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Wenn dein schlimmster Albtraum wahr wird Die alleinerziehende Libby und ihr dreijähriger Sohn Ethan machen zum ersten Mal Urlaub in einem Luxus-Resort, um sich für die vergangenen schwierigen Jahre zu belohnen. Doch Libby kann sich nur schlecht entspannen: Sobald Ethan aus ihrem Blickfeld verschwindet, gerät sie in Panik. Ihre Sorge ist berechtigt – denn sie hat ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen kann. Als Ethan eines Abends in einem Fahrstuhl spielt und sich die Türen zu Libbys Entsetzen plötzlich schließen, beginnt der Kampf einer Mutter um das geliebte Kind. Ethan verschwindet spurlos. Und die Gespenster der Vergangenheit tauchen wieder auf.
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Libby Reese braucht dringend eine Pause. Vor drei Jahren ging ihre Ehe auseinander und sie war plötzlich gezwungen, das Leben mit ihrem kleinen Sohn Ethan allein zu bewältigen. Zum ersten Mal seit Jahren scheint es jetzt bergauf zu gehen. Libby hat gerade ihren ersten Roman verkauft und keine finanziellen Sorgen mehr. Ein Urlaub in einem Luxusresort soll ihr und Ethan endlich die Gelegenheit zum Durchatmen geben.
Doch als der Junge eines Abends in einem Fahrstuhl spielt und sich die Türen zu Libbys Entsetzen plötzlich schließen, wird sie von wilder Panik erfasst. Denn sie hat ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen kann. Das Sicherheitspersonal des Hotels beginnt sofort mit einer intensiven Suche. Doch trotz aller Bemühungen bleibt das Kind wie vom Erdboden verschluckt und Libbys schlimmster Albtraum wird wahr …
Der fröhlichen Runde meiner Krimiautoren-KollegenChris, Doug, Luca, Mark und Val
Sie steigt auf das niedrige Mäuerchen am Rand des Dachs, obwohl die Polizeibeamten brüllen, sie solle stehen bleiben. Die Ziegel schürfen ihr die Knie auf, aber es ist ihr egal. Ethan windet sich in ihren Armen, als sie sich aufrichtet, die nackten Sohlen vom Laufen wund. Er ist schwer und bringt sie fast aus dem Gleichgewicht. Ihre Zehen krallen sich um den Rand. Sie nimmt Ethan hoch und schließt ihn fest in die Arme.
»Alles ist gut, Schatz«, sagt sie.
Er weint, wehrt sich gegen ihre Umklammerung, tritt mit den Füßen gegen ihre Schenkel und zerrt mit seinen kleinen Händchen an ihren Kleidern.
»Sieh mal«, sagt sie, »ist das nicht schön?«
Der Mond spiegelt sich auf der schwarzen Fläche des Golfs von Mexiko. Zwischen Terrasse und Meer der Infinity-Pool, umgeben von Palmen, das Wasser still und glasig. Sie stellt sich vor, wie die Kühle sie vollkommen verschlingt, die Stille sie durchdringt.
»Willst du schwimmen gehen?«, fragt sie.
Ethan wird in ihren Armen still.
»Na, was ist?«
Er nickt, den Kopf an ihrer Schulter. »Ja, schwimmen gehen«, sagt er und seine Stimme ist so leise, dass ihre Augen zu brennen beginnen und ihr Hals ganz eng wird.
»Dann tun wir das«, sagt sie. »Versprochen. Nur du und ich.«
Die Polizisten haben aufgehört zu schreien. Sie hört, wie sie von allen Seiten näher kommen, wie ihre Schritte auf dem Kies, der das Hoteldach bedeckt, knirschen. Irgendwo, weit weg, hört sie eine Frau weinen und den Namen des Kindes rufen.
Jemand von unten entdeckt sie. Ein alarmierter Schrei, lauter werdende Stimmen, Stühle und Tische, die scharrend über die Bodenplatten der Terrasse geschoben werden und die plätschernde Musik der Lounge Band übertönen, die dort jeden Abend spielt. Weitere Stimmen fallen in den Chor ein. Der Sänger der Band stockt, hört auf zu singen. Durch das Mikrofon hört man ihn entsetzt Luft holen. Dios mío! Die Musik wird leiser und verstummt schließlich.
Sie blickt zum ersten Mal nach unten.
Sieben Stockwerke.
Die Menschen unten weichen zurück, während sie zu ihr heraufstarren. Ihre Stimmen springen zwischen Mauern und Balkonen hin und her. Ein Tablett mit Getränken rutscht einem Kellner aus der Hand, Gläser zerbrechen, die Flüssigkeit spritzt in Feuerwerksmustern über den Boden.
Sie stellt sich vor, wie ihr Körper dort liegt und ein eigenes rotes Feuerwerk auf die Fliesen zeichnet.
Und Ethans Körper.
Jemand sagt ihren Namen. Sie dreht sich nicht um, aber sie hört eine Stimme, die leise und sorglos klingt, als wäre nicht gleich alles zu Ende.
»Hören Sie«, sagt der Mann und kommt ganz langsam näher. »Warten Sie und sprechen Sie mit mir. Egal was Sie durchmachen, was auch immer Sie in diese Lage gebracht hat, es gibt eine Lösung. Das verspreche ich Ihnen. Wollen Sie mit mir reden?«
Sie wirft ihm einen Blick zu. Es ist der Wachmann von unten.
»Ich habe das nicht gewollt«, sagt sie.
»Was haben Sie nicht gewollt?«, fragt der Wachmann.
»Dieses Ende.«
»Es ist nicht das Ende«, sagt der Wachmann. »Nicht, wenn Sie es nicht wollen. Warum muss es das Ende sein?«
»Weil ich etwas Schreckliches getan habe und es nicht ungeschehen machen kann.«
Der Wachmann kommt näher, ganz langsam. Schleichend. Sie sieht ihn am Rand ihres Blickfelds, dreht den Kopf, um ihn besser sehen zu können. Er hat eine hellbraune Haut und gütige Augen, graue Strähnen in den Haaren.
»Das können Sie vielleicht nicht«, sagt er. »Aber Sie können es doch wiedergutmachen. Meine Mutter hat mir immer gesagt, nichts ist je so kaputt, dass man es nicht reparieren kann.«
Sie blickt wieder auf das Meer hinaus, eine schwarz glitzernde Fläche.
»Ich weiß, was Sie wollen«, sagt sie.
»Was will ich denn?«
»Sie wollen mich zum Reden bringen, damit ich runtersteige.«
»Ich will gar nichts, Ma’am. Der Polizeipsychologe will das bestimmt, wenn er kommt, aber ich bin kein Experte. Ich rede nur, ich unterhalte mich nur mit Ihnen, mehr nicht. Wie Menschen es täglich tun. Einfach nur reden.«
»Keinen Schritt näher.«
Sie hört, wie brüchig ihre Stimme klingt, und das macht ihr Angst.
»Ich bin nicht verrückt«, sagt sie und fragt sich gleichzeitig, ob überhaupt schon einmal jemand, der diese Worte laut ausgesprochen hat, von deren Wahrheit überzeugt war.
»Nein, das sind Sie nicht«, sagt der Wachmann, der stehen geblieben ist. »Sie sind doch eigentlich ein ganz vernünftiger Mensch. Ich weiß, dass das im Grunde gar nicht zu Ihnen passt. Genauso wie ich weiß, dass Sie dem kleinen Jungen nichts tun werden.«
»Er ist mein Sohn.«
»Stimmt. Ihr eigen Fleisch und Blut.«
»Bleiben Sie stehen«, sagt sie.
Der Wachmann ist nur noch eine gute Armlänge von ihr entfernt. Zu nah. Sie rutscht auf den Ziegeln ein wenig zur Seite. Sie schneiden schmerzhaft in ihre Fußsohlen.
»Ich bleibe hier stehen«, sagt er. »Ich rühre mich nicht von der Stelle, okay? Ich habe übrigens ein kleines Mädchen etwa im Alter Ihres Jungen, vielleicht ein wenig älter.«
Er wartet auf eine Antwort, aber sie bleibt stumm.
»Sie ist wirklich eine wilde Hummel, wie ihre Mutter. Das sollten Sie erleben. Halb Lateinamerikanerin und halb Irin. Sie ist erst vier, aber ich bin seit ihrer Geburt um zehn Jahre gealtert, Ehrenwort. Wo ist Ihr Junge geboren?«
»Pennsylvania«, sagt sie.
»Wo in Pennsylvania? Pittsburgh? Philly?«
Sie schweigt. Alles ist still. Sie wirft ihm wieder einen Blick zu. Sein Gesicht zeigt seine Gefühle, in seinen gütigen Blick mischt sich tiefes Bedauern. Er weiß, dass er die falsche Frage gestellt hat, dass er sie verloren hat, und das Versagen lässt ihn verzweifeln.
»Geben Sie mir den Jungen«, sagt er mit zittriger Stimme. »Ich schwöre zu Gott, ich werde Sie nicht berühren. Lassen Sie mich nur den Jungen nehmen.«
»Ich kann nicht«, sagt sie.
»Natürlich können Sie das«, sagt er, aber er klingt keineswegs überzeugt.
»Es geht nicht. Ich gebe ihn nicht wieder her. Nicht jetzt.«
»Sie dürfen das nicht tun«, sagt er. »Nehmen Sie ihn nicht mit sich mit. Bitte.«
»Nein«, sagt sie und es klingt endgültig.
Der Wachmann hat recht. Sie darf es nicht, das weiß sie. Aber es macht keinen Unterschied.
Sie küsst Ethan auf die feuchte Wange und sagt: »Ich hab dich lieb.«
Vom Meer kommt eine Brise, warm und salzig.
»Es tut mir leid«, sagt sie. »Bitte verzeih mir.«
Sie sieht aus den Augenwinkeln, wie der Wachmann die Arme ausstreckt, verzweifelt ausstreckt.
»Gott verzeih mir«, sagt sie und hebt einen Fuß.
Überall Geschrei.
Der Urlaub war nicht Libbys Idee gewesen. Ihre Literaturagentin Donna hatte ihr den Link zur Website des Resorts gemailt. Casa Rosa in Naples an der Golfküste von Florida, sieben Pools verteilt auf ein sieben Hektar großes Gelände mit Gärten und Palmen. Gegen einen geringen Aufpreis konnte man ein Zimmer mit unverstelltem Meerblick bekommen.
»Ich weiß nicht, ob ich mir das leisten kann«, hatte Libby in ihrer Antwortmail geschrieben. »Vielleicht sollte ich warten, bis ich das Geld bekomme, das bei Abgabe gezahlt wird.«
»Unsinn«, hatte Donna zurückgeschrieben. »Der Vertrag steht. Na los, mach dir eine schöne Zeit. Gönn dir und dem Jungen ein paar Tage in der Sonne.«
Libby erinnerte sich, wie sie vom Laptop zum Fenster geblickt hatte. Die Bäume waren schon braun und der milde Herbst wich nach und nach der winterlichen Kälte. Der Regen stach wie mit eisigen Nadeln, der Wind war scharf und schneidend. Bis zum ersten Schnee konnte es nicht mehr lange dauern.
Die Korrekturen ihres ersten Romans waren in der nächsten Woche fällig und sie hatte ein zweites Buch, mit dem sie anfangen musste. Es würde ein geschäftiger Winter werden. Allerdings wäre ein Urlaub etwas, auf das sie sich freuen könnte.
»Also gut«, hatte sie laut gesagt, so stolz darauf, dass sie sich entschieden hatte, als hätte sie ein schwieriges Problem gelöst und nicht eine Urlaubsreise nach Florida beschlossen.
Sie hatte Anfang März Geburtstag. Also klickte sie auf die Buchungseingabe und wählte das Datum aus. Es war nicht so teuer, wie sie erwartet hatte. Ein paar Wochen früher, am Valentinstag oder am Tag der Präsidenten, kostete es fast doppelt so viel, aber im März war es nicht so schlimm.
Eine Erwachsene, ein Kind.
Ethan war noch nie geflogen. Wie er wohl damit zurechtkommen würde. Ob es ihr wie denjenigen Eltern gehen würde, die sich vor Scham tief in ihren Sitz drückten, während ihre Kinder drei Stunden am Stück kreischten? Vielleicht konnte sie ja Folgen von PAW Patrol auf ihr iPad laden, damit er während des Fluges beschäftigt war. Ethan durfte sonst nicht viel fernsehen, aber bei einem so langen Flug konnte sie eine Ausnahme machen.
Libby holte ihre Geldbörse, in der ihre Mastercard steckte, und buchte. Geschafft. Fünf Nächte zum Normaltarif. Vielleicht würde sie sich für einen Abend den Luxus eines Hotel-Babysitters gönnen, sich an die Bar setzen und mit dem einen oder anderen attraktiven Mann flirten. Vielleicht sogar tanzen.
Gott, wie lange das her war.
Mason war gegangen, als Ethan ein halbes Jahr alt gewesen war. Hatte gesagt, er käme nicht damit zurecht, könne nicht mehr Teil ihres Lebens sein. Nachdem sie so viel auf sich genommen hatten, um dieses Kind zu bekommen, war er weggerannt. Du lernst einen Mann erst dann richtig kennen, wenn er Verantwortung tragen muss, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Libby hatte Mason für vieles gehalten, aber nicht für einen Feigling.
Trotzdem vermisste sie ihn. Obwohl er sie mit ihrem Sohn sitzen gelassen hatte, spürte sie eine Leere in ihrem Leben, den kalten, leeren Platz in ihrem Bett. Aber zurückhaben wollte sie ihn nicht, auch nicht, wenn er auf Knien angekrochen gekommen wäre und sie um Verzeihung gebeten hätte. Nicht einmal sein Geld wollte sie. Ihre wenigen Freundinnen hatten sie gedrängt, den Unterhalt für Ethan von ihm einzufordern, auf den sie Anspruch hatte. Aber sie wollte nichts von ihm. Sie hatte eine gute Stelle mit einem anständigen Gehalt und kam gut allein zurecht, besten Dank. Wenn er zweimal im Jahr kam, um seinen Sohn zu besuchen, gingen sie freundlich miteinander um, aber von dem, was einmal da gewesen war, war nichts übrig.
Außerdem war Ethan ein braves Kind. Ein einfaches Baby, hatte ihre Freundin Nadine mit hörbarem Neid gesagt. Er hatte fast von Anfang an nachts durchgeschlafen, selten geschrien und war ein guter Esser. Er war zu einem robusten und gesunden kleinen Jungen herangewachsen, der vor Kurzem drei geworden war. Wenn sie in Urlaub fuhren, würde er dreieinhalb sein. Sie stellte ihn sich mit seiner Schwimmweste im Wasser vor, wie er mit seinen stämmigen Beinchen strampelte, während sie ihn an den Händen hielt. Er ging für sein Leben gern schwimmen und sie nutzte jede Gelegenheit dazu. Vor allem seit das Buch unter Vertrag und der erste Teil des Vorschusses eingegangen war und sie ihre Stelle auf die Hälfte hatte reduzieren können. Gemessen an den Kategorien von Publisher’s Weekly war es zwar kein »Spitzenvertrag« und auch kein »bedeutender« Vertrag, aber immerhin ein »recht ordentlicher«. Nicht so viel Geld, dass sie ihren Job hätte aufgeben können, aber doch genug für einen beträchtlichen Teil ihrer Kreditkartenabrechnung. Sie war seit Masons Flucht immer zurechtgekommen, aber jetzt machte sie sich zum ersten Mal, seit er fort war, keine Sorgen mehr um ihr Bankkonto.
Sie hatte es nie über sich gebracht, ihm einen ihrer Texte zu zeigen. Nicht, dass es während ihrer gemeinsamen Zeit viel zu zeigen gegeben hätte. Sie hatte nur einige kurze Texte verfasst, eine Seite hier, ein Kapitel dort. Ein, zwei Kurzgeschichten. Erst nach seinem Weggang hatte sie beschlossen, ernsthaft zu schreiben. Als Ethan noch kleiner gewesen war, war es ein gutes Ventil gewesen, um sich in den kurzen Pausen zwischen Füttern und Windelwechseln zu entspannen.
Der Roman hatte im Lauf eines Jahres Gestalt angenommen. Nicht wirklich originell, hatte sie damals gedacht, eher Mainstream, aber ihre Agentin Donna war anderer Meinung gewesen. Mit einigen kleinen Korrekturen konnte daraus ein Psychothriller werden, der sich gut verkaufen ließe. Na gut, hatte Libby gedacht, dann habe ich eben einen Thriller geschrieben. Sie erinnerte sich noch gern daran, wie ihr Herz geklopft hatte, als Donna mit der Nachricht angerufen hatte, ein Verlag habe ein Angebot gemacht.
Vielleicht habe ich ja einen Urlaub verdient, dachte sie.
Auf der Website des Hotels war von sieben Swimmingpools die Rede. Sie konnten also den ganzen Tag schwimmen, jeden Tag in einem anderen Pool, ohne am Schluss alle ausprobiert zu haben. Und du meine Güte, es gab auch eine Kinderbetreuung. Wenn das schlechte Gewissen nicht zu groß war, konnte sie Ethan dort abgeben und ein, zwei Stunden allein in der Sonne liegen oder auf dem Rücken im Wasser treiben, die Wärme im Gesicht und alle Geräusche durch das blaue Wasser gedämpft, das ihre Wangen streichelte.
Sie riss sich aus ihrem Tagtraum. Das war ja alles wunderbar, aber sie musste auch noch hinkommen. Sie brauchte einen Flug …
Sie hätte vor der Buchung des Hotels zuerst nach den verfügbaren Flügen sehen sollen – und mein Gott, was war überhaupt der nächste Flughafen des Resorts? Leise schimpfend machte sie sich auf die Suche. Doch eine halbe Stunde später war alles erledigt und bezahlt, und statt sich um die Anzahl der Wörter zu sorgen, die sie täglich schreiben wollte, dachte sie schon über Koffer und Schwimmsachen nach, und Gott, konnte sie in einem Vierteljahr sechs Kilo abnehmen, wenn dazwischen auch noch Weihnachten lag?
Sie nahm sieben Kilo ab und zwischen dem 25. Dezember und dem 1. Januar wieder dreieinhalb zu. Der erste Monat des Jahres verging wie im Flug mit einer neuen Runde Korrekturen ihres Debütromans, während sie mit dem zweiten Buch kaum vorankam. Dann war es Februar und sie flog mit ihrem Sohn in drei Wochen nach Florida und hatte noch überhaupt nichts für die Reise vorbereitet.
Sie chattete mit ihrer alten Freundin Shannon auf Facebook, sorgte sich, ob sie zu den anderen Hotelgästen passen würde, ob sie in ihrem Badeanzug lächerlich aussehen und einen Sonnenbrand bekommen würde. Shannon beruhigte sie wie immer. Alles wird wunderbar, sagte sie, genieß die Zeit. Sie war eine gute Freundin und der einzige Grund, warum Libby einen Privataccount bei Facebook hatte, nämlich, damit sie leichter in Kontakt bleiben konnten, nachdem Shannon nach Europa gezogen war.
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie eine Gangway entlangging, an der einen Hand Ethan, in der anderen die Boardingpässe. In diesem Augenblick war sie so zufrieden, fühlte sie sich so vorbereitet und, verdammt noch mal, ja, glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben. Auch nicht damals, als Mason ihr den goldenen Ring an den Finger gesteckt hatte oder als sie zum ersten Mal ihren Sohn in den Armen gehalten hatte. Oder als Donna angerufen und von dem Angebot für einen Zwei-Buch-Vertrag berichtet hatte, der 75 000 Dollar Vorschuss einbrachte.
»Ich habe mir das verdient«, sagte sie laut. »Aber so was von.« Sie ging an Bord.
»Entschuldigen Sie?«, fragte die Flugbegleiterin.
Libby lächelte nur, sagte: »Nichts«, und suchte nach ihren Plätzen.
Die ersten beiden Tage des Urlaubs waren die schönsten, an die sie sich erinnern konnte. Als das Taxi durch das Eingangstor des Resorts gefahren war, hatte sie die Luft angehalten. Sie konnte nicht anders. So etwas hatte sie noch nie gesehen, nicht einmal als sie und Mason noch zusammen gewesen waren.
Eine von Palmen gesäumte Auffahrt führte zu einer Wendeplatte vor dem Hauptgebäude. Eine u-förmige Fassade umgab einen Hof mit einem Springbrunnen in der Mitte. Als das Taxi hielt, öffnete ein Hoteldiener die Tür, während ein zweiter den Kofferraum aufklappte und die beiden großen Koffer, die kleinere Tragetasche und den kleinen Rollkoffer aus Plastik herausholte, den Libby extra für Ethan gekauft hatte.
Der Hoteldiener lud alles auf einen Handwagen und forderte sie lächelnd auf, ihm zu folgen. Ein unangenehm hektischer Moment entstand, als sie in ihrer Handtasche nach einem Dollarschein als Trinkgeld für den Hoteldiener suchte, der ihr die Wagentür geöffnet hatte, bis ihr einfiel, dass sie ja vergessen hatte, den Fahrer zu bezahlen. Als Fahrgeld und Trinkgeld schließlich verteilt waren, blieb sie einen Moment lang wie erstarrt stehen und sah ihrem Gepäck nach, das in das prächtige Gebäude gerollt wurde.
Ich gehöre hier nicht her, dachte sie. Die anderen werden es merken. Alle werden es merken.
Sie war schon immer so gewesen. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich in der Schule fehl am Platz gefühlt. In ihre Klasse waren Mittelschichtkinder von Eltern gegangen, die gut verdienten, Kranken- und Zahnzusatzversicherungen hatten, neue oder wenigstens fast neue Autos fuhren, Kabelfernsehen und Computer hatten. Libbys Vater hatte in einem Sägewerk gearbeitet, das irgendwann dichtgemacht worden war, und in ihrer Jugend hatte er sich mit Gelegenheitsjobs in der Stadt durchgeschlagen. Es war ihr immer furchtbar peinlich gewesen, wenn sie erfuhr, dass er im Haus einer Mitschülerin Decken anstrich, Gerümpel entsorgte oder mit einem Schlauch die Hauswände abspritzte.
Vom ersten Tag der Junior High School an hatte sie darauf bestanden, dass er sie immer mindestens einen Block vor der Schule absetzte. Sie wollte nicht, dass jemand sah, wie sie aus dem rostigen Van stieg. Sie hatte es nie ausgesprochen, aber rückblickend war sie sich sicher, dass er es gewusst und es ihn verletzt hatte. Aber er hatte sich nie beklagt oder diskutiert. Jeden Morgen hatte er an derselben Stelle angehalten und gesagt, er habe sie lieb, auch als sie schon längst nicht mehr darauf antwortete.
Es war Libbys Mutter gewesen, die sie unablässig an ihren Platz in dieser Welt erinnert hatte. Sie wohnten in einem bescheidenen Haus, das sie von ihren Großeltern mütterlicherseits geerbt hatten. Ihre Mutter hielt es gut in Schuss, aber die Möbel waren abgenutzt und die Teppiche verschlissen. Ihr älterer Bruder war mit siebzehn zur Armee gegangen. Seitdem hatte er keinen Fuß mehr in das Haus gesetzt, rief aber einmal im Monat an. Auf jeder Ablage standen seine gerahmten Fotos und Libbys Mutter trauerte um ihn, als sei er gestorben und nicht vor ihrer erstickenden Umarmung geflohen.
Als Libbys Kunstlehrer sie eines Tages mit der Empfehlung nach Hause schickte, privaten Unterricht zu nehmen, um ihr Talent zu fördern, sagte ihre Mutter, Kunst sei etwas für reiche Kinder, nicht für Leute wie sie. Vielleicht wirst du Krankenschwester, sagte sie. Kranke wird es immer geben und man wird immer Krankenschwestern brauchen. Das war das höchste Ziel für eine junge Frau mit ihrem Hintergrund: ein bescheidener Beruf und dann Kinder. Kinder großzuziehen sei das eigentliche Lebensziel, alles andere zweitrangig.
»Vergiss nie, wer du bist und woher du kommst«, hatte ihre Mutter gesagt. »Du brauchst dich nicht zu schämen, aber es gibt auch nichts, worauf du stolz sein könntest. Nicht mit einem solchen Vater. Wenn du Mutter bist, dann kannst du vielleicht auf etwas stolz sein«, hatte sie gesagt. »Ich habe meinen Jungen richtig erzogen und jetzt dient er seinem Land. Darauf bin ich stolz.«
»Und was ist mit mir?«, hatte Libby ein paar Mal gefragt. »Bist du auch auf mich stolz?« Darauf hatte ihre Mutter nie geantwortet, sondern sich nur mit einem Schulterzucken abgewendet.
Diese schleichende Demütigung hatte sie seitdem nicht mehr losgelassen. Sie wurde nicht Krankenschwester, sondern Büroangestellte im Rathaus von Albany. Keine aufregende Arbeit, aber einigermaßen bezahlt. Nichts, dessen man sich zu schämen brauchte, aber auch nichts, worauf man hätte stolz sein können. Dort hatte sie auch Mason kennengelernt. Er arbeitete sich in der Finanzabteilung des Rathauses nach oben und sein Gehalt war fast doppelt so hoch wie ihres in der Einkaufsabteilung. Bei ihrem ersten Date führte er sie in ein nobles französisches Restaurant aus, und als sie die Speisekarte las, überkam sie einen kurzen Moment lang Panik. Sie hatte den schlichten Geschmack eines Kindes, das Spaghetti aus der Dose aß und in der Schule Sandwiches mit Erdnussbutter und Gelee.
»Ist was?«, hatte Mason gefragt.
Libby hatte gelächelt und gesagt, nein, überhaupt nichts, während sie gegen das Bedürfnis angekämpft hatte, aufzustehen und den Tisch fluchtartig zu verlassen. Sie bestellte die ersten Gerichte der Vorspeisenkarte, und als sie kamen, tat sie so, als würden sie ihr schmecken.
»Warum hast du das getan?«, fragte Mason später am Abend, als sie noch etwas tranken.
»Was getan?«, fragte sie zurück, obwohl sie wusste, was er meinte.
»Du hast Essen bestellt, das dir nicht geschmeckt hat, und es trotzdem gegessen. Warum?«
Sie überlegte kurz zu lügen, wusste aber, dass er sie durchschauen würde. Er hatte ein Gespür dafür, die Wahrheit herauszufinden, egal wie gut sie versteckt war.
»Ich hatte Panik«, sagte sie. »Ich wusste nicht einmal, was ich da bestelle. Wirklich, du hättest mich zu Applebee’s einladen sollen, das ist für mich schon das höchste der Gefühle.«
»Okay«, sagte er lächelnd. »Vielleicht das nächste Mal.«
Und es war keine Frage gewesen, dass es ein nächstes Mal geben würde. Sie verliebte sich rasch und bis über beide Ohren in ihn und kein Jahr später heirateten sie.
Doch jetzt, dreizehn Jahre später, erinnerte sie sich wieder an dieses Gefühl, diese nagende Furcht. Ich gehöre hier nicht her. Ich bin nicht gut genug. Sie werden es merken und mich rauswerfen. Während der Hoteldiener mit ihrem Gepäck das Hotel betrat, die Fontäne des Springbrunnens rauschte und platschte und die Möwen über ihr kreisten und schrien, überlegte sie ernsthaft, wieder ins Taxi zu steigen und sich zum Flughafen zurückbringen zu lassen.
Doch da nahm Ethan ihre Hand, zog daran und sagte: »Los, Mommy.«
Er hüpfte auf und ab und die Sohlen seiner Sandalen klatschten auf den Pflastersteinen des Eingangsbereichs.
»Schwimmen gehen«, sagte er und zeigte auf den Eingang des Hotels.
»Also gut«, sagte sie, »lass uns schwimmen.«
Sie gingen gemeinsam zur Rezeption, wo sie ein Glas Sekt und Ethan einen Lutscher bekam. Man sprach sie respektvoll mit »Ma’am« an und wünschte ihr einen schönen Aufenthalt. Wenn sie etwas brauche, könne sie jederzeit, Tag und Nacht, Bescheid geben. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht gut genug zu sein, trat in den Hintergrund, wurde zu einem fernen Flüstern, das sie nicht mehr zu überwältigen drohte.
Aber es verschwand nicht ganz. Es verschwand nie ganz.
Sie war am frühen Morgen mit allen möglichen guten Vorsätzen von zu Hause aufgebrochen. Einer war gewesen, darauf zu bestehen, dass Ethan bei ihrer Ankunft im Hotel zuerst einen Mittagschlaf machte, anstatt direkt zum Pool zu gehen. Sie wusste, dass er sonst zur Abendessenszeit quengelig werden würde. Doch als sie in ihrem Zimmer im sechsten Stock angekommen waren, trat sie auf den Balkon und blickte nach unten. Unter ihnen lag einer der sieben Pools des Resorts. Ethan stand neben ihr, hatte die Arme um ihren Schenkel geschlungen und blickte durch die Glasscheibe des Balkongeländers.
»Schau mal, Mommy«, sagte er.
»Ja, schau mal«, sagte sie.
Das Wasser war von einem vollkommenen Blau, einem Blau, wie man es sich für den Himmel wünschte. Obwohl sie müde war und eine Stunde Ruhe ihnen beiden wirklich gutgetan hätte, war die Verlockung des Wassers zu groß.
»Ziehen wir uns um«, sagte sie.
Wenige Minuten später trug sie ihren Badeanzug und darüber einen leichten Sarong und Ethan hüpfte splitternackt vor ihr auf und ab mit einer Vorfreude, wie nur kleine Kinder sie kennen. Sie musste kichern, als sie versuchte, seine Füße in den einteiligen Badeanzug zu bekommen. Der Anzug würde ihn von den Ellbogen bis zu den Knien vor der Sonne schützen und war überall als bester Schutz vor Hautausschlägen bei Kindern seines Alters empfohlen worden. Sie war in solchen Dingen sehr vorsichtig. Alles, was sie für ihren Sohn kaufte, wurde zuerst gründlich recherchiert, von den Kleidern, die er trug, bis zu den Sachen, mit denen er spielte. Andere hätten das für übertrieben gehalten, aber das kümmerte sie nicht. Jede Entscheidung, die sie für ihn traf, musste richtig sein. Er war ein Wunder und entsprechend behandelte sie ihn.
Sie zog den Reißverschluss am Rücken hoch und drehte ihn um.
»Sieh dich an, kleine Wasserratte.«
»Schnell, Mommy, schnell, schnell, schnell.«
»Moment«, sagte sie. »Zuerst noch die Sonnencreme.«
Sie trug sie großzügig auf jeden Zentimeter nackter Haut auf, sogar auf seinen Scheitel, wo die Kopfhaut durchschien. Wieder war es das beste, umfassend getestete und von Dermatologen und Kinderärzten empfohlene Produkt. Zuletzt zog sie ihm noch die Schwimmweste an und schob seine Füße in die wasserfesten Sandalen.
»Okay«, sagte sie, »jetzt können wir gehen.«
Sie nahm die vom Hotel zur Verfügung gestellte Tasche mit den Handtüchern, steckte noch ein paar eigene Sachen dazu und öffnete die Tür. »Na komm«, sagte sie.
Ethan rannte mit offenem Mund und heraushängender Zunge wie ein Welpe an ihr vorbei auf den Flur. Die Tür war schon fast zugefallen, als ihr noch etwas einfiel.
»Mist!«, sagte sie und hielt sie mit dem Fuß auf, ohne auf die Schmerzen zu achten, als das Holz gegen ihren kleinen Zeh stieß. »Warte noch kurz, Ethan-Schatz.«
Sie fasste nach drinnen, nahm die Schlüsselkarte aus dem Schlitz neben der Tür und steckte sie zu den anderen Sachen in die Tasche. Dann ließ sie die Tür zufallen.
Sie sah sich nach ihrem Sohn um, aber er war verschwunden. Schlagartig wurde ihr heiß.
»Ethan?«
Sie hörte ihn weiter weg im Flur kichern, eilte in die entsprechende Richtung, bog um eine Ecke und stand vor den Aufzügen.
»Schatz, was tust …«
Er stand in einem offenen Aufzug, ohne sie zu bemerken, und drückte lachend auf Knöpfe, die daraufhin aufleuchteten.
»Nicht, Ethan.«
Ein Klingelzeichen ertönte und die Tür begann sich zu schließen.
»Mist«, sagte sie und rannte mit ausgestrecktem Arm darauf zu.
Die Tür schloss sich um ihr Handgelenk und ging wieder auf.
»Schau mal, Mommy«, rief Ethan und zeigte auf die Reihen leuchtender Knöpfe.
Libby ging in die Hocke und packte ihn an den Oberarmen, mit der Nase nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. »Tu das nie wieder!«
»Aber, aber …«
»Kein aber, nein. Wenn die Tür zugeht und der Aufzug abfährt, woher weiß ich dann, in welchem Stock du landest? Na?«
Seine Unterlippe begann zu zittern, er senkte den Kopf und begann zu wimmern. Sein Gesicht lief rot an und dicke Tränen tropften von seinen Augen auf Libbys nackte Knie. Sofort bereute sie, was sie gesagt hatte, zog ihn an sich und umarmte ihn.
»Ist ja gut, Schatz, es tut mir leid. Ich hätte nicht wütend werden dürfen, okay? Ich will dich nur nicht verlieren, verstehst du? Was soll Mommy denn ohne ihren kleinen Schatz tun?«
Sie wischte ihm die Tränen von den Wangen.
»Entschuldige, Schatz. Entschuldige, dass ich dich angeschrien habe. Es tut Mommy leid, okay?«
Ethan schlang die Arme um ihren Hals und vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge. »Es tut mir leid, dass ich auf die Knöpfe gedrückt habe.«
»Macht nichts, ist ja nichts Schlimmes passiert. Aber du machst das nicht noch mal, ja?«
Ethan nickte und schniefte.
Libby merkte erst, dass die Aufzugtür sich geschlossen und der Aufzug sich in Bewegung gesetzt hatte, als erneut das Klingelzeichen ertönte und eine körperlose Stimme »siebter Stock« sagte. Zischend ging die Tür auf und ein älteres Ehepaar trat ein. Libby stand auf und nahm Ethans Hand. Das Paar lächelte und die Frau winkte Ethan zu. Er versteckte das Gesicht in Libbys Sarong und die Frau gab Laute der Verzückung von sich.
Niemand sagte etwas, während der Aufzug auf dem Weg nach unten in jedem Stockwerk hielt. Das Gefühl des Nicht-Dazugehörens und Nicht-gut-genug-Seins erwachte wieder in Libby, als sie die teuren Kleider des Paars sah und das viele Gold am Hals und an den Fingern der Frau.
Hör auf, ermahnte sie sich. Du hast jedes Recht, hier zu sein.
Trotzdem folgte ihr das Gefühl durch die Seitentür nach draußen und zu dem Pool, den sie vom Balkon aus gesehen hatten. Der Pool bildete eine abgeschlossene Einheit, auf drei Seiten von Balkonen wie ihrem umgeben.
Sie blickte zum sechsten Stock hoch und zählte drei Balkone ab. Dort lag vermutlich ihr Zimmer. Auf der einzigen freien Seite hinter dem Pool führten Wege durch ein Palmenwäldchen vermutlich zum Rest des Resorts. Sie drückte Ethans Hand, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, und er blickte zu ihr auf, die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen.
»Willst du dich zuerst ein bisschen umschauen oder gleich hier schwimmen gehen?«
Sie kannte die Antwort und wusste nicht, warum sie ihn überhaupt gefragt hatte.
»Gleich hier schwimmen«, sagte er und zog sie in Richtung des Wassers.
»Augenblick noch«, sagte sie und ging mit ihm zu zwei freien Liegestühlen. »Setz dich.«
Trotz seines Protests ließ sie ihn warten, während sie die Handtücher ausbreitete und dadurch ihre Plätze belegte. Sie vergewisserte sich, dass Geldbeutel und Handy ganz unten in der Tasche vergraben waren und der Kindle obenauf lag. Dann platzierte sie noch eine Frauenzeitschrift auf ihrem Liegestuhl.
»So«, sagte sie schließlich. »Jetzt können wir schwimmen.«
Sie hatten sich eine halbe Stunde im Wasser vergnügt, als Libby plötzlich merkte, dass Ethan hier das einzige Kind war. Er hatte gestrampelt, gespritzt, gekichert und gequietscht, während sie ihn an den Händen gehalten oder sich beim Schwimmen auf ihren Rücken gesetzt hatte. Oder sie hatte ihn auf den Beckenrand gehoben und in ihre Arme springen lassen.
Sie setzte ihn sich auf die Schultern, während er noch lachte, drehte sich einmal im Kreis und sah die anderen Gäste auf ihren Liegestühlen an. Niemand erwiderte ihren Blick. Etwas stimmte nicht, aber sie kam nicht darauf, was. Das Du-gehörst-nicht-dazu-Gefühl drängte sich schreiend an die Oberfläche und sie hatte eine kurze Panikattacke, ohne dass sie hätte sagen können, warum.
Hier waren keine Kinder, keine kleinen zumindest. Die jüngsten waren elf oder zwölf. Die übrigen Gäste waren mittleren Alters oder älter. Dann begriff sie plötzlich.
»Oh Gott«, sagte sie leise. »Nein!«
Sie ließ Ethan von ihrer Schulter auf ihre Arme hinunter und watete zur Treppe.
»Mommy, nein«, sagte Ethan.
»Keine Sorge, Schatz, wir suchen uns nur einen anderen Pool.«
Als sie auf dem Weg zu den Liegestühlen, die sie belegt hatte, an den anderen Gästen vorbeikamen, flüsterte sie in einem fort: »Tut mir leid, tut mir leid.« Ethan begann zu strampeln und zu zappeln und sie hoffte inständig, dass er jetzt keinen Schreianfall bekam, oh Gott, bitte nicht hier.
Und da, gleich hinter den verdammten Liegestühlen, die sie ausgewählt hatte, stand es, eigentlich unübersehbar, obwohl sie es trotzdem übersehen hatte: das Schild mit der Aufschrift »RUHEBECKEN! BITTENEHMENSIERÜCKSICHTAUFDIEANDERENBADEGÄSTEUNDMACHENSIEKEINENLÄRM«.
Ein Paar, zwei Männer in den Vierzigern, sah zu, wie sie Ethan absetzte und ihre Sachen einsammelte. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten, so schrecklich peinlich war ihr, wie sie sich vor diesen Leuten blamiert hatte.
»Gibt es ein Problem, Ma’am?«, fragte der eine Mann.
»Es tut mir leid«, sagte sie flüsternd. »Mir war gar nicht klar, dass hier das Ruhebecken ist. Wie dumm von mir. Es tut mir leid. So dumm, wirklich …«
»Seien Sie doch nicht albern«, sagte der Mann. »Was tun Sie da? Legen Sie Ihre Sachen wieder hin, Sie müssen hier nicht weg.«
Der andere Mann stützte sich auf die Ellbogen und Libby registrierte in einem tieferliegenden Teil ihres Bewusstseins seinen wohldefinierten Körper.
»Nein, Sie brauchen nicht zu gehen. Sie haben niemanden gestört.«
Sie hob ein Handtuch auf und rollte es zusammen. »Doch, doch, wir waren viel zu laut, tut mir leid.«
Der erste Mann, der ihr am nächsten war, streckte die Hand aus und berührte sie am Arm. »Jetzt hören Sie schon auf. Legen Sie Ihre Sachen wieder hin und entspannen Sie sich. Ich habe nur ein Kind gehört, das seinen Spaß hat, und wen das stört, der hat ernstere Probleme als ein bisschen Lärm, glauben Sie mir.«
Seine letzten Worte waren an einen älteren Herrn gerichtet, der sie von der nächsten Liegestuhlreihe aus beobachtete. Der Herr räusperte sich und wandte den Blick ab.
»Ich bin übrigens Charles«, sagte der Mann und hielt ihr die Hand hin.
Libby betrachtete sie kurz, dann nahm sie sie und stellte sich ebenfalls vor.
»Das ist mein Mann Gerry.« Er zeigte auf den Mann auf dem übernächsten Liegestuhl, dessen Brust- und Bauchmuskeln in der Sonne glänzten.
»Tag, Libby«, sagte Gerry und gab ihr ebenfalls die Hand.
»Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte Charles. »Ihr legt eure Sachen wieder hin, macht es euch gemütlich, sonnt euch ein wenig und ich bestelle uns Cocktails. Wie klingt das?«
Libby zögerte, dann sagte sie: »Ich sollte eigentlich nichts trinken.«
»So ein Bullshit!«, sagte Charles. Dann sah er Ethan an und schlug die Hand vor den Mund. »Verzeihung, so ein Quatsch, wollte ich eigentlich sagen.«
Ethan grinste und wiederholte: »Bullshit!«
Libby musste gegen ihren Willen und trotz ihrer Ängstlichkeit und Unsicherheit lachen.
»Und was machen wir mit dir, junger Mann?«, fragte Charles. »Glaubst du, Mommy erlaubt, dass ich dir ein Eis kaufe?«
Ethans Lächeln wurde breiter und steckte die anderen an.
»Ich denke, das wäre okay«, sagte Libby und setzte sich auf ihren Liegestuhl.
Charles blickte zum wolkenlosen Himmel auf, leckte an der Spitze seines Zeigefingers und hielt ihn in den Wind. »Was meinst du, Gerry? Unter Berücksichtigung von Tageszeit, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Windgeschwindigkeit würde ich Erdbeer-Daiquiris vorschlagen.«
»Ich stimme zu«, sagte Gerry.
»Dann wäre das beschlossen«, sagte Charles. »Eine Runde Erdbeer-Daiquiris.«
Während er sich nach einem Kellner umsah, spürte Libby, wie ihr innerlich angenehm warm wurde. Das Lächeln auf ihren Lippen reichte bis tief in ihr Inneres hinein.
»Danke«, sagte sie und erschrak. Die zweite Silbe war kaum zu hören, weil ihr auf einmal die Tränen kamen.
Charles tat, als bemerke er es nicht.
»Oh mein Gott, Sie sind Schriftstellerin?«
Charles’ Begeisterung ließ sie erröten. Sie hatte sich selbst noch nie so bezeichnet.
»Na ja, also nicht Vollzeit, noch nicht jedenfalls. Ich habe noch einen Job.«
Charles lag auf dem Rücken im Wasser, die ausgestreckten Arme auf dem gefliesten Beckenrand, und beschrieb mit den Beinen träge Kreise. Libby hockte im Wasser, das sanft an ihr Kinn schlug, Ethan in Reichweite neben sich.
»Trotzdem bin ich beeindruckt. Darf ich Ihnen etwas sagen? Aber ich warne Sie, dann gehen Sie mir vielleicht den Rest Ihres Urlaubs aus dem Weg.«
»Nur zu«, sagte sie.
»Ich bin auch ein angehender Schriftsteller«, sagte er. »Oder zumindest war ich einer. Ich habe zwar seit einem Jahr nichts mehr geschrieben, aber ich habe ein paar Kurzgeschichten verkauft und zwei Romane verfasst, die allerdings nicht veröffentlicht wurden. Ich konnte keinen Agenten finden. Einer hat mal das ganze Manuskript gelesen, aber dann doch nicht angebissen. Gott, ich war am Boden zerstört. Wie sind Sie zu Ihrem Agenten gekommen?«
»Auf die altmodische Art«, sagte sie. »Ich habe es einfach immer wieder versucht.«
»Ich hasse Sie«, sagte er mit einem schiefen Lächeln.
Gerry kam zum Rand des Schwimmbeckens und setzte sich hin. »Hey, es wird langsam spät. Wollen wir uns nicht fürs Abendessen fertig machen?«
»Klar«, sagte Charles. Er sah Libby an. »Sie essen doch mit uns?«
Sie merkte, dass sie wieder rot wurde. »Oh nein, das ist unmöglich.«
»Natürlich ist es möglich.«
Sie nahm Ethans Hand und zog ihn an sich. »Nein wirklich, ich kann doch niemandem einen müden Dreijährigen zum Abendessen zumuten.«
»Unsinn. Bitte sagen Sie ja, ich möchte Sie nämlich noch ein wenig ausfragen.« Er blickte zu Gerry hoch. »Sie ist Schriftstellerin. Ihr erster Roman erscheint im Herbst.«
Gerry sah Libby mit erhobenen Augenbrauen an. »Wirklich? Ich gratuliere.«
Wieder das Brennen in ihren Wangen. Sie rügte sich dafür, lächelte aber.
»Charles wird darauf bestehen, dass Sie mit uns essen«, sagte Gerry. »Also ersparen Sie sich die Mühe und sagen Sie einfach gleich ja.«
»Na gut.« Sie nahm Ethan hoch und er schlang die Arme um ihren Hals. »Aber ich warne Sie, dieses Kind wird quengeln.«
Aber Ethan quengelte nicht.
Nachdem Libby geduscht und Ethan und sich angezogen hatte, ließ sie sich von ihrem Sohn durch den Flur zu den Aufzügen führen. Zu spät bemerkte sie, dass einer offen stand, und musste ihm nachrennen. Diesmal war sie im Aufzug, bevor er irgendwelche Knöpfe drücken konnte.
»Wir haben das doch besprochen, schon vergessen?«, sagte sie und nahm seine Hand.
Er blickte mit einem unterdrückten Grinsen zu ihr auf.
»Das ist nicht lustig«, sagte sie, »also wag es nicht, mich so anzugrinsen. Es ist zu gefährlich. Du darfst nicht allein in einen Aufzug gehen, kapiert?«
»Ja«, sagte er, aber sein Blick sagte etwas anderes.
Sie trafen sich mit Charles und Gerry vor einem der beiden Buffet-Restaurants des Resorts, und sobald sie einen Tisch gefunden hatten, bestellte Charles Cocktails.
»Sie haben einen schlechten Einfluss auf mich«, sagte Libby.
»Gott, wem sagen Sie das«, meinte Gerry. »Ich sehe nur aus wie vierzig. In Wirklichkeit bin ich dreiundzwanzig und nur frühzeitig gealtert wegen des Lebensstils, den er mir aufzwingt. Als wir uns kennengelernt haben, hatte ich noch volles Haar und er war noch nicht grau.«
»Ich bin nicht grau«, sagte Charles.
Gerry beugte sich zu Libby vor. »Drei Wörter: Just for Men H35, mittelbraun. Er glaubt, ich bekomme seine Bestellungen bei Amazon nicht mit.«
Im weiteren Verlauf des Abendessens hatte Libby einen kleinen Schwips und musste auf ihre Aussprache achten und darauf, dass sie die Konsonanten deutlich artikulierte. Ethan aß ordentlich und protestierte zum Glück nicht einmal, als sie darauf bestand, dass er auch die grünen Bohnen aß. Er schien begeistert zu sein, mit Männern an einem Tisch zu sitzen, sah ihnen beim Reden zu und strahlte, wenn sie ihn umsorgten.
Libby wusste, dass die Frage irgendwann kommen musste, spürte aber trotzdem einen Stich, als es so weit war.
»Wo ist eigentlich Ethans Vater?«, fragte Charles.
Es war freundlich gemeint und klang weder verurteilend noch vorwurfsvoll. Trotzdem kratzte es an ihr wie Sand auf der Haut.
»Mason«, sagte sie. »Er heißt Mason. Er ist nach Seattle gezogen, als Ethan ein halbes Jahr alt war. Inzwischen sind wir geschieden.«
»Das tut mir leid«, sagte Charles. »Sehen Sie sich noch? Ich meine, wenn er Ethan besucht.«
»Er besucht Ethan zweimal im Jahr. Weiteren Kontakt haben wir nicht.«
»Nein? Warum haben Sie sich getrennt?« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Hat er Sie geschlagen?«
»Nein, nichts dergleichen. Er … kam einfach nicht mit der Situation zurecht.«
Charles legte ihr ganz leicht seine warme Hand auf den Unterarm. »War die Verantwortung zu viel für ihn?«
»So in der Art. Wir haben viel durchgemacht, bis wir Ethan bekommen konnten. Es war schwierig, emotional und körperlich. Ich sage mir jetzt, nach all dem, was wir durchmachen mussten, ist ihm vielleicht der Wunsch abhandengekommen, Vater zu sein. Vielleicht wollte er es einfach nicht so dringend wie ich.«
Sie sah ihren Sohn an, der ihr gegenüber saß und kicherte, weil Gerry Grimassen schnitt.
»Können wir nicht über etwas anderes reden?«, sagte sie. »Ich will nicht die Stimmung vermiesen.«
Charles drückte ihren Arm. »Natürlich. Erzählen Sie mir doch von Ihrem Buch.«
Als sie das Dessert beendet hatten, war Ethan auf seinem Stuhl eingeschlafen. Gerry bot an, ihn für Libby zu ihrem Zimmer hochzutragen, aber sie lehnte ab und bestand darauf, dass sie dazu selbst in der Lage sei. Sie vereinbarten, sich am folgenden Tag wieder zu treffen, und Libby ging, von einer behaglichen Wärme erfüllt, nach oben, vielleicht geschürt durch die beiden Mojitos und die zwei Gläser Rioja, die sie zum Abendessen getrunken hatte.
In ihrem Zimmer standen zwei Betten, aber sie schlüpfte zu Ethan und drückte ihn an sich. Sie legte den Kopf neben ihm auf das Kissen und spürte, wie sein Brustkorb sich an ihrer Brust hob und senkte. Sein leises Schnarchen klang wie das Schnurren einer Katze. Irgendwo draußen spielte eine Band einen Song, der ihr quälend vertraut vorkam, allerdings als leichte Lounge-Musik arrangiert. Zusammen mit der Musik drangen kaum hörbar Stimmen und Lachen herauf.
Bevor der Schlaf sie übermannte, küsste Libby ihren Sohn noch auf die Wange und dachte, dass sie niemals ohne ihn leben könnte, dass er es war, der sie mit dem Rest der Welt verband.
Vormittag und Nachmittag des zweiten Tages waren eine endlose Zeit der Entspannung. Nach dem Frühstück zogen Libby und Ethan ihre Schwimmsachen an und spazierten durch das Resort. Sie besuchten alle sieben Pools, auch den Infinity-Pool, der nahtlos ins Meer überzugehen schien. Libby wusste allerdings, dass das täuschte, dass zwischen dem Rand des Pools und dem Golf noch eine von Restaurants und Boutiquen gesäumte Promenade verlief. Die wollten sie an einem anderen Tag besuchen und vielleicht auch zum Strand gehen. Um die Mittagszeit entdeckten sie das in der Mitte des Lazy River versteckte Kinderplanschbecken. Dort konnte Libby Ethan nach Herzenslust im knietiefen Wasser herumtollen lassen, während sie sich mit ihrem Kindle auf einem nahen Liegestuhl entspannte. Sie musste ihn nur ein paar Mal ermahnen, meist, weil er mit Sachen spielte, die nicht ihm gehörten. Das Versprechen, dass sie ihm ein eigenes Aufblastier kaufen würde, schien ihn zufriedenzustellen. Er spielte über eine halbe Stunde lang mit einem kleinen Mädchen, dessen Eltern Libby von der anderen Seite des flachen Wasserbeckens zulächelten.
Nach dem Mittagessen stießen sie auf Charles und Gerry, die auf der Nordseite des Lazy River ein Sonnenbad nahmen, und Libby fragte, ob sie ihnen Gesellschaft leisten dürfe.
»Aber bitte«, sagte Charles.
»Hey, Gerry«, rief Ethan und winkte.
»Hey, Kumpel«, sagte Gerry und winkte zurück. »Willst du mit mir schwimmen gehen?«
Die beiden schienen seit gestern beste Freunde zu sein. Es fühlte sich gut und richtig an, dass Ethan Zeit mit einem Mann verbrachte. Trotzdem zögerte Libby.
»Das kann ich nicht von Ihnen verlangen«, sagte sie. »Sie sind ja nicht hier, um sich um mein Kind zu kümmern.«
»Wovon reden Sie da? Das macht doch Spaß.«
»Bitte, Mommy«, sagte Ethan und sah sie mit seinem herzerweichendsten Blick an.
»Also gut, aber sei brav, hörst du?«
Ethan machte sich von ihr los und rannte zu Gerry.
»Bist du eingecremt? Hast du deine Schwimmweste? Die Schwimmbrille? Okay, dann los.«
Gerry nahm ihn an der Hand. Ethan musste rennen, um mit Gerrys langen Schritten mithalten zu können. Libby sah zu, wie die beiden ins Wasser gingen. Ethan sprang Gerry auf den Rücken und Gerry lachte laut.
»Wir wollten ein Kind adoptieren«, sagte Charles.
Libby setzte sich auf den freien Liegestuhl neben ihm. »Es hat aber nicht geklappt?«
»Fast«, sagte Charles und seine Stimme klang zum ersten Mal traurig. »Also, wir waren nur noch eine Unterschrift davon entfernt. Gerry war untröstlich. Man würde denken, dass die Menschen heute alle auf derselben Seite stehen, dass es die alten Barrieren und Ressentiments nicht mehr gibt. Aber es gibt sie noch.«
»Das tut mir leid«, sagte Libby.
»Er wäre ein großartiger Vater«, sagte Charles.
Libby sah wieder zum Becken, wo Gerry Ethan in die Luft warf und wieder auffing, wenn er spritzend im Wasser landete. Ihr hohes und tiefes Lachen tönte durch die warme Luft.
»Das wäre er«, sagte Libby. »Und Sie auch, glaube ich.«
Charles lächelte und drückte ihre Hand. »Danke, das ist nett.«
Libby machte es sich auf ihrer Liege bequem, klappte den Kindle auf und begann zu lesen. Das Buch war ihr empfohlen worden. Es handelte von einem Mörder, der von den Geistern seiner Opfer heimgesucht wurde. Das Lesen war anstrengend, das Buch enthielt ihr zu viel Gewalt, aber sie las Bücher, wenn sie sie erst angefangen hatte, in der Regel auch zu Ende. Ohne dass sie es merkte, wurde der Kindle in ihrer Hand ganz schwer und ihre Augenlider noch schwerer. Die Geräusche der Poollandschaft, plaudernde Erwachsene, lachende Kinder, entfernte Musik, verschmolzen zu einem einschläfernden Brei. Libby fiel in einen tiefen, entspannten Schlummer.
Sie träumte von ihrer Mutter, die sie hartnäckig Elizabeth genannt hatte, als das sonst längst niemand mehr tat.
»Wie lange soll das noch so gehen, Elizabeth?«, sagte ihre Mutter.
Sie saßen in der Küche ihrer Mutter, voller Streifen aus Licht und Schatten und Kaffeeduft.
»Für immer«, sagte Libby. »Es wird immer so weitergehen.«
»Das ist unmöglich«, sagte ihre Mutter. »Du weißt das.«
»Es muss gehen«, sagte Libby.
»Aber es geht nicht. Du kannst es nicht ewig verbergen.«
Sie wollte ihre Mutter anschreien, sie solle still sein, damit aufhören, aber die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen, ihr Kiefer war wie zugeschraubt. Ihre Mutter packte sie an den Handgelenken, hielt sie fest und zwang sie, sie anzusehen, obwohl sie das nicht wollte.
Mit einem Schrei wachte Libby auf und schlug die warme Hand weg, die auf ihrem Arm lag.
»Hey, hey, hey«, sagte Charles mit sanfter, freundlicher Stimme. »Sie haben schlecht geträumt.«
Sie sah sich um. Die Sonne war hinter den Wipfeln der Palmen verschwunden und im Schatten war es kühl geworden. Ethan saß neben Gerry, eingewickelt in sein Spider-Man-Handtuch, und aß ein Eis.
»Äh … wie lange habe ich geschlafen?«
»So anderthalb Stunden«, sagte Charles. »Ich hätte Sie vielleicht wecken sollen, aber Sie wirkten so entspannt. Bis Sie dann auf einmal anfingen zu stöhnen und zu jammern.«
Sie rieb sich die Augen und gähnte. »Wahrscheinlich habe ich den Schlaf gebraucht. Tut mir leid, dass Sie so lange Babysitter spielen mussten, Gerry.«
»Halt«, sagte Gerry, »ich hatte mit meinem Kumpel Spaß.«
»Danke.«
»Hören Sie«, sagte Charles, »wir machen uns jetzt fertig. Wir wollen heute Abend zu zweit ausgehen und Gerry hat mich in dieses kubanische Restaurant eingeladen, das ganz fabelhaft sein soll. Aber danach, so um acht, müssen Sie uns unbedingt auf der Terrasse bei Cocktails und Tanz Gesellschaft leisten.«
»Oh, das geht leider nicht«, sagte Libby. »Das ist zu spät für Ethan.«
»Kann er nicht einmal länger aufbleiben? Nur für eine Stunde. Na, was meinen Sie?«
»Sagen Sie ja«, fiel Gerry ein. »Sonst wird er unausstehlich.«
Libby konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Also gut. Danke.«
Charles stand auf und packte seine und Garrys restliche Sachen ein. »Und machen Sie sich unbedingt fein, ja? Heute Abend werden wir Köpfe verdrehen.«
Sie wurde rot. »Ich werde mich anstrengen.«
»Das brauchen Sie gar nicht.« Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. »Sie werden umwerfend aussehen.«
Ethan kam zu ihr und setzte sich auf ihren Schoß und sie winkten den beiden zum Abschied zu. Ethan zog die Beine an und schmiegte sich mit dem Kopf an ihre Brust, während sie Charles und Gerry nachsahen.
»Du magst Gerry?«, fragte Libby.
»Ja«, sagte Ethan. »Er ist lustig.«
Libby fühlte sich plötzlich einsam und ihr wurde bewusst, wie sehr sie die Gesellschaft anderer vermisste. Sie war nie besonders gesellig gewesen und hatte immer auch gern Zeit allein verbracht, aber das hieß nicht, dass sie isoliert leben wollte. Die Aussicht auf einen fröhlichen Abend mit Tanz linderte den Schmerz ein wenig.
Gott sei Dank sind Charles und Gerry hier, dachte sie.
Sie küsste Ethan auf die feuchten Haare. »Glaubst du, wir können vor dem Abendessen noch eine Runde schwimmen?«
Er blickte zu ihr auf und seine Augen strahlten. »Ja!«
»Dann los«, sagte sie.
Libby und Ethan trafen noch vor Charles und Gerry auf der Terrasse ein. Sie erstreckte sich vor dem Hauptempfangs- und Barbereich des Hotels, eine mit Terrakotta geflieste Fläche auf zwei Ebenen. Dahinter kam ein Stück Rasen, dann der Infinity-Pool, dann das Meer. Am Rand der oberen Ebene befand sich eine kleine Bühne, um die Tische und Stühle gruppiert waren. Libby wählte einen Tisch, von dem aus sie die Band und die tanzenden Paare sehen konnte.
Die Band bestand aus zwei Männern und zwei Frauen, alle Latinos, und sie spielten Popsongs, gefällig arrangiert als Bossa Nova oder Samba. Sie erkannte einen Beatles-Song, obwohl er ganz anders klang als das Original.
Ethan saß auf ihrem Schoß und starrte die Frau, die sang und Bassgitarre spielte, mit offenem Mund an. Sie zwinkerte ihm zu, er grinste, wandte sich ab und vergrub das Gesicht an Libbys Brust. Er hatte gut gegessen, das viele Schwimmen hatte ihn sehr hungrig gemacht. Libby wiegte ihn im Takt der Musik, sang ihm leise ins Ohr und erfand einen Text, weil sie sich an das Original nicht erinnern konnte. »Ethan’s got a ticket to fly, Ethan’s got a ticket to fly-y-y.«
Als das Lied zu Ende war, nahm sie seine Hände in ihre und sie klatschten gemeinsam.
»Da seid ihr ja, ihr Süßen.«
Sie drehte sich nach der Stimme um und sah Charles und Gerry Hand in Hand näher kommen. Sie waren leger und zugleich elegant gekleidet: helle Anzüge, die Hemdkragen offen. Ethan wand sich von Libbys Schoß, ließ sich auf den Boden fallen und rannte zu Gerry. Gerry bückte sich und fing ihn auf.
»Da ist ja mein kleiner Mann«, sagte er und schwang ihn im Kreis. Ethan quietschte.
Charles nahm Libbys Hand, beugte sich zu ihr herunter und drückte ihr einen kaum spürbaren Kuss auf die sommersprossige Haut. »Sie sehen umwerfend aus«, sagte er. Sein Atem roch nach Alkohol.
»Ach, hören Sie doch auf«, sagte sie und strich sich etwas verlegen die Haare aus der Stirn.
Obwohl sie das in einer Million Jahre nicht zugegeben hätte, hatte sie vierzig Minuten lang überlegt, was sie anziehen sollte. Während Ethan auf dem Bett gelegen und einen Disneyfilm gesehen hatte, hatte sie die fünf verschiedenen Kleider anprobiert, die sie mitgebracht hatte. Mit jedem hatte sie vor dem bodenlangen Spiegel posiert, überprüft, wie der Stoff fiel, um ihre Beine schwang und ihre Figur umspielte, und sogar Ethan nach seiner Meinung gefragt. Er fand alle schön, was ihr nicht weiterhalf. Sie entschied sich schließlich für das ärmellose Kleid mit dem Blumenmuster auf schwarzem Grund und die Riemchensandalen.
»Ich sehe gut aus«, hatte sie zu ihrem Spiegelbild gesagt, auch wenn sie nicht ganz davon überzeugt war. Überhaupt, warum machte sie sich schick, um einen Mann zu beeindrucken, der – wie eine Arbeitskollegin es einmal ausgedrückt hatte – »für die andere Mannschaft spielte«? Weil ich es kann, dachte sie. Und weil es mir guttut. Denn ich mache es nicht für ihn, sondern für mich.
»Überhaupt nicht«, sagte Charles und setzte sich an den Tisch. »Sie sehen großartig aus und das wissen Sie.«
Sie konnte nicht anders, als sich mit einem verschämten Kopfnicken zu bedanken, das sie aus irgendeinem Grund wütend auf sich selbst machte. Also blickte sie wieder auf, sah Charles direkt an und bedankte sich noch einmal.
»Wo ist der Alkohol?«, fragte er und sah sich um. »Der müsste hier doch in Strömen fließen.«
Er entdeckte einen Kellner, hob die Hand und schnippte mit den Fingern.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Gerry und manövrierte sich auf einen Stuhl, während Ethan noch an ihm hing. »Du kannst dich noch den ganzen Abend betrinken.«
Charles sah ihn über den Tisch hinweg böse an und Libby spürte an der Spannung, dass diese Diskussion schon früher begonnen hatte und noch nicht zu Ende war.
»Ist ja gut, Mutti, keine Angst, ich bestelle auch Wasser.« Als der Kellner an ihren Tisch kam, zeigte Charles auf Libby. »Einen Negroni?«
Libby zögerte kurz, wollte aber nicht zugeben, dass sie nicht wusste, was das war. »Gern«, sagte sie schließlich.
»Und was möchte der junge Mann?«
»Apfelsaft wäre wunderbar.«
Charles wandte sich an den Kellner. »Dann bitte drei Negroni und einen Apfelsaft.«
»Und Wasser«, fügte Gerry hinzu.
»Ja, und Leitungswasser, danke.«
»Sehr gern, ich bringe die Getränke gleich«, sagte der Kellner und eilte davon.
Libby bemerkte, wie Gerry Charles anstarrte, der seinem Blick auswich.
»Gerry findet, ich trinke zu viel«, sagte Charles. »Was insofern frech ist, als er sich genauso gern betrinkt wie ich.«
»Ich finde nicht, dass du zu viel trinkst, nicht wirklich«, sagte Gerry. »Ich finde nur, dass alles seine Zeit und seinen Ort haben sollte.«
Charles streckte die Arme aus und zeigte auf ihre Umgebung. »Sicher, aber wenn das hier nicht der richtige Zeitpunkt und Ort ist, was dann?«
Gerry lenkte ein. »Okay, übertreib’s einfach nicht.«
Charles fasste über den Tisch und nahm seine Hand. »Ist ja gut. Aber jetzt hör auf, dich zu sorgen. Wir wollen der Dame hier doch einen schönen Abend bereiten.«
In den folgenden anderthalb Stunden lernte Libby zweierlei: einmal, dass ihr Negronis ausgezeichnet schmeckten, und zum anderen, dass Charles ein sehr guter Tänzer war. Er habe in seinen jüngeren Jahren gelegentlich bei Tanzturnieren mitgemacht, sagte er, und er bewegte sich mit einer Anmut und Leichtigkeit, die sich auch auf Libby übertrug, wenn sie sich von ihm führen ließ. Sie musste unwillkürlich kichern, wenn er sie herumwirbelte, nach hinten fallen ließ oder dicht an sich zog.