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Tödliche Rache.
Es ist Halloween-Nacht in Cedar Valley. Während des alljährlichen Stadtfestes nutzt Detective Gemma Monroe die Gelegenheit, den pensionierten Richter Caleb Montgomery in seiner Anwaltskanzlei zu besuchen. Zu Gemmas Überraschung wirkt Caleb besorgt, geradezu verängstigt, und er vertraut ihr an, dass er anonyme Drohungen erhält. Als Gemma zu ihrem Auto zurückgeht, erschüttert eine heftige Explosion in Calebs Büro die Nacht.
Sofort beginnen Gemma und ihr Team mit den Ermittlungen, als ein weiterer Mann getötet wird. Schnell wird klar, dass hier ein Nachahmungstäter am Werk ist. Ähnliche Morde gab bereits in der Vergangenheit. Und wenn Gemma diesen Mörder nicht aufhalten kann, wird er seine tödliche Mission vollenden ...
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Seitenzahl: 518
Tödliche Rache.
Es ist Halloween-Nacht in Cedar Valley. Während des alljährlichen Stadtfestes nutzt Detective Gemma Monroe die Gelegenheit, den pensionierten Richter Caleb Montgomery in seiner Anwaltskanzlei zu besuchen. Zu Gemmas Überraschung wirkt Caleb besorgt, geradezu verängstigt, und er vertraut ihr an, dass er anonyme Drohungen erhält. Als Gemma zu ihrem Auto zurückgeht, erschüttert eine heftige Explosion in Calebs Büro die Nacht.
Sofort beginnen Gemma und ihr Team mit den Ermittlungen, als ein weiterer Mann getötet wird. Schnell wird klar, dass hier ein Nachahmungstäter am Werk ist. Ähnliche Morde gab bereits in der Vergangenheit. Und wenn Gemma diesen Mörder nicht aufhalten kann, wird er seine tödliche Mission vollenden ...
Emily Littlejohn wurde in Southern California geboren und wohnt nun in Colorado. Sie lebt dort mit ihrem Mann und ihrem betagten Hund.
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Emily Littlejohn
Shatter the Night - Dunkle Schatten
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Uta Hege
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Widmung
Danksagungen
Prolog
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Epilog
Impressum
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Für meinen Vater und für meinen Großvater,
zwei Veteranen.
Ihr fehlt uns sehr.
Beim Schreiben ist man einsam, aber die Veröffentlichung eines Buchs ist echte Teamarbeit. Chris, ich kann nur deshalb meinen Träumen hinterherjagen, weil du mit beiden Füßen auf der Erde bleibst. Ich danke dir dafür, dass du mich liebst, auch wenn ich wieder mal in meiner eigenen Welt lebe. Pam Ahearn, meine Freundin und Agentin, ohne dich hätte ich nicht auf diese Reise gehen wollen. Catherine Richards, Nettie Finn, Linda Sawicki und der Rest des Teams bei Minotaur – danke, dass ihr auch weiterhin auf meine Fähigkeit, Gemmas Geschichte zu erzählen, vertraut. Claire und die Erdnuss, ihr zwei seid die größte Freude meines Lebens.
Es war die Nacht des Grauens. Verhüllte Kreaturen mit Zähnen, so spitz wie Dolche, und geisterhafte Wesen schienen durch die Luft zu schweben, weil man ihre Füße in den Turnschuhen unter den aus Wäscheschränken in der ganzen Stadt stibitzten, langen, weißen Bettlaken nicht sah.
Die Nacht gehörte diesen grausigen Geschöpfen, und sie liefen ungehindert überall herum.
Es war Halloween, und in der malerischen Kleinstadt Cedar Valley in den Rocky Mountains wirkte eine dunkle Energie aus alter Zeit. Ein finsterer Geist bewegte sich inmitten all der Kinder, die nach Süßem oder Saurem schrien.
Natürlich war er unsichtbar und nicht zu spüren. Wir Menschen sind nun einmal ichbezogene Wesen, und wenn dunkle Kräfte sich den Weg in unser Leben bahnen, nehmen wir sie kaum wahr.
Erst später sollte ich den dunklen Kräften einen Namen geben können, sie als das erkennen, was sie waren, und Wut und Trauer spüren.
Das Böse hatte sich in unsere Stadt geschlichen, ohne Voranmeldung oder von uns dazu aufgefordert worden zu sein. Wobei wir hätten damit rechnen sollen, denn Städte sind etwas Lebendiges, und immer schon zog Gleiches Gleiches an.
Tatsächlich hatten wir das Böse hierher eingeladen, auch wenn wir es damals noch nicht wussten, und als es uns aufging, war das Unglück schon geschehen.
Menschen waren ermordet worden.
Und die Leben anderer und Cedar Valley würden niemals mehr dieselben sein.
Der 31. Oktober, Halloween.
Ich fürchtete den Tag, seit ich vor sechs Jahren zur Polizei gegangen war. Ich konnte nicht mehr glauben, dass es dabei nur um unschuldige Späße ging, denn dafür hatte ich zu oft entweihte Gräber und zerstörte Kürbisse gesehen und allzu viele ausufernde Kneipenschlägereien und Autounfälle nach dem Genuss von Drogen oder Alkohol erlebt. Die Nacht lud alle Arten von Gespenstern und leichenfressenden Dämonen ein, herauszukommen und anderen übel mitzuspielen.
Als Mutter aber musste ich den Abend nicht nur tolerieren, sondern früher oder später als das fröhliche Vergnügen annehmen, das er für Kinder nun einmal war. Mit ihrem knappen Jahr war meine Tochter Grace schon jetzt begeistert von den Leuchtkürbissen und den Spinnweben, mit denen die Gärten und Veranden in der ganzen Stadt überzogen waren.
Zum Glück lag die Kontrolle über ihre Aufmachung, solange sie so klein war, noch bei meinem Verlobten Brody Sutherland und mir. Er hatte sie wie eine kleine Hexe anziehen wollen, während ich eher für ein süßes Häschen war. Nach einer aufgeladenen Diskussion in einem Kostümgeschäft in Denver, wo wir im September kurzentschlossen übers Wochenende hingefahren waren, hatten wir am Ende vierzig Dollar für ein Zombie-Lama-Outfit auf den Tisch gelegt.
Es war genauso lächerlich, wie es klang, und bis wir Grace die Ohren angezogen hatten, sah sie aus wie ein tollwütiges Kamel. Doch ich kann ziemlich stur sein, und bei Gott, wir hatten schließlich jede Menge Geld für diese lächerliche Aufmachung bezahlt. Brody kramte ein uraltes Eselskostüm aus dem Schrank, ich zog ein paar Katzenohren über meine dunklen Haare, und das war’s.
Inzwischen waren wir seit einer Stunde unterwegs und hätten es bald geschafft. Der Himmel war so violett wie eine Aubergine und sah irgendwie bedrohlich aus, doch es war Vollmond, und wir hatten zusätzlich das Glück, dass der vorhergesagte Schneefall ausgeblieben war.
Wie in vielen Bergstädten in Colorado standen auch die Häuser hier in Cedar Valley alles andere als dicht gedrängt. Der Abstand zwischen uns und unseren nächsten Nachbarn betrug eine gute Viertelmeile, und da auch die meisten anderen Häuser so weit auseinanderlagen, sponsorte der Stadtrat jedes Jahr an Halloween die Nacht der Geister in der Main Street, wo die Händler ihre Auslagen mit Spinnweben und Skeletten schmückten und sich gegenseitig mit den tollen Süßigkeiten überboten, die es bei ihnen zu erbetteln gab. Angeblich teilte dieses Jahr der alte Brewer, der die Buchhandlung betrieb, die größten Schokoriegel aus und holte regelmäßig welche hinten aus dem Lager nach.
Inzwischen hatten wir den Teil der Hauptstraße erreicht, in dem es weniger Geschäfte als private Häuser gab, und langsam fielen Grace die Augen zu.
Hier war es deutlich ruhiger, denn die meisten Leute waren weiter nördlich unterwegs.
Brody setzte sich die Kleine auf die Schultern, rückte sein Kostüm zurecht und fragte: »Was meinst du? Es war ein langer Abend, und ich finde, dass es langsam reicht.«
Er hatte recht, in einem der Häuser aber müssten wir noch einkehren, ehe es nach Hause ging. »Caleb hat gesagt, er würde Grace auf jeden Fall in ihrem Kostüm sehen wollen. Ich habe ihm versprochen, kurz bei ihm vorbeizuschauen, und schließlich stehen wir fast vor seinem Haus.«
Ich zeigte auf den kleinen roten Backsteinbungalow, der etwas abseits von der Straße lag, und Brody nickte anerkennend, als sein Blick auf die Mercedes-Limousine fiel, die am Rand der Straße parkte. Gemeinsam lasen wir das an den schwarzen, gusseisernen Zaun montierte Schild. Montgomery and Sons, Rechtsanwälte und Notare. Dabei wusste jeder in der Stadt, dass es hier keine Söhne gab. Der pensionierte Richter residierte hier allein mit einer älteren Gehilfin, die sogar bei größter Hitze selbst gestrickte graue Jacken trug und permanent nach Sonnenmilch und Kokosnüssen roch.
Wir öffneten das Tor, das furchtbar quietschte, und nahmen den schmalen Weg zum Haus. Caleb oder vielleicht eher Edith, seine Frau, hatte den Vorgarten mit ausgehöhlten Kürbissen mit Teelichtern geschmückt.
Kaum dass wir auf der Veranda standen, ging die Haustür auf, und Caleb nahm uns lächelnd und mit einer Schale voller Buttertoffees in Empfang.
»Hereinspaziert!«, bat er, und als er die verschlafene Grace in Brodys Armen sah, bemerkte er erstaunt: »Ein tollwütiges Kamel! Wie originell! Wo gab’s denn so ein ausgefallenes Kostüm?«
»Bei Colfax«, klärte ich ihn achselzuckend auf.
»Toller Wagen, Caleb«, meinte Brody und gab ihm die Hand. »Ein vorgezogenes Geschenk zu Weihnachten?«
»So kann man sagen«, stimmte Caleb grinsend zu. »Aber man muss sich manchmal eben auch was Gutes tun, nicht wahr?«
»Auf jeden Fall.«
Der vordere Bereich des kleinen Hauses diente als Empfang, und die beiden Schlafzimmer fungierten als Büros für Caleb und seine Helferin. Im hinteren Bereich gelangte man durch eine Flügeltür in Küche, Bad und ein oder zwei Abstellkammern.
Ein kleiner Hund in einem Bienenkostüm kam fröhlich bellend auf uns zugerannt. Quietschend entwand sich Grace Brodys Armen, und er stellte sie auf dem Boden ab. Das Hündchen überschlug sich vor Begeisterung, zerdrückte seine Flügel, als es sich vor Freude rücklings auf den Boden warf, und streckte ihr den bleichen Bauch mit seinen dunklen Tupfern hin.
»Seit wann hast du denn einen Hund?«, erkundigte ich mich bei meinem alten Freund.
»Eigentlich gehört er meiner Nachbarin, aber als kluges Tier treibt er sich lieber hier bei mir herum. Ich bringe Cricket abends immer wieder rüber, wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«
Wir sahen dem Hund und Grace noch einen Augenblick beim Spielen zu, dann aber wandte sich Caleb mir zu und fragte: »Dürfte ich dich kurz alleine sprechen, Gemma?«, und ging vor in sein Büro.
Ich folgte ihm und blickte lächelnd auf den weißen Kittel, den er trug. Mit seinem wirren weißen Haar und Schnauzer hatte er auch vorher schon wie Albert Einstein ausgesehen, doch dieser Eindruck wurde durch die Kostümierung noch verstärkt. Nachdem ich eingetreten war, schob er die Tür des Arbeitszimmers zu und nahm in dem großen Sessel hinter seinem Schreibtisch Platz. Als kleiner Mann wurde er von dem Ledermonstrum mit den messingfarbenen Beschlägen fast verschluckt.
Er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. »Das Leben kann ermüdend sein, nicht wahr? Als Kind hatte ich fürchterliche Angst zu sterben, aber heutzutage würde ich bei dem Gedanken, dass das Leben ewig währen könnte, vor Entsetzen schreien. Wir Menschen kommen aus gutem Grund mit einem Verfallsdatum zur Welt, denn unsere Herzen sind zu weich und unsere Emotionen viel zu brüchig, um das Leben länger zu ertragen, als es vorgesehen ist.«
Ich setzte mich auf einen der zwei Besucherstühle, und als Caleb reglos auf den Mahagonischreibtisch starrte, wo ein großer brauner Umschlag lag, bekam ich es mit der Angst zu tun. Es sah ihm gar nicht ähnlich, derart grüblerisch oder sentimental zu sein, und ich empfand es als beunruhigend, ihn so zu sehen.
Es wirkte fast, als hätte Caleb Angst.
Ich kannte ihn bereits mein Leben lang, weil er ein guter Freund meines Großvaters Bull Weston war. Die beiden Männer hatten erst als Staatsanwälte und danach als Richter hier in unserer Stadt gedient, und beide waren gute Analytiker mit einem wachen Geist. Nach all den Jahren im Gerichtssaal wussten sie, dass jeder Mensch auch eine dunkle Seite hatte, aber statt deshalb in Wehmut und Trauer zu versinken, hatten beide immer eher die Wissenschaft bemüht und beispielsweise hinterfragt, ob Eigenschaften, die die Menschen zu Verbrechern machten, eher angeboren oder anerzogen waren.
Ich hatte die Montgomerys bereits seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Vielleicht ging ja etwas in der Familie vor, womöglich waren sie in finanziellen Schwierigkeiten oder einer von den beiden war erkrankt.
»Wirst du etwa im Alter weich?«, versuchte ich die Stimmung etwas aufzulockern, aber grimmig lächelnd schob er mir den Umschlag zu. Ich nahm ihn in die Hand, und dabei bemerkte ich einen kleinen Blutfleck an der Lasche.
»Hast du dich am Papier geschnitten?«
»Nein, ich hatte Nasenbluten«, klärte er mich ungeduldig auf. »Doch darum geht es nicht. Ich hätte gern, dass du die Briefe in dem Umschlag liest. Auch wenn du davon vielleicht Alpträume bekommst.«
Ich sparte mir die Mühe, ihn darüber aufzuklären, dass Alpträume seit Jahren meine ständigen Begleiter waren. Das lag zum Teil an meiner Arbeit als Detective, die mich häufig dunkle, hoffnungslose Wege gehen ließ. In meinen Träumen ging ich diese Wege immer wieder an der Seite der Ermordeten und anderer Opfer, und dicht hinter uns waren die Mörder, Vergewaltiger und übrigen Monster, deren Köpfe und vor allem Herzen schwärzer waren als die Nacht.
In anderen Träumen durchlebte ich noch mal die grauenhafte Nacht des Unfalls, bei dem meine Eltern umgekommen waren. Ich saß als kleines Mädchen hinter ihnen im Wagen, und obwohl die Jahre mich von dieser Nacht des Grauens immer mehr entfernten, gingen mir die Bilder und Geräusche bis zum Ende meines Lebens nicht mehr aus dem Kopf.
Ich sah noch mal den Umschlag an und stellte fest: »Das heißt, dass es wahrscheinlich keine Liebesbriefe sind.«
Er ließ sich noch ein bisschen tiefer in den Sessel sinken und stieß einen Seufzer aus. »Ich werde in den Briefen mit dem Tod bedroht. Doch das ist einfach lächerlich, denn schließlich bin ich schon seit einem halben Jahr kein Richter mehr. Ich bin nicht mehr im Spiel und habe keinen Einfluss mehr. Meine Mandantinnen sind Witwen, die ihr Testament aufsetzen wollen, oder gelangweilte Geschiedene, die ein paar Penny mehr aus ihren Ex-Männern rausholen wollen. Man droht, wenn was passieren, wenn jemand seine Meinung ändern oder ein gefälltes Urteil revidieren soll. Aber das kann ich gar nicht mehr.«
»Haben die Drohungen begonnen, bevor oder nachdem du aus dem Staatsdienst ausgeschieden bist?«
»Direkt danach.« Jetzt beugte er sich vor und legte seine Hände auf der Schreibtischplatte ab. Sie waren so bleich wie seine Haare und sein Gesicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass er wie die verwaschene, verblichene Version des Mannes wirkte, der er stets gewesen war.
Ein seltsamer Gedanke, denn soweit ich wusste, war er kerngesund. Er war noch keine siebzig, und auch wenn er in den letzten Jahren einen kleinen Bauch bekommen hatte, ging er gerne Wandern oder Fliegenfischen, doch der Mann mir gegenüber sah so aus, als hätte er zum letzten Mal vor Wochen Sonnenlicht gesehen.
»Der erste Brief kam vor vielleicht fünf Monaten bei uns zu Hause an. Seitdem geht alle vierzehn Tage einer bei mir ein.«
»Hast du Handschuhe?« Da ich nicht davon ausgegangen war, dass ich an diesem Abend noch ermitteln müsste, hatte ich den Untersuchungsbeutel aus dem Kofferraum meines Wagens nicht dabei.
Aus einer Schublade des Aktenschranks in seinem Rücken nahm er ein Paar alte Leder-Autofahrerhandschuhe und drückte sie mir in die Hand.
Ich zog sie an und fragte ihn das Offensichtliche. »Warum bist du mit diesen Briefen nicht zur Polizei gegangen?«
»Das klingt bestimmt verrückt, aber … tja nun, sie sind so etwas wie ein Rätsel, denn die Worte und die Sprache kommen mir irgendwie bekannt vor, auch wenn ich nicht weiß, woher. Ich nehme an, es hat mir widerstrebt, die Briefe aus der Hand zu geben, ehe ich weiß, wer sie geschrieben hat. Ich muss das wissen, Gemma. Und ich dachte eigentlich, ich fände es alleine raus.«
Ich schüttelte die Briefe aus dem Umschlag auf den Tisch und fragte mich, wie hässlich ihr Inhalt wohl war.
Ich pickte einen der neun blütenweißen, kleinen Umschläge heraus, sah ihn mir von allen Seiten an und sagte lauter Dinge, die auch Caleb sicher längst aufgefallen waren. »Die Adresse ist getippt, und es gibt keinen Absender. Die Briefmarke ist aufgedruckt, das heißt, dass darauf keine DNA zu finden ist. Sieht aus, als ob der Brief in Boulder aufgegeben wurde, und statt den Umschlag einfach aufzureißen, hast du einen Brieföffner benutzt.«
Er nickte zustimmend. »Den hat mir Edith anlässlich unseres letzten Hochzeitstags geschenkt. Sie hat mir einen Brieföffner geschenkt und ich ihr einen Eispickel. Was sagt dir das?«
»Dass ihr anscheinend eine Vorliebe für spitze oder scharfe Gegenstände habt.« Ich klappte vorsichtig den Umschlag auf und zog ein sorgfältig zusammengelegtes weißes Blatt Papier heraus. »Hat sie die Briefe auch gesehen? Ich meine, deine Frau.«
»Natürlich hat sie sie gesehen«, stieß Caleb schnaubend aus und fügte stirnrunzelnd hinzu: »Versuch mal, dieser Frau was zu verheimlichen. Sie war auch schon bei unserer Hochzeit äußerst leidenschaftlich, aber heutzutage ist sie unberechenbar.«
Ich wusste, was er meinte, und lächelte ihn an. Edith war mit ihren Mitte fünfzig fünfzehn Jahre jünger als ihr Mann und in der ganzen Stadt für ihre Ausbrüche berüchtigt, auch wenn andere Leute sicher selbst gern den Mut besessen hätten, Händlern ihre unverschämten Preise vorzuhalten oder für benachteiligte Menschen und Außenseiter einzustehen.
Ich hörte Grace und Brody vorne lachen, doch bald wurde ihr Gelächter von dem schrillen Kreischen irgendwelcher Kinder draußen auf der Straße übertönt. Dann war es wieder still, und erneut merkte ich, wie angespannt und verängstigt Caleb war.
Ich faltete das Schreiben auseinander, las mir die vier Sätze durch, las sie noch mal und schob das Blatt eilig zurück in den Umschlag, auch wenn sich das Böse, wenn es einmal in der Welt war, nicht mehr ungeschehen machen ließ.
Mir wurde übel von der grauenhaften Vorstellung eines aufgehängten Calebs, dem die Organe rausgerissen worden waren wie einem abgeschossenen Reh.
»Sind alle Briefe so?«
Er nickte müde, und ich nahm mir widerwillig eins der anderen Schreiben vor. »Das ist echt bösartig und einfach krank. Du hättest früher zu mir kommen sollen, Caleb. Du weißt, dass es für solche Sachen vorgeschriebene Verfahrensweisen gibt, mit denen man jemand wie dich beschützt.«
»Jemand wie mich?« Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, als wischte er auf diese Art die Worte auf den Blättern, die ich in der Hand hielt, weg.
»Du weißt schon. Staatsanwälte oder Richter werden wegen ihrer Arbeit häufiger bedroht, doch wir nehmen diese Drohungen trotzdem ernst.« Die Wanduhr schlug halb acht, und vorne räusperte sich Brody laut. Normalerweise hätte Grace schon längst im Bett gelegen, aber heute Abend würde es nach all dem Treiben und dem Zimtdonut, den sie gegessen hatte, sicher alles andere als leicht, sie hinzulegen, denn wahrscheinlich war sie völlig überdreht.
»Um Himmels willen. Es gab in meinem Leben sicher keinen Augenblick, in dem nicht irgendjemand wütend auf mich war. Du kennst doch selbst das Pack, mit dem wir’s bei Gericht zu tun haben. Hör zu, ich habe meiner Frau versprochen, dass ich dir die Briefe übergebe, aber was du damit machst, ist dein Problem.«
»Dann hast du also wirklich keine Angst?« Obwohl die Angst in diesem Raum mir fast die Luft zum Atmen nimmt?
»Ich hatte bisher niemals Angst und fange jetzt bestimmt nicht damit an. Weißt du, wie viele Irre mir im Laufe der Zeit gedroht haben? Und zwar auf beiden Seiten des Gesetzes. Cops und Gauner, Ankläger und Angeklagte, es ist eine geradezu erschreckend feine Linie, die sie voneinander trennt. Womit ich sicher nicht behaupten will, dass du korrupt oder bestechlich bist. Aber wenn man mittendrin sitzt, wird man eben leicht zur Zielperson.« Mit einem leisen Stöhnen stand er auf und klopfte auf den Tisch. »Wenn mir jemand was antun will, findet er einen Weg. Soll ich deshalb nur noch verkleidet auf den Golfplatz gehen oder mich in meiner eigenen Heimatstadt verstecken, damit der Verfasser dieses Drecks mich nicht erwischt? Auf keinen Fall. Ich sage dir, er soll zur Hölle fahren.«
Calebs nonchalante Haltung rief ein leises Unbehagen in mir wach, vor allem, weil ich sicher war, dass er im Grunde nur so tat, als würde er über den Dingen stehen. Ich schob die Schreiben wieder in den großen Umschlag, klemmte ihn unter den Arm und wandte mich zum Gehen. »Ich gebe dir Bescheid, wenn ich was rausfinde.«
»Okay.« Auch er stand auf und brachte mich zur Tür. Dabei fiel mir sein leichtes Hinken auf, und ich erinnerte mich daran, dass er erst vor ein paar Wochen wegen seiner Hüfte oder seines Knies im Krankenhaus gewesen war. »Ihr solltet eure Kleine jetzt nach Hause bringen. Es ist schon spät, und auf den Straßen geht wahrscheinlich bald der Ärger los.«
Inzwischen hatte Brody unsere Tochter wieder auf dem Arm, und vor Erschöpfung waren ihr die Augen zugefallen. Er blickte auf den Umschlag, aber statt etwas dazu zu sagen, wünschte er dem Hund und Caleb eine gute Nacht und trug unser verschlafenes Zombi-Lama wieder in die Dunkelheit hinaus.
Ich legte Caleb eine Hand auf den Arm. »Fährst du jetzt auch nach Hause?«
Nickend machte er sich auf den Weg zurück in sein Büro. »Ich lege vorher nur noch ein paar Akten ab und bringe Cricket heim.«
»Dann gute Nacht, Caleb.«
»Bis dann, Kleines.«
So hatte man mich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr genannt.
»Ich bin jetzt Detective, Caleb«, rief ich ihm noch hinterher.
Er machte halt und salutierte mir. »Ja, richtig. Also dann bis dann, Detective. Dir und deinen Lieben noch ein schönes Halloween. Und hüte dich vor den Gespenstern.«
Noch immer leuchtete der Himmel violett, obwohl der Mond inzwischen aufgegangen war. Im fahlen, gelben Licht des Mondes und der Straßenlampen gingen wir in Richtung Norden, und als wir zu unserem Wagen kamen, rannte eine Horde Teenager in Skelett-Kostümen an uns vorbei. Sie droschen mit den Beuteln voller eingeheimster Süßigkeiten aufeinander ein, und als sie um die Ecke bogen, konnte ich auch weiter ihre Stimmen und ihr brüllendes Gelächter hören.
»Kinder«, flüsterte mir Brody zu und setzte Grace in ihren Sitz. »In ein paar Jahren wird unser Schatz genauso sein. Gott steh uns bei.«
»Darüber denke ich am liebsten gar nicht nach.«
Wir stiegen ein, und da an diesem Abend jede Menge Kinder durch die Gegend rannten, sah sich Brody, als er langsam anfuhr, vorsorglich nach allen Seiten um. Wir fuhren Richtung Westen, doch nach vielleicht einer halben Meile zerriss ein entsetzliches Geräusch die Nacht, und während eines Augenblickes fühlte ich mich wie in einem Film über den Untergang der Welt. Es klang, als hätte jemand einen riesengroßen Felsbrocken gesprengt.
Brody hielt am Straßenrand, und wir tauschten erschrockene Blicke aus. Dann meinte er: »Das war eindeutig eine Explosion. Vielleicht ein Haus oder ein Auto. Vielleicht gab es ja ein Leck in einer Gasleitung.«
Ich öffnete bereits die Tür. »Bring Grace nach Hause, und ich melde mich, sobald ich etwas weiß. Vielleicht gibt es Verletzte, und vielleicht kann ich ja irgendetwas tun.«
Brody nickte, denn er wusste, dass es reine Zeitverschwendung wäre, mich zu bitten, mitzufahren. Er sah mich flehend an. »Sei vorsichtig, Gemma. Hörst du das auch? Die Feuerwehr ist bereits unterwegs. Sie sind für solche Sachen ausgebildet und haben die erforderliche Ausrüstung. Versprich mir, dass du nicht in ein Gebäude gehst, selbst wenn du denkst, dass dort jemand gefangen ist, denn dadurch bringst du dich und die Leute von der Feuerwehr nur in Gefahr.«
Ich nickte knapp. »Ich liebe dich.«
Dann stieg ich aus, und während ich zurück in Richtung Main Street joggte, fuhr bereits die Feuerwehr an mir vorbei, und ihre Lichter und Sirenen zerrissen die abendliche Dunkelheit. Ich sah ihr hinterher, als sie vorbei an den Geschäften Richtung Süden schoss.
Dorthin, wo wir vor wenigen Minuten noch gewesen waren.
Dorthin, wo die Kanzlei des Freundes meines Grandads lag.
Ich rannte los und fluchte auf die dicke Kleidung, die ich trug. Wir hatten Montag, und da morgen Schule war, waren kaum noch Kinder auf der Straße unterwegs. Die größeren Jungs und Mädchen und auch einige Erwachsene waren jedoch noch nicht heimgekehrt, denn die Erwachsenen nutzten diesen Abend, um ein, zwei Drinks in einer Bar zu kippen, und die Teenager eroberten die Stadt.
Jetzt aber standen sie wie angewurzelt da. Sie spitzten in Erwartung weiterer Explosionen angestrengt die Ohren, und ihre bisher fröhlichen Gesichter drückten eisiges Entsetzen und Verwirrung aus.
Dann hatte ich das letzte Stück der Hauptstraße erreicht und riss ungläubig die Augen auf. Dort, wo die Mercedes-Limousine vor dem Haus gestanden hatte, stiegen Rauch und Flammen in den Himmel auf. Die Feuerwehr versuchte hektisch, diesen Brand zu löschen, und zwei Sanitäter starrten wie benommen auf den Wagen, der als solcher nicht mehr zu erkennen war.
Und Caleb selbst?
Ich musste würgen, als ich auf dem Fahrersitz die Überreste eines Menschen sah, und wandte mich so schnell wie möglich ab, die grauenhaften Bilder von verbrannter Haut und einer formlosen Gestalt, die nicht einmal mehr ansatzweise menschlich wirkte, hatten sich mir jedoch bereits unauslöschlich eingeprägt.
Am Rande meines Blickfelds tänzelten auch weiterhin die Flammen, und ich presste mir die Hände in der unsinnigen Hoffnung vor die Augen, all dies wäre nur ein grauenhafter, kranker Scherz. Ein grausiger, von einem Irren ausgedachter Schabernack zu Halloween.
Doch dieser Wunsch erfüllte sich natürlich nicht. Das alles war real, genauso wirklich wie das heiße Feuer, der Geruch des Rauchs und der Gestank von … dem, was in den Flammen aufgegangen war.
Als ich versuchte, mich dem Autowrack zu nähern, hielt mich Brandmeister Teller zurück. Er war wie ich zu Fuß gekommen, und die Teufelshörner, die er auf dem Kopf trug, zeigten, dass er ebenfalls mit seinen Kindern unterwegs gewesen und in aller Eile hergekommen war. Er hatte helfen wollen, nur dass dem Toten in dem ausgebrannten Wagen längst nicht mehr zu helfen war.
Jetzt standen wir zusammen da, starrten auf den Ort des schrecklichen Gemetzels, und obwohl wir gut zehn Meter von dem Autowrack entfernt waren, schlug uns eine glühende Hitze ins Gesicht. Ich hob die Hand, um meine Tränen wegzuwischen, aber es kamen ständig neue nach.
Keuchend stützte sich Max Teller mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Er war ein durchtrainierter, muskulöser Mann, doch er ging auf die sechzig zu und hatte in den letzten Jahren mehr Zeit hinter dem Schreibtisch als bei Einsätzen verbracht.
Nach mehreren Minuten richtete sich Teller wieder auf, wandte sich mir zu und riss die Augen auf, als er mich weinen sah.
»Mein Gott, Sie wissen, wer das Opfer ist?«
Ich nickte unglücklich. »Caleb Montgomery. Auf jeden Fall ist dies sein Wagen, und in diesem Bungalow ist sein Büro. Vor einer Viertelstunde waren wir noch hier. Ich muss was tun …«
Als ich mich wieder in Bewegung setzen wollte, hielt mich Teller an der Schulter fest. »Ich kann Sie nicht da rübergehen lassen, denn womöglich gibt es eine zweite Explosion. Sie und Ihre Leute können sich dort umsehen, sobald der Brand unter Kontrolle und die nähere Umgebung von der Feuerwehr gesichert worden ist.«
»Aber es muss doch irgendetwas geben, was …«, stieß ich mit trockenem Hals und geschwollener Zunge aus. Ich hatte Calebs kalte Angst gespürt und ihm erklärt, dass ich ihm helfen könnte, doch er hatte sich zu spät an mich gewandt.
Der Brandmeister drückte mir mitfühlend den Arm. »Zuerst gehen meine Leute rein. Das muss so sein.«
Frustriert sah ich den anderen bei der Arbeit zu. Ich hatte das Gefühl, als ob die Leute sich in Zeitlupe bewegten, denn anscheinend hatte sich herumgesprochen, dass dem Opfer, das im Wagen saß, nicht mehr zu helfen war. Und auch der Rettungswagen fuhr zurück zum Krankenhaus, denn für die Ärzte und die Sanitäter gab es hier nichts mehr zu tun. Die halbe Mannschaft löschte immer noch das Feuer, und die andere Hälfte sperrte die Umgebung der Mercedes-Limousine ab. Mit einer letzten Warnung, dass ich bleiben sollte, wo ich war, gesellte sich Teller zu den Kollegen von der Feuerwehr.
Jetzt tauchten auch vier Streifenwagen auf. Die Polizei von Cedar Valley war für mich so etwas wie Familie, und ich atmete erleichtert auf, als ich sie kommen sah. Dann riss ich mir die blöden Katzenohren vom Kopf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
Bis Polizeichef Angel Chavez aus dem ersten Einsatzwagen stieg und mich auf der inzwischen abgesperrten Straße traf, hatte ich, zumindest äußerlich, mein Gleichgewicht zurückerlangt.
Mein Vorgesetzter war ein großer, ernster Mann in einem seriösen, dunklen Anzug, doch auch wenn er eher wie ein Bankdirektor wirkte, war er durch und durch ein Cop, ein wirklich anständiger Kerl, und ich war froh, dass er gekommen war. An seiner Seite sah ich Jimmy, unseren Praktikanten, der zwar noch nicht lange bei uns, aber eifrig und beflissen war.
Und direkt hinter ihnen kam mein Partner Finn. Er hatte sich das schwarze Haar mit Gel aus dem Gesicht gekämmt, und aus seinem Mundwinkel rann falsches Blut in seinen Dreitagebart. Anscheinend hatte er im Gegensatz zu mir also tatsächlich Spaß an Halloween.
Er wurde blass, als er den Wagen und die Leiche sah. »Mein Gott«, murmelte er. »Nach einer solchen Explosion sind die Beweise sicher meilenweit verstreut.«
Chavez stopfte seine Hände in die Hosentaschen und wandte sich abermals an mich. »Und wir wissen sicher, dass das der Mercedes von Caleb Montgomery gewesen ist?«
Ich nickte. »Ja, Sir. Ich war eben noch mit meinem Mann und meiner Tochter bei ihm zu Besuch. Er hatte seinen Wagen direkt vor dem Gartentor geparkt. Natürlich kann ich nicht beschwören, dass dies derselbe Wagen ist, aber es sieht so aus.«
»Es tut mir leid, ich weiß, dass sich Ihre Familien nahestehen.« Chavez atmete vernehmlich aus und stellte mit besorgter Stimme fest: »Normalerweise fliegen Autos nicht von selber in die Luft. Also hat irgendwer für diese Explosion gesorgt.«
»Und das ist noch nicht alles, Chief. Seit einem halben Jahr hat Caleb Drohbriefe gekriegt.« Ich zitierte eines der widerlichen Schreiben aus dem Kopf. »›Ich werde dich erwischen, und dich auszuweiden wird die größte Freude meines Lebens sein. Ich werde tanzen, wenn du stirbst, und während du verblutest, werde ich mich zu den Klängen deines Stöhnens wiegen, denn dein Tod wird mir ein innerer Vorbeimarsch sein.‹«
»Das klingt echt gruselig.« Finn blickte wieder auf den Toten und den Rauch, der aus dem Autowrack aufstieg. »Vielleicht hat ja der Schreiber dieser Briefe mitbekommen, dass ihr euch getroffen habt, und ihn aus dem Verkehr gezogen, weil er dachte, dass er dir die Briefe übergeben hat.«
»Hat denn der Schreiber Caleb explizit davor gewarnt, zur Polizei zu gehen?«, fragte der Chief.
»Nicht dass ich wüsste, nein. Und wenn das Arbeitszimmer nicht verwanzt war, konnte er nicht wissen, worum es bei unserer Unterhaltung ging. Ich war schließlich mit Grace und Brody dort, und wir waren kostümiert.« Ich musste mich vornüberbeugen, denn mir wurde schlecht bei dem Gedanken, was vielleicht geschehen wäre, wenn wir nur ein paar Minuten länger dort im Haus geblieben wären. Dann wären vielleicht auch Brody, Grace und ich wie Wachspuppen geschmolzen, als der Wagen in die Luft geflogen war.
Ich richtete mich wieder auf und verdrängte dieses grauenhafte Bild.
»Der Brief klingt nicht wie die normale Fanpost eines durchschnittlichen Knackis«, stellte Chavez fest. »Im Grunde hat der Schreiber seine Drohung fast poetisch formuliert.«
»Wir sollten meiner Meinung nach nicht automatisch davon ausgehen, dass diese Briefe irgendwer geschrieben hat, den Caleb mal zu einer Haftstrafe verurteilt hat. Sie könnten zwar von einem Verbrecher, aber auch von einem Kollegen oder einem Rivalen sein. Oder von irgendeinem Spinner, der aus irgendeinem anderen Grund als Calebs Job von ihm besessen war.« Auf alle Fälle hatte ich bei dem Gespräch mit Caleb deutlich seine Angst gespürt, deswegen fügte ich hinzu: »Ich glaube, dass er wusste, wer der Schreiber dieser Briefe war.«
»Vielleicht war es ja eine Frau, die er zurückgewiesen hat?«, schlug Finn mir vor.
Ich schüttelte den Kopf. »Er ist schon eine Ewigkeit glücklich verheiratet.«
»Aber es hieß, dass er kein Kostverächter war«, warf Finn mit einem gleichmütigen Achselzucken ein. »Doch was weiß ich? Vielleicht ist ja an den Gerüchten gar nichts dran.«
»Ich habe nie was in der Art gehört«, erwiderte ich.
»Was ich nicht verstehe, ist, warum Caleb wegen dieser Briefe nicht viel eher zu uns kam. Auch wenn er pensioniert war, war er immer noch eine Person des öffentlichen Lebens, und jetzt hat ihn irgendwer erwischt«, meinte der Chief und rieb sich nachdenklich das Kinn.
Ich nickte knapp und blinzelte erneut gegen die Tränen an. Für Trauer war jetzt keine Zeit, denn innerhalb der nächsten Stunde würde uns die Feuerwehr den Tatort überlassen, und ich brauchte einen klaren Kopf, um mich auf die Ermittlungen zu konzentrieren. Und wenn jemand absichtlich diese Explosion verursacht hatte, wäre ich sowohl privat als auch beruflich an der Aufklärung des Falles interessiert.
Die Feuerwehr ging weiter ihrer Arbeit nach, und wir sahen schweigend zu. Dann war der Brand endlich gelöscht und gab den Blick auf eine viertürige Limousine frei, von der große Teile durch die Luft geflogen waren. Der Rahmen war zwar verbogen, aber davon abgesehen größtenteils intakt. Das Wagenäußere war rußgeschwärzt, doch hier und da sah man noch kleine Stellen weißen Lacks, und auch zwei Buchstaben des Nummernschildes vorne waren unversehrt.
Jimmy bot an, den Teil des Nummernschilds, die Marke sowie das Modell in den Computer einzugeben, um zu überprüfen, ob es wirklich Calebs Wagen war, und während er zurück zum Streifenwagen und zu seinem Laptop lief, murmelte Finn: »Was für ein Streber.«
»Hm?«
»Ist dir das noch nicht aufgefallen? Für dich, den Chief und selbst Moriarty würde dieser Schleimer alles tun. Nur ich bin Luft für ihn. Im Grunde ist mir das total egal, aber es ist auf alle Fälle interessant.« Achselzuckend wandte sich Finn wieder einem anderen Thema zu. »Wie dem auch sei – ich sehe mir jetzt erst mal dieses wunderschöne Wesen aus der Nähe an.«
Ich folgte seinem Blick in Richtung der zwei Leute von der Feuerwehr, die auf der Fahrerseite der verbrannten Limousine standen, und des wunderbaren Golden Labrador, der mit einer orangefarbenen Weste ausgestattet war.
»Den Hund? Der ist echt schön.«
Wir blieben, wo wir waren, als die Frau, der offenbar der Hund gehörte, dicht gefolgt von ihrem Tier zu Teller ging, der ein paar Meter weiter stand. Sie zerrte sich das Sauerstoffgerät vom Kopf, und ich bekam die letzten Worte mit, die sie sagte.
»… bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.«
Entschlossen lief ich los und schaute sie fragend an. »Verzeihung, können Sie mir sagen, ob es eine Männer- oder eine Frauenleiche ist?«
Sie sah mich böse an. »Dies ist ein Tatort, Schätzchen. Bitte gehen Sie zu den anderen Zivilpersonen hinter die Absperrung.«
Wie zur Betonung ihrer Worte stupste mich der Hund mit seiner Schnauze an.
Ich zog empört die Brauen hoch, und eilig mischte sich Max Teller ein. »Brandermittlerin Olivia Ramirez, darf ich Ihnen Detective Gemma Monroe vorstellen? Gemma, Liv ist erst seit Kurzem in der Stadt. Und dieser hübsche Kerl hier ist ihr Kumpel Fuego.«
»Also sind Sie ein Cop? Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Sie hob entschuldigend die Hände in die Luft, bedachte mich jedoch auch weiterhin mit einem herausfordernden Blick. Dann lächelte sie kurz. »In L.A. haben immer wieder Zivilisten oder Journalisten unsere Tatorte verunreinigt. Sie wissen ja, wie’s ist. Aber wie gesagt, Chief, wir haben eine Leiche, die – Wie soll ich sagen? – stark beschädigt ist. Ich weiß nicht, ob’s ein Mann ist oder eine Frau, aber der Größe nach wahrscheinlich eher ein Mann.«
Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Mit ihren Mitte vierzig war sie ganz eindeutig mehr als gut in Form, und auch wenn ich ein Stückchen größer war als sie, sah sie viel muskulöser und viel stärker aus als ich. Und mit der bronzefarbenen Haut und ihren leuchtend grünen Augen war sie mehr als attraktiv.
»Wir haben Glück, dass es nicht mehr Verletzte gab«, fuhr sie jetzt fort. »Ich sage Ihnen eins: Wer immer das getan hat, ist eindeutig krank. Krank und talentiert. Für so etwas braucht man Talent.«
»Dann hat also jemand die Explosion absichtlich ausgelöst?«
Ihr Blick war unergründlich, aber schließlich nickte sie und meinte: »Ja. Dies war eindeutig Mord, auch wenn die Polizei das selbstverständlich noch beweisen muss.«
Der Chief war unerbittlich. »Nein, Gemma. Ich weiß, wie nah Sie der Familie stehen. Das heißt, Sie sind befangen und können nicht in diesem Fall ermitteln, falls das arme Schwein da in dem Wagen wirklich Caleb ist. Schluss, aus.«
Obwohl ich außer mir vor Zorn und Trauer war, behauptete ich weiterhin mit ruhiger Stimme meine Position. »Das ist der Preis, den man dafür bezahlt, wenn man in einer kleinen Stadt wie dieser seine Arbeit macht. Wenn niemand hier mehr in Zusammenhang mit Leuten, die er vielleicht kennt, ermitteln dürfte, hätten wir hier kaum noch einen Cop, der seine Arbeit erledigen kann. Also lassen Sie mich in dem Fall ermitteln oder setzen Sie mich an die Luft.«
»Wie bitte?« Chavez baute sich fast drohend vor mir auf. »Wollen Sie mir etwa ein Ultimatum stellen?«
Beflissen schob sich Finn zwischen mich und unseren Vorgesetzten. »Monroe hat recht. Tatsächlich sind wir alle früher oder später mal in so einem Konflikt wie sie. Sie wissen selbst, dass Sie sich in den Fall verbeißen wird. Aber ich könnte ja die Leitung der Ermittlungen übernehmen, wenn Sie wollen, Chief. Und falls ich auch nur ansatzweise denke, dass sie sich in irgendeiner Hinsicht nicht korrekt verhalten würde, ziehe ich sie ab und hole Moriarty ins Team.«
Ich öffnete den Mund, doch Finn trat mir entschlossen auf den Fuß, und mühsam schluckte ich die Antwort, die mir auf der Zunge lag, herunter, denn wenn ich nicht abgezogen werden wollte, ließ ich mich am besten auf den Vorschlag ein.
Chavez atmete geräuschvoll aus und wandte sich mir zu. »Ich hoffe, dass ich die Entscheidung nicht bereuen werde.«
»Nein, Sir«, sagte ich ihm zu.
»Okay.« Er nickte knapp. »Dann fangen Sie jetzt mit der Arbeit an. Sprechen Sie als Erstes mit der Nachbarin. Der Frau da drüben mit dem Hund.«
Dem Hund?
Ich drehte den Kopf und sah auf der Veranda eines Hauses zwei Türen weiter von Calebs Bungalow eine hysterische Person in einem Overall mit einem Werkzeuggürtel um die Hüften, die den immer noch wie eine Biene kostümierten Cricket in den Armen hielt.
Als ich mit Finn in ihre Richtung ging, versuchte einer der Kollegen von der Streife, sie zumindest ansatzweise zu beruhigen, aber sie stieß weiter einen wilden Schluchzer nach dem anderen aus. Der Hund versuchte bellend, sich ihren Armen zu entwinden, und ich fragte, ob sie Cricket vielleicht dem Beamten überlassen könnte, damit der ein bisschen mit ihm in den Garten gehen könnte oder so. Aus welchem Grund auch immer drang ich zu ihr durch, und mit einem abgrundtiefen Seufzer drückte sie den Hund meinem Kollegen in die Hand.
Er trug den Kleinen hinters Haus, und obwohl die Frau noch immer weinte, konnte ich mich wenigstens allmählich wieder denken hören.
Ich nahm sie leicht am Ellbogen und sah sie fragend an. »Ma’am? Sind Sie verletzt? Wurden Sie bei der Explosion verwundet?«
»Nein … nein. Ich bin … Mr. Montgomery hat Cricket heimgebracht, und dann sind wir hier stehen geblieben und haben ihm gewinkt, als er in seinen Wagen stieg.« Allmählich nahmen ihre Schluchzer ab. »Und dann war da ein lauter Knall, und plötzlich … brannte der Mercedes lichterloh.«
»Sie haben also gesehen, wie Caleb Montgomery in diesen Wagen eingestiegen ist?« Ich zeigte auf das Wrack, um mich zu vergewissern, dass es nicht um irgendeinen anderen Wagen ging.
»Sehen Sie hier noch einen anderen Mercedes, der in Flammen aufgegangen ist?« Mit wild zitternden Fingern zog sie eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche ihres Overalls und zündete sich eine an. »Er war ein netter Mann.«
»Das war er«, stimmte ich ihr zu.
»Ist Ihnen was Verdächtiges hier in der Gegend aufgefallen? Ein fremdes Fahrzeug oder jemand, der hier rumgelungert hat?«, erkundigte sich Finn im selben ruhigen Ton wie ich. Die Frau war immer noch hysterisch, und beim ersten harschen Wort bräche sie sicher abermals in hemmungsloses Schluchzen aus.
Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist nichts aufgefallen. Das hier ist eine ruhige Straße, oder wenigstens in diesem Teil.«
Finn nickte zustimmend. »Okay. Dann nimmt jetzt ein Beamter Ihre Aussage entgegen, falls Sie damit einverstanden sind. Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie uns bitte an. Hier ist meine Visitenkarte, da stehen alle Nummern drauf.«
Die Frau sah sich die Karte an, dann nickte sie und stellte noch mal fest: »Er war ein netter Mann.«
Wir überließen sie noch einmal dem Beamten, der das zwischenzeitlich wieder ruhige Hündchen auf den Armen hatte, und als wir zurück zum ausgebrannten Wagen gingen, nahm mich Finn am Ellbogen und stellte leise fest: »Das war übrigens ernst gemeint. Sobald ich denke, dass du irgendwelchen Mist verzapfst, tausche ich dich gegen Moriarty ein.«
Mit einem kalten Grinsen auf den Lippen zog ich meinen Arm zurück. Finn war ein guter Cop und guter Partner, doch aus welchem Grund auch immer war die Atmosphäre zwischen uns bereits seit einer ganzen Weile ziemlich angespannt. Wir hatten zwar auch gute Tage, aber aus verschiedenen Gründen würde dies wohl eher ein schlechter Tag.
Ich wusste, dass ein Fall wie dieser über die Karriere eines Cops entscheiden konnte, also ging es Finn vielleicht um mehr als nur darum, dass ich befangen sein könnte. Erfüllt von Zorn und Trauer schnauzte ich ihn an: »Mach dir keine Gedanken über mich. Mir würde nicht im Traum einfallen, deinem Wechsel nach New York im Weg zu stehen.«
Er wurde starr und sah mich argwöhnisch aus seinen leuchtend blauen Augen an. »Wer hat dir von New York erzählt?«
»So was spricht sich herum. Wir alle wissen, dass du’s plötzlich kaum erwarten kannst, hier rauszukommen.« In dem Versuch, mich zu beruhigen, holte ich tief Luft und räumte ein: »Das kann ich durchaus nachvollziehen. So eine kleine Stadt ist nicht für jeden was. Du hast dich wirklich gut geschlagen, aber trotzdem verstehe ich, dass dich das Treiben in der Großstadt reizt.«
Finn bis die Zähne aufeinander, und ich musste beinah rennen, um mit seinen großen Schritten mitzuhalten, als er wieder Richtung Tatort lief.
»Weiß auch der Chief etwas davon?«
»Ich glaube nicht.« Obwohl es höchstens ein paar Wochen dauern würde, bis auch Chavez das Gerücht zu Ohren käme, denn auf einer kleinen Wache wie der unseren blieb kaum jemals irgendwas geheim.
»Gut. Dann sorg dafür, dass es so bleibt. Bisher ist schließlich nichts entschieden, und vor allem habe ich noch gar kein festes Angebot von dort.« Finn sah mich von der Seite an und fragte: »Warst du schon mal in New York? Du glaubst nicht, was für tolle Restaurants und Läden es dort gibt.«
Bevor ich eine Antwort geben konnte, waren wir bei dem ausgebrannten Wagen, wo Ramirez stand und uns entgegensah. Auch Fuego, der an ihrer Seite saß, sah uns aus großen, bernsteinbraunen Augen an.
Ich stellte sie und Finn einander vor.
»Zum ersten Mal dabei?«, erkundigte sie sich, und als wir sie verwundert ansahen, fügte sie hinzu: »Bei einem Brandopfer.«
»Vor ein paar Jahren hatte ich mal einen Fall, bei dem der Täter nach dem Mord die Wohnung seines Opfers abgefackelt hat«, erwiderte Finn. »Die Sauerei hätten Sie sehen sollen.«
Ramirez schnaubte. »Ja … wobei die Leiche hier bestimmt noch etwas frischer ist.«
»Der Mann, von dem Sie reden, war mein Freund«, erklärte ich, bevor sie etwas sagte, womit sie mir richtig auf die Füße trat.
Sie wandte sich mir zu und meinte: »Tut mir leid. Sie sollten sich vielleicht drauf vorbereiten, dass es … ziemlich eklig wird. Anders kann ich es nicht formulieren.«
»Okay.« Ich atmete tief durch, bevor ich auf die Fahrerseite der Mercedes-Limousine trat. Ich beugte mich hinein und sah auf die verkohlte Masse auf dem Fahrersitz. Vor allem der Gestank war unbeschreiblich, und ich atmete so flach wie möglich durch den Mund.
Es nützte nichts. Ich machte einen Schritt zurück und wandte mich mit einem flauen Gefühl im Magen von den Überresten eines Freundes ab.
Dann wehte plötzlich aus dem Süden eine leichte Brise, und ich musste würgen, als mir der Gestank von heißem Menschenfleisch und -fett entgegenschlug. Auch Finn war kreidebleich. »Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben schon mal so was Schreckliches gerochen habe.« Eilig wandte er sich ab und spie sein Abendessen auf den Bürgersteig.
Ramirez raunte mir mit leiser Stimme zu: »Ich war dreimal im Sanitätsdienst im Irak. Daran gewöhnt man sich niemals. Eine verbrannte Leiche ist schon schlimm genug. Jetzt stellen Sie sich mal Dutzende davon auf einmal vor. Ich kann gar nicht beschreiben, wie das war.«
Finn richtete sich wieder auf, fuhr sich mit dem linken Handrücken über den Mund und stieß mit rauer Stimme aus: »Wo waren Sie stationiert?«
»Überwiegend in Falludscha.« Ramirez wandte sich ab. »Wie dem auch sei – ich kann nur hoffen, dass er von der Explosion des Wagens ohnmächtig geworden ist. Dann hätte er zumindest nichts mehr davon mitbekommen, als das Feuer ausgebrochen ist.«
Ich wandte mich von Calebs Überresten ab und schaute mir die Menschenmenge auf der anderen Straßenseite an. Falls das hier Mord gewesen war, hielt sich der Täter unter Umständen noch in der Nähe auf. Stand er vielleicht zwischen den Gaffern, Zeuginnen und Zeugen und sah zu, wie wir versuchten, dieses Chaos zu entwirren?
Mein Blick fiel auf einen Mann, der etwas abseits stand. Zumindest dachte ich, dass es ein Mann war, denn er hatte einen Leinensack mit Sehschlitzen über dem Kopf und obendrein noch die Kapuze seines Hoodies auf.
Auch ein paar andere Leute waren verkleidet, aber etwas an dem Mann war seltsam, und vor allem stand er anders als die anderen völlig reglos da.
Dann legte er den Zeigefinger an den Mund und schüttelte den Kopf, als ob ich nicht verraten sollte, dass ich ihn gesehen hatte, machte kehrt und lief in Richtung Norden los.
Ich rief nach Finn und brüllte ihm im Laufen zu, es gehe um den Kerl mit Sack über dem Kopf und Hoodie, der nach rechts in eine Gasse bog. An deren Ende stand ein hoher Zaun aus Maschendraht, das hieß, dass es dort nicht mehr für ihn weiterging.
Am Eingang dieser Gasse blieben wir kurz stehen, holten keuchend Luft, und ich stieß aus: »Jetzt sitzt er in der Falle, denn am Ende dieses Weges steht der Zaun vom Krankenhaus, und der ist mindestens sechs Meter hoch.«
»Nur führen ein halbes Dutzend Türen in die Häuser, die hier stehen. Das heißt, wir brauchen noch einen Kollegen, der uns Deckung gibt.«
»Dafür ist keine Zeit. Ich gehe rein, und du bewachst den Ausgang und lässt ihn auf keinen Fall an dir vorbei.«
Bevor Finn etwas sagen konnte, lief ich bereits los. Ich hörte ihn in meinem Rücken fluchen, als ich durch die dunkle Gasse rannte, in die kaum ein Lichtstrahl fiel. Ich tastete nach meiner Taschenlampe, schaltete sie ein und beleuchtete den Boden und die Häuserwände links und rechts von mir. Alle zwei Meter blieb ich stehen, lauschte und probierte die verschiedenen Türen, die allesamt verschlossen waren. Abgesehen von den Wassertropfen, die mit einem gleichmäßigen Plopp aus einem lecken Rohr auf den Asphalt des Weges fielen, und dem gelegentlichen Dröhnen eines Motors, wenn ein Auto auf der Main Street fuhr, war alles still.
Tatsächlich war es totenstill.
Ich hätte das Rauschen des Windes oder das Geraschel irgendwelcher Nagetiere in dem überall verstreuten Unrat hören sollen.
Doch da war nichts, und schließlich blieb ich stehen und sah mich um. Zumindest war ich nicht allein, denn im Licht einer Laterne erkannte ich die Silhouette meines Partners. Ich atmete erneut tief durch und ging das letzte Stück des Weges bis zum Zaun.
Verwundert suchte ich nach einem Loch im Maschendraht. Nach einem Schlupfloch, durch das der Verdächtige entkommen konnte. Doch da war nichts. Auf welchem Weg auch immer war der Unbekannte uns entwischt.
Auf unserem Weg zurück zum Tatort passte Finn sein Tempo an mein langsameres an. »Vielleicht ist dieser Typ ja Spiderman, wenn er über den Zaun geklettert ist und sich einfach auf der anderen Seite runterfallen lassen hat. So etwas kriegen sonst nur Affen hin.«
Dann waren wir zurück bei Calebs Wagen, und Ramirez, die sich dort noch weiter umgesehen hatte, stellte fest: »Sie zwei sind losgerannt, als hätte es der Teufel höchstpersönlich auf Sie abgesehen.«
Als wir von dem maskierten Mann erzählten, schaute sie uns fragend an. »Denken Sie, er hätte etwas mit der Explosion zu tun?«
»Vielleicht.« Ich sah sie an, und dabei fiel mir auf, dass Fuego jede noch so winzige Bewegung, die sie machte, nachzuahmen schien. Selbst jetzt war er mit seinem fragenden Gesichtsausdruck und dem einen vorgestreckten und den drei zurückgestellten Beinen das Spiegelbild von ihr, auch wenn es in ihrem Fall nur ein Paar Beine war. »Sie haben gesagt, Sie seien sich sicher, dass dies ein vorsätzlicher Anschlag war. Hatte jemand eine Autobombe an dem Fahrzeug angebracht?«
»Das kann ich noch nicht sagen.« Vor der ausgebrannten Kühlerhaube ging sie in die Hocke, sah sich die geschmolzenen Reifen, das zerstörte Fahrgestell und den Krater unterhalb des Wagens an und richtete sich wieder auf. »Ich kann erst sicher etwas sagen, wenn die Kriminaltechnik sich diesen Wagen angesehen hat und es Aussagen von Augenzeugen gibt.«
»Natürlich.« Aber sie war offenkundig alles andere als dumm, deswegen hatte sie, auch wenn sie etwas anderes behauptete, bestimmt schon eine Theorie. »Und was vermuten Sie?«
Sie legte den Kopf ein wenig schräg, spitzte nachdenklich die Lippen, überlegte einen Augenblick und stieß einen Seufzer aus. »Aber das ist nicht offiziell. Ich glaube, irgendwer hat Sprengstoff an dem Wagen angebracht, den er auf Distanz gezündet hat. Das ist so ungefähr die einzige Erklärung, die’s für einen derartigen Schaden gibt.«
»Dann war es also eine Autobombe.« Jetzt hockte sich auch Finn vor den Wagen, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und schaute sich die Unterseite der Mercedes-Limousine an. »Was für ein Sprengstoff wurde Ihrer Meinung nach benutzt? Und hätte man ihn eher unter dem Fahrgestell oder im Kofferraum des Wagens deponiert? Und wie viel hätte man gebraucht?«
»Ich habe doch gesagt, dass ich noch nichts Genaues sagen kann«, erklärte ihm die Brandermittlerin, und als er wieder aufstand, schlug sie ihm spielerisch auf den Arm, wie man es meiner Meinung nach im besten Fall bei guten Freunden tat. »Ihr Cops seid alle gleich … starrsinnig und aggressiv.«
»Und gut aussehend und charmant«, fügte er mit einem trockenen Grinsen an.
Finn würde selbst mit einem Backstein flirten, wenn er dächte, dass ihm das was brächte, und ich räusperte mich, um ihm in Erinnerung zu rufen, dass sie beide nicht allein waren. »Sie haben gesagt, die Bombe sei auf Distanz gezündet worden. Was haben Sie damit gemeint? Wurde ein Zeitzünder benutzt?«
Noch während ich die Frage stellte, ging mir auf, dass niemand hatte wissen können, um wie viel Uhr genau der pensionierte Richter an dem Abend hätte heimfahren wollen. Deswegen schied ein Zeitzünder wahrscheinlich aus.
Ramirez schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es ein Zeitzünder gewesen ist. Vielmehr gehe ich ziemlich sicher davon aus, dass der Täter ein Gewehr verwendet hat.«
Ich riss ungläubig die Augen auf und wiederholte: »Ein Gewehr?«
»Wie gut kennen Sie sich mit Sprengstoff aus?«
»Eher schlecht«, räumten Finn und ich gleichzeitig ein.
»Dann werde ich mich auf die Grundlagen beschränken«, meinte sie und blinzelte uns nachdenklich aus ihren grün-goldenen Katzenaugen an. »Sie wissen beide, was ein Zünder ist, oder? Das ist der Mechanismus, der die Explosion auslöst. Oft ist dieser Zünder eine Sprengkapsel, die ein Verbundmaterial enthält. Im Grunde ist der Zünder so etwas wie eine erste Minibombe, die den Rest des Sprengstoffs explodieren lässt. Aber wie dem auch sei – man kann so eine Explosion auf verschiedenen Wegen auslösen: mit Zeitzündern, durch die Bewegung des Objekts – in diesem Fall des Wagens –, durch das Anlassen des Motors oder so.«
»Aber in diesem Fall wurde aus Ihrer Sicht die Explosion aus der Ferne ausgelöst?«, vergewisserte ich mich.
»Genau. Buddy Holly, Marilyn Monroe und ein paar andere Leute, die da drüben auf der anderen Straßenseite stehen, haben ausgesagt, sie hätten direkt vor der Explosion des Wagens einen Schuss gehört. Als passionierter Jäger war sich Buddy Holly sicher, dass es ein Gewehrschuss war.«
»Ein Schuss aus einem Gewehr. Das könnte auch den Knall erklären, den die Nachbarin gehört hat, kurz bevor das Auto in die Luft geflogen ist.« Finn ließ den Blick über die Dächer der Gebäude in der Umgebung des Tatorts wandern und fügte hinzu: »Vielleicht wurde ja direkt auf Montgomery geschossen, und er war schon vor der Explosion des Wagens tot. Von einigen der Dächer hätte man problemlos durch die Windschutzscheibe zielen können und ihn garantiert erwischt.«
Ramirez hob den Kopf, drehte sich einmal langsam um sich selbst, sah sich dabei die Dächer der verschiedenen Gebäude an und nickte knapp. »Ja, sicher, könnte sein.«
Ich fragte mich, weshalb man jemanden erschießen sollte, wenn man bereits alles dafür vorbereitet hatte, seinen Wagen in die Luft zu jagen, und Ramirez stellte diese Frage laut. »Aber weswegen hätte sich jemand die Mühe einer Autobombe machen sollen, wenn er das Opfer dann erschießt? In einer abgelegeneren Gegend würde das vielleicht noch einen Sinn ergeben, denn dann wäre nach dem Feuer ja die Schusswunde vielleicht nicht mehr zu sehen. Und wenn der Schaden groß genug gewesen wäre, hätte man die Leiche vielleicht gar nicht gründlich obduziert. Doch diese Straße ist belebt, und Zeugen haben den Schuss gehört. Also kann ich mir nicht vorstellen, dass der Mann, der hier im Wagen sitzt, erschossen worden ist. Ich glaube eher, dass der Heckenschütze auf der Lauer lag, bis er im Wagen saß, und im passenden Moment entweder auf den Zünder oder auf den Sprengstoff selbst geschossen hat.«
Ramirez zeigte auf das längst geschlossene Restaurant, das auf der anderen Straßenseite lag. »Ich hätte mich dort oben hingelegt. Von dort hat man die beste Sicht. Und in dem ausbrechenden Chaos nach der Explosion hätte ich mich unauffällig aus dem Staub gemacht.«
Nach einem Augenblick des Schweigens meinte Finn: »Das sind bisher doch alles nur Vermutungen. So etwas hätte man sehr gründlich planen müssen, aber woher hätte dieser Schütze wissen sollen, um welche Zeit genau er hier sein muss?«
Ich schluckte. »Er war schon seit Monaten hinter Caleb her, hat ihn beobachtet und Jagd auf ihn gemacht. Er hatte es auf ihn persönlich abgesehen. Caleb hat mir die Drohbriefe gezeigt, die er bekommen hat, und nur ein paar Minuten später war er tot.«
Ramirez wurde angefunkt und wandte uns den Rücken zu.
»Aber denk doch einmal an den Ton der Briefe, Gemma«, meinte Finn. »Sie klangen beinah gut gelaunt und aufgeregt bei dem Gedanken daran, wie der Schreiber Caleb leiden lassen und dann langsam sterben lassen wird. Aber eine Autobombe ist das Gegenteil, denn sie ist schmutzig, schnell und effektiv.«
Bevor er noch was sagen konnte, drehte sich Ramirez wieder zu uns um. »Wie gesagt, ich kann nichts sicher sagen, bis die Kriminaltechnik sich den Wagen angesehen hat. Aber ich bleibe weiterhin bei meiner Theorie, obwohl ich es zu schätzen wüsste, wenn Sie die erst mal für sich behalten würden, bis ich ein paar Dinge überprüfen kann.«
»Haben Sie so etwas schon mal erlebt?«, erkundigte sich Finn. »Dass jemand eine Autobombe dadurch zündet, dass er auf sie schießt?«
Ramirez nickte. »Klar. Nicht gerade oft, aber so was kommt durchaus vor.« Abermals zerriss das Heulen von Sirenen die Dunkelheit. »Ich nehme an, dass das der Pathologe ist. Dann räume ich jetzt mal das Feld, aber ich melde mich, sobald es Neuigkeiten gibt.«
Ramirez wandte sich zum Gehen, und Fuego trottete genauso selbstbewusst und zielgerichtet dorthin, wo ihr Auto stand.
Finn sah den beiden hinterher. »Ein cooler Hund und eine interessante Frau.«
»Jaja. Am besten klappern die Kollegen erst mal alle Häuser in der Gegend ab. Ein paar von ihnen sind mit Kameras bestückt, und vielleicht haben wir ja Glück, dass eine etwas aufgenommen hat.«
»Sie sollen sich auch die Dächer ansehen, womöglich finden sie auf einem irgendwelche Spuren.« Finn ging zu den Kollegen von der Streife, und nachdem er sie kurz eingewiesen hatte, machten sie sich auf den Weg.