Ohne Spur - Lost You – Ich werde dich finden - Haylen Beck - E-Book

Ohne Spur - Lost You – Ich werde dich finden E-Book

Haylen Beck

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Beschreibung

Ohne Spur: Audra Kinney flieht mit ihren zwei kleinen Kindern vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Mit dem Auto will sie zu einer Freundin nach San Diego, ans andere Ende der USA. Doch mitten in der Wüste von Arizona wird sie von der Polizei angehalten. Im Kofferraum ihres Wagens findet der Sheriff ein Päckchen Marihuana, das Audra noch nie gesehen hat. Alle Unschuldsbeteuerungen sind zwecklos – sie wird verhaftet. Und was dann kommt, hätte sie sich in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können. Denn plötzlich sind ihre Kinder verschwunden. Der Sheriff behauptet, Audra sei allein im Wagen gewesen. Die Welt hält Audra für eine Mörderin. Und ihr Wort steht gegen das des Sheriffs. Kein Mensch glaubt ihr. Bis auf einen. Lost You – Ich werde dich finden: Die alleinerziehende Libby und ihr dreijähriger Sohn Ethan machen zum ersten Mal Urlaub in einem Luxus-Resort, um sich für die vergangenen schwierigen Jahre zu belohnen. Doch Libby kann sich nur schlecht entspannen: Sobald Ethan aus ihrem Blickfeld verschwindet, gerät sie in Panik. Ihre Sorge ist berechtigt – denn sie hat ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen kann. Als Ethan eines Abends in einem Fahrstuhl spielt und sich die Türen zu Libbys Entsetzen plötzlich schließen, beginnt der Kampf einer Mutter um das geliebte Kind. Ethan verschwindet spurlos. Und die Gespenster der Vergangenheit tauchen wieder auf.

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Über die Bücher

Ohne Spur: Audra Kinney flieht mit ihren zwei kleinen Kindern vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Mit dem Auto will sie zu einer Freundin nach San Diego, ans andere Ende der USA. Doch mitten in der Wüste von Arizona wird sie von der Polizei angehalten. Im Kofferraum ihres Wagens findet der Sheriff ein Päckchen Marihuana, das Audra noch nie gesehen hat. Alle Unschuldsbeteuerungen sind zwecklos – sie wird verhaftet. Und was dann kommt, hätte sie sich in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können. Denn plötzlich sind ihre Kinder verschwunden. Der Sheriff behauptet, Audra sei allein im Wagen gewesen. Die Welt hält Audra für eine Mörderin. Und ihr Wort steht gegen das des Sheriffs. Kein Mensch glaubt ihr. Bis auf einen.

Lost You – Ich werde dich finden: Die alleinerziehende Libby und ihr dreijähriger Sohn Ethan machen zum ersten Mal Urlaub in einem Luxus-Resort, um sich für die vergangenen schwierigen Jahre zu belohnen. Doch Libby kann sich nur schlecht entspannen: Sobald Ethan aus ihrem Blickfeld verschwindet, gerät sie in Panik. Ihre Sorge ist berechtigt – denn sie hat ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen kann. Als Ethan eines Abends in einem Fahrstuhl spielt und sich die Türen zu Libbys Entsetzen plötzlich schließen, beginnt der Kampf einer Mutter um das geliebte Kind. Ethan verschwindet spurlos. Und die Gespenster der Vergangenheit tauchen wieder auf.

Haylen Beck

Ohne Spur - Lost You – Ich werde dich finden

Buch 1: Ohne SpurBuch 2: Lost You – Ich werde dich finden

ThrillerAus dem amerikanischen Englisch von Wolfram Ströle

Buch 1: Ohne Spur

 

 

Für meine Kinder

1

Die Straße schwang in monotonem Rhythmus hin und her und Audra Kinneys Augenlider wurden mit jedem vorbeiziehenden Kilometerschild schwerer. Sie hatte das Mitzählen aufgegeben, denn dadurch zog sich die Fahrt noch mehr in die Länge. Ihre Knöchel schmerzten, wenn sie die Finger am Steuer streckte, und ihre Handflächen klebten von Schweiß.

Gott sei Dank hatte sie die Klimaanlage des acht Jahre alten Kombis erst vor kurzem überholen lassen. In New York wurde es im Sommer zwar auch heiß, aber nicht so wie hier, nicht wie in Arizona. Eine trockene Hitze, hieß es immer. Ja, trocken wie die Oberfläche der Sonne, dachte sie. Zwar war es schon halb sechs abends und das Gebläse pustete kalte Luft ins Auto, dass sie eine Gänsehaut an den Unterarmen bekam, aber wenn sie mit den Fingern die Fensterscheibe berührte, zuckte ihre Hand zurück wie von einem kochenden Wasserkessel.

»Mom, ich habe Hunger«, sagte Sean vom Rücksitz. Seiner quengelnden Stimme nach zu schließen war er müde und schlecht gelaunt und wurde allmählich ungeduldig. Neben ihm döste Louise in ihrem Kindersitz mit offenem Mund. Die blonden Haare klebten ihr schweißnass an der Stirn, auf dem Schoß hielt sie Gogo, die verschlissenen Überreste des Plüschkaninchens, das sie schon als Baby bekommen hatte.

Sean war ein braver Junge. Alle, die ihn kannten, sagten das. Und nie war es so deutlich gewesen wie in den vergangenen Tagen. So viel war von ihm verlangt worden, und er hatte alles ertragen. Sie warf ihm einen Blick im Spiegel zu. Die scharfen Gesichtszüge und blonden Haare hatte er vom Vater, aber die feingliedrige Statur von der Mutter. Er war in den vergangenen Monaten deutlich gewachsen, was Audra daran erinnerte, dass ihr fast elfjähriger Sohn sich der Pubertät näherte. In Anbetracht dessen hatte er sich seit der Abfahrt aus New York nur wenig beschwert und er hatte ihr mit seiner kleinen Schwester sogar geholfen. Ohne ihn wäre Audra hier draußen womöglich verrückt geworden.

Verrückt geworden?

Was sie tat, war sowieso vollkommen verrückt.

»In ein paar Kilometern kommt eine Ortschaft«, sagte sie. »Dort können wir etwas zu essen kaufen. Vielleicht finden wir auch eine Übernachtungsmöglichkeit.«

»Hoffentlich«, sagte Sean. »Ich will nicht schon wieder im Auto schlafen.«

»Ich auch nicht.«

Wie auf ein Stichwort kehrten die Schmerzen zwischen ihren Schulterblättern zurück, als rissen die Muskeln wie an einer Nahtstelle entzwei. Als würde sie auseinandergezerrt und die Füllung zwischen den Nähten hervorquellen.

»Habt ihr dahinten noch Wasser?«, fragte sie und sah Sean im Rückspiegel an. Sie sah, wie er den Blick senkte, und hörte Wasser in einer Plastikflasche gluckern.

»Ich habe noch ein bisschen. Louise hat ihrs schon leer getrunken.«

»Okay, beim nächsten Halt kaufen wir welches.«

Sean wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Landschaft zu, die an seinem Fenster vorbeizog. Steinige, von Gestrüpp bedeckte Hänge säumten die Straße, Kakteen hielten Wache und streckten die Arme himmelwärts wie kapitulierende Soldaten. Über ihnen wölbte sich eine tiefblaue Fläche mit verwischten weißen Spuren, die im Westen, wo die Sonne sich dem Horizont näherte, gelb wurde. Eine schöne Landschaft auf ihre Weise. Unter anderen Umständen hätte Audra sie in vollen Zügen genossen.

Wenn sie nicht auf der Flucht gewesen wäre.

Dabei hätte sie gar nicht fliehen müssen, nicht unbedingt. Sie hätte abwarten, den Dingen ihren Lauf lassen können, aber das Warten und die Ungewissheit waren zur Qual geworden, jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde. Also hatte sie gepackt und war losgefahren. Wie ein Feigling, hätte Patrick gesagt. Er hatte immer gemeint, sie sei schwach. Auch wenn er im nächsten Atemzug hinzugefügt hatte, er liebe sie.

Audra erinnerte sich noch an einen solchen Moment, als sie zusammen im Bett lagen, Patricks Oberköper an ihren Rücken geschmiegt, seine Hand um ihre Brust gelegt. Wie er gesagt hatte, er liebe sie, liebe sie trotz allem. Als hätte sie seine Liebe nicht verdient, nicht eine Frau wie sie. Seine Worte waren immer wie eine sanfte Klinge, mit der er sie verletzte, so sanft, dass sie den Schnitt erst viel später spürte, wenn sie wach lag und seine Worte ihr keine Ruhe ließen. Wie Steine in einem Glasgefäß rollten sie herum und klapperten wie …

»Mom!«

Sie fuhr hoch, sah den Lastwagen, der mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf sie zukam, riss das Steuer herum und kehrte auf ihre Straßenseite zurück. Der Fahrer sah sie böse an, als der Lastwagen an ihnen vorbeifuhr. Audra schüttelte den Kopf, machte die Augen ein paarmal auf und zu, weil sie sich so trocken anfühlten, und zog die Luft durch die Nase.

Nicht ganz knapp, aber immer noch zu knapp. Sie fluchte leise.

»Alles klar?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Sean mit gepresster Stimme. So klang er immer, wenn sie nicht wissen sollte, dass er sich erschreckt hatte. »Vielleicht sollten wir bald mal Pause machen.«

Auch Louise meldete sich schlaftrunken: »Was war denn?«

»Nichts«, sagte Sean. »Schlaf wieder.«

»Aber ich bin gar nicht müde«, erwiderte sie und hustete. Ein rasselndes Husten. Sie hatte am Morgen damit angefangen und im Verlauf des Tages war der Husten immer hartnäckiger geworden.

Audra musterte ihre Tochter im Rückspiegel. Eine kranke Louise war das Letzte, das sie gebrauchen konnte. Louise war immer schon schneller krank geworden als ihr Bruder, und sie war klein für ihr Alter und mager. Jetzt schlang sie die Arme um Gogo, dann sank ihr Kopf wieder nach hinten und ihre Augen gingen zu.

Sie fuhren bergauf und befanden sich nun auf einer weiten Ebene. Wüste umgab sie und im Norden lagen Berge. Waren das die San Francisco Peaks? Oder die Superstition Mountains? Audra wusste es nicht, sie musste auf einer Karte nachsehen. Aber egal, wichtig war im Moment nur der kleine Gemischtwarenladen da vorne am Straßenrand.

»Mom, sieh mal.«

»Ja, ich sehe ihn.«

»Können wir anhalten?«

»Klar.«

Vielleicht gab es dort Kaffee. Mit einer Tasse guten, starken Kaffees würde sie die nächsten Kilometer überstehen. Audra setzte den Blinker, um nach rechts abzubiegen, nahm die Ausfahrt und fuhr nach links über ein Viehgitter auf einen sandigen Vorplatz. Auf dem Schild über dem Laden stand in roten Blockbuchstaben auf weißem Grund LEBENSMITTELUNDSCHILDER. Das hölzerne Gebäude war niedrig, Sitzbänke säumten die Veranda, hinter den dunklen, schmutzigen Fenstern war der Schein künstlichen Lichts lediglich zu erahnen.

Zu spät bemerkte Audra, dass das einzige vor dem Laden parkende Auto ein Streifenwagen war. Ob von der Autobahnpolizei oder dem für die Gegend zuständigen Sheriff, konnte sie aus dieser Entfernung nicht erkennen.

»Scheiße«, sagte sie.

»Das sagt man nicht, Mom.«

»Ich weiß. Entschuldigung.«

Sie bremste und die Reifen knirschten auf dem Schotter. Sollte sie umdrehen und zur Straße zurückfahren? Nein. Der Streifenbeamte oder Sheriff oder wer immer im Wagen saß, musste sie inzwischen längst bemerkt haben. Wenn sie umdrehte, erregte sie nur Verdacht. Dann würde die Person misstrauisch werden.

Audra steuerte auf den Laden zu und parkte so weit wie möglich von dem Streifenwagen entfernt, jedoch ohne den Eindruck zu erwecken, als hielte sie absichtlich Abstand. Der Motor erstarb klappernd und sie drückte den Schlüssel an die Lippen, während sie überlegte. Steig aus und hol, was du brauchst. Dagegen kann niemand etwas haben. Ich bin nur jemand, der einen Kaffee braucht und vielleicht noch Mineralwasser und Kartoffelchips.

In den vergangenen Tagen war Audra jedes Polizeiauto aufgefallen, dem sie begegnet war. Ob sie nach ihr suchten? Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass das so gut wie ausgeschlossen war. Sie hatte sich doch nichts zuschulden kommen lassen, oder? Trotzdem hatte sich die Angst in ihr eingenistet und sie hatte ständig das Gefühl, dass sie beobachtet, gesucht, ja gejagt wurde.

Doch wenn jemand gesucht wurde, dann die Kinder.

»Warte hier bei Louise«, sagte sie.

»Aber ich will mitkommen«, sagte Sean.

»Das geht nicht, du musst auf deine Schwester aufpassen.«

»Ach Mann.«

»Bitte, sei so lieb.«

Sie nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz und zog die Sonnenbrille aus dem Getränkehalter. Brüllende Hitze schlug ihr entgegen, als sie die Fahrertür öffnete. Sie stieg aus, so schnell sie konnte, und schloss die Tür wieder, damit die kalte Luft im Wagen blieb und die heiße Luft nicht eindrang. Sie spürte, wie die Sonne auf ihren Wangen und Unterarmen brannte. Ihre helle, sommersprossige Haut war so etwas nicht gewöhnt. Die wenige Sonnencreme, die sie noch besaß, hatte sie für die Kinder benutzt. Sie selbst wollte den Sonnenbrand in Kauf nehmen, um Geld zu sparen.

Sie erlaubte sich einen kurzen Blick auf den Streifenwagen, während sie die Sonnenbrille aufsetzte. Eine Person auf dem Fahrersitz, ob männlich oder weiblich, konnte sie nicht erkennen. Die Aufschrift auf dem Fahrzeug lautete SHERIFFELDERCOUNTY. Sie drehte sich einmal um sich selbst, streckte dabei die Glieder und betrachtete die Berge, die hinter dem Laden aufragten, die ruhige Landstraße und das endlos wogende Gestrüpp, das die Wüste überwucherte. Gegen Ende der Drehung nahm sie noch einmal kurz den Wagen des Sheriffs ins Visier. Der Fahrer trank gerade etwas und schien sie nicht zu beachten.

Sie stieg zu der Veranda aus Beton hinauf, ging zur Ladentür und zog sie auf. Kühle Luft wehte ihr entgegen, zugleich drang ein Schwall abgestandener Gerüche nach draußen. Drinnen war es so dunkel, dass sie die Sonnenbrille auf die Stirn schieben musste, obwohl sie sie lieber aufbehalten hätte. Aber besser, sie blieb als Frau in Erinnerung, die Wasser gekauft hatte, und nicht als Frau, die über Kisten gestolpert war.

Hinter dem Tresen am anderen Ende des Raums saß eine ältere Frau mit schwarz gefärbten Haaren, in der einen Hand einen Stift, in der anderen ein Rätselheft. Sie hob nicht den Kopf, um die Kundin zu begrüßen, was Audra aber nur recht war.

An der Wand stand summend ein Kühlgerät mit Wasser und Limonade. Audra nahm sich drei Flaschen Wasser und eine Cola.

»Entschuldigung?«, sagte sie zu der älteren Frau.

»Mhm?« Die Frau blickte nicht auf.

»Haben Sie eine Kaffeemaschine?«

»Nein, Ma’am.« Die Frau zeigte mit ihrem Stift nach Westen. »In Silver Water, acht Kilometer in dieser Richtung, steht ein Diner. Der Kaffee ist recht gut.«

Audra trat an den Tresen. »Gut, dann nur die.«

Sie stellte die vier Plastikflaschen auf die Theke. Dabei fiel ihr Blick auf eine an die Wand montierte Glasvitrine. Ein Dutzend Handfeuerwaffen in verschiedenen Ausführungen und Größen, darunter Revolver und Selbstladepistolen, wenigstens soweit sie es beurteilen konnte. Sie hatte ihr ganzes Leben an der Ostküste verbracht, und obwohl sie wusste, dass solche Waffen in Arizona weit verbreitet waren, erschrak sie trotzdem. Ein Mineralwasser und eine Pistole bitte, dachte sie und hätte fast laut gelacht.

Die Frau tippte die Getränke ein. Audra durchsuchte ihre Handtasche und fürchtete einen Moment lang schon, sie hätte kein Bargeld mehr. Dann fand sie in der Quittung eines Drugstores doch noch einen zusammengefalteten Zehner. Sie gab ihn der Frau und wartete auf das Wechselgeld.

»Danke«, sagte sie und nahm die Flaschen auf.

»Mhm.«

Die Frau hatte sie die ganze Zeit über kaum angesehen und Audra war froh darüber. Vielleicht würde sie sich, wenn jemand sie fragte, an eine hochgewachsene Frau mit kastanienbraunen Haaren erinnern. Aber vielleicht auch nicht. Audra ging zur Tür und trat in die Hitze hinaus, die ihr wie eine Wand entgegenschlug. Sean blickte ihr vom Rücksitz des Kombis entgegen, Louise neben ihm war wieder eingeschlafen. Audra drehte den Kopf in die Richtung des Streifenwagens.

Er war verschwunden.

Auf dem Boden war ein dunkler Fleck, wo der Cop offenbar sein Getränk ausgeschüttet hatte, im Kies eine undeutliche Reifenspur. Audra hielt sich die Hand über die Augen und sah sich um, doch der Wagen blieb verschwunden. Das Ausmaß ihrer Erleichterung erschreckte sie. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie nervös der Streifenwagen sie gemacht hatte.

Egal. Zurück zur Straße und zu dem Ort, von dem die Frau gesprochen hatte, um einen Schlafplatz zu finden.

Sie ging zur hinteren Wagentür auf Louises Seite und öffnete sie, beugte sich hinein, reichte eine Wasserflasche zu Sean hinüber und rüttelte ihre Tochter sanft. Louise stöhnte und zappelte mit den Beinen.

»Aufwachen, Schatz.«

Louise rieb sich die Augen und starrte ihre Mutter verständnislos an. »Was?«

Audra schraubte den Deckel ab und hielt Louise die Flasche an die Lippen.

»Will nicht«, quengelte Louise schlaftrunken.

Audra drückte ihr die Flasche an den Mund. »Du willst nicht, aber du musst.«

Sie kippte die Flasche und das Wasser lief Louise zwischen die Lippen. Louise ließ Gogo los, nahm Audra die Flasche aus der Hand und nahm gleich mehrere Schlucke hintereinander.

»Siehst du?«, sagte Audra. Sie sah zu Sean hinüber. »Trink du auch viel.«

Sean tat wie geheißen, und Audra schob sich hinter das Steuer. Sie setzte vom Laden zurück, wendete und fuhr über das Viehgitter Richtung Straße. An der Auffahrt brauchte sie nicht zu warten, es gab keinen Verkehr. Der Motor brummte und der Gemischtwarenladen entfernte sich im Rückspiegel.

Die Kinder blieben still, nur Schluckgeräusche und zufriedenes Ausatmen waren zu hören. Audra klemmte sich die Colaflasche zwischen die Beine, schraubte den Deckel ab und nahm einen langen Schluck. Das kalte Sprudeln verbrannte ihr Zunge und Kehle. Sean und Louise lachten laut, als sie rülpste, und sie drehte sich grinsend zu ihnen um.

»Das war gut, Mom«, sagte Sean.

»Ja, richtig gut«, sagte Louise.

»Freut mich, wenn es euch gefallen hat«, sagte Audra und blickte wieder nach vorn auf die Straße.

Von der Ortschaft war noch nichts zu sehen. Acht Kilometer, hatte die Frau gesagt, und Audra hatte erst zwei Kilometerschilder gezählt, sie mussten also noch ein Weilchen fahren. Aber nicht mehr lange. Sie stellte sich ein Motel vor, ordentlich und sauber, mit Dusche – oh Gott, eine Dusche – oder noch besser einer Badewanne. Das Motel würde ein Zimmer mit Kabelfernsehen haben, die Kinder konnten sich Zeichentrickfilme ansehen, während sie ein heißes Schaumbad nahm, sich in der Wanne aalte und Schmutz, Schweiß und all ihre Sorgen abspülte.

Wieder ein Kilometerschild. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte sie. »Vielleicht noch drei Kilometer, okay?«

»Gut«, sagte Sean.

Louise streckte die Hände in die Höhe und rief leise: »Juhu.«

Audra lächelte und meinte schon das Badewasser auf der Haut zu spüren.

Dann streifte ihr Blick den Spiegel und sie sah, dass der Streifenwagen des Sheriffs ihnen folgte.

2

Ihr war, als griffen eisige Hände nach ihren Schultern, und ihr Herz hämmerte.

»Keine Panik«, sagte sie.

Sean beugte sich vor. »Was?«

»Nichts. Lehn dich zurück und sieh nach, ob du den Sicherheitsgurt richtig angelegt hast.«

Keine Panik. Er ist vielleicht gar nicht hinter dir her. Fahr einfach nicht zu schnell. Gib ihm keinen Grund, dich anzuhalten. Audras Blick wanderte zwischen Tacho und Straße hin und her. Die Nadel zeigte 55 Meilen pro Stunde an und es kam wieder eine Reihe von Kurven. Doch, der Wagen folgte ihr ganz eindeutig. Audra schluckte und veränderte den Griff ihrer Hände am Steuer. Schweißtropfen liefen ihr den Rücken hinunter.

Ganz ruhig, sagte sie sich. Keine Panik. Die suchen nicht dich.

Die Straße begradigte sich wieder und führte unter Kabelsträngen hindurch, die zwischen zwei Masten rechts und links der Straße gespannt waren. Der Straßenbelag schien rauer zu werden und der Kombi holperte. Am Horizont wieder die Berge. Audra konzentrierte sich in Gedanken auf sie, um sich abzulenken.

Beachte den Bullen nicht. Sieh einfach geradeaus.

Doch der Wagen des Sheriffs kam näher, bis er den Spiegel ausfüllte. Sie konnte den Fahrer jetzt erkennen. Massiger Kopf, breite Schultern, dicke Finger am Steuer.

Er will mich überholen, dachte sie. Na los, überhol mich.

Aber er überholte sie nicht.

Wieder ein Schild. SILVERWATERNÄCHSTEAUSFAHRT.

»Ich werde abbiegen«, sagte Audra. »Ich biege ab und er fährt weiter.«

»Was?«, fragte Sean.

»Nichts. Trink dein Wasser.«

Vor ihr die Abbiegung.

Sie wollte gerade den Blinker setzen, doch noch bevor ihre Finger ihn berühren konnten, hörte sie einen elektronischen Heulton. Zugleich sah sie im Rückspiegel blaue und rote Lichter flackern.

»Das darf nicht wahr sein«, sagte sie.

Sean streckte den Hals und blickte aus dem Rückfenster. »Mom, da ist die Polizei.«

»Richtig«, sagte Audra.

»Wollen die, dass wir anhalten?«

»Ich glaube schon.«

Wieder der Heulton, dann scherte der Streifenwagen aus und beschleunigte, bis er neben dem Kombi fuhr. Das Beifahrerfenster glitt nach unten und der Fahrer zeigte zum Straßenrand.

Audra nickte, blinkte und fuhr inmitten einer Wolke von Staub und Dreck an den Straßenrand. Der Streifenwagen fiel zurück und fuhr ebenfalls zur Seite. Sie blieben stehen, eingehüllt in Staub, sodass Audra von dem anderen Wagen nur die rotierenden und blitzenden Lichter sah.

Louise rührte sich. »Was ist los?«

»Die Polizei hat uns angehalten«, sagte Sean.

»Haben wir was angestellt?«

»Nein«, erwiderte Audra mit so viel Nachdruck, dass es schon nicht mehr überzeugend klang. »Niemand hat was angestellt. Es ist bestimmt nichts. Bleibt still sitzen und lasst Mommy machen.«

Sie beobachtete im Spiegel, wie der Staub sich legte. Die Tür des Streifenwagens ging auf und der Bulle stieg aus. Er blieb kurz stehen, rückte seinen Gürtel gerade, aus dessen Holster der Griff der Pistole ragte, und holte noch seinen Hut aus dem Auto. Ein Mann mittleren Alters, um die fünfzig, fünfundfünfzig. Schwarze Haare, stellenweise grau meliert. Stämmig, aber nicht dick, mächtige Unterarme. Die Sorte Mann, die in ihrer Jugend Football gespielt hat. Die Augen waren hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen. Er setzte den Hut mit der breiten Krempe auf, der genauso beige war wie seine Uniform, legte die Hand an den Griff seiner Pistole und näherte sich der Fahrerseite.

»Scheiße«, sagte Audra leise. Den ganzen Weg von New York hatte sie Highways gemieden, möglichst nur Landstraßen benutzt und war kein einziges Mal angehalten worden. So nah an Kalifornien, und jetzt das. Sie packte das Steuer fester, um das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken.

Der Polizist blieb an Louises Fenster stehen, bückte sich und spähte zu den Kindern hinein. Dann kam er nach vorn zu Audra, klopfte an die Scheibe und bewegte die Hand im Kreis. Sie sollte das Fenster öffnen. Sie drückte auf den Knopf an der Tür. Surrend und knarrend glitt die Scheibe hinunter.

»Guten Abend, Ma’am«, sagte er. »Machen Sie bitte den Motor aus.«

Tu, als wäre nichts, dachte Audra, und drehte den Zündschlüssel auf Aus. Alles wird gut. Bleib einfach ruhig.

»Guten Abend«, sagte sie. »Was ist, Officer?«

Auf dem Namensschild über seiner Dienstmarke stand SHERIFF R. WHITESIDE.

»Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.« Seine Augen waren hinter der Sonnenbrille nicht zu sehen.

»Im Handschuhfach«, sagte sie und zeigte darauf.

Er nickte. Sie streckte betont langsam die Hand aus und drückte auf den Schnappverschluss. Ein Bündel Straßenkarten und reichlich Abfall drohten in den Fußraum zu fallen. Nach kurzem Suchen hatte sie die Dokumente gefunden. Der Mann studierte sie mit ausdrucksloser Miene, während sie die Hände wieder ans Steuer legte.

»Audra Kinney?«

»Ja«, sagte sie.

»Mrs, Miss oder Ms?«, fragte er.

»Mrs, vermutlich.«

»Vermutlich?«

»Ich lebe getrennt. Aber ich bin noch nicht geschieden.«

»Ach so.« Er gab ihr die Dokumente zurück. »Sie sind ziemlich weit weg von zu Hause.«

Sie nahm sie und ließ die Hand auf den Schoß sinken. »Wir verreisen«, sagte sie. »Wir wollen Freunde in Kalifornien besuchen.«

»Ah«, sagte er. »Sonst alles in Ordnung, Mrs Kinney?«

»Ja.«

Er legte die Hand auf das Wagendach und beugte sich ein wenig nach unten. »Sie wirken nämlich ein wenig nervös.« Er sprach gedehnt und die Worte kamen tief aus seiner Kehle. »Aus einem bestimmten Anlass?«

»Nein«, erwiderte sie, obwohl sie wusste, dass man ihr die Lüge ansah. »Ich werde nur nervös, wenn die Polizei mich anhält.«

»Und das passiert öfter, ja?«

»Nein. Ich meine nur, wenn ich angehalten werde, dann …«

»Sie wollen vermutlich wissen, warum ich Sie angehalten habe.«

»Ja, also, ich glaube nicht, dass ich …«

»Ich habe Sie angehalten, weil Ihr Wagen überladen ist.«

»Überladen?«

»Das Gewicht drückt auf die Hinterachse. Steigen Sie doch aus und sehen Sie es sich selbst an.«

Bevor Audra etwas antworten konnte, öffnete der Sheriff schon die Tür und trat zurück. Sie saß bewegungslos da, die Ausweispapiere immer noch im Schoß, und blickte zu ihm auf.

»Ich habe Sie gebeten, auszusteigen, Ma’am.«

Audra legte Führerschein und Fahrzeugpapiere auf den Beifahrersitz und schnallte sich ab.

»Mom?«

Sie drehte sich zu Sean um. »Keine Sorge, ich muss nur mit dem Polizisten sprechen. Ich komme gleich zurück, okay?«

Sean nickte und wandte seine Aufmerksamkeit dem Sheriff zu. Audra stieg aus. Wieder brannte die Sonne heiß auf ihre Haut.

Der Sheriff ging nach hinten und streckte die Hand aus. »Sehen Sie da? Sie haben nicht genügend Platz zwischen Reifen und Radlauf.«

Er legte die Hände auf das Dach und drückte nach unten. Der Wagen wippte. »Sehen Sie? Die Straßen sind hier in der Gegend nicht besonders gut, es fehlt das Geld für Reparaturen. Wenn Sie mit Schwung in ein Schlagloch fahren, bekommen Sie jede Menge Probleme. Ich habe schon erlebt, dass die Leute dabei die Kontrolle über ihr Fahrzeug verlieren. Sie schrotten einen Reifen, kriegen einen Achsenbruch oder weiß Gott was und landen kopfüber im Graben oder prallen gegen einen entgegenkommenden Laster. Das ist nicht schön, sage ich Ihnen. Ich kann Sie so nicht fahren lassen.«

Audra war auf einmal ganz zittrig vor Erleichterung. Der Sheriff wusste nicht, wer sie war, und war nicht auf der Suche nach ihr. Doch die Erleichterung wurde dadurch gedämpft, dass er sie so unbedingt hatte anhalten wollen. Sie musste weiter, durfte sich deshalb allerdings nicht mit diesem Mann anlegen.

»Ich habe nur noch eine kurze Strecke zu fahren«, sagte sie und zeigte auf die Kurve vor ihnen. »Wir wollen in Silver Water übernachten. Dort kann ich etwas Ballast loswerden.«

»Silver Water?«, fragte der Sheriff. »Sie übernachten im Gästehaus von Mrs Gerber?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden.«

Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Trotzdem, es ist noch über eine Meile nach Silver Water und die Straße ist eng und voller Serpentinen. Da kann alles Mögliche passieren. Ich sage Ihnen was … ziehen Sie den Schlüssel ab und gehen Sie dorthin, von der Straße runter.«

»Aber es wäre nur noch ein kleines Stück zu fahren, dann könnte ich …«

»Ma’am, ich will Ihnen nur helfen. Jetzt holen Sie schon den Schlüssel, wie ich gesagt habe, und gehen Sie von der Straße runter.«

Audra griff ins Auto und um das Lenkrad herum und zog die Schlüssel aus der Zündung.

»Was ist los, Mom?«, fragte Sean. »Was will der?«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Audra. »Wir haben das gleich geklärt. Bleib einfach sitzen und pass auf deine Schwester auf. Machst du das für mich?«

Sean verknotete die Finger. »Ja, Mom.«

»Das ist lieb.« Sie zwinkerte ihm zu.

Dann ging sie mit den Schlüsseln zum Sheriff – Whiteside, hieß er nicht so? – und gab sie ihm.

»Stellen Sie sich bitte dorthin«, sagte er und zeigte auf den Streifen Erde neben der Straße. »Nicht dass Sie noch von einem Auto überfahren werden.«

Sie tat wie geheißen. Sean und Louise drehten sich auf ihren Sitzen um, um ihnen zusehen zu können.

Mit einem Knopfdruck öffnete Whiteside die Heckklappe des Kombis. »Wir wollen doch mal sehen, was da drin ist.«

Durfte er das überhaupt? Einfach ihren Kofferraum öffnen und hineinsehen? Audra drückte die Hand an den Mund und schwieg, während der Sheriff den Blick über die vollgepackten Kisten, die Taschen mit Kleidern und die beiden Körbe mit Spielsachen wandern ließ.

»Ich sage Ihnen, was ich für Sie tun kann«, meinte er schließlich. Er trat zurück und stützte die Hände in die Hüften. »Ich lade einen Teil von Ihren Sachen in meinen Wagen, damit Ihr Kofferaum leichter wird, und fahre hinter Ihnen her nach Silver Water – Mrs Gerber wird sich über Kundschaft freuen. Dort können Sie sich dann überlegen, was Sie tun wollen. Einen Teil des Gepäcks müssen Sie in Silver Water lassen, das sage ich Ihnen gleich. Es gibt dort einen Secondhandshop, da hilft man Ihnen bestimmt weiter. Wir sind hier in der ärmsten Gegend des ganzen Bundesstaats und es gibt nur noch diesen Shop. Okay, sehen wir uns an, was Sie haben.«

Whiteside beugte sich vor und hob eine Kiste auf den Rand des Kofferraums. Obenauf zusammengefaltete Decken und Leintücher. Darunter nur Bettzeug und Handtücher, soweit Audra sich erinnerte. Sie hatte die Lieblingsbezüge der Kinder für Kopfkissen und Decken eingepackt: Star Wars für Sean, Doc McStuffins für Louise. Als der Sheriff die Kiste durchwühlte, sah sie die leuchtenden Pastelltöne.

Eigentlich sollte sie ihn fragen, warum er die Kiste durchsuchte. Sie wollte es gerade tun, doch er kam ihr zuvor.

»Was ist das, Ma’am?«

Er richtete sich auf. Seine linke Hand steckte noch in der Kiste und drückte einen Stapel von Laken und Decken zur Seite. Audra sah ihn verwirrt an und es fiel ihr keine logische Antwort auf seine Frage ein.

»Decken und so«, sagte sie schließlich.

Er zeigte mit der rechten Hand in die Kiste. »Und das?«

Da überkam sie Angst, so plötzlich, als hätte man eine Lampe angeknipst. Sie hatte geglaubt, sie hätte bisher schon Angst gehabt, aber nein, sie hatte sich nur Sorgen gemacht. Aber das jetzt, das war Angst. Hier stimmte etwas nicht, ohne dass sie hätte benennen können, was.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte sie. Gegen ihren Willen zitterte ihre Stimme ein wenig.

»Vielleicht sollten Sie selbst einen Blick hineinwerfen«, sagte er.

Audra ging langsam ein paar Schritte auf ihn zu. Ihre Sneaker knirschten auf dem Sand und Kies. Sie beugte sich vor und blickte in das Innere der Kiste. Sie sah Umrisse von etwas, das sie nicht zuordnen konnte.

»Ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie.

Whiteside griff mit der rechten Hand in die Kiste, packte, was immer dort lag, und zog es heraus in das grelle Licht der Sonne.

»Wollen Sie mal raten?«, fragte er.

Doch da gab es nichts zu raten. Ein großer Beutel, zur Hälfte gefüllt mit getrockneten grünen Blättern.

Audra schüttelte den Kopf. »Das gehört mir nicht.«

»Ich würde sagen, das sieht doch sehr nach Marihuana aus, finden Sie nicht auch?«

Die Angst in Audras Brust breitete sich in die Arme und Beine aus wie Eiswasser, das durch ihre Kleider drang. Sie war innerlich wie betäubt. Doch, sie wusste, was das war. Aber sie nahm schon lange keins mehr. Sie nahm seit zwei Jahren überhaupt nichts mehr. Nicht mal Bier trank sie.

»Das gehört mir nicht«, wiederholte sie.

»Sind Sie sicher?«

»Ja, ganz sicher.« Aber gleichzeitig dachte sie, dass es sehr wohl eine Zeit gegeben hatte, in der sie es genommen hatte. Ob ich es irgendwann mal zwischen den Laken versteckt und dann vergessen habe? Unmöglich. Oder doch?

»Würden Sie mir dann bitte sagen, wie das in den Kofferraum Ihres Wagens kommt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie und fragte sich wieder: Konnte sie es vergessen haben?

Nein, vollkommen ausgeschlossen. Sie hatte schon vor ihrer Hochzeit nichts mehr geraucht und seitdem war sie dreimal umgezogen. Der Beutel konnte ihr unmöglich bis hierher gefolgt sein, auch wenn sie noch so wenig aufgepasst hatte.

Ihre Augen brannten, sie stand kurz davor, in Tränen auszubrechen, und ihre Hände begannen zu zittern. Aber sie musste sich zusammenreißen. Den Kindern zuliebe, dachte sie. Lass sie nicht sehen, dass du die Beherrschung verlierst. Sie wischte sich mit dem Handteller über die Wange und zog die Nase hoch.

Whiteside hielt den Beutel ins Licht und schüttelte ihn. »Wir werden uns darüber unterhalten müssen, wem der gehört. Ich sage Ihnen aber gleich, dass das von der Menge her etwas mehr ist, als für den persönlichen Gebrauch durchgehen könnte. Es wird also ein langes und ernstes Gespräch werden.«

Audra bekam weiche Knie und musste sich mit der Hand auf den Rand des Kofferraums stützen.

»Sir, ich schwöre bei Gott, dass der Beutel nicht mir gehört und ich nicht weiß, woher er kommt.«

Was ja auch stimmte. Oder?

»Wie gesagt, Ma’am, wir müssen uns darüber unterhalten.« Whiteside legte den Beutel auf die Decken und griff nach den Handschellen an seinem Gürtel. »Aber jetzt muss ich Sie erst einmal verhaften.«

3

»Wie bitte?«

Audras Beine drohten unter ihr nachzugeben. Wenn sie sich nicht schon auf das Auto gestützt hätte, wäre sie zu Boden gesackt.

»Mom?« Sean hatte sich abgeschnallt und lehnte sich über den Rücksitz. Er hatte die Augen weit aufgerissen. »Mom, was ist?«

Auch Louise starrte sie mit ängstlichem Gesicht an. Heiße Tränen liefen Audra über die Wangen. Sie zog wieder die Nase hoch und wischte sie weg.

»Das kann doch nicht wahr sein«, sagte sie.

Whitesides Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. »Ma’am, ich muss Sie bitten, zu meinem Wagen mitzukommen.«

Audra schüttelte den Kopf. »Aber … aber meine Kinder.«

Der Sheriff trat dicht vor sie und senkte die Stimme. »Dann machen Sie jetzt keinen Aufstand, um ihretwillen. Tun Sie einfach, was ich sage, und Sie machen es sich und Ihren Kindern leichter. Jetzt kommen Sie.«

Er griff nach ihrem Arm und sie ließ sich von ihm zu seinem Streifenwagen führen.

»Mom? Mom!«

»Sagen Sie ihm, dass alles in Ordnung ist«, sagte Whiteside.

Audra blickte zu ihrem Auto zurück. »Alles in Ordnung, Sean. Pass auf deine Schwester auf. Wir haben das in ein paar Minuten geklärt.«

Beim Streifenwagen angekommen, sagte der Sheriff: »Legen Sie den Inhalt Ihrer Hosentaschen auf die Kühlerhaube.«

Audra steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und legte Taschentücher und ein paar Münzen auf die Kühlerhaube. Whiteside ließ den Beutel mit Marihuana auf den Stapel fallen.

»Ist das alles? Dann stülpen Sie die Taschen nach außen.«

Sie gehorchte. Anschließend drehte er sie am Arm so, dass sie ihm den Rücken zukehrte.

»Hände auf den Rücken.«

Audra hörte ein metallisches Klicken und spürte seine Finger unsanft an ihren Handgelenken.

»Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zur Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Verteidiger leisten können, wird Ihnen einer gestellt. Haben Sie das verstanden?«

Sie spürte das kalte Metall an den Handgelenken, da ging die hintere Tür des Kombis auf. Sean kletterte hastig heraus und landete auf Händen und Knien im Dreck.

»Was ist denn, Mom?«, rief er und rappelte sich auf.

Aus dem Auto hörte man die ängstlichen Rufe Louises, die immer lauter wurden.

»Es ist alles gut«, sagte Audra, aber Sean kam trotzdem näher.

»Haben Sie das verstanden?«, wiederholte Whiteside.

Sean begann zu laufen. »He, lassen Sie meine Mom los!«

»Sean, geh wieder zum Auto.«

Whiteside riss an den Handschellen, und Schmerz schoss durch Audras Handgelenke und Schultern. Sie schrie auf und Sean blieb schliddernd stehen.

»Haben Sie verstanden, was Ihre Rechte sind?«, fragte Whiteside noch einmal mit dem Mund an ihrem Ohr.

»Ja«, sagte sie gepresst und mit zusammengebissenen Zähnen. Der Stahl schnitt in ihre Haut.

»Dann sagen Sie es. Sagen Sie, ja, ich habe es verstanden.«

»Ja, ich habe es verstanden.«

»Danke.« Er wandte sich an Sean. »Steig wieder ein, Junge. Wir haben das gleich in Ordnung gebracht.«

Sean richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war groß für sein Alter, wirkte hier am Straßenrand aber trotzdem sehr klein.

»Lassen Sie meine Mom los.«

»Das geht nicht, Junge. Steig ins Auto ein.« Whiteside zog wieder an den Handschellen und sprach ihr ins Ohr. »Sagen Sie es ihm.«

Audra stöhnte vor Schmerzen.

»Sagen Sie es ihm oder es wird alles noch viel schwieriger.«

»Sean, steig wieder ein«, sagte sie mühsam beherrscht. Sie wollte nicht, dass man ihr die Angst anmerkte. »Hör doch, deine Schwester weint. Du musst zu ihr gehen und dich um sie kümmern. Na los, tu’s für mich.«

Sean zeigte auf Whiteside. »Sie dürfen ihr nicht wehtun«, sagte er. Dann wandte er sich ab und ging zum Kombi zurück. Im Gehen blickte er über die Schulter.

»Tapferer Junge«, sagte Whiteside. »Tragen Sie irgendwelche scharfen Gegenstände bei sich? An denen ich mich schneiden könnte, wenn ich gleich eine Leibesvisitation vornehme?«

Audra schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Moment mal, eine Leibesvisitation?«

»Richtig«, sagte Whiteside und ging auch schon hinter ihr in die Hocke. Er griff mit seinen großen Händen um ihren Knöchel, drückte zu und bewegte prüfend den Stoff ihrer Jeans.

»Das dürfen Sie doch gar nicht«, sagte sie. »Oder? Das muss doch eine Polizistin tun.«

»Ich kann Sie durchsuchen, und genau das tue ich im Moment. Sie bekommen keine Sonderbehandlung, nur weil Sie eine Frau sind. Früher, da konnte ich von der Polizei in Silver Water eine Polizistin anfordern, nur aus Höflichkeit, nicht weil ich müsste – ich muss das nämlich nicht –, aber jetzt nicht mehr. Der Bürgermeister hat die Polizeibehörde vor drei Jahren dichtgemacht. Die Stadt konnte sie sich nicht mehr leisten.«

Seine Hände arbeiteten sich drückend und tastend an Wade und Schenkel hoch. Dann schob er den Handrücken zwischen ihren Schenkeln nach oben in den Schritt, nur kurz, aber doch so lang, dass sie die Augen schloss und einen Knoten im Magen spürte. Dann über ihr Gesäß, in die Gesäßtaschen und am anderen Bein wieder hinunter. Mit den Zeigefingern stocherte er in ihren Schuhen herum. Dann stand er auf, strich mit den Händen ihren verschwitzten Rücken hinunter, anschließend nach vorn, über ihren Bauch, um ihre Brüste herum zu den Schultern hinauf und die Arme hinunter.

Erst als er fertig war, merkte Audra, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Sie ließ sie in einem langen, zittrigen Atemzug entweichen.

Sie hörte in ihrem Auto jemanden weinen, ein Schluchzen, das immer höher wurde und schon fast hysterisch klang. »Meine Kinder«, sagte sie.

»Denen passiert nichts«, sagte Whiteside und führte sie zur hinteren Tür des Streifenwagens auf der Beifahrerseite. Er öffnete sie. »Ziehen Sie den Kopf ein.«

Er legte ihr die Hand auf den Kopf, drückte sie nach unten und schob sie hinein.

»Füße«, sagte er.

Audra wusste im ersten Moment nicht, was er meinte, dann begriff sie und hob die Füße in den Wagen. Er schlug die Tür zu und die Außenwelt war von einem Moment auf den anderen wie abgeschnitten.

»Mein Gott«, sagte sie und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Mein Gott.«

Ihre Gedanken rasten und Panik stieg in ihr auf. Wenn sie sich nicht zusammenriss, rastete sie gleich vollends aus. Sie zwang sich, tief durch die Nase einzuatmen, die Luft anzuhalten und durch den Mund entweichen zu lassen. Die Zungenspitze drückte sie dabei an die Rückseite der Zähne. Sie hatte diese Entspannungsübung gelernt, als sie aufgehört hatte, Drogen zu nehmen. Konzentriere dich auf das Jetzt, suche mit den Augen einen Punkt und fixiere ihn, bis sich alles wieder beruhigt.

Durch das Gitter, das den Rücksitz des Streifenwagens vom Vordersitz trennte, sah sie einen fünf Zentimeter langen Riss in der Naht der gepolsterten Lederkopfstütze. Sie starrte sie an, atmete ein, hielt die Luft an und atmete aus.

Aus den Augenwinkeln sah sie Whiteside nach hinten marschieren und sie hörte, wie der Kofferraum auf- und zuging. Der Sheriff kam wieder nach vorn, nahm den Beutel mit Marihuana von der Kühlerhaube, steckte ihn in einen braunen Umschlag und tat dasselbe mit den Taschentüchern und Münzen, die sie aus ihren Taschen geholt hatte. Sie richtete den Blick wieder auf den Riss in der Kopfstütze und konzentrierte sich auf ihren Atem. Die Beifahrertür ging auf und Whiteside warf die beiden Umschläge auf den Sitz. Dann bückte er sich und blickte zu ihr nach hinten.

»Haben Sie Familie in der Nähe?«

»Nein«, sagte Audra.

»Jemand, der die Kinder abholen kann?«

»Ich habe eine Freundin«, sagte sie. »In Kalifornien. San Diego.«

»Gut, das hilft uns jetzt nicht weiter. Was ist mit dem Vater? Wo ist er?«

»New York. Wir sind nicht mehr zusammen.«

Whiteside atmete durch die geschürzten Lippen aus, versank einen Moment lang in Gedanken und nickte dann. Er hatte eine Entscheidung getroffen und langte nach dem Funkgerät auf dem Armaturenbrett.

»Collins, bist du da?« Er schwieg einen Moment und lauschte mit schräg gelegtem Kopf. »Collins, wo bist du?«

Ein Knacken, dann die Stimme einer Frau. »Ich bin draußen auf der Gisela Road, Sir. Was brauchen Sie?«

»Ich stehe hier an der County Road, unmittelbar vor der Abzweigung nach Silver Water«, sagte er. »Gerade habe ich eine Frau wegen Drogenbesitz verhaftet. In ihrem Auto sitzen zwei Kinder, deshalb brauche ich Sie, damit Sie sich um die beiden kümmern. Und sehen Sie zu, dass Sie Emmet auftreiben. Er muss ein Auto abschleppen.«

Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen, dann sprach Whiteside wieder.

»Collins?«

»Ja.«

»Meinen Sie, Sie können Emmet für mich ausfindig machen?«

Wieder eine Pause. Whiteside befeuchtete sich die Lippen. »Collins? Ja oder nein?«

»Okay«, sagte die Frau. »Geben Sie mir fünf bis zehn Minuten.«

Whiteside bedankte sich und steckte das Funkgerät wieder in die Halterung. Dann drehte er sich zu Audra um. »Gut. Jetzt müssen wir eine Weile warten.«

Durch die offene Tür hörte Audra Louise. Schrill tönte ihr Jammern durch den Aufruhr in ihrem Kopf.

»Hören Sie«, sagte sie. »Meine Kinder weinen. Ich kann sie nicht einfach allein lassen.«

Whiteside seufzte. »Also gut, ich sehe nach ihnen.«

»Halt, kann ich …«

Die Tür schlug zu, sodass der ganze Wagen schwankte, und der Sheriff ging zu Audras Kombi. Sie sah ihm nach und sprach ein stummes Gebet.

4

Durch die offene Heckklappe sah Sean, wie der massige Mann näher kam. Louise schrie und umklammerte Gogo. Das Bündel aus Füllmaterial und rosafarbenem Stoff, das einmal ein Kaninchen gewesen war, hatte zwar noch zwei Augen, aber eins davon hing nur noch an einem Fädchen.

»Sei still«, sagte Sean. »Mom hat gesagt, es wird alles gut. Also sei einfach still, okay?«

Vergeblich. Louise weinte weiter und wurde sogar noch lauter, als der große Polizist die Heckklappe zuschlug. Der Polizist kam zu Seans Tür, öffnete sie und ging in die Hocke, auf Augenhöhe mit den beiden Kindern.

»Bei euch alles klar?«

»Was ist hier los?«, fragte Sean.

Der Polizist wischte sich mit der Hand über den Mund. »Also, ich will dich nicht anlügen. Deine Mom steckt in Schwierigkeiten.«

»Aber sie hat nichts getan.«

Sheriff Whiteside – wie Sean auf dem Namensschild las – nahm seine verspiegelte Sonnenbrille ab, sodass seine grauen Augen zu sehen waren. Und etwas an diesen Augen ging Sean durch Mark und Bein, machte ihm eine solche Angst, dass seine Blase schmerzte, als müsste er dringend aufs Klo.

»Also, das ist so«, sagte Whiteside. »Sie hatte etwas im Kofferraum, das sie nicht haben sollte. Etwas Verbotenes. Ich muss jetzt mit ihr nach Silver Water fahren, damit wir das besprechen können. Aber ich verspreche dir, es wird alles gut.«

»Was hatte sie denn im Kofferraum?«, fragte Sean.

Der Sheriff lächelte matt. »Etwas, das sie nicht haben sollte, okay? Alles wird gut.«

Er ließ den Blick durch das Auto wandern und über Sean und Louise, und Sean spürte förmlich, wie die Augen seine Haut abtasteten. Der Sheriff streckte sich ein wenig, sodass er Louise besser sehen konnte, und musterte sie ausführlich von Kopf bis Fuß. Er nickte und seine Zunge erschien zwischen seinen Lippen, befeuchtete sie und verschwand wieder.

»Alles wird gut«, wiederholte er. »Wir machen es so. Ich muss, wie gesagt, eure Mom in den Ort mitnehmen und mit ihr sprechen, aber ich kann euch nicht allein hierlassen. Deshalb kommt meine Kollegin, Deputy Collins, und bringt euch an einen sicheren Ort, an dem sie sich um euch kümmern kann.«

Louises Jammern wurde schriller. »Kommen wir ins Gefängnis?«

Whiteside lächelte, aber der Blick, der Sean solche Angst machte, wich nicht aus seinen Augen. »Nein, Kleine, ihr kommt nicht ins Gefängnis. Deputy Collins bringt euch an einen sicheren Ort.«

»Wohin denn?«, fragte Sean.

»Einen sicheren Ort. Macht euch deshalb keine Sorgen. Alles wird gut.«

»Kann ich Gogo mitnehmen?«, fragte Louise.

»Natürlich. Gleich ist Deputy Collins da und dann ist alles gut.«

»Sie sagen das immer wieder.«

Whiteside wandte sich Sean zu, sein Lächeln gefror. »Was?«

Da begriff Sean plötzlich, warum ihm die Augen des Sheriffs solche Furcht einjagten.

»Sie sagen ständig, dass alles gut wird. Aber Sie sehen aus, als hätten Sie Angst.«

Whiteside starrte ihn an und sein Lächeln verschwand. »Ich habe keine Angst, Junge. Ihr sollt nur beide wissen, dass euch nichts passiert. Deputy Collins wird sich gut um euch kümmern. Eure Mom und ich, wir haben das ganz schnell geregelt, und dann könnt ihr alle nach Hause fahren. Ach, ihr habt mir ja noch gar nicht eure Namen gesagt.«

Sean presste die Lippen zusammen.

Whiteside sah Louise an, von der nur noch einzelne Schluchzer zu hören waren. »Wie heißt du denn, Kleine?«

»Louise.«

»Und dein Bruder?«

»Sean.«

»Schöne Namen.« Whiteside lächelte so breit, dass seine Zähne zu sehen waren. »Und wo kommt ihr her?«

»Aus New York«, sagte Louise.

»Aus New York«, wiederholte er. »Tatsächlich? Da seid ihr aber weit von zu Hause weg.«

»Wir ziehen nach Kalifornien«, sagte Louise.

»Sei still«, sagte Sean. »Wir brauchen dem gar nichts zu sagen.«

Whiteside lachte kurz. »Die junge Dame kann sich jederzeit mit mir unterhalten, wenn sie dazu Lust hat.«

Sean sah ihn böse an. »Ich weiß das vom Fernsehen. Wir müssen Ihnen gar nichts sagen.«

Der Sheriff wandte sich wieder an Louise. »Dein großer Bruder ist ein schlauer Kerl. Ich glaube, der wird später mal Anwalt, was meinst du?«

Louise drückte Gogo an sich. »Weiß nicht.«

»Na gut, wir unterhalten uns ja nur zum Zeitvertreib, nicht wahr? Wie man es eben macht. Ich wollte mich nur überzeugen, dass bei euch beiden alles in Ordnung ist. Habt ihr denn noch Wasser?«

Louise hob ihre Flasche und zeigte sie ihm. Sean starrte geradeaus.

»Dann trinkt es aus. Es ist heiß und ihr müsst genügend trinken.«

Louise nahm einen langen Schluck, Sean nicht.

Von draußen kam ein Rumpeln und der Sheriff blickte die Straße entlang.

»Da kommt sie«, sagte er und stand auf.

Sean blickte an der Kopfstütze des Vordersitzes vorbei durch die Windschutzscheibe. Ein zweiter Streifenwagen näherte sich, bremste und wendete. Dann setzte er auf dem Seitenstreifen zurück, bis er mit dem Heck nur noch einen Meter von der vorderen Stoßstange des Kombis entfernt war. Eine jüngere Frau in einer Uniform, wie Whiteside sie trug, stieg aus. Sie hatte blonde, zurückgesteckte Haare, ein eckiges Kinn wie ein Mann und schmale Hüften.

Deputy Collins ging zwischen den Autos durch und blieb neben Whiteside an der Tür stehen.

»Das sind Sean und Louise«, sagte Whiteside. »Sie sind ein wenig durcheinander, aber ich habe ihnen gesagt, Sie würden gut auf sie aufpassen. Das stimmt doch?«

»Natürlich«, sagte sie und ging in die Hocke. »Hi, Sean, hi, Louise. Ich bin Deputy Collins und werde mich um euch kümmern. Nur für kurze Zeit, bis wir alles geregelt haben. Keine Angst, alles wird gut.«

Als Sean ihre blauen Augen sah, überlief es ihn wieder kalt. Sie wirkte trotz ihres Lächelns und ihrer sanften Stimme sogar noch verängstigter als der Sheriff.

»Ihr zwei kommt jetzt mit mir.«

»Wohin bringen Sie uns?«, fragte Sean.

»An einen sicheren Ort«, sagte Collins.

»Aber wohin?«

»Einen sicheren Ort. Vielleicht kannst du Louise mit dem Sicherheitsgurt helfen.«

Sean wollte etwas antworten, der Frau sagen, dass sie nirgendwohin mitkommen würden, da sagte Louise: »Ich kann mich selber abschnallen. Der Mann hat gesagt, ich darf Gogo mitnehmen.«

Collins nickte. »Klar darfst du das.«

Bevor Sean Louise aufhalten konnte, war sie schon aus ihrem Kindersitz geklettert, stieg über ihn und nahm Collins’ Hand. Collins half ihr beim Aussteigen. Sean blieb sitzen.

Collins hielt ihm ihre freie Hand hin. »Na los.«

Sean verschränkte die Arme. »Ich komme nicht mit.«

»Du hast keine Wahl, Sean«, sagte sie. »Du musst mitkommen.«

»Nein, muss ich nicht.«

Whiteside bückte sich. »Junge, Deputy Collins hat doch gesagt, du hast keine Wahl«, sagte er leise. »Wenn ich muss, verhafte ich dich, lege dir Handschellen an und trage dich zu ihrem Auto. Oder du steigst einfach aus und gehst hin. Was willst du?«

»Sie können mich nicht verhaften«, sagte Sean.

Der Sheriff kam noch näher. In die Angst in seinen Augen mischte sich Wut. »Bist du dir da absolut sicher?«

Sean schluckte. »Okay.«

Er stieg aus und Whiteside legte ihm eine schwere Hand auf die Schulter und führte ihn zum Streifenwagen. Collins ging mit Louise an der Hand voraus. Sie öffnete die hintere Tür und half Louise hinein.

»Rutsch rüber, Schatz«, sagte sie und hielt Sean die Hand hin.

Sean blickte zum Wagen des Sheriffs zurück und versuchte, durch die Windschutzscheibe seine Mutter zu erkennen. Doch er sah nur einen undeutlichen Schatten, der seine Mutter sein konnte oder auch nicht. Whiteside packte ihn mit seinen dicken Fingern fester an der Schulter und schob ihn auf Collins zu.

»Rein mit dir«, sagte Collins und bugsierte ihn mit der Hand unter seinem Arm ins Auto. »Sei so nett und hilf deiner Schwester beim Anschnallen, ja?«

Sean stutzte, als er sah, dass der gesamte hintere Bereich mit einer durchsichtigen Plastikplane abgeklebt war, die Sitzbank, Lehne, Fußraum und Kopfstützen bedeckte. Collins drückte ihn mit der Hand auf dem Kreuz vollends hinein.

Die Tür ging hinter ihm zu und er blickte durch die schmutzige Fensterscheibe auf die beiden Polizisten, die nebeneinanderstanden und sich leise unterhielten. Whiteside sagte etwas und Collins nickte, dann kehrte der Sheriff zu seinem eigenen Wagen zurück. Collins stand noch eine Weile da und blickte mit der Hand vor dem Mund abwesend ins Leere. Sean hätte gern gewusst, was sie beschäftigte. Dann ging sie um das Auto herum, öffnete die Fahrertür und schob sich auf den Fahrersitz.

Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte sich zu Sean um. »Ich habe dich gebeten, deiner Schwester beim Anschnallen zu helfen. Kannst du das bitte für mich tun?«

Ohne den Blick von Collins abzuwenden, zog Sean den Gurt über Louise und steckte ihn ein. Dann schnallte er sich selbst an.

»Danke«, sagte Collins.

Sie legte einen Gang ein, fuhr vom Seitenstreifen herunter und beschleunigte. Der Kombi, in dem er und seine Schwester fast das ganze Land durchquert hatten, blieb hinter ihnen zurück. Die Abzweigung nach Silver Water kam näher und Sean erwartete, dass Collins bremsen und abbiegen würde.

Doch das tat sie nicht. Stattdessen beschleunigte sie noch, als sie an der Abzweigung waren. Sean blickte zurück und sah Wegweiser und Ausfahrt hinter ihnen kleiner werden. Die Angst, die in ihm lauerte, seit der Sheriff sie angehalten hatte, stieg jetzt in ihm hoch und zu seinem Entsetzen tropften heiße Tränen von seinen Wangen auf sein T-Shirt. Vergeblich versuchte er, sie zurückzuhalten. Außerdem musste er auch noch laut schluchzen.

Collins blickte zu ihm zurück. »Hab keine Angst«, sagte sie. »Alles wird gut.«

Dass sie ihn weinen sah wie ein Baby, machte alles irgendwie nur noch schlimmer. Zur Angst kam die Scham und er schluchzte noch heftiger. Er weinte um seine Mom und um zuhause und ihre gemeinsame Zeit, bevor sie von dort hatten weggehen müssen. Louise streckte ihre kleine Hand aus und nahm seine. »Nicht weinen«, sagte sie. »Die haben doch gesagt, alles wird gut.«

Doch Sean wusste, dass sie logen.

5

Audra sah durch einen Tränenschleier verschwommen, wie der andere Streifenwagen sich entfernte. Sie hatte mitbekommen, wie ihre Kinder aus dem Kombi geholt und zu dem anderen Wagen gebracht worden waren und wie Sean sich zu ihr umgedreht hatte. Sie hatte geweint, als die Kinder verschwanden. Jetzt kehrte Sheriff Whiteside zurück. Er hatte die Sonnenbrille wieder aufgesetzt und die Daumen in den Gürtel gehakt, als wäre alles in bester Ordnung. Als wäre nicht soeben eine Fremde mit ihren Kindern weggefahren.

Eine Fremde vielleicht, aber wenigstens eine Frau. Auch wenn sie selbst in Schwierigkeiten steckte, die Polizistin würde sich um ihre Kinder kümmern. Ihnen würde nichts passieren.

»Ihnen passiert nichts«, sagte Audra laut. Ihre Stimme klang hohl durch das Auto. Sie schloss die Augen und wiederholte den Satz, wie einen Wunsch, der unbedingt in Erfüllung gehen sollte.

Whiteside öffnete die Fahrertür und schob sich herein. Der Wagen schwankte unter seinem Gewicht. Er schloss die Tür, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. Die Lüftung erwachte zum Leben und blies warme Luft ins Wageninnere.

Audra sah die spiegelnden Brillengläser im Rückspiegel und wusste, dass er sie beobachtete wie ein Insekt, das in einem Marmeladenglas gefangen war. Sie zog die Nase hoch, schluckte und zwinkerte die Tränen weg.

»Das Abschleppfahrzeug müsste bald hier sein«, sagte er. »Dann können wir fahren.«

»Diese Polizistin …«

»Deputy Collins«, sagte er.

»Wohin bringt sie meine Kinder?«

»An einen sicheren Ort.«

Audra beugte sich vor. »Wohin?«

»Einen sicheren Ort«, wiederholte er. »Aber Sie haben im Moment andere Sorgen.«

Sie atmete ein und wieder aus, spürte Panik in sich aufsteigen und unterdrückte sie. »Ich will wissen, wo meine Kinder sind«, sagte sie.

Whiteside schwieg eine Weile und rührte sich nicht, dann sagte er: »Sie sind jetzt am besten still.«

»Bitte, ich will doch nur …«

Er nahm die Sonnenbrille ab und drehte sich auf seinem Sitz zu ihr um. »Ich sagte, Sie sollen still sein.«

Audra kannte diesen Blick und es überlief sie kalt. Diese Mischung aus Hass und Wut in seinen Augen. Ihr Vater hatte denselben Blick gehabt, wenn er zu viel getrunken hatte und jemandem wehtun musste, in der Regel ihr oder ihrem kleinen Bruder.

»Entschuldigung«, sagte sie so leise, dass es nicht einmal ein Flüstern war.

Als wäre sie wieder ein kleines Mädchen von acht Jahren, das hoffte, ihr Vater würde seinen Gürtel anbehalten, statt sie damit zu schlagen. Der Polizist starrte sie an und sie senkte den Blick auf ihren Schoß.

»Na, geht doch«, sagte er und blickte wieder auf die Wüste jenseits der Windschutzscheibe.

Alles war jetzt still bis auf das Rumpeln des Motors im Leerlauf und Audra überkam auf einmal ein ganz unwirkliches Gefühl, als wäre alles ein Fiebertraum, als erlebte sie den Albtraum von jemand anderem.

Aber waren nicht die ganzen letzten anderthalb Jahre ein solcher Albtraum gewesen?

Seit sie mit Sean und Louise vor Patrick geflohen war, waren die Tage, Wochen und schließlich Monate voller Sorgen und Ängste gewesen. Überall verfolgte sie der Schatten ihres Mannes. Der Gedanke an ihn und an das, was er ihr nehmen wollte, hatte sich wie ein Schleier auf ihre Seele gelegt.

Sobald Patrick erkannte, dass er sie verloren hatte, dass sie sich ihm nicht mehr unterwerfen würde, hatte er sie belauert und danach getrachtet, sie zu vernichten. Und er wusste genau, was er zu tun hatte. Er liebte die Kinder nicht, genauso wie er Audra nie geliebt hatte. Für ihn waren sie nur etwas, das er besaß, wie ein Auto oder eine teure Uhr. Ein Symbol, mit dem er seinem Umfeld signalisierte: Seht her, ich habe Erfolg und lebe ein erstrebenswertes Leben. Zu spät hatte Audra erkannt, dass sie und die Kinder nur Teil einer Fassade waren, mit der er den anständigen Menschen vortäuschte.

Als sie sich dann endlich von ihm losgerissen hatte, hatte die empfundene Schande ihn wütend gemacht, eine Wut, die seitdem nicht vergangen war. Und es gab so viele schmutzige Tricks, deren er sich bediente. Den Alkohol, die verschreibungspflichtigen Medikamente, das Kokain und anderes mehr. Und dieselben Schwächen, die er in ihr gefördert hatte, um sie zu zähmen – »abhängig« zu machen, wie die Lebensberaterin gesagt hatte –, setzte er jetzt als Waffen gegen sie ein, um ihr die Kinder wegzunehmen. Entsprechende Beweise hatte er den Anwälten und dem Richter vorgelegt. Daraufhin war die Jugendbehörde bei ihr vorstellig geworden und hatte sie mehrmals in ihrer Wohnung in Brooklyn befragt, wohin sie nach der Trennung gezogen war. Wie gehässig, wie kränkend die Fragen gewesen waren.

Die letzte Befragung war dann der Auslöser gewesen. Der Mann und die Frau von der Behörde hatten sich ganz freundlich und besorgt erkundigt, ob das, was man ihnen zugetragen habe, wahr sei und ob die Kinder in diesem Fall nicht besser beim Vater aufgehoben seien, zumindest für ein paar Wochen, bis sie einen Entzug gemacht habe.

»Ich brauche keinen Entzug«, hatte sie erwidert. »Ich nehme seit fast zwei Jahren keine Drogen mehr.«

Was auch stimmte. Sie hätte gar nicht die Kraft aufgebracht, ihren Mann zu verlassen und die Kinder mitzunehmen, wenn sie weiterhin Drogen genommen hätte. Die anderthalb Jahre seitdem waren ein Kampf gewesen, gewiss, aber sie war kein einziges Mal in die alten Gewohnheiten zurückgefallen, mit denen sie sich damals fast umgebracht hätte. Sie hatte für sich und die Kinder ein neues Leben geschaffen und als Kellnerin in einem Café bedient. Dort verdiente sie zwar nicht viel, aber sie hatte, bevor sie ging, ein wenig Geld von dem Konto, das sie mit Patrick teilte, beiseitegeschafft. Sogar mit dem Malen hatte sie wieder angefangen.

Aber dem besorgten Paar von der Jugendbehörde schien das alles egal gewesen zu sein. Die beiden hatten einander nur mit mitleidiger Miene angesehen und Audra hatte sie schließlich aufgefordert zu gehen.

Daraufhin hatten die beiden versichert, dass sie den Streit nicht vor Gericht sehen wollten, es sei immer besser, wenn die Eltern sich untereinander einigten.

Da hatte Audra geschrien, sie sollten augenblicklich aus ihrer Wohnung verschwinden und nie mehr wiederkommen.

Den Rest des Tages hatte sie in einem Zustand panischer Erregung verbracht und verzweifelt überlegt, was sie gegen ihre Angst tun konnte. Schließlich hatte sie Mel angerufen, ihre einzige Freundin noch aus College-Tagen, und Mel hatte gesagt, komm, komm zu mir nach San Diego, nur für ein paar Tage, wir haben Platz.

Audra hatte aufgelegt und gleich zu packen begonnen. Zuerst nur ein paar Kleider für sich und die Kinder für einige Tage. Dann hatte sie überlegt, Spielsachen mitzunehmen und vielleicht auch die Lieblingsbettwäsche der Kinder. Schließlich waren aus den Taschen Kisten geworden. Fliegen konnte sie mit so viel Gepäck nicht, also musste sie den alten Kombi nehmen, den sie im Vorjahr gekauft hatte. Und zuletzt wollte sie auch nicht mehr nur für ein paar Tage weg, sondern für immer.

Sie nahm sich erst Zeit zum Nachdenken, als sie schon zur Hälfte durch New Jersey gefahren war. Vor vier Tagen hatte sie morgens auf dem Standstreifen des Highways angehalten, weil die Panik irgendwo in ihrem Inneren zu explodieren drohte. Während Sean sie immer und immer wieder fragte, warum sie angehalten habe, saß sie nur da, die Hände am Steuer und heftig atmend, als bekäme sie keine Luft.

Sean hatte sie schließlich beruhigt. Er hatte sich abgeschnallt, war zwischen den Sitzen hindurch nach vorn auf den Beifahrersitz geklettert und hatte ihre Hand gehalten, während er mit seiner hellen Stimme beruhigend auf sie einredete. Schon nach wenigen Minuten hatte sie sich wieder unter Kontrolle, und Sean blieb neben ihr sitzen, während sie gemeinsam überlegten, was sie tun wollten, wohin sie fahren sollten und wie sie dorthin gelangen konnten.

Kleine Straßen, hatte sie beschlossen. Sie wusste nicht, was passieren würde, wenn die Jugendbehörde merkte, dass sie verschwunden war und die Kinder mitgenommen hatte, aber womöglich alarmierte die Behörde die Polizei und dann würde die nach ihr und dem Kombi suchen. Also hatte sie kurvige Landstraßen gewählt, die durch zahllose kleine Orte führten. Probleme mit der Polizei hatte sie keine gehabt. Bis jetzt.

»Na endlich«, sagte Whiteside und riss Audra aus ihren Gedanken.

Vor ihnen näherte sich ein Abschlepplaster aus der Richtung von Silver Water. Ein paar Meter vor ihnen wurde er langsamer. Er wendete, sodass die Ladefläche auf Audras Auto zeigte, und fuhr rückwärts darauf zu, bis ein warnendes Piepen ertönte. Der Fahrer, ein magerer Mann in einem fleckigen blauen Overall, sprang aus dem Führerhaus. Whiteside stieg ebenfalls aus und ging ihm bis zum hinteren Ende des Lasters entgegen.

Audra sah, wie die beiden sich unterhielten. Der Fahrer hielt Whiteside einen Quittungsblock zum Unterschreiben hin, riss dann das oberste Blatt ab und gab es ihm. Anschließend musterte er Audra eingehend. Sie kam sich vor wie ein Affe im Zoo. Eine irrationale Wut stieg angesichts dieser Aufdringlichkeit in ihr auf und sie hätte den Fahrer am liebsten angespuckt.

Während der Fahrer sich an die Arbeit machte und das Seil einer Winde vorne an ihrem Auto befestigte, kehrte Whiteside zum Streifenwagen zurück. Wortlos setzte er sich hinter das Steuer und legte einen Gang ein. Im Vorbeifahren winkte er dem Fahrer des Abschleppwagens zu. Der Fahrer nutzte die Gelegenheit, Audra erneut zu mustern, bis sie ihr Gesicht abwandte.

Whiteside nahm mit hoher Geschwindigkeit die Abzweigung nach Silver Water und Audra musste die Beine breit auf den Boden stellen, um nicht umzukippen. Die Straße führte in Kurven durch die Berge und ihre Schenkel schmerzten schon bald von der Anstrengung, die Balance zu halten. Die flache Steigung schien kein Ende zu nehmen. Braune Hänge, grün gesprenkelt mit Feigenkakteen und Gestrüpp, säumten zu beiden Seiten die Straße.

Der Sheriff schwieg die ganze Fahrt über und warf ihr nur gelegentlich einen Blick im Rückspiegel zu. Seine Augen waren wieder hinter der Sonnenbrille verborgen. Jedes Mal wenn er sie ansah, wollte sie etwas sagen, ihn nach ihren Kindern fragen, aber jedes Mal sah er weg, bevor sie dazu kam.

Ihnen wird nichts passieren, sagte sie sich immer wieder. Sie sind bei der Polizistin. Egal was mir geschieht, ihnen wird nichts passieren. Das ist nur ein schreckliches Versehen, und sobald es aufgeklärt ist, fahren wir weiter.

Es sei denn natürlich, es kam heraus, dass sie vor der Jugendbehörde weggelaufen war. Dann schickte man sie und die Kinder bestimmt nach New York zurück und sie musste sich verantworten. Aber wenn das das Schlimmste war, okay. Wenigstens waren Sean und Louise jetzt erst mal sicher, bis Mel kommen und sie holen konnte.

Oh Gott, Mel. Audra hatte sie von unterwegs angerufen und gesagt, sie seien losgefahren, und Mel hatte daraufhin geschwiegen. Audra wusste, dass Mel ihr nur aus Höflichkeit angeboten hatte, in San Diego ihr Gast zu sein, aber nicht damit gerechnet hatte, dass sie das Angebot tatsächlich annehmen würde. Na wenn schon. Wenn Mel sie nicht haben wollte, hatte sie noch genug Geld für eine Woche in einem billigen Hotel. Und dann würde ihr schon etwas einfallen.

In einer letzten weit ausholenden Kurve erreichten sie eine Kuppe. Vor ihnen lag ein tiefes Becken mit ebenem Grund ähnlich dem Boden einer Pfanne. In der Mitte des Beckens eine Ansammlung von Häusern. Die Ausläufer der Berge im Hintergrund waren mit orangefarbenen und roten Narben bedeckt, künstlichen Formen, die man aus der Landschaft gegraben hatte. Whiteside steuerte den Wagen eine Folge von Serpentinen hinunter und Audra lehnte sich gegen die Tür, um nicht umzukippen. Durch das Fenster sah sie die ersten Häuser, aus Fertigteilen errichtete Baracken zwischen knorrigen und dürren Bäumen. Die Grundstücke waren mit Maschendraht eingezäunt, auf den Dächern standen Satellitenschüsseln. Neben einigen Gebäuden parkten Pick-ups, an den Wänden lehnten Reifen und in den Vorgärten stapelten sich Autoteile.

Der sonnengebleichte Asphalt ging über in gestampften Erdboden und die Straße begradigte sich. Der Wagen ruckelte und klapperte. Sie fuhren jetzt an den Häusern vorbei, die Audra zuvor von oben gesehen hatte. Von Nahem sah man den Verfall deutlicher. Einige Besitzer hatten ihre Häuser zwar nach Kräften mit bunter Farbe und Windspielen aufgefrischt, vor allem die Häuser, in deren Vorgärten ein Schild mit der Aufschrift »Zu Verkaufen« stand, aber Audra spürte die Aussichtslosigkeit dieser Bemühungen durch die Fensterscheibe hindurch.

Sie erkannte Armut sofort, denn sie war selbst nur eine Generation davon entfernt. Ihre Großeltern mütterlicherseits hatten zwar nicht in der grellen Wüste gelebt, sondern unter dem grauen Himmel des ländlichen Pennsylvania, aber die Randgebiete ihrer aufgrund des Niedergangs der Stahlindustrie sterbenden Stadt waren ähnlich heruntergekommen. Wenn sie gelegentlich von New York dorthin gefahren waren, hatte Audra auf einer rostigen Schaukel im Garten gespielt, während ihre Mutter die Großeltern besuchte. Ihr Großvater war schon seit Jahren arbeitslos