4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €
Ein neuer hochkarätiger Horror-Thriller aus der Feder von Erfolgsautor Thomas Finn Die Archäologin Jessika Raapke ist eben erst mit ihrer Adoptivtochter Leonie nach Hameln gezogen, als man sie bittet, einen unheimlichen Vorfall in der alten Kirche zu untersuchen: Bei Bauarbeiten wurde ein verborgener Sarkophag beschädigt, kurz darauf tötet ein riesiger Rattenschwarm einen der Arbeiter. Jessika findet an dem Sarkophag, der vollkommen leer ist, eine halb zerstörte lateinische Bannschrift mit einem Hinweis auf den sagenumwobenen Rattenfänger. Während Jessika den historischen Hintergründen der Sage auf den Grund geht, ereignen sich überall in Hameln unheimliche Rattenübergriffe. Dann ist Leonie plötzlich verschwunden …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 625
Thomas Finn
Lost Souls
Horrorthriller
Knaur e-books
Die Archäologin Jessika Raapke ist eben erst mit ihrer Adoptivtochter Leonie nach Hameln gezogen, als man sie bittet, einen unheimlichen Vorfall in der alten Kirche zu untersuchen: Bei Bauarbeiten wurde ein verborgener Sarkophag beschädigt, kurz darauf tötet ein riesiger Rattenschwarm einen der Arbeiter. Jessika findet an dem Sarkophag, der vollkommen leer ist, eine halb zerstörte lateinische Bannschrift mit einem Hinweis auf den sagenumwobenen Rattenfänger. Während Jessika den historischen Hintergründen der Sage um den Rattenfänger von Hameln auf den Grund geht, ereignen sich überall in Hameln unheimliche Rattenübergriffe. Dann ist Leonie plötzlich verschwunden …
Für meinen Vater Volker Finn.
Mit Dank an Tanja, Chrissi, Rebekka, Philipp, Leonie, Tigger, Claudia, Mascha, Verena und Momo für fruchtbare Diskussionen, überraschende Übersetzungshilfen, archäologische und modische Beratung, Zuspruch, Rat und Unterstützung – auch in Zeiten, als der Tod plötzlich keine Fiktion mehr war.
Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an, weshalb er Bundting soll geheißen haben, und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit ihm einig und versicherten ihm einen bestimmten Lohn.
Der Rattenfänger zog demnach ein Pfeifchen heraus und pfiff, da kamen alsobald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurück, ging er hinaus, und der ganze Haufen folgte ihm, und so führte er sie an die Weser; dort schürzte er seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm alle die Tiere folgten und hineinstürzend ertranken. Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Manne unter allerlei Ausflüchten, so daß er zornig und erbittert wegging.
Am 26. Juni auf Johannis- und Paulitag, morgens früh sieben Uhr, nach andern zu Mittag, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers, erschrecklichen Angesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut, und ließ seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an in großer Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters war. Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand.
Dies hatte ein Kindermädchen gesehen, welches mit einem Kind auf dem Arm von fern nachgezogen war, darnach umkehrte und das Gerücht in die Stadt brachte. Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu Wasser und Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen, aber alles vergeblich. Es waren im ganzen hundertunddreißig verloren. Zwei sollen, wie einige sagen, sich verspätet und zurückgekommen sein, wovon aber das eine blind, das andere stumm gewesen, also daß das blinde den Ort nicht hat zeigen können, aber wohl erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt wären; das stumme aber den Ort gewiesen, ob es gleich nichts gehört. Ein Knäblein war im Hemd mitgelaufen und kehrte um, seinen Rock zu holen, wodurch es dem Unglück entgangen; denn als es zurückkam, waren die andern schon in der Grube eines Hügels, die noch gezeigt wird, verschwunden.
Die Straße, wodurch die Kinder zum Tor hinausgegangen, hieß noch in der Mitte des XVIII. Jahrhunderts (wohl noch heute) die bunge-lose (trommel-, tonlose, stille), weil kein Tanz darin geschehen noch Saitenspiel durfte gerührt werden. Ja, wenn eine Braut mit Musik zur Kirche gebracht ward, mußten die Spielleute über die Gasse hin stillschweigen. Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg (der auch Koppenberg genannt wurde), wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden. Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.
Gebr. Grimm, Deutsche Sagen, Nr. 245: Die Kinder zu Hameln
Im Jahr 1284 na Christi gebort to Hamel worden uthgevort hundert und dreißig Kinder dasülvest geborn dorch einen Piper under den Köppen verlorn.
Einstige Inschrift am Alten Rathaus von Hameln
Älteste bekannte bildliche Darstellung der Hamelner Rattenfängersage. Kopie einer Glasmalerei aus der Marktkirche Hamelns; aus der Reisechronik des Augustin von Moersperg, 1592.
Die Ratte huschte an der Wand des Kirchenschiffs entlang.
Werner hielt in seiner Arbeit inne und richtete sich argwöhnend in der Grube auf, die er in den letzten Stunden geschaufelt hatte. Stattdessen beobachtete er den schwarzbraunen Nager dabei, wie dieser an den aufgetürmten Menschenknochen vorbei einen Erdaushub erklomm, sich auf die Hinterbeine aufsetzte und sich dort oben mit unruhigen Bewegungen der stumpfen Nase orientierte. Rasch war die Ratte wieder auf allen vieren und schlüpfte hinter das Taufbecken aus weißem Marmor, dessen Standfuß unter einer grauen Abdeckplane hervorlugte. Von ihrem Versteck aus beäugte sie ihn mit ihren dunklen Knopfaugen.
Lauernd.
Tückisch.
Argwöhnisch zog Werner an der Kippe, die schon seit mehreren Minuten in seinem Mundwinkel klemmte.
Er hasste Ratten.
Und das, obwohl – oder gerade, weil – er es auf dem Bau ziemlich häufig mit den Nagern zu tun bekam. Dieses Ungeziefer hatte die menschliche Gemeinschaft längst unterwandert. Die Biester waren nicht nur schlau, sie verstanden es auch, unbemerkt zu bleiben. Ganze Scharen von ihnen tummelten sich im Erdreich, unter Häusern und Straßen, bevölkerten die Kanalisation oder versteckten sich in Kellern und auf Hinterhöfen. Und mindestens ein Dutzend der Biester hatte er in seinem Berufsleben auch schon erschlagen. Ratten waren zwar schnell, aber das Blatt einer Schaufel auch breit. Und er wusste sein Arbeitsgerät zu nutzen.
Werner grinste böse. Nur war das bloß ein Tropfen auf den heißen Stein.
Niemand wusste das besser als er. Dass sich auch in der alten Kirche Ratten eingenistet hatten, wunderte ihn daher nicht. Eher, dass er erst jetzt auf eine von ihnen stieß.
Und doch … Die Ratte dahinten im Schatten des Taufbeckens war inklusive des Schwanzes fast vierzig Zentimeter lang. Diese Größe nötigte selbst ihm Respekt ab.
Werner sah sich kurz zum Eingang der Kirchenhalle um. Den angestrengten Atemgeräuschen nach, war sein Kollege Rüdiger gerade dabei, einen Stapel Bodenfliesen vor die Kirche zu bringen. Abermals zog Werner an seiner Kippe, und einen Augenblick lang überlegte er, ob er dem Biest den Garaus machen sollte. Dummerweise befand sich die Ratte hinter dem Taufbecken in relativer Sicherheit. Von welcher Seite aus er sich ihr auch immer näherte, sie würde ihm stets entkommen. Jetzt ärgerte er sich darüber, dass sie das Becken nicht ebenso wie die Kirchenbänke nach draußen geschafft hatten. Er und Rüdiger hatten aus reiner Faulheit darauf verzichtet, denn das Ding war schwer. Und dort hinten an der Wand, wo es jetzt stand, behinderte es die Renovierungsarbeiten kaum, mit denen die Baufirma, für die sie arbeiteten, beauftragt worden war.
Der komplette Innenraum der St.-Nicolai-Kirche sollte nicht nur einen neuen Anstrich erhalten, auch die Emporen linker und rechter Hand sollten verstärkt werden. Hinzu kamen eine runderneuerte Elektrik sowie eine moderne Heizungsanlage. Nur zeichnete sich schon seit einigen Tagen ab, dass sie hier mehr zu tun haben würden als ursprünglich gedacht. Dafür war die ebenfalls geplante Fußbodenrenovierung verantwortlich, die sich inzwischen zu stattlichen Ausschachtungsarbeiten gemausert hatte. Denn die Nicolaikirche Coppenbrügges war alt. Nach allem, was Werner wusste, existierte sie bereits seit dem Mittelalter. Und so waren sie beim Abtragen der alten Bodenplatten wenig überraschend auf die sterblichen Überreste einstiger Bewohner der Gegend gestoßen.
Knochen.
Und ganze menschliche Skelette.
Sehr viele Skelette.
Über Jahrhunderte hinweg waren innerhalb der Kirchenmauern Hunderte Verblichene dicht an dicht und in eng aufeinanderliegenden Erdschichten zur letzten Ruhe gebettet worden. Die meisten Gläubigen, die sich heute in der Kirche einfanden, ahnten natürlich nichts von den schauerlichen Überresten unmittelbar zu ihren Füßen. Dabei hatten Rüdiger und er gerade einmal eine zwanzig Zentimeter dicke Erdschicht abtragen müssen, um auf die ersten Leichenteile zu stoßen. Die Arbeit war daraufhin unterbrochen worden.
Ganz so, wie es die Vorschriften vorsahen, war daraufhin ein Vertreter des Landesdenkmalamtes in die Kirche bestellt worden, der ihre Funde jedoch mit wenig Interesse begutachtet hatte. Knochenberge unter Gebetsbänken schienen in alten Kirchen nicht ungewöhnlich zu sein. Ihr Boss hatte sich daraufhin an ein privat geführtes Archäologiebüro aus dem nahen Hameln gewandt, dessen Inhaber die Arbeiten bis zur archäologischen Freigabe begleiten würde. Doch auch der brachte nur wenig Interesse für die menschlichen Überreste der Coppenbrügger auf.
Er und Rüdiger hingegen mussten seitdem tiefe Schächte durch das Kirchenschiff treiben, dessen Erdreich regelrecht durchsetzt war mit skelettierten Menschen. Diese galt es zu bergen, um sie später in ein Magazin des Landesdenkmalamtes zu überführen. Dumm war nur, dass Werner sich an den Anblick der blanken Schädel und Knochen trotz – oder vielleicht auch wegen – ihrer schieren Masse noch immer nicht gewöhnt hatte.
Die dunklen, über die Jahrhunderte zusammengestauchten Gebeine, die sie noch nicht aus der Erde geholt hatten, stachen wie mahnende Finger seitlich aus den Schachtwänden; jene Skelettüberreste, die sie dem Erdreich bereits entrissen hatten, türmten sich als makabre Kehrichthaufen an den Seitenwänden des Kirchenschiffs. Darunter Ellen, Speichen, Beckenknochen, Wirbel, Fingerknöchel und geborstene Schädelfragmente.
Auch die aufgewühlte Erde roch anders als üblich. Sie war erfüllt von einem leichten Modergeruch, der ihm selbst nach Feierabend und nach Genuss einiger Flaschen Bier nicht aus der Nase gehen wollte.
Und jetzt auch noch Ratten.
Die hatten ihm zu allem Unglück noch gefehlt.
Werner seufzte schwer, denn bis Feierabend war es noch eine gute Stunde hin.
Ungehalten drückte er die Kippe in der Augenhöhle eines gut erhaltenen Schädels aus, den er neben sich auf die Schachtwand gestellt hatte. Es war ihm egal, ob ihn der Schädel böse anzustarren schien. Zwar war ihm der Widerwillen geblieben, aber den Respekt für die vielen Toten hatte er längst verloren.
Die Ratte dahinten konnte ihn ebenfalls mal. Sollte sie morgen noch hier herumwuseln, würde sie sein Spatenblatt zu schmecken bekommen.
Trotzig stellte Werner das kleine Radio am Grubenrand lauter, und das Kirchenschiff wurde von schmissiger 80er-Jahre-Musik erfüllt: Frankie goes to Hollywood.
Relax – don’t do it!
Was ziemlich genau seinem aktuellen Lebensgefühl entsprach. Entspannen und die Knochen Knochen sein lassen? Würde er ja gern. Nur hatte sein Arbeitgeber etwas dagegen.
Erneut griff er zur Schaufel und hob die Grube weiter aus. Blatt für Blatt flog weiteres Erdreich zur Seite, und das einzig Gute, das er der Plackerei abgewann, war, dass er hier auf auffallend wenige Knochen stieß. Im Gegenteil. Die Arbeit ging sogar ungewöhnlich gut voran – bis ihn ein leises Fiepen aufschreckte, dessen hohe Frequenz sich auch gegen die wummernde Popmusik seinen Weg an sein Ohr bahnte.
Es kam von weiter links.
Werner hielt abermals inne und entdeckte eine zweite Ratte.
Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Das freche Biest hockte ganz ungeniert neben einem der Knochenhügel und starrte ihn ebenso lauernd an wie das Vieh hinter dem Taufbecken. Auch diese Ratte war wohlgenährt und von überaus imposanter Größe. Wo kamen diese Viecher denn plötzlich her?
Werner blickte misstrauisch nach vorn, an der Kanzel vorbei, zum unregelmäßigen Fünf-Achtel-Chor mit dem markanten Rippengewölbe und den vier bunten Glasfenstern. Auch dort glaubte er jetzt, eine huschende Bewegung wahrzunehmen.
Er kniff die Augen zusammen und nahm den stattlichen Altar mit den fünf kreuzförmig angeordneten Bildtafeln genauer in Augenschein. Das sakrale Monstrum war mit einer schweren, seitlich überhängenden Plane bedeckt, die zu dem Eindruck beitrug, es in Wahrheit mit einer hoch aufragenden, trauernden Gestalt zu tun zu haben, die stumm auf ihn herabblickte – als es in der Halle unvermittelt dunkel wurde. Draußen hatte sich offenbar eine Wolke vor die Junisonne geschoben, denn durch die tief liegenden Fenster der Kirche sickerte jetzt kaum noch Licht.
Unbehaglich sah er zu dem Sinnspruch über dem Durchgang auf, der den Chor vom übrigen Kirchenschiff trennte:
ICH * BIN * BEI * EUCH BIS * AN * DER * WELT * ENDE
Er konnte sich nicht helfen, aber die erbaulichen Worte des Evangelisten Matthäus wirkten heute irgendwie unheilvoll auf ihn.
Im Hintergrund dudelte derweil noch immer das Radio.
Relax – don’t do it.
When you want to go – do it.
Relax – don’t do it …
Scheiß drauf.
Werner fixierte noch einmal die beiden Ratten, dann stieß er sein Schaufelblatt abermals ins Erdreich – und diesmal kratzte es unter dem Metallblatt.
Schlagartig war sein Interesse geweckt. Rasch schaufelte er weiteres Erdreich beiseite, und allmählich begriff er, dass er nicht etwa auf alte Bodenfliesen gestoßen war, sondern auf eine Schicht Steine. Ziegel. Mauerwerk.
Ganz eindeutig von Menschenhand zusammengefügt.
Beim kurzen Blick über den Grubenrand nahm er abermals eine flinke Bewegung wahr. In der Kirche war es noch immer düster, dennoch entdeckte er jetzt eine dritte Ratte. Sie war deutlich kleiner als die beiden anderen Exemplare, doch auch sie schien sein Tun aufmerksam zu verfolgen. Werner vertrieb sie, indem er ihr einen Schwung Erde entgegenschleuderte. Er würde sich später um die Drecksviecher kümmern, denn längst hatte ihn das Entdeckerfieber gepackt. Er stand ganz offensichtlich auf einer gemauerten Steinschicht, und irgendwie klang es darunter hohl.
Was mochte sich darunter befinden? Ein Schatz? Hatte der Archäologe nicht angedeutet, dass sie auf Verstorbene stoßen könnten, denen reiche Grabbeigaben mitgegeben worden waren? Silber. Gold vielleicht. Wenn er es geschickt anstellte, könnte er sich vielleicht etwas davon unter den Nagel reißen, ohne dass Rüdiger etwas davon mitbekam.
Werner warf die Schaufel hinter sich und griff stattdessen zu einem Spaten, den er jetzt mit Wucht zwischen das Gestein zu seinen Füßen trieb. Es knirschte, doch sonst tat sich nichts. Verdammt, es musste doch möglich sein, einen der Ziegel aus dem Boden zu lösen!
Mit immer größerer Wucht hämmerte er das Spatenblatt zwischen die Fugen und hebelte am Griff – als das Radio am Grubenrand umfiel. Statt Frankie goes to Hollywood hallte jetzt ein verstörendes Rauschen von den Wänden des Kirchenschiffs wider.
Im selben Moment rumpelte es unter ihm.
»Scheiße! Was …?«
Mit Getöse brach das Mauerwerk unter ihm weg, und zu seinen Füßen gähnte plötzlich ein dunkles Loch, das sich rasch weitete. Werner schrie auf, strauchelte, rutschte nach vorn – und stürzte gemeinsam mit Kaskaden von Steinen und Dreck in die Tiefe.
Ein kurzer Moment der Schwerelosigkeit, dann krachte sein Körper im Dunklen auf einen klobigen Gegenstand, der knirschend und splitternd unter ihm einbrach.
Eine Kiste? Doch er kam kaum zum Nachdenken, denn ein scharfer Schmerz schoss ihm durch den linken Oberarm, während weiter Erdreich und fallende Steine auf ihn herabdonnerten. Ein fallender Ziegel traf ihn am Kopf, und einen Moment lang blitzten bunte Sterne vor seinen Augen. Angestrengt blinzelte Werner gegen die Ohnmacht an. Doch als er sich wieder gesammelt hatte, war das Getöse um ihn herum verstummt, und er hockte noch immer inmitten von beißendem Staub und schmerzerfüllt in der Dunkelheit.
»Rüdiger!«, rief er. Sein benommener Ruf hallte geisterhaft von den Wänden wider, blieb sonst jedoch unbeantwortet. Verdammt!
Werner wischte sich Blut aus dem Auge, hielt sich den schmerzenden Arm und versuchte, in seinen Körper hineinzufühlen. Hoffentlich hatte er sich nichts gebrochen. Wo zum Teufel war er hier? Die Luft jedenfalls roch alt und modrig. Er tippte daher auf ein altes Grabgewölbe.
Angestrengt und mit vor Staub und Schmerz tränenden Augen versuchte er, in dem wenigen Licht, das durch das Loch über ihm fiel, etwas zu erkennen. Und tatsächlich: Wenn ihn seine Vermutung nicht trog, handelte es sich bei der klobigen Kiste, auf die er gestürzt war, um einen schlichten hölzernen Sarg. Das Ding war unter seinem Gewicht halb zusammengebrochen, und einige der Splitter stachen noch immer schmerzhaft in seine Seite. Mit qualvoll verzogenem Gesicht mühte er sich von den Trümmern weg, wunderte sich über die seltsame Kälte, die ihn jetzt umfing – als er neben sich im Dreck das Radio bemerkte, das mit ihm in die Tiefe gefallen war. Aus dem Lautsprecher drang jetzt ein verzerrtes Pfeifen und Zischen.
Fast wie Flötenmusik.
Und da war noch etwas. Dahinten, im Zwielicht, an der Stirnseite des Gewölbes, schien jemand zu stehen. Ein kleiner Schatten mit menschlichen Umrissen.
»Rüdiger?« Werner blinzelte irritiert, denn eigentlich konnte das nicht sein. Und der Schemen dahinten erinnerte ihn auch mehr an eine Frau. Nur war es hier unten inzwischen so kalt, dass ihm sein Atem vor dem Mund zu weißen Wölkchen gefror.
Aber irgendjemand war dahinten.
»He, ich brauche Hilfe!«
Mühsam versuchte er, sich aufzurichten – als sich in die unheimliche Flötenmusik aus dem Radio mehrstimmiges Fiepen mischte. Überrascht sah er auf, denn das eigentümliche Fiepen kam … von oben. Noch immer rieselte aus dem Loch an der Gewölbedecke Erdreich auf ihn herab – nur, dass sich darin jetzt Bewegungen abzeichneten. Eine der großen Ratten aus dem Kirchenschiff fiel mit dem nun langsamer nachrutschenden Dreck in die Tiefe. Ihr folgte eine zweite. Und noch eine. Und noch eine. Die schwarz behaarten Leiber plumpsten schräg vor ihm zu Boden, und die Knopfaugen der Nager blitzten im Dämmerlicht.
Werner blinzelte verstört, ehe das Radio erneut seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit dem Ding stimmte ebenfalls etwas nicht. Die sphärische Flötenmusik, die aus dem Lautsprecher drang, wurde zunehmend schriller – und nun kam auch in die Wände um ihn herum Bewegung! An gleich drei Stellen platzten Gestein und Erdreich zur Seite, und aus den Löchern drängten zu seinem Entsetzen weitere Ratten in das Gewölbe.
Dutzende. Aberdutzende.
Quiekend, fiepend und fauchend.
Und es wurden immer mehr.
Werner stieß einen entsetzten Schrei aus, kam endgültig auf die Beine und tastete in fieberhafter Eile nach dem Spaten. Wo war das verdammte Ding bloß?
Doch rund um den zerbrochenen Sarg wogte längst ein Teppich aus schwarz behaarten Leibern, trippelnden Pfoten, langen Schwänzen, stumpfen Schnauzen und gefletschten Nagezähnen, der alles bedeckte, was am Boden herumlag, und die Suche aussichtslos machte. Nur Werner selbst stand noch auf einem Fleck, der von dem bedrohlichen Gewimmel verschont blieb – und zunehmend kleiner wurde.
Die sphärische Flötenmusik verstummte.
Und in demselben Augenblick richteten sich unzählige boshafte Augenpaare auf ihn.
»RÜÜÜDIGER!«, schrie Werner, und sein Gebrüll spiegelte seine nackte Angst.
Es war kaum verebbt, als der gewaltige Rattenschwarm zum Angriff überging.
Nein, Markus, es tut mir leid, aber ich kann für die Kirche höchstens eine halbe Stunde Zeit erübrigen. Ich bin erst vor zwei Stunden in Hameln angekommen, und du darfst dich glücklich schätzen, dass ich es inzwischen wenigstens geschafft habe, den Schlüssel aus dem Büro zu holen.« Jessika hockte mit zwischen Ohr und Schulter eingeklemmtem Smartphone hinter dem Lenkrad ihres gelben VW Käfers und verlangsamte die Geschwindigkeit, um zwischen den Giebeln der Häuser nach dem Turm Ausschau zu halten, der ihr den Weg zu dem alten Gotteshaus weisen würde.
»Das alles tut mir auch leid«, tönte es reumütig aus ihrem Lautsprecher. »Wenn es irgendwie anders gehen würde, würde ich dir das sicher nicht zumuten.«
Ein entgegenkommender Lkw donnerte an Jessikas Käfer vorbei und brachte den Wagen zum Schwanken. »Arschloch!«
»Ernsthaft?«
»Nein, nicht du«, korrigierte Jessika hastig. »Dieser Idiot, der hier viel zu schnell mit seinem Lkw durch den Ort brettert.«
»Ach so … Jedenfalls: Ich dachte wirklich, diesen Kirchenauftrag könnte ich gewissermaßen nebenbei abwickeln. Aber jetzt sitze ich hier schon seit mehreren Tagen auf der Fundstelle bei Hachmühlen fest, und das Straßenbauamt hängt mir wegen der geplanten Umgehungsstraße im Nacken. Ich schaffe es heute einfach nicht mehr nach Coppenbrügge. Wenn da aber keiner von uns aufkreuzt, ist der Auftrag futsch.«
»Du wiederholst dich«, murrte Jessika. »Und du hast Glück, dass ich meiner Patentochter erlaubt habe, noch etwas länger bei ihrer Freundin zu bleiben. Sonst hätte ich gar nicht erst losfahren können.«
»Deine Patentochter Leonie?«
»Ja. Ich habe ihr erlaubt, noch einen Tag länger in Wiesbaden zurückzubleiben, sonst hätte sie sich vermutlich sogar geweigert, mir beim Packen zu helfen. Tränenreicher Abschiedsschmerz.« Jessika seufzte. »Die beiden sind fünfzehn und tun so, als würden sie sich wegen des Umzugs nie wiedersehen. Trotzdem muss ich sie um kurz vor halb vier am Bahnhof in Hameln abholen. Um vier wartet im nahen Ith-Gebirge das Umzugsunternehmen auf uns. Und ich habe noch keine Ahnung, wie genau ich vom Bahnhof aus dahin kommen soll. Gebe ich nämlich unsere neue Adresse ein, dann spinnt das Navi.«
»Aber du lässt dich noch in der Kirche blicken?«, insistierte Markus.
»Ja. Sagte ich doch. Ich bin auch schon fast da. Aber länger als eine halbe Stunde geht wirklich nicht. Ich lasse mir etwas als Ausrede einfallen, okay?«
»Danke. Du bist ein Schatz. Ich lade dich dafür auch demnächst zum Essen ein.«
»Du könntest stattdessen mein Gehalt erhöhen«, schlug Jessika vor, doch Markus hatte das Gespräch bereits weggedrückt. Entweder stand er wirklich unter Druck – oder er hatte geahnt, was sie ihm vorschlagen würde. Jessika war es egal. Als Archäologin war sie froh, endlich wieder eine feste Stelle zu haben. Der Rest würde sich finden.
Sie warf das Smartphone auf den Beifahrersitz, wo es auf ihrer prall gefüllten Reisetasche landete, und setzte den Blinker, als sie hinter den Giebeln der hübschen Fachwerkhäuser den Turm der gesuchten Nicolaikirche Coppenbrügges erspähte. Er wurde von einem verschieferten, achtseitig auslaufenden Helm bekrönt, der spitz zum blauen Junihimmel auslief und oben in einer goldenen Wetterfahne mündete. Jetzt kam auch das Kirchenschiff in Sicht, dessen mit bunten Glasfenstern ausgestatteter Chor bis auf wenige Meter an die Straße grenzte.
Durchaus hübsch. Ebenso wie der ganze Ort.
Es war zwar schon eine Weile her, dass sie das östliche Weserbergland besucht hatte, aber die Wälder, Wiesen, Felder, Seen, kleinen Flussläufe und Höhenzüge, die sie auf der Herfahrt ausgemacht hatte, machten einen verheißungsvollen Eindruck.
Die Ortschaften, die in diese bezaubernde Landschaft eingebettet waren, bildeten da keine Ausnahme. Und speziell dieses Coppenbrügge hatte sie auf Anhieb begeistert, was nicht allein an der freundlichen Junisonne lag. Überall im Ort erhoben sich grüne Bäume, die Gärten machten einen gepflegten Eindruck, und vor allem die Altstadt mit ihren pittoresken Fachwerkhäusern, kleinen Gassen, Brunnen, Cafés und Geschäften strahlte einen historischen Charme aus, der ihr Herz im Sturm erobert hatte.
Sicher, das hier war nicht Wiesbaden, wo sie die letzten Jahre über gelebt hatte. Aber große Städte wie Hannover und Hildesheim lagen nicht allzu weit entfernt, und über die B1 gelangte man rasch in die weltberühmte Rattenfängerstadt Hameln.
In Coppenbrügge selbst gab es sogar eine alte Burg samt Museum. Und sie glaubte, von einem Klostergarten gelesen zu haben, den sie unbedingt aufsuchen wollte. Vor allem aber freute sie sich auf die zahlreichen Unternehmungsmöglichkeiten in der Umgebung: Themen- und Wanderwege durch das nahe Ith-Gebirge, in dem sie und Leonie schon bald ziemlich privilegiert leben durften, Kletterfelsen und natürlich auch die Heilquellen, die in den Nachbarorten Bad Münder und Salzhemmendorf aus dem Boden sprudelten. Für einen Neuanfang hätte sie sich vermutlich keinen geeigneteren Platz aussuchen können. Speziell natürlich für Leonie.
Aber natürlich auch für sich selbst.
Jessika wartete vor einer Apotheke, die der Kirche gegenüberlag, bis kein Auto mehr in Sicht war, und wollte gerade über die Gegenfahrbahn auf die rotbraun gepflasterte Zufahrt der St.-Nicolai-Kirche einscheren – als sie irritiert innehielt. Mit einem Mal war ihr, als spürte sie einen bohrenden Blick auf sich gerichtet. Suchend sah sie sich um und entdeckte vor dem Schaufenster der Apotheke eine ältere Frau, die für den Juni ungewöhnlich herbstlich gekleidet war: dunkler Rock, grüne Strickjacke und ein Kopftuch, das ein ausdrucksloses Gesicht umrahmte. Schon bei der Anfahrt auf die Kirche zu war Jessika die Unbekannte aufgefallen, die reglos dagestanden und starr zum Kirchengelände auf der anderen Straßenseite hinübergeblickt hatte. Jetzt aber ruckte die Alte mit dem Kopf zu ihr herum, und Jessika sah, dass ihr rechtes Auge trübe und blind war. Mit ihrem intakten Auge hingegen schien sie sie förmlich zu sezieren.
Jessika starrte die Alte wie paralysiert an, als es hinter ihr hupte.
Hektisch schaltete sie in den ersten Gang.
Als sie wieder aufsah, war die Frau verschwunden.
Kopfschüttelnd und mit blubberndem Motor hielt sie auf die Zufahrt der St.-Nicolai-Kirche zu, die in einem Halbbogen rechts um die Kirche herumführte. Linker Hand umrahmten den Weg hübsche Fachwerkhäuser mit weiß gekalkten Wänden, deren schieferrote Dachgiebel fast so hoch wie jene des Kirchenschiffs zu ihrer Rechten waren. Auch an etwas Grün fehlte es hier nicht.
Nur kam ihr auf der Zufahrt überraschend ein VW Passat in der blausilbernen Farbgebung der Polizei entgegen. Jessika ahnte, was die Polizei hier zu suchen hatte. Der schreckliche Unfall gestern Nachmittag in der Kirche hatte hohe Wellen geschlagen. Alle Lokalzeitungen aus der Region hatten heute über den Tod des Bauarbeiters berichtet, wobei das unbekannte Gewölbe, in das der Mann eingebrochen war, in der Berichterstattung bislang noch keine große Rolle spielte. Die Journalisten hatten sich vielmehr auf die grausamen Todesumstände des Opfers gestürzt.
Umstände, die auch ihr Schauer über den Rücken laufen ließen.
Jessika stoppte den Käfer vor dem Pfarrhaus, das dem hohen Kirchenturm mit dem Eingangsportal direkt gegenüberlag, und sah, dass am Ende des Weges bereits drei weitere Wagen parkten. Hinter den Fahrzeugen, auf einer mit Bäumen bewachsenen Rasenfläche, stapelten sich alte Bodenplatten, flankiert von Bauholz und einer Schubkarre. Seufzend nahm Jessika ihr Handy wieder an sich und überlegte, ob sie die beiden kleinen Umzugskartons hinten auf dem Rücksitz abdecken sollte. Wer in den Käfer blickte, würde leicht erraten, dass er gerade privates Umzugsgut transportierte, und das wirkte vermutlich nicht sehr professionell. Andererseits, wer interessierte sich schon für ihr Privatleben?
Ein letztes Mal checkte sie ihr Aussehen im Rückspiegel, rückte den Kragen ihrer Cordjacke zurecht und fuhr sich durch das stets etwas zerstrubbelt aussehende blonde Haar, das sie erst vorgestern wieder bis auf Wangenknochenlänge gestutzt hatte. Eine alte Angewohnheit aus Studienzeiten, um Geld für den Friseur zu sparen. Dann rückte sie sich die Brille zurecht, ein Modell mit großen Gläsern und apricotfarbenem Gestell, das ihre blaue Augenfarbe unterstrich.
Es konnte losgehen.
Sie griff nach der Ledermappe mit den Kirchenunterlagen und verließ das Fahrzeug.
Draußen war es frühlingshaft warm, und in der Luft lag ein leichter Blütenduft. Ein schöner Tag – nur, dass sich jetzt eine Wolke vor die Sonne schob, die das Kirchenareal in Schatten tauchte. Hoffentlich würde das nicht wieder einer dieser Sommer werden, die diesen Begriff nicht verdienten. Fröstelnd marschierte sie durch das offen stehende Portal in die Kirche, wo die Temperatur schlagartig um einige weitere Grade sank. Der muffige und zugleich vertraute Geruch nach feuchtem Erdreich schlug ihr entgegen.
Nicht ganz unerwartet war ihre Ankunft längst bemerkt worden. Kaum dass sie den Vorraum der Kirche durchquert hatte, kam ihr aus dem Kirchenschiff bereits ein untersetzter Mann in dunkler Hose und bis zum Hals zugeknöpftem anthrazitfarbenem Hemd entgegen. Sein pomadiges, streng zurückgekämmtes schwarzes Haar war kurz geschnitten, und auf der leicht gebogenen Nase thronte ein Brillengestell mit runden Gläsern, hinter denen ein verärgertes Augenpaar blitzte.
»Bitte, jetzt ist es mal gut!«, tönte ihr seine gereizte Stimme entgegen. »Wir werden morgen oder übermorgen eine offizielle Presseerklärung abgeben. Bis dahin behalten wir es uns vor, weitere Journalisten von diesem Ort zu verweisen.«
»Das ist ein Missverständnis. Ich bin nicht von der Presse.« Jessika lächelte freundlich und zückte eine ihrer neuen Visitenkarten. »Archäologiebüro Dr. Markus Hendrich GmbH. Mein Name ist Jessika Raapke, und ich sollte eigentlich angekündigt sein.«
Ihr Gegenüber musterte missbilligend ihre Jeans, dann glitt sein Blick hinauf bis zu der Bluse mit der leichten Cordjacke. Als er ihr erstmals ins Gesicht blickte, runzelte er befremdet die Stirn, fast so, als würde er sie von irgendwoher kennen.
»Wer, bitte, sind Sie noch einmal?«, fragte er irritiert.
»Es steht alles da drauf.«
Erst jetzt begutachtete er die Visitenkarte. »Stammen Sie hier aus der Gegend?«
»Nein, nicht, dass ich wüsste.« Amüsiert schüttelte sie den Kopf. »Ist das wichtig?«
Ihr Gegenüber räusperte sich. »Doktor Hendrich hatte eigentlich versprochen, dass er persönlich kommen würde.« Er steckte die Visitenkarte ein; dann zog er sie wieder heraus und betrachtete sie abermals. »Einen akademischen Grad besitzen Sie nicht?«
»Nein«, antwortete Jessika düpiert. »Sie denn?«
Ihr Gegenüber wirkte einen Moment lang sprachlos, und so schlüpfte sie kurzerhand an ihm vorbei, hinein in das schmucke Kirchenschiff mit den weißen, linker wie rechter Hand von drei hölzernen Säulen getragenen Emporen und dem bunt verglasten Chorraum samt markanten Rippenbögen am jenseitigen Ende der Halle.
Bis auf die zwei Kronleuchter, die unter der weißen Decke baumelten, ähnelte das Kircheninnere eher einer Baustelle als einem Ort der Andacht. Wo vormals Kirchenbänke gestanden hatten, war der Boden nun komplett aufgewühlt und von lang gezogenen Grabungsschächten zerschnitten, aus deren Seitenwänden vereinzelt braune Knochen hervorstachen. Unter den tief liegenden, quadratischen Fenstern des Kirchenschiffs türmten sich weitere menschliche Überreste: Wirbel, Rippenbögen, Oberschenkelknochen oder zerbrochene Schädel.
Jessika seufzte leise.
Besonders pietätvoll waren die Arbeiter nicht vorgegangen.
»Höre ich richtig? Frau Raapke?«, schallte es ihr entgegen.
Die drei Personen, die weiter hinten im Kirschenschiff standen, hatten ihr Eintreffen ebenfalls bemerkt: zwei Männer und eine korpulente Frau. Die drei umringten ein von Absperrbändern umgebenes Areal, bei dem es sich um jene Stelle handeln musste, an der der Bauarbeiter gestern auf so tragische Weise verunglückt war.
Das obere Ende einer Holzleiter lugte dort aus der Tiefe empor.
Der Mann mit dem silbergrauen Haar, der sie angesprochen hatte, war groß und hager, trug ein schlichtes, braunes Sakko und lächelte einnehmend, als er über die Erdstege auf sie zueilte. »Schön, Sie kennenzulernen. Doktor Hendrich hat Sie wärmstens empfohlen. Ich bin Pastor Andreas Krämer.« Er lächelte schmal, während er ihr die Hand reichte. »Unseren Herrn Tönning haben Sie bereits kennengelernt?« Er nickte dem Schwarzhaarigen hinter ihr zu.
»Nein, Ihr Herr Tönning kam noch nicht dazu«, antwortete Jessika spitz und drehte sich zu dem pomadigen Mann um, der nun zu ihnen aufschloss. »Aber er war gerade dabei, sich über meine Qualifikation zu informieren.«
»Ach?« Die Lippen des Pastors zuckten. »Nun, Helmut ist der erste Vorsitzende unseres Kirchenvorstands, und seinem Engagement haben wir es maßgeblich zu verdanken, dass unsere Kirche endlich renoviert wird.«
»Das ist so ja nun auch nicht richtig.« Helmut Tönning, der sie noch immer skeptisch musterte, versuchte, verlorenen Boden wettzumachen, indem er ihr nun ebenfalls die Hand hinhielt. »Tut mir leid, dass ich Sie verwechselt habe.«
Jessika schlug ein.
»Aber wenn Sie erlebt hätten, wie dreist diese Reporter sind«, fuhr er mürrisch fort, »würden Sie mich verstehen. Die laufende Kirchenrenovierung war ihnen vor dem Unfall nicht einmal einen Einzeiler wert.«
»Bedauerlich, dass die Arbeiten nun von diesem Unglück überschattet werden.« Der Pfarrer seufzte und führte sie dann mit sich, tiefer in das Kirchenschiff hinein. »Als das passiert ist, war ich auf einem Seminar in Regensburg. Ich bin aber natürlich gleich wieder zurückgekommen, als die Meldung eintraf. Kommen Sie, ich mache Sie auch mit den anderen bekannt.«
Jessika folgte ihm über die Erdstege hinweg zu dem Bereich mit dem Absperrband, wo die Frau und der Arbeiter auf sie warteten. Die beiden hätten unterschiedlicher kaum sein können. Wo die Frau mit ihrer gedrungenen Statur, der praktischen Kurzhaarfrisur, dunklen Hose und dem langen, roten Hemd, das ihre Leibesfülle zu kaschieren suchte, einen resoluten Eindruck machte, wirkte der schlaksige Kerl in dem verschmutzten Blaumann neben ihr eher niedergeschlagen.
»Darf ich vorstellen«, hub Pastor Krämer an. »Jessika Raapke. Die zuständige Archäologin. Und das hier sind Frau Claudia Bartz, der die Baufirma gehört, die wir beauftragt haben …«
Die korpulente Frau schüttelte energisch ihre Hand.
»… und Ihr Mitarbeiter namens …?«
»Nennen Sie mich einfach Rüdiger«, antwortete der Mann mit brüchiger Stimme.
Er sah Jessika an und schien froh zu sein, jemanden zu haben, der seine Geschichte noch nicht gehört hatte, denn es sprudelte nun förmlich aus ihm heraus. »Ich war gestern mit Werner hier am Ausschachten, als die Sache passiert ist.«
Er deutete in die düstere Grube.
»Werner … ist Ihr verunglückter Kollege?«, hakte Jessika nach.
Der Arbeiter nickte. »Ich war nur kurz draußen, um ein paar der Platten rauszubringen und neues Arbeitsgerät zu holen. War ’ne ordentliche Plackerei, das Ganze.« Pflichtschuldig blickte er zu seiner Chefin. »Und plötzlich, na ja, da hörte ich Werners Schreie. Also eher gedämpft, sodass ich das zuerst gar nicht richtig verstanden habe. Jedenfalls hab ich die Kippe sofort ausgemacht und bin wieder rein. Die Schreie von Werner, so was hab ich noch nie …« Er brach ab, rang sichtlich mit sich und fing sich schließlich wieder. »Jedenfalls hab’ ich mich erst mal umgeschaut, und erst dann begriffen, dass er hier mitten bei der Arbeit durch den Boden gebrochen ist. Ich bin sofort hin, weil ich ihm natürlich helfen wollte. Und dann hab ich es gesehen. Dieses …«, er schluckte, während er in die Senke stierte, »dieses fürchterliche Gewusel da unten. Und die ganze Zeit über dieses schrille Fiepen und Werners verzweifelte Schreie. Ich … ich habe so viele Ratten auf einem Haufen noch nie zuvor gesehen. Das müssen Hunderte gewesen sein. Werner hatte keine Chance. Als die Feuerwehr ihn später raufholte, sah er aus … als hätte man ihn bei lebendigem Leib durch den Fleischwolf gedreht. Die haben ihn einfach totgebissen.«
Dem Arbeiter kamen die Tränen, und die Anwesenden sahen einander beklommen an. »Ist ja gut«, murmelte seine Chefin und klopfte ihm mitfühlend auf den Rücken. »Jetzt, wo die Polizei auch den Rest aufgenommen hat, gehst du erst mal nach Hause. Schlaf dich aus, und morgen rufst du in der Firma an, wie du dich fühlst, okay?«
Der Arbeiter nickte und trottete niedergeschlagen an ihnen vorbei zum Ausgang.
Jessika warf nun ihrerseits einen Blick auf die Grube mit der Leiter und versuchte, sich das Grauen, das sie bei Rüdigers Schilderung empfunden hatte, nicht anmerken zu lassen.
Claudia Bartz seufzte schwer. »Haben Sie denn schon eine Vorstellung, wie viel Zeit Ihre Untersuchung in Anspruch nehmen wird?«
»Ich?« Jessika riss ihren Blick von der Grube los und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muss mir dazu erst einmal einen Überblick verschaffen. Und es hängt auch davon ab, was ich dort unten finde. Erst dann wird zu entscheiden sein, was mit dem Gewölbe passieren soll. Zuschütten? Neu abstützen und damit erhalten? Derzeit ist ja noch nicht einmal geklärt, ob ich da unten überhaupt ungefährdet runterklettern kann. Nicht nur wegen des Rattenbefalls, sondern auch wegen der Statik des Gewölbes.«
»Was Ersteres betrifft, fragen Sie am besten Herrn Rating«, erklärte Pastor Krämer. »Abgesehen von der Feuerwehr, einem Polizeibeamten und ihm hat sich bislang noch keiner von uns da runtergetraut.«
»Herr Rating? Und wer ist das?«
Noch ehe der Pastor Antwort geben konnte, kam überraschend Leben in die Düsternis unter ihnen, und unter lautem Leiterknarren kletterte eine groß gewachsene Gestalt mit hageren Gesichtszügen zu ihnen hinauf. Jessika schätzte den Mann auf Ende dreißig. Sein haselnussbraunes Haar fiel ihm locker auf die breiten Schultern, lichtete sich jedoch am Stirnansatz, unter dem eine große Stirnlampe thronte, die allerdings ausgeschaltet war. An dem breiten Gürtel seines blaugrauen Schutzanzuges hatte er Werkzeuge und eine lederne Arbeitstasche befestigt. Überrascht hielt er nun auf den Sprossen inne und sah zu ihr auf – fast so, als würde er sie von irgendwoher kennen. Instinktiv durchforstete Jessika ihr Gedächtnis, fand jedoch nichts. Dabei wäre ihr ein Typ wie er sicher im Gedächtnis geblieben. Zwar war der Fremde nicht unbedingt hübsch – dafür saß seine Nase etwas zu schief –, aber er hatte etwas Lässiges an sich, und die Ränder seiner braunen Augen zierten ausgeprägte Lachfalten, was ihr sehr sympathisch war. Im Augenblick allerdings wirkte der Unbekannte sehr ernst.
»Was ist?«, wandte Tönning sich sogleich an ihn. »Haben Sie da unten etwas vergessen?« Seine Stimme klang gereizt, doch der Angesprochene ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Vielleicht genieße ich ja bloß den Ausblick«, gab er knapp zurück, schürzte herausfordernd die Lippen und betrachtete Jessika dabei noch immer aufmerksam. Dann kletterte er gänzlich nach oben, und erst jetzt sah sie, dass er einen prall gefüllten schwarzen Plastikbeutel bei sich trug, in dessen Innerem sich zahlreiche klobige Objekte abzeichneten.
»Peter Rating«, sagte er, als er auf den Erdsteg trat und sich dort den rechten Handschuh abstreifte. »Sind Sie vom Bauamt?«
»Nein.« Jessika lächelte und schüttelte die dargebotene Hand. »Jessika Raapke. Ich bin die zuständige Archäologin.«
»Angenehm. Peter Rating. Schädlingsbekämpfung.«
»Wir haben Herrn Rating wegen der Ratten kommen lassen«, erklärte Tönning.
»Und ich dachte, wegen der Kirchenmäuse«, murmelte Jessika.
»Wie bitte?«
»Kleiner Scherz.« Sie spähte an Rating vorbei in das dunkle Loch. »Wie gefährlich ist es denn da unten?«
Der Kammerjäger streifte sich jetzt auch die Stirnlampe ab. »Ich habe die Tunnel, durch die die Ratten in den Raum eingedrungen sind, provisorisch versiegelt und natürlich überall Giftköder ausgelegt. Da unten ist im Augenblick nichts, was Ihnen gefährlich werden könnte.«
»Und wie steht es um die Stabilität der Kammer?«, wollte Claudia Bartz, die Bauunternehmerin, wissen.
»Also, auf mich macht die Gruft einen recht stabilen Eindruck – abgesehen von dem Deckeneinbruch natürlich.«
»Es handelt sich also tatsächlich um ein Grabgewölbe?«, hakte Jessika nach.
»Ja, und das ist auch mit einigen interessanten Ausstattungen versehen«, antwortete Rating, der seine Augen noch immer auf Jessika ruhen und sie damit allmählich verlegen werden ließ.
»Es wäre dennoch etwas leichtsinnig, erneut dort herunterzusteigen, wenn Sie mich fragen«, meldete sich Tönning wieder zu Wort. »Wir sollten lieber das Urteil unseres Architekten abwarten. Nicht, dass auch der Rest noch einstürzt.«
Die Bauunternehmerin wandte sich jetzt an die beiden Kirchenvertreter. »Apropos Architekt: Wo ist Herr Schmidt eigentlich?«
»Er wurde leider durch eine andere Baustelle aufgehalten«, seufzte Pastor Krämer. »Aber er hat versprochen, uns morgen früh zu beehren.«
»In diesem Fall kann ich heute vermutlich nicht viel tun«, ergriff Jessika die Gelegenheit beim Schopf. »Für wann genau hat er sich denn angekündigt?«
»Für den späten Vormittag«, murrte Tönning, der längst misstrauisch den Beutel begutachtete, den Peter Rating neben ihnen abgelegt hatte. »Und da drinnen befinden sich … diese Ratten?«
»Nicht alle«, konkretisierte Rating. »Da unten liegen noch weitere Exemplare, die der Mann vermutlich im Todeskampf erschlagen hat.« Mitfühlend blickte er die Bauunternehmerin an. »Aber die entsorge ich gleich noch. Nur handelt es sich bei denen hier im Beutel um einen Fund, auf den man nicht alle Tage stößt. Ich wollte mir die Tiere erst einmal bei Tageslicht ansehen. Allerdings ist der Anblick für den einen oder anderen hier vielleicht etwas befremdlich.«
»Na, kommen Sie.« Kirchenvorstandsvorsitzender Helmut Tönning nestelte neugierig an seiner runden Brille. »Es ist ja nun nicht so, als hätten wir zuvor noch nie eine tote Ratte gesehen.«
Rating warf ihm einen forschenden Blick zu, legte dann aber wieder den Handschuh an und kippte den Sack kurzerhand aus. Mit einem dumpfen Platschen fielen gleich neun leblose Rattenleiber zwischen ihnen zu Boden. Ihr Anblick ließ Jessika angeekelt zurückweichen. Die schwarzbraunen Nager erschienen ihr riesig. Fast so groß wie kleine Dachse. Und einige dieser Monster hielten ihre spitzen Nagezähne selbst im Tod noch angriffslustig gefletscht.
Das Unheimlichste aber war die Art und Weise, wie die Tiere miteinander verbunden waren. Denn ihre langen Schwänze waren zu einem undurchdringlichen Gewirr verknotet, oder … miteinander verklebt. So genau vermochte sie das nicht zu sagen, war sich jedoch sicher, dass es den Tieren auch zu Lebzeiten nicht möglich gewesen wäre, sich voneinander zu lösen. Zwei der Rattenschwänze wirkten sogar, als seien sie bei einem solchen Versuch gebrochen.
»Meine Güte, was ist das denn?«, ächzte Claudia Bartz.
»Ein Rattenkönig«, erklärte Peter Rating ernst und schlug sich mit einer knappen Kopfbewegung das Haar aus der Stirn. »Ein ziemlich seltenes Phänomen, von dem ich bislang auch nur gelesen habe. Wie es zu so etwas kommen kann …?« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber ich hoffe, es noch herauszufinden.«
»Dass der Boden ausgerechnet an dieser Stelle unterkellert ist, damit hätte ich nie gerechnet.« Die Bauunternehmerin sah sich zum Chor der Kirchenhalle mit dem abgedeckten Altar um. »Ich habe ja nicht zum ersten Mal mit alten Kirchen zu tun. Wenn wir da unten tatsächlich auf eine Art Krypta gestoßen sind – warum hier, so tief im Kirchenschiff? Wenn überhaupt, würde ich ein solches Grab näher am Altar erwarten.«
»Das ist richtig«, meldete sich Jessika zu Wort, die ihren Blick nur allzu bereitwillig von den Tieren löste, »aber die Erklärung ist vermutlich ganz einfach. Darf ich mal?«
Sie eilte an den anderen vorbei zum östlichen Grubenrand, hockte sich hin und wies auf das Gestein, das dort inmitten des abgerutschten Erdreichs zum Vorschein gekommen war. »Sehen Sie das? Ich müsste es natürlich noch näher untersuchen, aber das könnten die Mauerüberreste eines alten Apsisbogens sein.«
»Apsis?« Peter Rating hob fragend eine Augenbraue.
»Genau. Ein im Grundriss halbkreisförmiger, manchmal auch quadratischer Raumteil, der sich üblicherweise an die Haupthalle einer Kirche anschließt.« Jessika versuchte erfolglos, mit der Hand nach unten zu langen, um so weiteres Erdreich beiseitezuräumen. »Anders gesagt: Es ist sehr gut möglich, dass die Nicolaikirche ursprünglich kleiner war, erst später erweitert wurde und diese Überreste den einstigen Altarraum der Kirche markieren.«
Der Pastor nickte. »Die ältesten Teile unserer Kirche stammen tatsächlich noch aus dem 12. Jahrhundert. Vornehmlich der Turm. Helmut?«
»Ja. Steht doch alles in den Unterlagen, die Doktor Hendrich angefordert hat.« Tönning fuhr unbeeindruckt fort: »Der heutige Chor wurde erst 1565 errichtet.« Er wies zur geschnitzten Kanzel schräg vor ihnen und dann zum abgedeckten Altar. »Die Kanzel hingegen stammt aus dem Jahre 1673 und der Altar aus dem Jahr 1685.«
Pastor Krämer zwinkerte ihr zu. »Sie müssen wissen, dass unser Herr Tönning ein wandelndes Geschichtslexikon ist.«
»Werde ich mir merken.« Jessika erhob sich und klopfte sich die Hände an der Jeans ab.
»Dann ist das also auch geklärt«, seufzte die Bauunternehmerin. »Ich habe in einer halben Stunde einen weiteren Termin und gehe jetzt mal davon aus, dass Sie mich rechtzeitig informieren, sobald wir hier wieder loslegen können?«
»Ich melde mich.« Jessika nickte.
Pastor Krämer begleitete Claudia Bartz nach draußen, und so blieb Jessika mit Peter Rating und dem Kirchenvorstandsvorsitzenden Tönning allein zurück.
Rating sammelte seine Ratten wieder ein. »Ich muss in jedem Fall noch einmal da runter«, sagte er, während er Jessika noch immer auf eine Weise beäugte, die ihr seltsam erschien. Keineswegs aufdringlich, eher … nachdenklich. »Vielleicht möchten Sie mich begleiten? Glauben Sie mir, es lohnt sich.«
Jessika warf einen unauffälligen Blick auf ihre Armbanduhr. In spätestens zwanzig Minuten musste sie los. »Ich weiß nicht. Solange der Architekt die Grube nicht freigegeben hat …«
»Das sehe ich ganz ähnlich«, mischte sich Helmut Tönning ungefragt ein. »Ich halte das für fahrlässig. Wenn da unten noch jemand zu Schaden kommt, wie stehen wir denn dann da?«
Der Vorsitzende des Kirchenvorstands ging Jessika allmählich auf die Nerven. »Andererseits«, wandte sie sich daher an den Kammerjäger, »waren Sie ja bereits unten. So lange da keine Ratten mehr sind, könnte ich tatsächlich mal einen kurzen Blick riskieren.«
»Das machen Sie aber auf eigenes Risiko!«, schimpfte Tönning.
Peter Rating schürzte amüsiert die Lippen, setzte sich die Stirnlampe wieder auf und kletterte abermals in die Tiefe. Jessika rückte sich die Brille zurecht und folgte ihm vorsichtig über die Leiter nach unten.
Rasch wurde es düster um sie herum, und sie umfing ein verbrauchter, modriger Geruch nach Stein und Erdreich.
Unten angelangt, half ihr Rating auf den Boden und schaltete seine Stirnlampe an.
Jessika musste an sich halten, um nicht einen leisen Pfiff auszustoßen. Die Gruft war mit einer geziegelten, halbrunden Tonnendecke ausgestattet, deren Ecken in ebenfalls geziegelten Stützpfeilern mündeten, die sich zur Decke hin erweiterten. Angesichts der übrigen Ausdehnung der Kirche erschien ihr das Gewölbe erstaunlich groß.
Ihr Blick folgte dem hellen Lichtschein von Ratings Stirnlampe, deren Kegel auf einem eingebrochenen, hölzernen Sarg ruhte, der halb unterhalb der Einbruchsstelle lag und an dieser Stelle komplett zerstört war. Die hölzernen Überreste waren schwarzstichig und wiesen auf ein hohes Alter des Sarges hin.
»Das hier ist noch lange nicht alles«, erklärte der Kammerjäger.
»Darf ich mal?« Sie deutete auf seine Stirnlampe. Rating nahm sie ab und reichte sie ihr. Dabei strich der Lichtschein über eine kleinere Ratte am Boden, deren Leib über einer dunklen Stelle lag.
Der eingetrocknete Rest eine Blutlache.
Jessika schluckte. »Hier starb der Bauarbeiter?«
Rating, der trotz seiner Größe von rund 1,80 Metern nicht einmal den Kopf einziehen musste, zuckte mit den Schultern, nickte dann aber. »Anzunehmen. Ich habe das Gewölbe erst nach den Einsatzkräften betreten. Lange aufgehalten haben die sich hier aber nicht.«
»Kein Wunder – angesichts all der Ratten. Wie haben die die vielen Tiere eigentlich vertrieben?« Beklommen suchte Jessika den Boden mit der Lampe ab und fand in unmittelbarer Nähe des ersten Tieres noch zwei weitere tote Nager. Einer von ihnen stand der stattlichen Größe jener Ratten, die Rating in der Kirche ausgekippt hatte, um nichts nach.
»Die mussten nicht verscheucht werden«, erklärte Rating. »Bis auf die toten Ratten, die ich Ihnen oben bereits gezeigt habe, und die, die Sie hier vor sich sehen, haben die Feuerwehrleute keine weiteren Tiere mehr in dem Gewölbe angetroffen. Nur die Bisswunden an dem Toten stützen den Bericht des Zeugen, dass es sich um einen Schwarm gehandelt haben muss. Heute Morgen habe ich erfahren, dass die Pathologen von über neunzig Ratten ausgehen, die an dem Tod des Arbeiters beteiligt waren.«
»Über neunzig Bisse?!« Jessika richtete den Lichtschein entsetzt auf ihren Begleiter, der abwehrend die behandschuhte Rechte hob. Schnell senkte sie die Lampe wieder.
»Sein Kollege hat es ja schon angedeutet: Der Mann wurde regelrecht zerfleischt«, erklärte er düster.
»Mein Gott.« Jessika betrachtete die toten Ratten mit unverhohlenem Ekel. »Ich habe mal von einem Säugling in Indien gelesen, der von Ratten in der Wiege totgebissen wurde. Aber so etwas …«
»Das sind meist aufgebauschte Meldungen«, brummte Rating. »Klar, hin und wieder passiert es, dass jemand eine Ratte aufschreckt und dann angesprungen wird. Auch zu Bissen kommt es immer mal wieder. Aber so etwas wie das hier …« Er schüttelte den Kopf. »Die toten Exemplare hier unten sind auch die einzigen, die ganz offensichtlich im Kampf erschlagen wurden. Die Tiere oben habe ich vor einem der Tunnel dahinten gefunden.«
Jessika folgte seinem Fingerzeig, und ihr Lampenschein riss nun einen fast unterarmgroßen Grabungstunnel dicht über dem Boden aus der Finsternis, den Peter Rating mit einer hellen, schnell härtenden Masse aufgefüllt und ausgespachtelt hatte. Jetzt fielen ihr auch die vielen grünblauen Rattenköder auf, die er überall am Boden ausgelegt hatte.
»Bei den Tieren, die Sie oben schon gesehen haben jedenfalls, deutet bislang alles darauf hin, dass sie sich in wilder Raserei gegenseitig totgebissen haben«, führte er seine Erklärung zu Ende.
»Gegenseitig? Meine Güte.« Jessika war froh, hier unten nicht alleine zu sein. »Wenn ich daran denke, dass ich meiner Patentochter erst vor Kurzem eine Ratte als Haustier geschenkt habe, mache ich mir allmählich Sorgen.«
»Müssen Sie nicht.« Peter Rating lächelte erstmals, was ihn ausnehmend sympathisch wirken ließ. »Das sind Farbratten. Gezähmte Nachfahren von Wanderratten. Ursprünglich Labortiere. Die sind harmlos und sogar recht verschmust.«
»Das hoffe ich doch. Sie hat ihre Ratte Rémy getauft.«
»Nach der Wanderratte aus Ratatouille?«
»Sie kennen den Film?«
»Aber sicher.« Er zwinkerte. »Ich esse auch ganz gern. Aber Spaß beiseite: Ich hoffe, dass Sie die Eltern Ihrer Patentochter vorher gefragt haben, ob sie mit einem solchen Haustier einverstanden sind? Und eigentlich sollten Sie sich auch überlegen, ob sie ihr nicht noch mindestens eine zweite Ratte kaufen. Das sind Schwarmtiere, das ist ansonsten fast Tierquälerei.«
»Also, darauf hätte mich aber wirklich auch der Verkäufer aufmerksam machen können.« Jessika seufzte. »Mir ging es nur darum, meine Patentochter etwas über ihren Verlust hinwegzutrösten. Meine beste Freundin Beate starb leider vor einem knappen Jahr bei einem Autounfall. Sie war Leonies Mutter, und seit dem Unfall kümmere ich mich um das Mädchen. Wir haben ohnehin viele Jahre zusammen in einer WG gelebt.«
»Oh, das tut mir leid.« Ihr Begleiter musterte sie betroffen. »Und der Vater?«
»Den gibt es, aber er hat kein Interesse an ihr.« Sie lächelte unglücklich. »Aber sie hat ja mich. Und um ehrlich zu sein, befinden wir uns auch gerade mitten im Umzug. Deswegen muss ich mich heute etwas beeilen.«
»Das kriegen wir hin.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Wohin geht denn die Reise?«
»Ins Ith-Gebirge«, antwortete Jessika, die sich über ihre Offenherzigkeit selbst etwas wunderte, ihr Gegenüber aber zunehmend sympathisch fand. Der Themenwechsel verschaffte ihr auch ein wenig mehr Abstand zu dem unwirtlichen Ort, an dem sie sich gerade aufhielt.
»In den Ith?«, hakte Rating sichtlich erstaunt nach.
»Ja – nicht, dass ich mir das so ganz freiwillig ausgesucht hätte«, sie seufzte schwer. »Das Architekturbüro, für das ich arbeite, befindet sich ja schließlich in Hameln. Aber in der Stadtwohnung, in die wir eigentlich ziehen wollten, hat es vor einer knappen Woche einen Wasserrohrbruch gegeben. So kurz vor unserem geplanten Umzug war plötzlich guter Rat teuer. Und dann erinnerte ich mich wieder daran, dass Leonie kürzlich durch das Erbe an ein Haus da oben auf dem Bergzug gelangt ist. Und wie ich vor einer Woche erfuhr, steht es derzeit zum Glück leer.«
»Wow!« Peter Rating hob eine Augenbraue. »Ein eigenes Häuschen klingt doch prima. Und das auch noch im Ith! Sie wissen schon, dass große Bereiche da oben inzwischen Naturschutzgebiet sind? Da erhält man heute eigentlich kaum noch eine Baugenehmigung.«
»Das Häuschen stammt aus dem 19. Jahrhundert. Ich hoffe nur, es wird uns durch etwaige Auflagen nicht noch ordentlich belasten. Wir werden sehen.« Sie atmete tief ein. »Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich mich mit der Immobilie bislang noch nicht großartig beschäftigt. Das alles wollte ich nach unserem Umzug erledigen. Und als Wohnalternative hatte ich das Haus schon gar nicht in Erwägung gezogen, schließlich liegt es ja wirklich etwas abseits von Hameln. Selbst hier, von Coppenbrügge aus, ist es nicht gerade um die Ecke. Aber jetzt bleibt uns nichts anderes übrig. Zumindest, bis ich eine Alternative gefunden habe. Heute Nachmittag noch jedenfalls ziehen wir da oben ein, und ich hoffe, das Häuschen hält, was mir die Immobilienverwaltung darüber berichtet hat. Denn ehrlich gesagt kenne ich es bislang nur von Fotos. Wie gesagt, das alles ging etwas holterdiepolter, aber das war auch bei meinem neuen Job hier so. Das Angebot kam auch erst kürzlich rein, und wenn Sie wüssten, wie wir Archäologen uns üblicherweise durchschlagen müssen, hätten Sie die Gelegenheit ebenfalls beim Schopf gepackt.« Sie winkte ab. »Egal, ich sollte mich besser wieder auf das hier konzentrieren und mich dann auf die Socken machen. Leonie kommt schon bald am Bahnhof in Hameln an, und ich muss sie abholen.« Sie starrte wieder den verschlossenen Rattentunnel an. »Bin ich hier denn in den nächsten Tagen vor den Biestern sicher?«
»Ich denke schon«, murmelte Rating. »Obwohl ich zugeben muss, dass mir das Verhalten der Tiere gleich in mehrerlei Hinsicht Rätsel aufgibt. Denn neben dem toten Bauarbeiter und dem Rattenkönig ist da noch etwas.«
Er hob die große, dunkelschwarze Ratte am Schwanz an und hielt eines der anderen beiden Exemplare im Vergleich daneben. Das zweite Tier war nicht nur deutlich kleiner, die Ratte besaß auch ein eher braungraues Fell. Die Schnauze lief spitzer zu, die Ohren waren länger, und sie erschien auch vom Wuchs her schlanker. »Sehen Sie das?«
»Ich denke schon«, antwortete Jessika. »Das sind unterschiedliche Arten, oder?«
»Exakt. Rattus norvegicus und Rattus rattus. Wanderratten und Hausratten.« Rating ließ die beiden Tiere in einem Beutel verschwinden und sammelte auch das dritte Exemplar ein. »Hausratten sind sehr viel kleiner als Wanderratten, und ihre Population ist schon seit vielen Jahren stark rückläufig. Sehr ungewöhnlich, beide Arten zusammen an einem Ort anzutreffen.«
Jessika räusperte sich unbehaglich, richtete den Lichtschein wieder auf den zerstörten Sarg und strich mit ihm kurz die Wände nach zugeschütteten Treppenstufen ab, fand aber keine. »Auf mich wirkt das hier wie eine Krypta«, erklärte sie. »Allerdings muss ich noch herausfinden, wie man hier einst Zutritt erlangte.«
»Vermutlich nicht durch die Decke.« Peter grinste.
»Nein, ganz sicher nicht.« Sie lächelte dünn und beleuchtete wieder die zersplitterten Überreste des Holzsargs. »In Gewölben wie diesen wurden früher Reliquien gelagert, vor allem aber haben sich die Herrschenden gern in ihrer Nähe bestatten lassen. Ein Brauch, der erst mit der Gotik verschwand. Die Größe dieser Gruft würde sogar mehrere Särge zulassen. Hier steht aber nur dieser ei… – meine Güte, was haben wir denn da?«
Ihr Lichtschein streifte die Westwand der Gruft und riss dort ein farbiges Wandbild aus dem Dunkeln, das etwa achtzig Zentimeter in der Höhe und fast einen Meter in der Breite maß. Die pastellfarbenen Töne leuchteten und wirkten im Licht der Lampe fast so, als wären die Farben erst vor Kurzem aufgetragen worden. Verblüfft näherte sie sich dem Gemälde und kniff die Augen zusammen, um das Motiv genauer zu betrachten. Nein, kein Zweifel: Es handelte sich bei der dargestellten Szene nicht um eine religiöse Abbildung. Das Bild zeigte einen bunt gekleideten Mann mit Schalmei, vor dem sich rechter Hand eine begrünte Landschaft mit Bäumen und Wild aufspannte. Diese grenzte an einen Flusslauf, an den sich wiederum eine mittelalterliche Stadt schmiegte. Über dieser schien der Pfeifer eine Vielzahl kleiner Gestalten zu einem Berg zu führen, in dem sich eine Höhle auftat. Gleichzeitig war derselbe Mann in einem kleinen Boot auf dem Fluss vor der Stadt zu sehen, wo er mit seinem Spiel ein Gewimmel kleiner Wesen in den Fluss lockte: Ratten.
Jessika schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist doch eine Darstellung dieser Sage: des Rattenfängers von Hameln!«
»Ich habe mich schon gefragt, wann Sie auf das Wandgemälde aufmerksam werden«, meinte Rating ruhig, als er neben sie trat.
Jessika berührte das Bild ehrfürchtig mit den Fingerkuppen. »Eigenartig, eine solche Darstellung an einem Ort wie diesem zu finden. Vor allem … ich bin mir sicher, dass ich das Motiv von irgendwoher kenne.«
»Kennen Sie vermutlich auch.« Der Kammerjäger beugte sich ebenfalls vor. »Das Bild ähnelt einer mittelalterlichen Darstellung, die hier im Hamelner Umland wahrscheinlich jedes Schulkind kennt. Ich bin zwar kein Historiker und kann Ihnen daher nicht sagen, woher das Bild stammt, aber es dürfte nicht schwer sein, es ausfindig zu machen.«
»Die Abbildung muss in irgendeinem Bezug zu jenem stehen, der hier bestattet wurde.« Aufgeregt zückte Jessika ihr Smartphone und schoss einige Aufnahmen von dem Wandbild, dann wandte sie sich wieder dem zerstörten Sarkophag zu.
»Was glauben Sie, wer hier bestattet wurde?«, wollte Rating wissen.
»Nach allem, was ich über die Kirche weiß«, murmelte Jessika nachdenklich, »war sie im Mittelalter die Hauptkirche der einstigen Grafschaft Spiegelberg. Gut möglich, dass die Gruft dem damals herrschenden Adelsgeschlecht gehörte. Aber da muss ich mich noch einarbeiten.«
Sie trat an den Sarkophag heran und schoss auch von diesem mehrere Bilder. Dann ließ sie ihr Handy sinken, hockte sich neben die hölzernen Überreste und leuchtete den Sarg, an der Bruchstelle beginnend, aus. Nichts. Nur einige Lederreste unbekannter Herkunft. »Komisch«, murmelte sie. »Der Sarg ist leer.«
»Genau. Aber das ist noch nicht alles«, kommentierte Peter ihre Entdeckung. »Hier gibt es noch weitere Seltsamkeiten.« Er hielt nun sein eigenes Smartphone in der Hand und versuchte erfolglos, die Lichtfunktion anzustellen. »Verdammter Akku. Ich muss mir wirklich mal ein neues Gerät leisten. Tut mir leid, aber wenn Sie mir meine Lampe mal kurz zurückgeben könnten?«
»Sicher.« Sie reichte ihm das Gewünschte, und er beleuchtete mit ihr eine Stelle hinter dem Sarg an der Gruftwand, ganz in Bodennähe. Dort befand sich der Zugang zu einem weiteren Rattentunnel, der sogar noch größer war als der erste. Unmittelbar davor lagen die zerfetzten Überreste eines großen, ledernen Bündels. Sogar einstige Verschnürungen waren zu erkennen.
Jessika beugte sich über den Fund und berührte das harte und unnachgiebige Material, während ihr Rating leuchtete. Die Lederreste wirkten wie in Raserei zernagt. Wenn darin etwas eingewickelt gewesen war, dann war der Inhalt fort.
»Lag das Bündel hier?«, fragte sie argwöhnisch.
»Nein … zumindest nicht direkt.« Rating strich sich das halblange Haar hinter das Ohr. »Es steckte halb in dem Rattenloch in der Wand vor Ihnen. Ich musste die Überreste erst herausziehen, bevor ich es dicht machen konnte. Tut mir leid, wenn ich dabei etwas kaputt gemacht habe.«
»Sie wissen schon, wie seltsam das klingt?« Jessika spähte wieder zu dem Sarg, in dessen Innerem sie die anderen Lederreste gefunden hatte. »Sollte das Bündel aus dem zerstörten Sarg stammen, würde das nicht nur bedeuten, dass die Ratten es dort hervorgezerrt hätten …«
»… sondern auch, dass sie versucht haben, es über den gebuddelten Gang nach draußen zu schaffen«, beendete der Kammerjäger den Satz. »Ja.«
Jessika runzelte irritiert die Stirn.
»Aber wie gesagt«, fuhr ihr Begleiter fort. »Hier gibt es noch mehr, das Fragen aufwirft. Schauen Sie mal.«
Peter Rating beleuchtete nun die Seitenwände des Gewölbes, und erst auf den zweiten Blick entdeckte Jessika, dass in das Mauerwerk einander gegenüberliegende, fassdeckelgroße, fünfzackige Sterne mit durchgezogenen Außenseiten eingeritzt waren. Sie trat näher an die Einkerbungen heran und betrachtete die Symbole interessiert.
»Pentagramme!«, sagte Rating, und seine Stimme hallte unheilvoll durch das unterirdische Gewölbe. »Und ich vermute, dass Sie mir jetzt nicht sagen wollen, dass okkulte Beschwörungszeichen wie diese für ein mittelalterliches Grabgewölbe normal sind.«
Jessika warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu. »Sie suchen nach einer Erklärung für das seltsame Verhalten der Ratten? Ich glaube kaum, dass Sie diese im metaphysischen Bereich finden. Das sind nämlich keine Beschwörungszeichen.« Sie fuhr die Ritzungen mit den Fingerkuppen nach. »In Wahrheit sind es sogenannte Drudenfüße. Erkennbar daran, dass sie mit der Spitze zur Erde angebracht wurden. Man nennt sie auch Alb-, Alfen- oder Drudenfüße. Symbole wie diese wurden im Mittelalter als Zauberzeichen gegen böse Geister verwendet.« Sie wandte sich wieder dem zerstörten Sarkophag zu. »Und das liefert uns möglicherweise einen Hinweis darauf, dass sich jene, die die Zeichen angebracht haben, vor der Person fürchteten, die sie hier zur letzten Ruhe betteten.«
Grübelnd spähte sie im Halbdunkel erneut zu dem bunten Wandgemälde mit dem Rattenfänger. »Nur … wo ist der Leichnam?«
Peter Rating seufzte schwer. »Freut mich, dass Sie nicht besonders abergläubisch sind.« Er musterte sie wieder auf diese eigentümliche Weise, spähte dann argwöhnisch zu der Einbruchsstelle über ihnen an der Decke und senkte die Stimme. »Aber es gibt hier unten noch etwas, das Sie sich vielleicht einmal ansehen sollten. Und zwar, bevor die da oben darauf aufmerksam werden. Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung ja dann.«
»Und was soll das, bitte, sein?«
Jetzt richtete Rating den Schein der Lampe auf die Ostwand. In seinem Licht offenbarte sich eine tiefe Wandnische, die zuvor gänzlich im Dunkeln gelegen hatte. Dort, auf einem steinernen Sockel, thronte halb verschattet eine bemalte, fast oberschenkelhohe Heiligenstatue mit geneigtem Kopf und demütig ausgebreiteten Händen.
»Sieh an, was haben wir denn da?«
Peter Rating leuchtete ihr, als sie an die Wandnische herantrat und die Statue eingehender betrachtete. Es handelte sich um die Holzskulptur einer andächtigen Frau in weitem Gewand mit weit in das Gesicht hängender Kapuze. Zu ihren Füßen schmiegten sich zwei geschnitzte Tiere gehorsam an ihren Rocksaum: Ratten.
»Okay, ich verstehe, was Sie meinen.« Interessiert beugte sie sich zu den Tieren herunter. »Noch eine Anspielung auf Ratten. Angesichts dessen, was sich hier unten zugetragen hat, ist das natürlich makaber.« Tatsächlich spürte sie nun ebenfalls ein leichtes Unbehagen. »Aber auch das ist erklärbar. Das hier ist entweder eine Statue der heiligen Gertrud von Nivelles – oder aber eine der volkstümlichen heiligen Kakubilla. Beide wurden im Mittelalter angerufen, um Schädlinge zu vertreiben. Vornehmlich Ratten und Mäuse. Nur war Kakubilla keine echte Heilige, denn es gab sie nie. Hinter dem Namen verbirgt sich in Wahrheit der irische Dämonenaustreiber Kolumkille. Und Gertrud wird üblicherweise im Habit der Benediktinerinnen und mit dem Krummstab einer Äbtissin abgebildet. Trotzdem, ich tippe fast auf sie.« Kurz hielt Jessika inne und warf Peter Rating von der Seite einen fragenden Blick zu, aber dieser schien sich von ihren Ausführungen nicht genervt zu fühlen. Im Gegenteil; er starrte sie wieder mit diesem forschenden Blick an, der jeden ihrer Züge abzutasten schien. Schnell richtete sie sich auf und sprach weiter. »Warum nun aber ausgerechnet hier eine solche Skulptur aufgestellt wurde … ich hoffe, das kann ich erklären, wenn ich das Gewölbe näher untersucht habe.«
»Tatsächlich?« Peter Rating trat neben sie und strahlte nun das Gesicht der Frauenskulptur an. »Dann erklären Sie mir doch einmal das hier.«
Jessika folgte dem Lichtschein und sah, dass die Gesichtszüge der Figur ungewöhnlich detailliert herausgearbeitet worden waren. Sie erschienen ihr sogar auf unbestimmte Art vertraut.
Entgeistert schreckte sie zurück – denn plötzlich begriff sie, warum Peter Rating sie die ganze Zeit über so seltsam ansah.
Die Gesichtszüge der Statue waren die ihrigen.
Außerdem haben Hannah und ich abgemacht, dass wir jeden Abend skypen werden«, erklärte Leonie ungewohnt redselig. »Und sie will uns in den Sommerferien besuchen kommen. Gleich, wenn sie und ihre Eltern aus Griechenland zurück sind.«