Hänschen Tunichgut - Else Ury - E-Book

Hänschen Tunichgut E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Mädchen müssen immer still und brav sein? Das sieht Hanna Wallenberg anders! Die 14-jährige ist ein wahrer Wirbelwind und erlebt jede Menge Abenteuer und lustige Missgeschicke. Hannas eigensinnige Art lässt sie jedoch auch anecken – bei ihren Eltern und in der Schule, wo sie den Spitznamen "Hänschen Tunichgut" verpasst bekommt. Deshalb wird Hanna für ein Jahr in eine Pension im schlesischen Riesengebirge geschickt, um dort bessere Manieren und Etikette beigebracht zu bekommen. Kann sich Hänschen Tunichgut zu einer reifen jungen Frau entwickeln und gleichzeitig ihre lebensfrohe Art bewahren?-

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Else Ury

Hänschen Tunichgut

 

Saga

Hänschen Tunichgut

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1921, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726883749

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Erstes Kapitel Zu spät gekommen

»Hänschen, trinke deinen Kakao aus – ohne Frühstück wird nicht zur Schule gegangen, wenn es auch noch so spät ist. Erst kommt die Gesundheit –« so erklang die mahnende Stimme der Frau Regierungsrat Wallenberg aus dem Speisezimmer.

»Ach Muttchen, ich kann nichts dafür, wenn mich die Luise so spät weckt! Himmel – wo ist denn meine englische Grammatik – gestern abend lag sie bestimmt noch auf dem Pult ...« man hörte im Nebenzimmer erregtes Hin- und Herlaufen, Bücher wurden geschleudert, ein Stuhl flog um.

»Langsam – Kind – ruhig! In der Hast findest du gar nichts. Hetze dich bloß nicht so bei dem Suchen ab, Hänschen, sonst erkältest du dich wieder in der Morgenluft.« Voller Besorgnis trat die Mutter zur halboffenen Tür.

»Ein ordentlicher Mensch packt seine Siebensachen abends,« hörte Hänschen den am Frühstückstisch sitzenden Vater, unzufrieden über die Unruhe, äußern.

Helles Lachen antwortete.

»Ach, da ist es ja – das dumme Buch – liegt schon ganz gemütlich in der Mappe und meldet sich nicht.« Gleich darauf flog es wie ein Wirbelwind an der Mutter vorüber. Ein schlankes, etwa vierzehnjähriges Ding in der Matrosenbluse, bei dem man auf den ersten Blick nicht recht wußte, war es ein Junge oder ein Mädel. Kurzlockiges dunkles Haar, eine kecke Stubsnase in dem schmalen, ziemlich blassen Gesicht mit den brennendschwarzen Augen.

Dazu der Name Hänschen – nein, man konnte es den guten Potsdamern wirklich nicht verdenken, wenn sie die Tochter des seit kurzem erst in ihre Stadt versetzten Regierungsrats Wallenberg als »kleinen Zigeunerbub« bezeichneten.

Besagtes Hänschen, das eigentlich Hanna oder vielmehr Johanna hieß, goß in Hast den Kakao teils in die Kehle hinunter, zum Teil auf den braunen Flauschmantel.

»Hänschen, die Weckuhr – Sie wollten doch so jut sind und mich meine Weckuhr mit zum Uhrmacher nehmen; sagen Se man, det Nickel weckt dreiviertel auf kalte Erbsen.« Luise erschien auf der Bildfläche, die schuldige Ursache von all der Aufregung in der Hand.

»Nein, Luise, das geht aber jetzt wirklich nicht mehr,« ereiferte sich das Backfischchen, die schwarze Samtmütze über das widerspenstige Gelock stülpend.

»Ach, Hänschen, seien Se man nich so, was der Uhrmacher is, wohnt ja dichte neben Ihre Schule – – –«

»Na, meinetwegen, geben Sie her. Zu spät komme ich ja jetzt auf alle Fälle. Da spielen fünf Minuten mehr oder weniger schon keine Rolle mehr.« Gutmütig sperrte das junge Mädchen die Weckuhr in die Mappe. »Wenn wir nur nicht gerade bei der Schmidt die erste Stunde hätten! Die fällt wieder in Ohnmacht, wenn ich nach dem Läuten erscheine. Vorgestern wollte sie mich die ganze französische Stunde über draußen vor der Tür stehen lassen, weil ich mit ihr zugleich die Klasse betrat. Pah – hätt' sie's nur getan. Dann hätte ich wenigstens keine Vier beim Übersetzen bekommen. Auf Wiedersehen, Vati – auf Wiedersehen, Mutti – – –« lachend war der Unband zur Tür hinaus.

»Lauf' dich nicht ab, Hänschen – gehe erst mittags zum Uhrmacher heran« – – – Mutters zärtliche Stimme sowohl, wie die ernste des Vaters verhallte ungehört. Hänschen jagte bereits aus dem einstöckigen Haus, vorbei an den Steinputten, welche den Eingang bewachten.

Droben meinte der Vater mit gefurchter Stirn: »Es wird Zeit, daß unser Mädel in energischere Hände kommt, Hedwig. Du bist zu schwach gegen sie. Und ich werde durch meine berufliche Tätigkeit zu sehr in Anspruch genommen. Es ist schade um Hannas guten Kern.«

»Bloß keine Erzieherin ins Haus, Ludwig. Mit den alten setzt es ewigen Ärger, und den jungen tanzt Hänschen auf der Nase herum. Nein, nein, mit denen haben wir in Kiel genug durchgemacht.«

»So gib das Kind in Pension, Hedwig; das wäre für alle Teile das beste. Deine Nerven würden erstarken, wenn du nicht mehr die Unruhe, die Hanna stets um sich verbreitet, im Hause hast. Und das ständige Sorgen um die Gesundheit des Kindes ist dir gewiß nicht zuträglich, mein Herz.« Liebevoll ergriff der Regierungsrat die feingeäderte Hand seiner Gattin.

»Was, mein Hänschen soll ich auch noch fortgeben, wo ich schon drei meiner Lieblinge habe hingeben müssen? Das einzige, was mir der liebe Gott noch gelassen hat? Nein, das kann dein Ernst nicht sein, Ludwig!« Die zartnervige Frau brach in Tränen aus.

»Wie kann man sich nur über etwas, was noch gar nicht spruchreif ist, derart aufregen, Hedwig,« meinte der Gatte halb mitleidig, halb mißbilligend. »Es würde sich doch nur um eine Trennung von etwa einem Jahr handeln. Dem Kinde, das erst kürzlich so schwer an der Grippe erkrankt gewesen, würde solch ein Aufenthalt in gesunder Landluft auch körperlich sehr bekömmlich sein. Sanitätsrat Klöpfer hat neulich erst dazu geraten.« Regierungsrat Wallenberg erhob sich und griff nach seiner Aktenmappe. Auch für ihn schlug die Bureaustunde. »Mach' ein anderes Gesicht, Hedwig, vorläufig ist dein ›Hänschen‹ noch nicht im Exil.« Liebevoll küßte er seine Frau zum Abschied auf die Stirn.

Der Gegenstand der elterlichen Erörterungen jagte inzwischen durch die Straßen Potsdams. Vorüber an der »Bittstellerlinde« Friedrichs des Großen, deren kahle Zweige der Februarwind energisch zauste. Trapp – trapp – unbekümmert durch Pfützen und Regenlachen hindurch am Stadtschlosse vorüber, dessen steinerne Barockfiguren stumm und dumm herunterblickten.

»Die brauchen sich nicht die Puste auszurennen, die kriegen keinen Anschnauzer von der Schmidt,« dachte Hänschen neidvoll und raste weiter. Im Schnellzugstempo am Lustgarten, am Marstall vorüber – nun waren es nur noch sieben Minuten. Vielleicht konnte sie der Schmidt als Entschuldigung für das heutige, wiederholte Zuspätkommen sagen, daß sie unterwegs Stiche bekommen. Das war kein Schwindel, denn sie fühlte wirklich heftiges Stechen in der linken Seite. Vom Turm der Garnisonkirche erklang das Glockenspiel: »Üb' immer Treu und Redlichkeit«, das alle Stunde mit eherner Zunge einen Vers in das stille Potsdam hinaussang.

»Nein – nein,« Hänschen lauschte eine Sekunde atemschöpfend, das war nicht treu und redlich, wenn sie einen falschen Grund für ihr Versäumnis angab. Die Stiche hatte sie erst infolge ihres unvernünftigen Rennens bekommen. Zum Schwindeln war sie zu ehrlich und auch zu stolz. Sie schüttelte so energisch den Kopf, daß die braunen Locken flogen. Aber noch etwas flog – war es nun von der ungestümen Bewegung, oder war es eine Tücke des Windes – die schwarze Samtmütze flog plötzlich auf und davon, geradeswegs in den Kanal hinein, an dessen Ufer Hänschen entlang galoppierte.

»Meine Mütze – Hilfe – Hilfe – – –!« Das erschrockene Mädchen schrie wie am Spieß, denn die Samtmütze hatte die Mutter ihr erst vor drei Tagen gekauft, und sie sollte dieselbe eigentlich noch gar nicht für die Schule tragen.

Das Kanalufer, das wie ausgestorben dagelegen, belebte sich. Die verschlafenen Häuser wachten plötzlich auf. Fenster und Türen wurden aufgerissen. In Schürze und Pantoffeln stürzte es heraus.

»Um Himmels willen – ist jemand verunglückt? – – wo – wo – – –?« alles schrie aufgeregt durcheinander.

Auch aus den stillen Seitenstraßen eilte man neugierig und hilfsbereit herzu.

»Wo ist der Rettungsball – wo?« Ein vornehmer Herr drängte sich durch den dichten Menschenknäuel, der sich um Hänschen gebildet hatte.

»Der Herr Regierungspräsident,« flüsterte man hier und da respektvoll.

»Schnell den Rettungsball – da taucht der Verunglückte ja gerade wieder auf,« ordnete der Herr an, auf die gerade im Wasser wieder sichtbar werdende Samtmütze weisend.

Übermütiges Mädchenlachen antwortete, während einige dienstbereite Hände den Rettungsball losmachten.

»Ach, das ist ja zum Quieken!« – Hänschen konnte sich vor Lachen gar nicht beruhigen. »Der ›Verunglückte‹ ist ja bloß meine neue Samtmütze.« Ihr Lachen wirkte ansteckend. Die Menschenmenge brach in wieherndes Gelächter aus.

Der fremde Herr zwirbelte, etwas unangenehm berührt durch das Lachen, welches seinem Irrtum galt, den Schnurrbart.

»Nun – da braucht man doch nicht solch ein Hallo davon zu machen und einen Auflauf, als ob es sich um ein Menschenleben handele,« sagte er ziemlich ärgerlich. »Habe ich nicht recht, lieber Wallenberg?« Er wandte sich an einen Neuhinzutretenden.

»Gewiß, Herr Regierungspräsident,« dienerte dieser, ohne den Zusammenhang zu kennen. »Diese müßigen Gaffer machen von jeder Sache mehr Aufhebens, als es nötig – – –« da verstummte er jäh. Er hatte in der Menge sein Töchterchen mit windzerzausten Locken erblickt.

»Hanna, was hast du denn noch hier zu suchen, du mußt doch längst in der Schule sein?« wandte er sich in strengem Tone an das junge Mädchen.

»Es ist doch meine Mütze, die dort mit der langen Stange aus dem Kanal gefischt wird.« Hänschen kam sich als Heldin des Auflaufs ungeheuer stolz vor.

»Ach – Sie kennen die Kleine, Kollege?« meinte der Regierungspräsident, der seine gute Laune inzwischen wiedergefunden. »Na, warten Sie, kleines Fräulein, wenn Sie mich wieder auslachen werden!« Er drohte ihr neckend.

»Was hat meine Hanna sich erlaubt, Herr Regierungspräsident?« Hänschens Vater machte solch ein erschrecktes Gesicht, daß der Vorgesetzte ihn lächelnd beruhigte. »Ich bitte ergebenst um Entschuldigung für meine Tochter, aber sie hat nicht gewusst, mit wem sie die Ehre hatte, zu – – –«

»Beruhigen Sie sich doch, liebster Wallenberg. Die Sache hat ja absolut nichts auf sich – – brr – nun komm' ich wohl vom Regen unter die Traufe,« der Präsident schüttelte sich unter einem Sprühregen, den Hänschen von der glücklich wieder erwischten Mütze unbekümmert auf die Umstehenden abstäubte.

»Wie unser Pitt, wenn ich ihn mit der Gießkanne bespritze,« lachte das unverbesserliche Backfischchen den Herrn Regierungspräsidenten zum zweitenmal aus.

»Hanna, es ist die höchste Zeit, daß du zur Schule gehst,« schnitt der Vater, der wohl noch weitere Respektlosigkeiten fürchtete, ihr schnell das Wort ab.

Ein halbgehopster Knicks – »auf Wiedersehen, Vati,« Hänschen jagte mit der triefenden Mütze davon, zur großen Erleichterung ihres Vaters.

An dem Haus, vor dem sich der Vorfall abgespielt hatte, schloß sich klirrend ein Fenster. »Unerhört, wie sich dieser Grünschnabel soeben gegen den Herrn Regierungspräsident benommen hat!« Die Frau Oberstaatsanwalt droben schüttelte empört den Kopf mit den aufgewickelten Löckchen.

Der Zeiger der Garnisonkirchenuhr war inzwischen auf halb neun gerückt.

Als Hänschen das Schulhaus, das sich von den Barockhäusern der Nachbarschaft nur durch seine stattliche Breite unterschied, betrat, gähnte der fliesenbedeckte Hausflur in atembeklemmender Stille ihr entgegen. Ihre Schritte hallten auf den Steinen, als ob jeder einzelne gegen die Ruhestörung Anspruch erheben wollte. Während andere Zuspätkommende behutsam auf den Zehen einherzugehen pflegten, um die heilige Schulstille nicht zu unterbrechen, schlugen Hänschens Doppelsohlen ganz ungeniert klirrend auf die Steine.

Lohnte es denn überhaupt noch hereinzugehen? Die Stunde war ja sowieso bald vorüber. Präpariert war sie auch nicht besonders, vielleicht vermißte man sie gar nicht, und sie entging auf diese Weise der Strafpredigt der gefürchteten Schulvorsteherin. Hänschen stand in tiefem Sinnen vor der Tür der II O-Klasse. Sollte sie ... oder sollte sie nicht ...

Da – plötzlich ein Kitzeln in der Kehle, ein starker Hustenreiz, noch ein Überbleibsel der erst kürzlich überstandenen Grippe, der Mutter stets besorgt machte. So sehr Hänschen sich auch zusammennahm, die Stille ward plötzlich durch lauten Husten unterbrochen.

»Muß ich auch gerade wie Pitt hier vor der Tür losblaffen!« dachte das hustende Hänschen ergrimmt. »Nun naht sicher gleich das Verderben.«

Es nahte. In Gestalt einer sehr langen, sehr dünnen, schwarzgekleideten Dame. Unter dem glatten, grauen Scheitel blickten klare Augen durchdringend auf die vor der Tür Stehende.

»Sieh da, Johanna Wallenberg, hast du jetzt erst aus dem Bett gefunden?« Es klang sehr ernst. Trotzdem griente die Klasse, dankbar für jeden Witz, der die Einförmigkeit der Lektion unterbrach.

Hänschen konnte noch nicht antworten, puterrot von der Anstrengung des Hustens, schüttelte sie den Kopf und wies auf die triefende Mütze.

»Hast du etwa im Kanal gelegen?« Ein erschreckter Blick überflog Hänschens sonst ganz trockene Gestalt.

»Ich nicht – aber meine Mütze!«

Jetzt hielt die Klasse nicht mehr an sich. Sie brach in lautes, ordnungswidriges Gelächter aus.

»Ruhe!« gebot die Schulvorsteherin, im Augenblick wieder die gewohnte Stille herstellend.

»Es ist merkwürdig, Johanna Wallenberg, daß gerade dir immer absonderliche Sachen passieren. Setz' dich jetzt auf deinen Platz und hole dein Versäumnis durch Aufmerksamkeit und Fleiß nach.«

Gott sei's getrommelt und gepfiffen – die nasse Mütze hatte Hänschen vor einem Tadel im Klassenbuch gerettet.

Zweites Kapitel Wie Hänschen Tunichtgut ihren Namen erhielt

Es war in der englischen Lektürestunde.

Charlotte Menge leierte mit eintöniger Stimme: »Those evening bells – those evening bells ... «

»Dicke, hast du die Vokabeln rausgezogen?« wisperte Hänschen der Nachbarin zu. Sicher nahm Fräulein Schmidt sie jetzt zur Strafe für das Zuspätkommen heran. Sie hatte einen nachtragenden Charakter. Und Hänschen hatte gestern, anstatt zu präparieren, sich notwendig damit beschäftigen müssen, Pitt, dem klugen, weißen Pudel, auf seinen Hinterpfoten Kiebitzgang beizubringen.

Das kleine Vokabelheft wurde ihr bereitwillig von der »Dicken« zugeschoben, und Hänschen vertiefte sich mit lobenswertem Eifer in die »Abendglocken«. Da wurde sie rücksichtsloserweise in ihrem Fleiß gestört.

»Weiter – Johanna Wallenberg.«

Hänschen schnellte von ihrem Sitz. Das Vokabelheft der Dicken flog bei der jähen Bewegung unter den Tisch.

»Those evening bells – those evening bells,

How many a tale their music tells – – –«

begann sie mit stockender Stimme.

»Das haben wir soeben bereits genossen – du bist doch kein Wiederkäuer, Johanna. Den zweiten Vers von den Abendglocken!«

Ach, dem unvorbereiteten Hänschen klang es wie das Armesünderglöcklein. Sie begann zu stottern und dabei krampfhaft mit einem Auge auf den Fußboden zu schielen, wo das Vokabelheft der Dicken lag.

»Those joyous hours are passed away,

And many a heart, that than was gay,

Within the tomb now darkly dwells

And hears no more those evening bells –«

»Jammervoll gelesen, Johanna, ganz jammervoll! Those evening bells – das klingt wie Musik, da muß man den Glockenton daraus vernehmen. Noch einmal!«

Wieder begann Hänschen ihre Abendglocken und hatte nur den einen Wunsch, daß Frau Kurzmichel, die Schuldienerin, ein Einsehen haben und die Schulglocken statt der Abendglocken zum Stundenschluß läuten möchte.

Aber Frau Kurzmichel tat ihr diesen Gefallen nicht.

»Those evening bells « – Fräulein Schmidt versuchte allen Schmelz, alle Süße, deren ihre etwas heisere Stimme überhaupt fähig war, in jene Abendglocken zu legen.

»Fühlt ihr's nicht, wie die Glocken klingen und singen, hört ihr's nicht, den klagenden Ton – – –«

Ja, sie hörten es alle. Kein klagender, sondern ein schriller Ton – ein lautes Schnarren, heulendes Klingeln von Hänschens Platz her, als ob alle bösen Geister der Hölle plötzlich losgelassen wären.

»Feuer – Feuer – – –« schrie eine, es war Oberstaatsanwalts Agathe, und stürzte zur Tür.

»Feuer – – –« schrie die ganze Klasse in fürchterlicher Aufregung, während es immer weiter gellte und schnarrte. »Feuer – – –« eine allgemeine Panik brach aus, alles rannte hinter Oberstaatsanwalts Agathe drein.

Fräulein Schmidts Ruf: »Aber Kinder, was fällt euch denn ein?« verhallte ungehört. Da lief die Hirtin ebenfalls hinter ihrer Herde her.

Nur eine blieb in der Klasse zurück. Hänschen saß mitten in dem Aufruhr einsam auf ihrem Platz und lachte wie ein Kobold. In der Hand hielt sie Luisens Weckuhr, die noch immer ihre durchdringende Stimme ertönen ließ und den ganzen Tumult veranlaßt hatte. Zärtlich streichelte Hänschen die aus der Mappe hervorgezogene Uhr, die sie von den Qualen der Abendglocken erlöst hatte.

Da erschien die Schulvorsteherin wieder auf der Bildfläche, ihre aufgescheuchte Herde, die sie glücklich gesammelt, vor sich hertreibend.

»Schämt ihr euch denn gar nicht, Kinder, euch so ins Bockshorn jagen zu lassen,« rief sie mit empörter Stimme. »Aber die Sache wird untersucht und die Schuldige exemplarisch bestraft. Die Täterin melde sich selber.«

Neugierige und angstvolle Mädchenaugen ringsum. Aller Blicke wandten sich zu dem Platz, wo sich eine kleine, frostrote Hand, etwas Blinkendes zwischen den Fingern, in die Luft streckte.

»Eine Weckuhr – ach, bloß eine Weckuhr!« Die Klasse jubelte.

»Bloß eine Weckuhr – unerhört ist dieser Streich, eine Weckuhr mit in die Schule zu bringen. Natürlich Johanna Wallenberg – ich hatte schon richtig vermutet. Viel Gutes haben wir von dir noch nicht zu sehen bekommen, seitdem du unsere Schule besuchst. Aber ich werde die Eltern schriftlich davon in Kenntnis setzen, was für ein Tunichtgut ihre Tochter ist.« Fräulein Schmidts Stimme schnappte vor Erregung über.

»Ich kann doch nichts dafür, wenn die Weckuhr kaputt ist, und ich soll sie mit zum Uhrmacher nehmen, und es war heute morgen schon zu spät dazu,« verteidigte sich Hänschen trotzig.

»Ein Tunichtgut – ein richtiger Tunichtgut!« Fräulein Schmidt hörte ihre Einwendungen gar nicht, »Agathe, schnattere nicht wie eine Gans, einfältig wie eine solche hast du dich soeben benommen.« Jetzt bekam Oberstaatsanwalts Agathe, die ihrer Nachbarschaft gerade auseinandersetzte, daß das Feuerhorn auf dem Lande bei ihrem Onkel genau so geklungen hätte wie die Weckuhr, auch ihr Teil ab. Gut, daß Frau Kurzmichel endlich die Schulglocke in Bewegung setzte, sonst hätte noch manche daran glauben müssen. Mit der gestrengen Vorsteherin war heute nicht gut Kirschen essen.

»Hole dir den Brief an die Eltern nach Schulschluß aus meinem Zimmer ab, Johanna Wallenberg.« Damit rauschte Fräulein Schmidt zur Tür heraus.

»O weh, Hänschen, ein Brief von Fräulein Schmidt an die Eltern, das ist die schlimmste Strafe, die Fräulein Schmidt verhängt,« meinte die Dicke mitleidig.

»Ja, wenn du auch solchen Unfug machst und eine Weckuhr in die Schule mitbringst, kannst du dich nicht darüber wundern,« warf sich die Erste in die Brust. Sie sowohl, wie die meisten der II-O, glaubte nicht an Hänschens Unschuld. Kannten sie doch die Durchtriebenheit ihrer Schulkameradin nur zu gut.

»Wenn ihr mir nicht glauben wollt, dann laßt ihr es bleiben!« Hänschen zuckte gleichmütig die Achsel.

»Hänschen Tunichtgut ist so dickfällig, daß es ihr auch gleich ist, wenn sie aus unserer Schule rausfliegt,« sagte Agathe laut genug, daß Hänschen es hören musste.

»Einfältige Schnattergans!« Hänschen wandte ihr verächtlich den Rücken.

»Du, das verbitte ich mir – du, das sag' ich meinem Vater!« Rote Flecken brannten auf Agathes Wangen.

»Wenn du mich Hänschen Tunichtgut nennst, werde ich dich doch wohl auch mit deinem Ehrentitel rufen können, den du von Fräulein Schmidt soeben erhalten hast.« Jetzt hatte Hänschen die Lacher auf ihrer Seite.

»Komm, Hänschen, ich glaube dir, daß du die Weckuhr nicht aus Ulk mit in die Schule gebracht hast.« Lore Schwarz, eine helle Blondine, schlang den Arm um Hänschens Schulter. Ach, das tat wohl, daß wenigstens die Lore, ihre »Beste«, an sie glaubte. Denn so dickfällig Hänschen auch tat, im Grunde genommen war es ihr gar nicht gleichgültig, daß überall, wo sie sich heute zeigte, der Name »Hänschen Tunichtgut« gewispert wurde. Und daß die Agathe Fräulein Neuberg, der einzigen von all den Lehrerinnen, bei der Hänschen sich Mühe gab, etwas braver zu sein, ja, daß die Agathe gerade Fräulein Neuberg von der fatalen Weckuhrgeschichte erzählen mußte, war eine ausgesuchte Bosheit.

Ganz traurig hatte Fräulein Neuberg Hänschen angeschaut. »Ei, Hanna, das hätte ich nicht von dir gedacht,« sagte sie.

Verstockt schwieg Hänschen, zu stolz, um sich noch einmal vor der Klasse zu verteidigen. Lore aber, die Getreue, rief eifrig: »Sie kann ja nichts dafür, sie hat ja die Uhr zum Uhrmacher bringen sollen.«

»Ist das wahr, Hänschen?« fragte Fräulein Neuberg freundlich.

Hänschen nickte stumm.

»Schön, ich glaube dir.« Damit war die Sache für die Lehrerin abgetan.

Nicht so für Hänschen. Der Agathe, der mußte sie eins auswischen für ihre Petzerei. Nach der Zwischenpause prangte an der Schultafel ein seltsames Bild. In wenigen markanten Kreidestrichen war es hingeworfen. Es stellte eine Gans dar, die über dem spitzen Schnabel ein Menschengesicht hatte, das unverkennbare Ähnlichkeit mit Agathe zeigte.

Leider konnte man es nicht schnell genug fortlöschen. Fräulein Liebold, die Naturkunde gab, betrat schon die Klasse.

»Was ist denn das für ein merkwürdiger Vogel?« verwunderte sie sich, auf die Tafel weisend. »Wir nehmen doch augenblicklich die Käfer durch. Agathe, lösch' es fort.«

Wirklich, die zunächstsitzende Agathe mußte zum heimlichen Gaudium der Klasse Hänschen Tunichtguts Kunstwerk, ihr eigenes Porträt, von der Tafel löschen. Aber Agathe tröstete sich damit, daß ihre Feindin zur Strafe den Brief von der Schulvorsteherin heimtragen mußte; das war Hänschen Tunichtgut recht!

So eilig es Hänschen am Morgen gehabt hatte, nach der Schule zu kommen, so wenig eilte es ihr am Mittag mit dem Heimkehren. Vater kam erst um drei Uhr von der Regierung, eher wurde nicht gespeist. Und der Brief – ein schmaler langer Brief, genau dasselbe Format wie Fräulein Schmidt selbst – wog trotz seiner Leichtigkeit merkwürdig schwer in Hänschens Mappe. Ach, mit Mutti, da würde sie schon fertig. Die würde es gleich ihr empörend finden, daß man ihrem Töchterchen unrecht getan und ihr eine Schuld in die Schuhe geschoben hatte, für die sie nichts konnte. Aber Vater, der war manchmal unberechenbar. Der konnte die Sache vielleicht anders auffassen. Man wusste ja doch nicht, was in dem Brief alles drin stand. Wenig war es nicht, was Hänschen auf dem Kerbholz hatte!

Na, vorläufig ließ sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen. Erst wurde die Weckuhr, die die Missetäterin war, abgeliefert, dann die Dicke nach Hause begleitet, darauf die Lore, die wohnte am Brandenburger Tore. Hänschen hatte Zeit.

Als sie endlich am Kanalufer heimschlenderte, saß Oberstaatsanwalts Agathe längst schon droben beim Mittagessen und berichtete den Eltern getreulich die Heldentaten von Hänschen Tunichtgut. Was sie aber nicht berichtete, war ihr eigener Ehrentitel.

»Ja, ja,« sagte die Frau Oberstaatsanwalt und nickte, daß die schön gewickelten Löckchen im Takt auf und nieder wippten, »ja, ja, die kleine Wallenberg ist wirklich ein Hänschen Tunichtgut. Erst heute Morgen habe ich mich mit eigenen Augen davon überzeugt, daß sie den Herrn Regierungspräsidenten in höchst eigener Person naseweis ausgelacht und ihn dann noch obendrein mit ihrer triefenden Mütze bespritzt hat. Ja, ja, es ist höchst bedauerlich, daß solch ein ungezogenes Mädchen mit unseren Kindern zusammen die Schule besucht. Aber unser Agathchen kann sie uns gottlob nicht verderben. Die ist zu wohlerzogen!« Frau Oberstaatsanwalt nickte, die Löckchen nickten, der Herr Oberstaatsanwalt nickte beifällig, und Agathchen nickte, von ihrer Wohlerzogenheit überzeugt.

Inzwischen starrte Hänschen Tunichtgut, die droben den Unterhaltungsstoff bei Oberstaatsanwalts geliefert, in tiefem Sinnen in das schwarze Kanalwasser. Nahm sie sich ihren Beinamen, den sie heute in der Schule davongetragen, etwa so zu Herzen, daß sie sich ein Leids antun wollte? O nein! Daran dachte Hänschen nicht. Die hatte ganz andere Überlegungen.

Noch immer raste der Februarsturm am Ufer entlang. Hatte er heute morgen ihre Mütze ins Wasser geweht, nun, vielleicht tat er ihr den Gefallen und nahm jetzt Fräulein Schmidts Brief mit. Versuchen konnte man es immerhin.

Der schmale lange Brief lag auf Hänschens frostroter Hand. So sehr der Wind auch blies, er rührte sich nicht. Sie mußte ein wenig nachhelfen. Die Hand verwandelte sich in eine schiefe Ebene, und der Brief rutschte gehorsam hinab auf das Straßenpflaster. Da lag er nun. Sollte sie ihn wieder aufheben? Hänschen brauchte lange, um zu einem Entschluß dieser Überlegung zu kommen. So lange, daß der Wind ihr zuvorkam und plötzlich Fräulein Schmidts Strafbrief mit knochiger Faust ergriff. Ritsch – ratsch – da flog er im lustigen Wirbeltanz, gar nicht zu dem ernsten Inhalt passend, vor Hänschen her, das Kanalufer entlang. Es wäre dem flinken Hänschen ein leichtes gewesen, den Ausreißer wieder einzufangen. Aber das lohnte sich wirklich nicht. Wenn er nur ein ganz kleines bißchen mehr nach links halten würde, wo das schwarze Wasser gähnte.

Hurra – aus der Querstraße, gerade an der Stelle, wo Hänschens Mütze morgens hinabgesegelt war, stürmte ein Zwillingsbruder des Sturmes, ebenso wild und ungestüm wie dieser. Sie begannen sich wie Gassenbuben um Fräulein Schmidts Brief zu balgen, ihn sich gegenseitig fortzureißen. Bald zerrte ihn der eine nach links, bald der andere nach rechts. Hänschen beobachtete atemlos den Kampf – hurra! – bei der Lauferei verlor der Brief plötzlich den festen Boden unter sich.

Da schwamm er, der Strafbrief der gestrengen Schulvorsteherin, weiß und unschuldig in dem schwarzen Kanalwasser. Und nur die Fische erfuhren etwas von seinem Inhalt. Aber die verrieten nichts.

Drittes Kapitel Kaffee-Einladungen

Fräulein Schmidt ahnte nichts davon, daß ihr schön geschriebener Anklagebrief den Kanal entlang in die Havel hineinsegelte und dann weiter, immer weiter bis in die Elbe. Ihr kam es gar nicht in den Sinn, daß eine ihrer Schülerinnen es wagen könnte, ein Schriftstück der Schulvorsteherin daheim nicht abzugeben.

Hänschen machte der Brief absolut keine Sorgen mehr. Sie hatte Luise pflichtschuldigst mitgeteilt, daß ihre Weckuhr ihr einen Anschnauzer von der Lehrerin eingetragen habe.

»Jotte doch, die soll sich man nich haben. Was so 'ne Weckuhr is, die hat ihre Mucken wie 'n Mensch. Wenn's ihr jrade paßt, denn weckt se, und wenn nich, denn läßt se's bleiben,« hatte Luise philosophisch geantwortet. Nein, auf Luise machte Fräulein Schmidts »Anschnauzer« gar keinen Eindruck.

Schon mehr auf die Mutter. Die war sehr aufgebracht darüber, daß man ihr braves, unschuldiges Töchterchen eines solchen Streiches überhaupt für fähig hielt. Hänschen war ehrlich genug, der Mutter auch von dem den Kanal entlang schwimmenden Briefe zu erzählen. Natürlich nicht so ganz ausführlich. Es genügte, daß der Sturm ihr den Brief fortgerissen hatte. Es genügte, daß Mutti sich hinsetzte und nun ihrerseits ein Schriftstück an Fräulein Schmidt verfaßte, in dem sie mitteilte, daß sie selbst ihrer Tochter die Weckuhr zur Reparatur mitgegeben habe. Hänschen Tunichtgut war glänzend gerechtfertigt. Denn dieser Brief flog merkwürdigerweise nicht in den Kanal, trotzdem der Sturm noch genau so stark tobte.

Vater erfuhr nichts von dieser Korrespondenz. Ach was, Vater hatte genug Ärger im Dienst, dem brauchte man daheim nicht noch mit solchen unwichtigen Dingen zu kommen, fand Hänschen in kindlicher Fürsorge. Besonders, wo Vater schon geladen war wegen ihres, wie er meinte, ungehörigen Benehmens dem Herrn Regierungspräsidenten gegenüber. Wo er von einer strengen Zucht sprach, einer energischen Erzieherin oder einer Pension, puh – Hänschen schüttelte sich. Die Erzieherin graulte sie raus, wie sie's noch bisher mit jeder gemacht hatte. Und eine Pension? Keine vierundzwanzig Stunden blieb sie dort. Da kniff sie einfach wieder aus.

Überhaupt, Mutti würde es gar nicht zugeben, daß sie von Hause fortkam. Sie war doch ihre Einzige. Mutti trennte sich bestimmt nicht von ihrem Hänschen.

Nein, das alles machte Hänschen gar keine Sorge. Auch nicht, daß der Name Hänschen Tunichtgut allgemein in der Schule verbreitet wurde. Daß sich zwei Parteien bildeten, die eine um Hänschen, die andere um Agathe. »Tunichtgute« nannten Agathes Anhängerinnen Hänschens betreuen, während sie selbst als »Schnattergänse« bezeichnet wurden. Daran gewöhnte man sich. Man mußte sich höchstens Mühe geben, dem Namen als Anführerin der Tunichtgute auch würdig zu entsprechen. Allzu große Mühe brauchte sich Hänschen eigentlich aber gar nicht dazu zu geben.

Auch daß Fräulein Schmidt ihr mitgeteilt hatte, daß es um ihre Osterversetzung sehr wackelig stünde, machte kaum irgendwelche Sorge.

Hänschen fand, daß man mit vierzehn Jahren noch sehr jung sei und sich damit Zeit lassen könne, in die erste Klasse zu kommen.

Ganz anderes machte unserem Hänschen Kopfschmerzen. Mutti wollte einen Damenkaffee geben, einen »Kaffeemops«, wie Hänschen es nannte, den ersten, seitdem sie hier in Potsdam wohnten. Das war früher in Kiel nichts Besonderes gewesen. Da war nur die Weisung erfolgt, daß sich Hänschen inzwischen möglichst zahm, möglichst wenig lärmend verhalten sollte. Allenfalls hatte das jeweilige Fräulein sie mit frisch gebürsteten Locken und sauber gewaschenen Händen hineingeschickt, ihren Knicks zu machen.

Hier war das anders. Mutti wünschte diesmal, daß Hänschen die Einladungen den Damen persönlich überbringe. Major Wedels Irma, Baurats Mieze und Oberstaatsanwalts Agathe hatten es neulich getan, und man war allgemein entzückt gewesen von den niedlichen wohlerzogenen Mädchen. Frau Regierungsrat wollte mit ihrem Hänschen, das nicht häßlicher war als die drei, ebenfalls Ehre einlegen.

»Das ist hier in Potsdam so Sitte,« stellte sie Hänschen vor.

»Ich bin keine Potsdamerin,« knurrte Hänschen, durchaus nicht einverstanden. »Und Briefträger bin ich noch viel weniger. Man kann doch die Einladungen mit der Post schicken, statt daß ich mir die Lunge treppauf, treppab rauslaufen muß,« sagte sie ungezogen.

»Hanna, sei nicht naseweis.« Vater blickte ernst über seine Zeitung hinweg.

»Ja, Kind, wenn du meinst, daß es für dich zu anstrengend ist, schicke ich natürlich die Einladungen mit der Post.« Mutti blickte besorgt auf ihr Hänschen.

»Sicher ist es viel zu anstrengend für mich, überhaupt wo ich vor acht Wochen erst Grippe gehabt habe und vor drei Jahren die Masern,« bestätigte Hänschen frohlockend.

»Nichts da – Hanna, du gehst! Was andere junge Mädchen tun, kannst du auch. Dir wird viel zu sehr nachgegeben. Deine Mutter ist zu schwach und zu gut für dich.«

Nun war Hänschen durchaus nicht Vaters Ansicht. Aber einem gewissen Ton des Vaters gegenüber wagte selbst Hänschen Tunichtgut keine Einwendungen mehr.

Knurrend und murrend mußte sie sich dazu entschließen, am nächsten Tage die beste Garnitur anzulegen, das hellgraue Frühjahrskostüm, dazu den Samtbibi, nicht die geliebte Mütze – nein, wie ein Grasaffe sah sie aus! Ein wütendes Gesicht schaute Hänschen aus dem Spiegel entgegen.

»Handschuhe, Hänschen, zieh die Glacéhandschuhe, die du zu Weihnachten bekommen hast, an.« Befriedigt musterte Frau Regierungsrat ihr Töchterchen. Ihr Hänschen konnte es mit Irma Wedel entschieden aufnehmen.

»Sei liebenswürdig und bescheiden, Hänschen, mach' eine Empfehlung von mir und küss' den Damen die Hand,« mahnte die Mutter.

»Pfoten lecken – ich bin doch nicht Pitt!« Hänschen sah durchaus nicht liebenswürdig aus. Ihr Gesicht wurde auch nicht freundlicher, als sie dann in der warmen Märzsonne durch die Straßen Potsdams spazierte. Die Glacéhandschuhe preßten; sie hielten eine leere Zuckertüte, in die Hänschen sämtliche Einladungen gestopft hatte. Das hatte sie wenigstens durchgesetzt, daß die Mutter ihr schriftliche Kaffee-Einladungen an die Damen mitgegeben hatte, die sie denselben mit einer Empfehlung aushändigen sollte. Nicht erreicht aber hatte sie es, daß das Einladungskärtchen an die Frau Oberstaatsanwalt mit der Post gesandt wurde. Nein, das würde Frau Oberstaatsanwalt entschieden verletzen, wenn sie als einzige durch die Post geladen würde. Wohl oder übel mußte sich Hänschen dazu entschließen, sich ins Lager der »Feindin« zu begeben.

Wenn sie die Agathe, die »Schnattergans«, bloß nicht traf.

»Das Unangenehmste zuerst,« pflegte der Regierungsrat zu sagen. Nach diesem Ausspruch des Vaters handelte Hänschen, als sie jetzt das Haus am Kanal mit den steinernen Rosengirlanden betrat.

»Aufgang für Boten und Dienstpersonal«, stand dort auf einem Schild zu lesen. Hänschen frohlockte und schlich sich zur Hintertreppe. Hier war sie wenigstens sicher, die Agathe nicht zu treffen. Und eigentlich war sie ja auch nur ein Bote.

Eine Küchenfee begegnete ihr und maß mit erstaunten Blicken das junge Mädchen, das mit dem hellen Frühjahrskostüm und den Glacéhandschuhen recht wenig zu dem Hinteraufgang paßte.

An der Tür, die den Namen »Jeserich« trug, machte Hänschen halt. Aus der Küche klang eine Mädchenstimme. »Das ist die ›Schnattergans‹,« dachte Hänschen. »Klingeln tue ich bestimmt nicht!«

Kurz entschlossen warf sie die Einladung durch den Türspalt, durch welchen der Zeitungsjunge die Zeitung zu werfen pflegte. Unglücklicherweise hatte das Mädchen den Mülleimer zum Leeren gerade an die Tür gestellt. Dort herauf fiel die Einladung der Frau Regierungsrat Wallenberg.

Die Klappe am Türspalt schlug laut auf. »Da ist was durchgeworfen worden, Mutter,« rief Agathe und lief neugierig zur Hintertür. »Ein Brief, im Mülleimer liegt ein Brief.« Mit spitzen Fingern zog sie zwischen Asche, Küchenabfällen und Papier die Einladungskarte hervor.

»Das ist ja eine merkwürdige Art, die Leute einzuladen,« meinte Frau Oberstaatsanwalt, aufs höchste befremdet. »Vielleicht ist das in Kiel so Sitte, bei uns in Potsdam jedenfalls nicht. Auf eine Einladung, die man aus dem Mülleimer aufliest, gehe ich natürlich nicht!«

»Natürlich nicht,« bekräftigte Agathchen.

Inzwischen war die Überbringerin der seltsamen Kaffeeeinladung die Treppe herabgerast, als ob der Verfolger ihr auf den Fersen sei.

So – der Gefahr war sie glücklich entronnen.

Nun weiter zu Nummer zwei.

Was hinderte sie eigentlich daran, es bei den übrigen Damen genau ebenso zu machen wie bei Oberstaatsanwalts? Da brauchte sie keine Empfehlung zu bestellen, keine Pfoten zu lecken und nicht liebenswürdig zu sein. Famos – eine glänzende Idee! Hänschen vollführte aus Freude darüber einen Luftsprung.