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Eine lehrreiche und unterhaltsame Sammlung über Themen, die auch heute noch im Fokus stehen. In ihren Kurzgeschichten erzählt Else Ury über das Leben junger Mädchen vor und während der Kriegszeit. Obgleich sie den Heldenmut eines kleinen Mädchens in Österreich beschreibt oder auf lliebevolle und doch direkte Art und Weise Nächstenliebe und Bescheidenheit lehrt, Else Ury bringt in ihrem Werk Werte der Rechtschaffenheit und weitere Tugenden geschickt verpackt auf den Punkt. Egal ob "Eva das Kriegskind", "Jungfer Fürwitz" oder "Kornblumentag" mit ihrer vielseitigen Darstellung der gesellschaftlichen Gegebenheiten fasziniert Ury Jung und Alt.-
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Seitenzahl: 276
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Else Ury
Erzählungen für Mädchen von 8-12 Jahren
Saga
Lotte Naseweis und andere Schulmädelgeschichten
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1917, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726884470
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Es herrschte heute merkwürdige Ruhe in der IV O. Die lustigen Plappermäulchen wagten nur im Flüsterton zueinander zu sprechen, die übermütigen Blau- und Braunaugen blickten in scheuer Ehrfurcht umher.
Solch ein erster Tag in einer neuen Klasse hat immer etwas Beklemmendes für die jungen Herzen. Der ungewohnte Raum, der sogar schon einen physikalischen Schrank enthielt, wirkte ganz unbedingt feierlich. Jedes der etwa zwölfjährigen Mädchen fühlte die Verpflichtung, die Würde der höheren Klasse durch möglichst gesetztes Wesen zur Schau zu tragen.
Und das war noch nicht einmal alles, die neue Klasse! Auch einen funkelnagelneuen Lehrer erwartete man, der bisher an einem Knabenrealgymnasium unterrichtet hatte, und dem allerlei aufregende Gerüchte voranliefen.
»Mächtig streng soll er sein, Abgucken beim Extemporale gibt's nicht, sagt mein Bruder, und wen er auch nur ein einziges Mal beim Sprechen ertappt, dem verdirbt er ohne Gnade die Zensur im Betragen!« Die braunzöpfige Lotte Martin, die Zweite der Klasse, rief es im schönsten Hamburger Dialekt. In die Flüsterstille hinein klangen ihre Lauten Worte besonders inhaltsschwer.
»Na, dann nimm du dich nur zu allererst in acht, Lotte, daß dir der Mund nicht in den S–tunden bei ihm vorweg läuft«, sagte ihre Intima Erna, die die Schwäche der Freundin am besten kannte, mit leisem Übermut.
»Pah – ich habe nicht soviel Angst vor Doktor Matz. Das Mätzchen wird mir schon nichts tun, er kennt ja meinen Bruder Wolfgang!« erwiderte Lotte lachend.
»Ich freue mich, auch gleich die Schwester richtig kennen zu lernen!« erklang da eine ernste Männerstimme. Im Türrahmen stand der neue Lehrer und blickte durch seine Brillengläser unzufrieden auf das vorlaute Mädchen.
Gittigitt – hatte er gehört, daß sie ihn »Mätzchen« titulierte? Na, dann konnte sie sich schon heute auf ihre nächste Zensur freuen! Lotte steckte entsetzt das Näschen in das vor ihr liegende Buch.
Inzwischen war Doktor Matz zum Katheder getreten. Sein Blick überflog prüfend die erschreckten Mädchengesichter.
»Ich hoffe, daß ihr euch Mühe geben werdet, den wenig netten Willkomm eures Kameraden durch Fleiß und Aufmerksamkeit wieder wettzumachen!« sagte er mahnend.
In den jungen Gesichtern begann es verräterisch zu zucken. Der »Kamerad« aber mußte sogar sein Taschentuch aus der Tasche ziehen und es gegen den Mund pressen, sonst wäre er unfehlbar vor Lachen losgeplatzt.
»Es ist kein strammer Zug in der Klasse – Vordermann nehmen – Aufgabenbücher heraus – Stundenplan notieren!«
Doktor Matz sah mit Erstaunen, daß die meisten der jungen Mädchen vergebliche Anstrengungen gegen ihre rebellischen Lachmuskeln machten. Es war wohl doch nicht so leicht, Mädchen zu unterrichten! Diese albernen Dinger grinsten ja über jedes Wort, das man sprach. Doktor Matz dachte nicht daran, daß seine an die Knabenschule erinnernde Ausdrucksweise für eine ausgelassene Mädchenschar genügend Anlaß zur Heiterkeit gab.
»Wie heißt der Primus?« Doktor Matz wandte sich der Ersten zu.
Diese, ein blasses, blondes Mädchen, das keine Brüder hatte, sah den Lehrer mit verständnislosen Augen an. Sie hatte keine Ahnung, daß sie selbst damit gemeint war. Lotte Martin aber, die Zweite, stolz darüber, mehr zu wissen als die Erste, sprang von ihrem Platz. Die Scharte von vorhin, die Mahnung ihrer Freundin Erna, alles war vergessen. Das Mündchen lief mit ihr davon.
»Trude Anders heißt sie«, rief Lotte, ohne gefragt zu sein.
»Braucht denn der Primus einen Vormund, hier scheinen ja ganz merkwürdige Sitten eingerissen zu sein, deinen Namen –«
»Lotte«, kam es ziemlich kleinlaut vom zweiten Platz.
»Lotte – Lotte – wir sind hier doch nicht in der Kleinkinderschule! Deinen Vatersnamen will ich jetzt nicht mehr wissen, für mich heißt du Lotte Naseweis!«
Schallendes Gelächter ringsum in der Klasse. Aber Doktor Matz sah nicht danach aus, als ob er einen Witz hätte machen wollen, es schien ihm mit seiner Bezeichnung vollständig ernst zu sein. Da verstummte das Lachen. Mitleidig blickten alle zu der armen Lotte hin, denn diese war trotz ihres losen Mündchens allgemein beliebt.
Lotte hatte ihr Taschentuch wieder hervorgezogen. Aber diesmal versteckte sich kein lachendes Mädchengesicht dahinter, sondern ein bitterlich weinendes. Soviel die neben ihr sitzende Erna auch heimlich tröstete: »Nimm dir's doch nicht so zu Herzen, Lotte, er hat doch wohl nur Spaß gemacht«, die Tränenströme aus den sonst so lustigen Braunaugen versiegten nicht.
Die Stunde nahm inzwischen ihren Fortgang. Es war Geographie. Doktor Matz wiederholte vorläufig, um sich erst ein Bild von dem Wissen seiner Klasse zu machen. Das war ein frischfröhliches Fragen und Antworten. Das ging Schlag auf Schlag, daß manch einer ganz wirbelig davon im Kopfe wurde, besonders den weniger Wissenden. Jetzt Deutschland, nun Vereinigte Staaten, mit einem Satz in die afrikanische Wüste und – hopp – jetzt setzte man über die chinesische Mauer.
Die Mädchenaugen blitzten, die Wangen glühten.
»Hauptstadt von Portugal?«
Dreißig Zeigefinger durchbohrten die Luft.
»Lotte Naseweis«, der neue Lehrer wandte sich der völlig in ihren Schmerz Versunkenen zu. Die sprang erschreckt auf. Sie hatte bisher in ihrem Jammer kein Ohr für die Fragen von Doktor Matz gehabt, auch die jetzige hatte sie überhört.
»Lissabon«, flüsterte ihr Erna zu.
Aber Lotte blieb stumm. Sie war ein »Kröt«, wie der Hamburger zu sagen pflegt, auf den beleidigenden Namen antwortete sie nicht. Der Lehrer zog die Augenbrauen hoch.
»Jetzt wäre es an der Zeit, den Mund aufzumachen und zu reden, Lotte Naseweis – setzen!«
Nicht lange blieb ihr die Ruhe vergönnt. Immer wieder rief Doktor Matz sie auf, die Mädchen begannen sich schließlich an den Ehrentitel ihrer Mitschülerin zu gewöhnen, sie lächelten kaum noch. Lotte bequemte sich allmählich dazu, zu antworten. Sie war ehrgeizig und mochte es nicht auf sich sitzen lassen, daß der neue Lehrer annahm, sie schweige aus Unwissenheit. Aber als die Schulglocke endlich den Schluß der aufregenden Stunde angab, atmete sie doch erleichtert auf.
Es war entschieden ein Pechtag heute. Oder war die neue Klasse daran schuld? Auch in der darauffolgenden Handarbeitsstunde, in der Lotte ihrem Herzen und ihrem Mündchen über das ihr widerfahrene Unrecht Erna gegenüber freien Lauf ließ, wurde sie nach verschiedenen Ermahnungen auf eine leere Bank gesetzt, wo sich das Plappermäulchen beim besten Willen mit keiner Nachbarin mehr unterhalten konnte. Nach der Zwischenpause aber prangte an dem Strafplatz ein großes Plakat: »Lotte Naseweis' Ruh«. Soviel die empörte Lotte auch forschte, sie bekam es nicht heraus, wessen Bosheit ihr diesen Streich gespielt hatte.
Auch in den übrigen Stunden ging es ihr nicht so gut wie sonst. Sie war zerstreut und gab ein paarmal verkehrte Antworten. Die Klasse lachte, und die betreffende Lehrerin schüttelte den Kopf! Und an all dem war nur der neue Lehrer schuld! Während Erna ihn wie die meisten Mädchen »ganz furchtbar nett« fand, schwor Lotte ihm ewige Feindschaft.
Die Schule war aus. Arm in Arm zogen die Schülerinnen durch die Straßen Hamburgs, so langsam, in ihre wichtigen Schulgespräche vertieft, als ob der schönste Frühlingshimmel über ihnen blaute. Dabei jagten aus düsterem Gewölk große Schneeflocken durch die graue Luft. Aber hinter dem schwarzen Wolkenberg stand die Aprilsonne, jetzt steckte sie den Kopf hervor und lachte, im Umsehen waren die Straßen wieder trocken. Und mit ihr um die Wette lachte Lotte Naseweis. Wenn man zwölf Jahre alt ist, trocknen Tränen so schnell wie Aprilregen, eitel Sonnenschein strahlte wieder aus ihren Augen. Sie hatte ihr heutiges Mißgeschick bereits vergessen und war der Übermütigsten eine.
Vom Jungfernstieg aus benutzte sie in Gemeinschaft mit Erna und einigen Gefährtinnen das Schiff, das die an der Alster gelegenen Straßen miteinander verbindet. Ihr Vater, ein reicher Handelsherr, der dem Hamburger Senat angehörte, besaß eine an der Alster gelegene herrliche Villa.
Es war sehr stürmisch auf dem Schiff. Der Wind, der vom Meer her über die Türme Hamburgs brauste, riß an den blonden und braunen Zöpfen.
Erna war ein Seemannskind, sie ließ sich ganz gern eine kräftige Brise um das Näschen wehen. Lotte wollte nicht verweichlichter erscheinen als die Freundin, so hielt sie neben ihr auf Deck aus, während die übrigen Mädchen die schützende Kajüte aufsuchten.
»Was 'n richtiges Hamburger Küken ist, dem reißt das bißchen Wind keine Federn aus!« rief sie ausgelassen.
Das ließ sich der Wind nicht gefallen. Er hatte gerade so seinen Ehrgeiz wie die Lotte Naseweis. Mit rauher Hand griff er in Lottes schlecht geschlossene Mappe und – heidi – da wirbelte er die Schulhefte lustig über Bord.
»Gittigitt – meine Bücher!« rief Lotte entsetzt, während die Passagiere sich auf ihre Kosten belustigten.
»Da schwimmt nun die ganze Mädchenweisheit!« bemerkte lachend ein junger Herr.
»Seine Weisheit kann natürlich nicht fortschwimmen, da er gar keine besitzt!« sagte die frechdachsige Lotte zu Erna, aber laut genug, daß der Herr es hören konnte.
Erna legte ihr beschwichtigend die Hand auf den vorschnellen Mund.
»Es gibt auch Naseweisheit, kleines Fräulein!« Der fremde Herr wandte sich jetzt direkt an das sich so ungehörig benehmende Mädchen. Dieses errötete bis zu den krausen, braunen Stirnlöckchen.
Zum zweitenmal machte man ihr heute denselben Vorwurf, und diesmal hatten es all die Mitfahrenden gehört. Sie wollte künftig wirklich besser auf ihr lockeres, kleines Mundwerk achtgeben!
Recht kleinlaut durchschritt Lotte nach zärtlichem Abschied von Erna den väterlichen Garten. Der doppelte Tadel, der ihrem vorlauten Wesen heute zuteil geworden, dazu die entwischten Schulhefte, die jetzt lustig auf der Alster umhersegelten, waren schuld an ihrem ungewöhnlichen Ernst.
Die Mutter sah sie vom Wintergarten her kommen. Sie merkte gleich, daß da nicht alles in Ordnung war. Sonst pflegte ihre Lotte im Hopsaschritt den nach englischem Muster gehaltenen Rasenteppich einfach zu überqueren; heute ging sie sittsam den Kiesweg entlang.
Aber die Mutter fragte nicht. Sie war gewöhnt, daß ihr Kind mit allem, was es bedrückte, zu ihr kam. Doch Lotte schwieg heute. Nein, das konnte sie Muttchen unmöglich erzählen, die Beschämung war zu groß!
Bruder Wolfgang, der Sekundaner, mit dem Lotte gemeinsam das Frühstück einnahm – man speiste erst um sechs Uhr zu Mittag – war weniger zartfühlend als die Mutter.
»Na, wie war's bei Doktor Matz, hast du deine erste Standpauke schon von ihm fort?« eröffnete er das Gespräch.
»Quatsch!« sagte Lotte, wurde rot und stopfte ein großes Stück Heilbutt in den Mund.
»Was hat er denn gesagt, als er deinen Namen hörte? Er mochte mich immer leiden.« Wolfgang, der ein begabter Schüler war, hatte natürlich Interesse für den einstigen Lehrer. Aber Lotte, die wieder an den Beinamen, den ihr Doktor Matz gegeben hatte, erinnert wurde, faßte des Bruders harmlose Worte als Spott auf.
»Das geht dich nichts an!« brummte sie.
»Nanu – so ungnädig, da steckt doch sicher was dahinter, das muß ich ganz bestimmt herauskriegen!« neckte der große Bruder.
»Untersteh dich!« Lotte sprang so jäh auf, daß der Stuhl mit lautem Knall umfiel.
»Kind, nicht so ungestüm!« mahnte die Frau Senator.
»Er fängt immer an, er hat immer einen großen Mund –«
»Na, ich möchte mal sehen, wer von uns beiden den größeren hat, du bist doch bekannt wegen deiner Großmäuligkeit!«
Das ließ sich nun wieder die Lotte nicht sagen, nein, das nicht, und heute am allerwenigsten!
»Oller dämlicher Jung!« damit lief sie aus der Tür.
Kopfschüttelnd sah die Mutter hinter ihrem ungezogenen Töchterchen her.
»Was 'n naseweises Üz!« Mit tiefem Seufzer machte sich Wolfgang an das Vertilgen der von seiner Schwester im Stich gelassenen roten Grütze.
Ja, es war ein Unglückstag für Lotte. Nun hatte sie sich auch noch mit Wolfgang, mit dem sie sonst ein Herz und eine Seele war, gezankt. Das Taschengeld bekam heute auch einen tüchtigen Riß, denn die davongeflogenen Schulhefte mußte sie aus eigenen Mitteln ersetzen. Der ordnungsliebende Vater, der auch von seinen Kindern bei allem, was sie taten, Gründlichkeit und geordnetes Wesen verlangte, machte ihr noch Vorwürfe wegen der ungenügend verschlossenen Mappe.
In einem kleinen Buchbinderladen besorgte Lotte ihre Einkäufe. Der Geschäftsinhaber bediente sie selbst.
»Was willst du außerdem noch haben. Kleine?« fragte er.
Lotte stieg das Blut zu Kopf. Ihre Freundin Erna, die allerdings einen halben Kopf größer war als sie, wurde bereits in allen Geschäften »Sie« und »Fräulein« angeredet. Und sie wagte man »Kleine« zu nennen!
»Ich bin weder ›kleine‹ noch ›Du‹ für Sie, wenn Sie alle Kunden so unwürdig behandeln wie mich, wundert es mich nicht, daß Sie so wenig zu tun haben!« rief's und lief davon, die bereits gekauften Hefte im Stiche lassend.
Draußen aber in der scharfen Aprilluft, die ihr erhitztes Gesicht kühlte, begann das naseweise Mädchen sich grenzenlos zu schämen. Nicht nur ihrer ungehörigen Worte wegen, nein, sie hatte dem armen Buchbinder, der sich redlich mühte, um seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, in häßlicher Weise wehgetan. Das bereute sie jetzt sehr, denn Lotte war zwar naseweis, aber schlecht von Herzen war sie nicht.
Sie stand da und kämpfte. Und dann ging sie langsam, Schritt für Schritt, wieder zu dem kleinen, stillen Laden zurück. Jetzt stand sie unschlüssig vor dem Schaufenster, jetzt hatte sie bereits die Hand auf die Klinke gelegt – sollte sie nicht noch umkehren? Da aber gab die Türklingel schon einen schrillen Ton von sich, sie hatte geöffnet. Der Mann stand noch immer hinter dem Ladentisch und schaute das zurückkehrende Mädchen, wie es diesem schien, aus traurigen Augen an.
»Ich vergaß meine Hefte mitzunehmen,« stotterte Lotte, »und – bitte – entschuldigen Sie meine ungezogenen Worte vorhin!« setzte sie voll grenzenloser Selbstüberwindung hinzu.
»Es war wohl nicht böse gemeint, Fräulein«, sagte der Mann freundlich und legte noch eine bunte Oblate als Zugabe zu den gekauften Heften. Aber weder diese, noch das glücklich erreichte »Fräulein« machte Lotte heute Freude. Trotzdem sie sich entschuldigt hatte, wollte der Druck, den ein begangenes Unrecht auf uns ausübt, nicht von ihrer Seele weichen. Da konnte nur eine helfen, das war Muttchen. In der Dämmerstunde zog Lotte ihre Mutter in die Ecke am Kamin, der trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit noch geheizt wurde.
Das war Lottes Beichtwinkel.
Das Kaminfeuer knisterte und prasselte, und Lotte erzählte. Sie berichtete alles. Von Doktor Matz' Beinamen an bis zu der Buchbindergeschichte. Da wurde Mutters Gesicht ernst und ernster.
»Da du dein Unrecht selbst eingesehen und es wenigstens zum Teil gutzumachen versucht hast, will ich mir meine Vorwürfe sparen. Du weißt, daß wir auch daheim, der Vater sowohl als ich, ja auch die Dienstboten, über dein schnabberiges Wesen klagen. Nun musst du den Namen, den man dir mit Recht angehängt hat, auch tragen«, sagte sie. »Jedenfalls gehört es sich aber, daß du dich morgen bei Herrn Doktor Matz wegen deines vorlauten Benehmens entschuldigst!«
Lotte zerfloß in Tränen und gelobte Besserung. Sie wollte von nun an aber auch ganz gewiß ihre Zunge im Zaume halten. Zuerst aber versöhnte sie sich mit Wolfgang. Stillschweigend und ein wenig beschämt streckte sie ihm beim Gutenachtsagen die Hand hin.
»Na, ausgebockt, du Gör?« fragte der scherzhaft.
Schon sprang es Lotte auf die Lippen, zu erwidern: »Du bist ja selbst noch ein halbes Gör!« aber sie dachte noch rechtzeitig daran, daß dies wieder keine nette Bemerkung sei. So nickte sie nur mit dem Kopf, und der Frieden war geschlossen.
Aber die Entschuldigung bei Doktor Matz wollte ihr durchaus nicht über die Lippen. Eine ganze Woche dauerte es, bis sie sich dazu durchgekämpft hatte. Jedesmal, wenn der Lehrer sie in der Stunde wieder »Lotte Naseweis« aufrief, rebellierte es aufs neue in ihr. Nein, den, der sie vor allen lächerlich gemacht hatte, bat sie nicht um Verzeihung.
Da geschah es, daß der Lehrer, der streng aber gerecht war und sich daher bald allgemeiner Beliebtheit in der Klasse erfreute, andere Saiten gegen Lotte aufzog. Bis jetzt hatte er immer noch geglaubt, sie würde sich bei ihm entschuldigen, aber als Tag für Tag verstrich, ohne daß sie ein entsprechendes Wort fand, begann er über sie hinwegzusehen. Er rief sie gar nicht mehr auf, auch mit dem verhaßten Namen nicht. Ob ihr Zeigefinger noch so eifrig in der Luft herumfuchtelte, Doktor Matz nahm keine Notiz davon. Ja, er sagte sogar, wenn sie als einzige sich meldete: »Also keine in der ganzen Klasse, die meine Frage beantworten kann?«
Das war niederschmetternd, das kränkte Lotte mehr als alles andere, denn sie liebte es, die Schulkameradinnen ein wenig mit ihrem Mehrwissen zu übertrumpfen. Einmal hatte sie sogar wieder, ohne gefragt zu sein, die richtige Antwort durch die Klasse gerufen, aber Doktor Matz tat, als ob ihre Worte gar nicht sein Ohr erreicht hätten. Da sah Lotte ein, daß sie mit Verstocktheit nichts ausrichtete. Es half nichts, sie mußte zu Kreuze kriechen.
Als Doktor Matz wieder während einer höchst interessanten Geschichtsstunde, wo sie ganz besonders gut beschlagen war, ihre erhobene Hand völlig übersehen hatte, trat Lotte nach Schluß des Unterrichts zum Katheder.
»Ich wollte Sie bitten, Herr Doktor, mich wieder aufzurufen,« bat sie bescheidener, als es sonst ihre Art war, »wenn auch nur Lotte Naseweis.«
Sie sah dabei zu Boden und bemerkte deshalb nicht, daß ein leises Lächeln über die ernsten Züge des Lehrers huschte. Das kleine, naseweise Ding wollte er schon ändern, hatte er doch so manchen dickköpfigen Jungen gefügig gemacht.
»Weiter hast du mir nichts zu sagen?« fragte er mit gewohnter Strenge.
»Verzeihen Sie mir bitte –« Lotte stieß es Wort für Wort heraus, sie schluckte an jedem einzelnen wie an einer bitteren Pille.
»Was soll ich dir verzeihen?« So leichten Kaufes kam sie nicht davon.
»Daß – daß ich naseweis gewesen bin.« Sie atmete erleichtert auf.
Nein, es kam noch schlimmer.
»Inwiefern bist du naseweis gewesen?«
Himmel, das wußte doch Doktor Matz genau so gut wie sie selbst, wozu quälte er sie so?
Fast hätte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen, aber zum Glück schluckte Lotte Naseweis sie noch rechtzeitig hinunter.
»Ich – ich habe gesprochen, als ich nicht gefragt war –«
»Und?« fragte der Lehrer weiter.
»Ich –« nein, das war doch unmöglich, daß sie ihm auch das noch sagte!
»Na und?« fragte Doktor Matz unentwegt.
»Ich – ich habe Ihren Namen in Mätzchen verwandelt!« stieß Lotte plötzlich schluchzend hervor und verbarg das Gesicht in den Händen. Daher entging es ihr, wie es bei ihren Worten wieder um die Lippen des gestrengen Lehrers zuckte.
»Tut es dir gar nicht leid, so von deinem Lehrer gesprochen zu haben?« fragte der Ordinarius nach einer Pause weiter.
Lotte nickte unter Tränen. Sprechen konnte sie nicht, das Schluchzen schüttelte sie förmlich.
»Sorge dafür, daß ich eine bessere Meinung von dir bekomme und den Beinamen ›Lotte Naseweis‹, wie all das andere Ungehörige, was du mir soeben gestanden hast, vergessen lerne! Und denke daran, daß das bescheidene Veilchen herrlicher duftet als die aufdringliche Tubarose!« Damit war sie endlich entlassen.
Selbst ihrer Intima Erna vermochte Lotte zuerst nicht von dem peinlichen Verhör, dem Doktor Matz sie unterzogen hatte, zu berichten. Sie schämte sich zu sehr, auch nachträglich noch. Erst viel später erfuhr Erna in einer feierlichen Freundschaftsstunde davon.
Aber die bittere Medizin, die Doktor Matz ihr gereicht hatte, half. Lotte Naseweis begann, nicht immer erst nachher, wenn es zu spät war, zu überlegen, daß sie schon wieder etwas Vorlautes gesagt hatte, sondern sie dachte daran, ehe sie es aussprach. Da blieb so manches vorschnelle Wort ungesprochen.
Eines Tages erschien Lotte mit einem großen Strauß köstlicher Blauveilchen, die sie selbst im Garten gepflückt hatte, und legte sie vor des Ordinarius' Stunde auf das Katheder nieder.
»Von wem sind die herrlichen Veilchen?« fragte der eintretende Lehrer. Noch vor wenigen Wochen wäre Lotte aufgesprungen und hätte sich stolz gemeldet, heute schwieg sie bescheiden. Sie hatte es inzwischen gelernt. Aber die anderen riefen durcheinander: »Lotte Martin – von Lotte Martin.«
Freundlicher als all die Zeit bisher, wo er sie zwar wieder herangenommen, aber immer noch kurz gehalten hatte, wendete sich der Lehrer der Errötenden zu. Die Blumen, die er ihr als Vorbild gesetzt, sprachen statt ihrer, daß sie bemüht war, sich zu ändern.
»Du hast es gewiß gut gemeint, Kind, aber ich habe den Grundsatz, keine Blumen von Schülern anzunehmen. Bringe den duftenden Gruß dem armen, kleinen Mädchen unseres Schuldieners, das gelähmt auf seinem Schmerzenslager liegt und den goldenen Frühling nicht genießen kann. Dem wirst du sicherlich eine große Freude damit machen!«
Lotte sah dankbar zu dem Lehrer auf, der zum erstenmal freundlich mit ihr sprach.
Aber als sie erst das Glück des gelähmten Annchens beim Anblick der holden Frühlingsblumen sah, wuchs ihre Dankbarkeit noch. Kein Tag verging jetzt, an dem Lotte der armen, kleinen Kranken nicht ein paar Blüten aus ihrem Garten zutrug. Der Jubel der Kleinen über die wenigen Blumen zeigte ihr erst, was für ein glückliches Kind sie selbst war, daß sie auf ihren beiden gesunden Füßen herumspringen und sich des wonnigen Lenzes erfreuen konnte.
Auch in den übrigen Schulstunden bemerkte man mit Freude, daß die begabte Lotte Martin, die nur ihres vorlauten Wesens wegen nicht den ersten Platz innehatte, viel ruhiger und zurückhaltender geworden war.
Als der Schulrat eines Tages unangemeldet in Doktor Matz' Klasse während des Unterrichts eintrat, und sich jede Schülerin besondere Mühe gab, die Fragen des Lehrers zur Zufriedenheit zu beantworten, mußte Lotte wieder einmal ganz genau auf sich achtgeben, daß sie sich in keiner Weise vordrängte. Ihr Zeigefinger hatte Mühe, beim Melden in den bescheidenen Grenzen zu bleiben, besonders wenn irgendwo eine Antwort stockte. Aber sie bezwang sich. Doktor Matz nickte ihr, nachdem der Herr Schulrat das Klassenzimmer verlassen hatte, zufrieden zu, nicht, weil sie mit ihrem Wissen geglänzt, sondern weil sie gezeigt hatte, daß sie Bescheidenheit erlernt hatte. Nie war Lotte über ein Lob so erfreut, wie heute.
In der Alstervilla sahen die Eltern, Bruder Wolfgang und die Mädchen ebenfalls mit freudigem Staunen, welch eine günstige Wandlung mit ihrer Lotte vorgegangen war. Sie sprach nicht mehr, wenn die Eltern sich unterhielten, ungefragt hinein, sie hatte gegen Wolfgang keinen vorlauten Mund und war auch gegen die Mädchen, die sich öfters über ihre ungehörige Art und Weise beschwert hatten, höflich und bescheiden. Daß nur der Name »Lotte Naseweis« an der vorteilhaften Änderung schuld war, ahnte niemand, höchstens Freundin Erna.
Die sah, wie tief Lotte die Schmach gegangen war, als sie die Freundin einmal im gemeinsamen Kränzchen halb im Scherz, halb im Ernst ebenfalls mit jenem Namen zur Vernunft zu bringen suchte. Denn Lotte hatte auch den Kränzchenschwestern gegenüber einen vorlauten Mund. Sie wollte alles besser wissen als die andern, ihre Meinung sollte stets ausschlaggebend sein, bei jedem Spiel drängte sie sich vor. Da hatte Erna einmal bei einer derartigen Gelegenheit »Lotte Naseweis« zu ihr gesagt.
Die Wirkung dieser beiden Worte war eine unvorhergesehene. Lotte wurde zuerst rot, dann blaß, Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie griff nach ihrem Hut und eilte davon, lief aus dem Kränzchen fort, trotzdem die Freundinnen sie zurückzuhalten versuchten und Erna sie mit einem Kuß wieder versöhnen wollte.
Und nun war sie mit Erna böse – zum erstenmal in ihrem Leben! Sie litt selbst am meisten darunter, doch ihr gekränkter Stolz ließ sie nicht das erste Wort zur Versöhnung finden. Aber als Tag um Tag verging, ohne daß Erna wie sonst den Arm zur Frühstückspause um ihre Schulter schlang, begann Lotte über die Sache noch einmal nachzusinnen. Und da konnte sie, wenn sie ganz ehrlich sein wollte, nicht umhin, sich einzugestehen, daß die Freundin mit ihrer Bezeichnung durchaus recht gehabt hatte. Sie hatte den häßlichen Namen wieder einmal verdient. Lotte sah ihr Unrecht ein. Ehe es ihr wieder leid wurde, streckte sie Erna in der Turnstunde beim Rundlauf heimlich die Hand zur Versöhnung hin, die diese erfreut drückte. Und dann flogen die beiden Freundinnen, sehr erleichtert, im Kreise umher.
Aber das Vorkommnis hatte doch einen bleibenden Wert. Lotte begann jetzt auch den Schulkameradinnen und Kränzchenschwestern gegenüber mehr auf sich zu achten. Und da sah sie manchmal, daß sie noch weit davon entfernt war, ein bescheidenes Veilchen zu sein. Aber wer den festen Willen hat, sich zu bessern, dem gelingt es auch! Sie bezwang sich tapfer, auch unter den Kameradinnen nicht das große Wort zu führen und wurde mit der Zeit ein liebes, bescheidenes Mädchen.
Oktober gab es die ersten Zeugnisse bei Doktor Matz.
Lotte, die sonst stets siegesgewiß dem Zensurentag entgegengeschaut hatte, bangte diesmal ein wenig davor. Ob Doktor Matz den wenig günstigen Eindruck, den er bei fernem Antritt von ihr empfangen, wohl inzwischen vergessen hatte?
Da nahm der Lehrer das erste der weißen Blätter, die so manches Kinderherz ängstlicher schlagen lassen, zur Hand.
»Primus wird diesmal Lotte Martin. Ich freue mich, dir heute sagen zu können, daß ich mit deinen Leistungen, mehr aber noch mit deinem Verhalten zufrieden bin!« Er überreichte ihr mit anerkennendem Lächeln die tadellose Zensur.
Die Mittagssonne blinzelte durch die Tüllvorhänge des breiten Fensters in ein gemütliches Berliner Zimmer hinein. Dort pflegte es stets lustig zuzugehen. Denn drei Blondköpfe sorgten für lebhafte Unterhaltung an dem runden Eßtisch: der langaufgeschossene Sekundaner Herbert, die zwölfjährige Annie, mit dem heimlichen Schalk in den Braunaugen, und Klein-Edith, das siebenjährige Nesthäkchen der Familie. Freilich, seitdem der Vater seine Uniform hervorgesucht hatte und ins Feld gezogen war, ging es nicht ganz so lustig mehr wie früher zu.
Der Ernst der Zeit warf einen Schatten auch über die sorglosen Kinder. Herbert war schon reif genug, um die gewaltige Größe des um sein Dasein kämpfenden deutschen Volkes zu verstehen, und widmete seine Kräfte dem Vaterlande als Pfadfinder. Annies Vaterlandspflichten dagegen verkörperte ein grauer Strickstrumpf, der durchaus nicht wachsen wollte.
Die durch die Vorhänge lugende Sonne streichelte warm und zärtlich mit ihren Strahlenfingern die eifrig über die Teller geneigten Blondköpfe. Würmer und zärtlicher noch aber war der Mutterblick, der die drei blühenden Kinder umfaßte. Wie sie es sich schmecken ließen! Von dem schmausenden Kleeblatt glitt ihr Blick zu der blitzenden Schüssel, in welcher das Gemüse trotz aller Kraftanstrengung der Jugend noch immer kein Ende nahm. Unwillkürlich mußte Frau Professor Trendler an so manches schmächtige Kindergesicht denken, das ihr in diesen Tagen begegnet war.
»Bei uns könnte gut noch eins satt werden,« sagte sie nachdenklich, »ich habe große Lust, mir ein Kriegskind zum Mittagbrot ins Haus zu laden. Auguste kocht stets so reichlich, daß für so ein armes Kleines noch etwas abfällt.«
Die Kinder waren sofort Feuer und Flamme für Mutters Vorschlag. Die Jugend gibt und hilft gern, und außerdem reizt das Neue.
»Fein, Muttchen – fein – neben mir soll es sitzen.« – »Mir brauchst du dann bloß noch die Hälfte meines sonstigen Mittagbrots zu geben.« So ging es über den Eßtisch hin und her, und das Kriegskind bildete mit einem Male den Mittelpunkt der lebhaften Kinderunterhaltung.
In diesem Augenblick riß ein doppeltes Klingelzeichen, das gerade in die »gesegnete Mahlzeit« hineinschrillte, die Kinder aus ihrer Begeisterung.
»Tante Asta – das ist bestimmt Tante Asta!« Wie der Wind war das Nesthäkchen zur Tür hinaus, um der Lieblingstante zu öffnen.
Tante Asta Frenzen bewohnte in demselben Hause die andere Hälfte des gleichen Stockwerks. Für die Kinder war es jedesmal ein Fest, wenn das doppelte Klingelzeichen erschallte. Nach dem frühen Tode ihres Gatten hatte Tante Asta sich fest an die Familie ihrer Schwester angeschlossen; Theo, ihr einziger Sohn, war mit den Professorkindern zusammen aufgewachsen. Trotzdem er über zwei Jahre älter war als Herbert, verband die beiden eine feste Jungenfreundschaft.
Tante Asta war noch immer, obgleich sie schon Ausgangs der Dreißiger sein mochte, eine jugendlich schöne Erscheinung.
Ihr sonst blasses Gesicht war heute lebhaft gerötet. Kaum vermochte sie ihrer Erregung Herr zu werden. War etwas mit Vetter Theo vorgefallen? Als richtige kleine Evastochter ließ Annie ihre neugierigen Augen von der erregten Tante flugs zu dem ihr auf dem Fuß folgenden Vetter gleiten. Und was sie hier sah, bestärkte das Schlauköpfchen in der Annahme, daß es da etwas gegeben haben müsse.
Theos frisches Jungengesicht war rot wie ein Krebs. Bald fuhr er sich mit der Rechten durch das dichte Haar, bald zupfte er mit der Linken an den paar winzigen Blondhärchen, die man allenfalls durch die Lupe gesehen als künftiges Bärtchen bezeichnen konnte. Was mochte der große Theo nur angestellt haben?
Frau Professor, selbst heftig erschrocken beim Anblick ihrer Schwester, hatte inzwischen besänftigend die Hand auf die Schulter der Erregten gelegt.
»Asta, liebes Herz, was ist geschehen – was bringt dich so außer Fassung?« fragte sie mit bebender Stimme.
Statt jeder Antwort schlug Tante Asta beide Hände vor das Gesicht.
Da wandte sich Frau Professor Trendler in jähem Entsetzen an den Neffen.
»Theo – was ist? Habt ihr eine Nachricht von meinem Mann erhalten? Ist Onkel Georg – – –?«
»Nein – nein, keine Sorge, Tante Emmi«, unterbrach der Oberprimaner beruhigend die angstvolle Frage. »Es handelt sich lediglich um mich. Meine Wenigkeit hat Mutter in solche Aufregung versetzt und diesen Aufruhr in unser friedliches Familienleben gebracht.«
»Er will fort, in den Krieg will er! Zur Notprüfung hat er sich heute gemeldet, und dann will er sich sogleich als Freiwilliger stellen. Mein Junge, das einzige, was mir noch geblieben ist, das einzige, wofür ich noch gelebt habe! Ach, womit habe ich solchen Undank verdient!« Frau Astas Schultern bebten in verhaltenem Schluchzen.
»Wenn du doch nur glauben wolltest, daß es kein Undank von mir ist, Mutter! Daß ich die zwingende Notwendigkeit in mir fühle, meine Kraft und mein Leben für das Vaterland einzusetzen. Deutschland braucht junge Kräfte. Es ist ringsum von Feinden umgeben, da ist es die Pflicht eines jeden gesunden Menschen, die heimatliche Erde mit dem letzten Blutstropfen zu verteidigen. Hilf du mir doch, Mutter zu überzeugen.« Bittend ergriff der Jüngling beide Hände der Tante.
Liebevoll strich Frau Professor Trendler über das Haar der jüngeren Schwester. Ihre Stimme klang weich und mild.
»Dein Junge hat recht, Asta, es ist die Pflicht, die ihn hinausruft, Mutterliebe darf ihn nicht davon zurückhalten. Denke an die Tausende und aber Tausende von Müttern, die ihre Söhne in den Kampf ziehen ließen! Denke an unsere Kaiserin, die als leuchtendes Vorbild einer deutschen Frau selbst sechs Söhne hinaussandte, um den Sieg zu erkämpfen. Und habe ich nicht auch mein Liebstes fortgeben müssen, den Vater meiner Kinder? Gott allein weiß, ob er uns heimkehren wird –« Die Stimme wollte der tapferen Frau nicht weiter gehorchen.
»Dir ist noch viel geblieben, Emmi.« Tante Asta wies auf die mit erregten Mienen lauschenden Kinder. »Aber mir – der Junge ist mein ein und alles, wenn er von mir geht, bin ich ganz verlassen.«
»Nimm dir doch ein Kriegskind, Tante Asta!« Ein helles Kinderstimmchen rief es in die schwüle Pause hinein, die den Worten der Tante gefolgt war. »Dann bist du nicht so allein.« Klein-Edith schmiegte den Blondkopf zärtlich an die Schulter der Tante.
»Wen? – was? – ein Kriegskind? – –« Tante Asta sah fragend von der Kleinen zu deren Mutter.
»Ich hatte den Kindern soeben meine Absicht ausgesprochen, ein Kriegskind ins Haus zu nehmen«, beeilte sich Frau Professor Trendler zu erklären, um ihre Schwester auf andere Gedanken zu bringen. »Dieser Plan spukt wohl noch in Ediths Köpfchen.«
»Ein fremdes Kind? Ich weiß nicht, Emmi, ob du recht daran tust, überlege es dir noch reiflich, man kann nicht wissen, welchen Gefahren du deine eigenen Kinder durch den täglichen Umgang aussetzt«, meinte Tante Asta bedenklich.
»Ich glaube, daß es da keiner Überlegung bedarf. In Zeiten der Not soll das Herz und nicht der Verstand den Ausschlag geben«, entgegnete in entschiedenem Ton die Frau Professor.
»Wie du willst, Emmi. Aber das ist ja alles so gleichgültig dem einen, Furchtbaren gegenüber – –« Frau Asta hatte sich erhoben. Ihre weitgeöffneten Augen schienen die Wände des Zimmers zu durchdringen, es war, als ob sie die Schrecken des Krieges schaute.
»Nicht wahr, du wirst Theo deine Einwilligung nicht vorenthalten, Asta?« Auf den flehentlichen Blick des Neffen versuchte Frau Professor noch einmal ihren sich fast immer bewährenden Einfluß auf die jüngere Schwester.
Frau Asta fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte sie das geschaute Bild mit Gewalt fortdrängen. Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen.
»Es würde mir ja nichts nützen, wenn ich nein jagte. Ohne meine Einwilligung würde Theo zwar davon zurückstehen, aber er würde nicht nachlassen, mich zu bestürmen, täglich, stündlich, ich kenne doch meinen Jungen, bis ich schließlich mürbe geworden wäre. Dann schon lieber gleich. Und – und ich will auch nicht weniger opferfreudig sein als die anderen deutschen Mütter.« Leise, ganz leise klangen diese letzten Worte.
Die Kinder hatten sie gar nicht vernommen. Aber Frau Professor Trendler mußte sie wohl verstanden haben, denn sie drückte einen innigen Kuß auf die bleiche Wange der Schwester. »So ist's recht, meine Asta, dein Theo wird ja gesund wieder heimkehren!« flüsterte sie bewegt.
Lautes »Hurra« unterbrach das Zwiegespräch der beiden Damen. Theo hatte voll Glückseligkeit das, was ihm zunächst stand, Klein-Edith, ergriffen, und sprang nun unter hellem Jubelgeschrei, nicht wie ein künftiger Vaterlandsverteidiger, sondern wie ein ausgelassener Junge, mit dem kleinen Bäschen im Speisezimmer umher. Hatte er es nicht vorher gewußt? Drüben bei Tante Emmi kam alles wieder in Ordnung. Noch aus seiner Kinderzeit her wußte das Theo, wenn er einmal irgendeine Dummheit gemacht hatte.
Plötzlich fühlte sich der Glückliche fest am Arm gepackt und an weiteren Sprüngen und Jubelausbrüchen verhindert.
»Du – nimm mich mit – ich bin nur zwei Jahre jünger als du – ich kann ebensogut wie du gegen den Feind ziehen!«