ging, wohin wir diesen Sommer in den Urlaub fahren sollten. Es war ein lockeres Gespräch, und als mein Smartphone schrillte, ging ich widerstrebend dran. Wenn ich den Apparat nicht nach den ersten Worten ein Stück von mir weggehalten hätte, wäre mir das Trommelfell geplatzt.

»Ma’am? Ma’am! Sie müssen aufhören, derart zu schreien«, sagte ich in Richtung meines Telefons. »Ich kann Sie nicht verstehen.«

Brody murmelte »Viel Glück« und trat den Rückzug aus der Küche an.