Love from Paris - Alexandra Potter - E-Book

Love from Paris E-Book

Alexandra Potter

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Beschreibung

Gerade noch im siebten Himmel schwebend fällt die Schriftstellerin Ruby Miller aus allen Wolken, als ihr Freund Jack sie völlig überraschend am Londoner Flughafen sitzen lässt. Doch statt Trübsal zu blasen, trocknet Ruby ihre Tränen und besteigt den erstbesten Zug Richtung Paris. Schließlich wusste schon Audrey Hepburn, dass die Metropole an der Seine immer eine gute Idee ist. Rubys Plan: eine alte Freundin besuchen, allen Herzschmerz vergessen und dem Thema Romantik völlig abschwören – doch die Stadt der Liebe trägt ihren Namen nicht ohne Grund ...

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Buch

Ruby Miller ist überglücklich: Zwei Tage noch, dann kommt ihre große Liebe Jack aus Amerika zurück nach London. Die Schriftstellerin hätte nie geglaubt, nach ihrer geplatzten Verlobung noch einmal Vertrauen zu einem Mann fassen zu können – doch mit seinen sanften haselnussbraunen Augen hat Jack ihr Herz im Sturm erobert.

Gerade noch im siebten Himmel schwebend fällt Ruby allerdings aus allen Wolken, als Jack sie völlig überraschend am Flughafen sitzen lässt. Doch statt lange Trübsal zu blasen, trocknet Ruby ihre Tränen und besteigt den Thalys Richtung Paris. Schließlich wusste schon Audrey Hepburn, dass die Metropole an der Seine immer eine gute Idee ist. Rubys Plan: eine alte Freundin besuchen, allen Herzschmerz vergessen und dem Thema Romantik völlig abschwören – doch die Stadt der Liebe trägt ihren Namen nicht ohne Grund …

Weitere Informationen zu Alexandra Potter sowie zu lieferbaren

Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

ALEXANDRA POTTER

Love

from Paris

Roman

Aus dem Englischen

von Stefanie Retterbush

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Love From Paris« bei Hodder and Stougthon,

an Hachette Livre UK company, London.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe Oktober 2016

Copyright © der Originalausgabe

2015 by Alexandra Potter

Copyright © dieser Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

unter Verwendung der Originalgestaltung.

Umschlagbild: © David Locke

Redaktion: Henriette Schimanski

LT · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-18786-6V001

www.goldmann-verlag.de

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AC gewidmet

Meinem stets halb vollen Glas

Eins

Okay, ganz ruhig, er muss hier irgendwo sein.

Aufgescheucht wie ein kopfloses Huhn flattere ich durchs Schlafzimmer auf der panischen Suche nach meinem Schminktäschchen, in dem ich, als ich es endlich gefunden habe, hektisch herumkrame. Natürlich vergeblich. Ist das nur bei mir so, oder tut kein normaler Mensch sein Lipgloss ins Kosmetiktäschchen? Meistens findet es sich mit Fusseln verklebt irgendwo in einer Jackentasche. Oder man entdeckt es Monate später in einer unbenutzten Handtasche. Oder offen in der Sofaritze, wo das blöde Ding alles rosa vollgeschmiert hat …

Verdammt, wo ist das Miststück bloß hin?

Nachdem ich den kompletten Inhalt des Täschchens erfolglos auf dem Schminktisch verteilt habe, geht mein Blick suchend durchs Schlafzimmer. Totales Chaos. Überall liegt irgendwelches Zeugs rum. Eigentlich bin ich ein ziemlich ordentlicher Mensch, aber nach der hektischen Klamottensucherei von vorhin sieht es im Schlafzimmer aus, als wäre mein Kleiderschrank auf dem Bett ausgekippt worden. Die hübsche Tagesdecke von »The White Company« ist unter einer gigantischen, alles verschlingenden Stofflawine verschwunden. Achtlos weggeworfene Kleidungsstücke hängen über Stuhllehnen und an Türgriffen und schlingen sich sogar um das Ende der Gardinenstange.

Was zum …? Aus den Augenwinkeln sehe ich über meinem Kopf einen Rock schweben und zerre entschlossen am Saum. Aber das Ding rührt sich nicht vom Fleck. Verflixt. Ich zerre fester. Die Gardinenstange knarzt unheilverkündend. Ach, zum Teufel damit. Soll er halt da hängen bleiben. Ich habe keine Zeit zum Aufräumen. Ich muss zusehen, dass ich fertig werde.

Wie ein Storch im Salat stakse ich über den Teppich aus Kleiderbügeln (sind Sie schon mal barfuß auf einen Kleiderbügel getreten? Vergessen Sie das Stehen auf dem Wannenstöpsel, das hier ist tausendmal schlimmer) und hechte ins Badezimmer. Gut, ich weiß, ein verbummeltes Lipgloss ist eigentlich kein Grund zur Panik. Auch wenn es eines dieser superhippen Volumendinger ist, die einem Lippen bescheren wie Mick Jagger nach einem Bienenstich.

Aber unter uns, in die Schlagzeilen schafft es solch ein kleines Missgeschick noch lange nicht, stimmt’s? Verglichen mit globaler Rezession, politischen Unruhen oder Naturkatastrophen ist dieses Ereignis eher zu vernachlässigen.

Vermisstes Lipgloss womöglich weggeworfen:

Nation nach spurlosem Verschwinden

von »VeryBerry Luscious Lips« lahmgelegt.

Verzweifelte Besitzerin Ruby Miller kann sich

eigenen Angaben zufolge nicht daran erinnern,

wo sie es zuletzt gesehen hat.

Aber heute ist der Fall ein anderer. Heute ist es tatsächlich superwichtig.

Wie eine Verrückte reiße ich sämtliche Türen des Badezimmerschränkchens auf, wühle mich durch unzählige Cremetiegel und Fläschchen mit Lotionen und Wässerchen und knalle sie wieder zu. Es gibt hier nichts, was es nicht gibt. Ich bin ein totaler Kosmetik-Junkie. Ich kann einfach den Verlockungen neuer Produkte oder der »Drei-für-zwei«-Angebote nicht widerstehen. Weshalb mein Alibertschränkchen aus allen Nähten platzt. Mein Blick fällt auf die Vaseline, und ich zögere kurz – normalerweise würde ich mir einfach was davon auf die Lippen schmieren, und gut wär’s –, aber das steht heute nicht zur Debatte. Heute brauche ich das vermaledeite Lipgloss!

Entnervt knalle ich die letzte Schranktür zu und halte inne, als ich mein Abbild in der verspiegelten Vorderseite sehe. Es wird Sommer, und ich trage die neue Bluse, die ich letzte Woche in einer kleinen Boutique entdeckt habe; einem dieser todschicken Läden, in denen man unter den wachsamen Adleraugen der hochnäsigen Verkäuferin heimlich versucht, unauffällig auf das Preisschild zu linsen.

Für mich war das eine Premiere. Normalerweise setze ich keinen Fuß in solche Boutiquen. Ich finde sie, na ja, einschüchternd wäre ein Wort dafür, gruselig ein anderes. Wie meine kleine Schwester Amy Ihnen gerne erklären würde, habe ich einfach keinen Sinn für Mode. Oder anders ausgedrückt, Mode macht keinen Sinn für mich. Nicht dass ich es nicht versucht hätte. Ich habe die entsprechenden Frauenzeitschriften gekauft, gelesen, was »Trend« und »in« ist, versucht, meine Outfits mit Accessoires aufzupeppen (nur um am Ende auszusehen wie ein überkandidelter völlig verkitschter Weihnachtsbaum), aber alle Versuche enden unweigerlich im Desaster. Glauben Sie mir, es ist für alle Beteiligten besser, wenn ich einfach bei meinem Standardoutfit aus Leggins und weitem T-Shirt bleibe.

Aber wie gesagt, heute ist der Fall ein anderer. Nervös zupfe ich am Kragen meiner Bluse. Sie ist aus einem ganz bezaubernden chiffonartigen Stoff mit superschönem Ausschnitt, wobei ich ein paar der kleinen Perlmuttknöpfchen geöffnet habe, damit es nicht ganz so brav und bieder und ein bisschen sexyer aussieht. Außerdem trage ich einen Push-up-BH für ein wenig extra Ba-da-bumm. Unschuldig trifft verrucht.

Zumindest war das die Absicht dahinter. Theoretisch.

Mit flatternden Nerven schaue ich ein letztes Mal in den Spiegel. Ich habe mich für den »natürlichen« Look entschieden. Der natürlich alles andere als natürlich ist. Unnatürlicher geht es kaum. Man bekommt ja auch von ganz allein so einen frischen, rosigen Teint, wenn man den ganzen Tag auf dem Hintern vorm Schreibtisch hockt, Kaffee trinkt und Kekse in sich reinstopft. Schon klar.

Aber was ist mit meinen Haaren passiert? Entsetzt verziehe ich das Gesicht. Die sehen aus wie ein Soufflé, dem die Luft ausgegangen ist; ganz platt und schlapp. Rasch wuschel ich mir durch die Haare, schnappe mir das Haarspray und sprühe noch etwas davon in die Ansätze. Eigentlich wollte ich einen sexy-zerzausten Look kreieren, wie dieser angesagte »Out-of-Bed«-Style aus den Modezeitschriften.

Was natürlich vollkommener Quatsch ist. Ich meine, wem wollen die was vormachen? Jeder Mensch weiß doch, wie man nach dem Aufstehen aussieht. Die Haare sind verfilzt und zerrupft und stehen in rechten Winkeln vom Kopf ab. Oder?

Oder?

Plötzlich überkommt mich ein Anflug von Selbstzweifel.

Oder ist das nur bei mir so?

Ich muss husten, als ich einen Mund voll Haarspray einatme, höre auf herumzusprühen und werfe einen Blick auf die Uhr. Ach, verdammt! Es ist schon fast so weit!

Hals über Kopf stürze ich ins Wohnzimmer und stolpere dabei über Heathcliff, meinen Dackel, der mir um die Füße läuft wie mein Dad früher immer, wenn ich mich für eine Verabredung zurechtgemacht habe. Gekränkt jault er auf.

»Oje, hey, Kleiner, was machst du denn da?« Schuldbewusst nehme ich ihn auf den Arm und kraule ihm zum Trost das Kinn.

Dabei weiß ich ganz genau, was er da macht. Er ist eifersüchtig und will mich nicht mit einem anderen männlichen Wesen teilen. Irgendwie hat sich nicht viel verändert. Nur dass jetzt nicht mehr mein Dad Wache steht, sondern mein Dackel.

»Na los, geh schön spielen«, sage ich und weise Richtung Garten. Die Terrassentüren stehen sperrangelweit offen. Es ist ein wundervoller sonniger Tag Anfang Juni. Einer dieser strahlend schönen späten Frühlingstage in London, an denen man sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass man vor Kurzem noch in der nicht enden wollenden winterlichen Dunkelheit hockte und unablässig lamentierte und nörgelte, wie ein halbwegs vernünftiger Mensch freiwillig in diesem düsteren gottverlassenen Höllenloch leben kann.

Aber wenn dann die Sonne rauskommt und es warm wird und sich ein kornblumenblauer Himmel wie ein Baldachin über die ganze Stadt spannt, die Parks mit goldenen Sonnenflecken gesprenkelt sind und die Straßencafés überquellen von Menschen, dann verliebt man sich wieder aufs Neue in diese Stadt und vergisst alle düsteren Gedanken ans Fortgehen.

»Na los, raus mit dir«, scheuche ich Heathcliff nach draußen, der missmutig und eher widerwillig hinaustrottet. Woraufhin ich mich rasch an den Schreibtisch setze und den Laptop aufklappe.

Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: So sehe ich normalerweise nicht aus, wenn ich am Schreibtisch sitze und arbeite. Als Schriftstellerin, die zu Hause arbeitet, trage ich an meinem Schreibtisch sonst kein Make-up, habe die Haare nachlässig mit einem bunten Gummi zusammengebunden und stecke in einem abgewetzten Frotteebademantel und Schaffellpantoffeln. Ich nenne es das Postbotenschreck-Outfit. Oder den Betreutes-Wohnen-Schick.

Aber auf keinen Fall, nicht mal beim allerbesten Willen, würde ich es als Sexy-flirty-heiße-Freundinnen-Look bezeichnen.

Ich habe richtig Schmetterlinge im Bauch. Was eigentlich total bescheuert ist. Schließlich ist das kein erstes Date oder so was, es ist bloß …

Ach, sieh an, da ist es ja! Mein Lipgloss! Im Stiftebecher! Hastig schnappe ich es mir und kleistere mir schnell was davon auf die Lippen, und im selben Moment fängt Skype auch schon an zu klingeln.

Argh, schnell, schnell!

Auf dem Bildschirm erscheint ein Gesicht. Dunkle Haare, Dreitagebart und die wunderschönsten braunen Augen, die man sich vorstellen kann.

Jack.

»Hey, Babe«, sagt er lächelnd mit seinem perfekten strahlend weißen amerikanischen Grinsen.

Mein Herz macht einen Hüpfer. Drei Monate ist es jetzt her, seit wir uns kennengelernt haben, aber wenn er mich anlächelt, fühlt es sich noch immer an wie beim ersten Mal.

»Süß siehst du aus.«

Mir wird ganz warm ums Herz.

»Ach, echt?«, raune ich und tue ganz erstaunt, als wäre ich nicht eine geschlagene Stunde lang wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung gefegt.

»Hast du eine neue Frisur?«

»Eine neue Frisur?« Mit der Hand taste ich nach meinen brettharten Ponyfransen und streiche behutsam darüber. »Ach, nein, ich sehe noch so aus, wie ich heute Morgen aus dem Bett gekrabbelt bin …«, erkläre ich ganz nonchalant und kreuze unter dem Schreibtisch die Finger. »Ich sitze den ganzen Tag vor dem Schreibtisch und habe noch gar nicht in den Spiegel geschaut …«

Ich weiß, ich bin eine schamlose, unverschämte Lügnerin, aber wer könnte es mir verdenken? Es ist eine Sache, den Freund das »Vorher«-Bild sehen zu lassen, wenn man sich schon eine Ewigkeit kennt und jeden Tag nebeneinander aufwacht, aber es ist etwas ganz anderes bei einer Fernbeziehung, erst recht, wenn die noch ganz frisch ist.

Es kommt mir vor, als sei es gestern und gleichzeitig vor ewigen Zeiten gewesen, als wir uns auf einem verschneiten Bürgersteig in London geküsst haben. Wenn ich daran denke, muss ich mich manchmal kneifen. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass wir beide es geschafft haben, uns zu finden. Nicht nur einmal, sondern gleich zweimal. Uns in einem Zug in Indien kennenzulernen war ja schon ein unglaublicher Zufall, aber uns dann in London wieder über den Weg zu laufen war weit mehr als eine glückliche Fügung. Das muss Schicksal gewesen sein oder Vorsehung oder schlichtweg Zauberei.

Aber was ist Liebe, wenn nicht Zauberei?

Kurz muss ich zurückdenken an die Zeit vor Jack. Schwer vorstellbar, dass ich den Glauben an die Liebe verloren hatte. Mein Herz war gebrochen, in tausend Teile zersprungen, und ich konnte einfach nicht mehr an ihre Existenz glauben. Ich dachte, die Liebe gibt es nur noch in der Fantasie und der Fiktion. Aber Indien und Jack haben mich vom Gegenteil überzeugt. Und ihretwegen habe ich mich aufs Neue verliebt in die Liebe.

Und als wir uns dann endlich gefunden hatten, waren Jack und ich fest entschlossen, uns nie wieder zu verlieren. Nach diesem ersten Kuss hat er die Nacht bei mir verbracht und ist erst zwei Wochen später wieder gegangen. Zum Glück konnte er per Skype und E-Mail eine Menge Arbeit von zu Hause erledigen, aber irgendwann musste er wohl oder übel zurück nach Amerika. Ich habe ihn zum Flughafen gebracht und versucht, mich zusammenzureißen, damit ich im Abflugterminal keine Oper heule.

»Du siehst wirklich hinreißend aus«, sagt er anerkennend, und ich kehre mit meinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. »Ist das ein neues Kleid?«

Meine Bescheidenheit versucht, mir das Grinsen zu verkneifen, aber es gelingt ihr nicht. »Nein, bloß eine neue Bluse«, erkläre ich strahlend.

»Nur eine Bluse?«, fragt er und zieht die Augenbrauen hoch.

»Hey!«, weise ich ihn neckisch zurecht.

»Komm schon, was hast du sonst noch an, Miller?«, will er mit gespieltem Ernst wissen.

»Jack!«, schimpfe ich und fühle mich doch insgeheim sehr geschmeichelt. Na ja, zehn Wochen sind einfach eine sehr lange Zeit.

»Zeig doch mal.«

Und da plötzlich packt mich mitten in unserem kleinen Flirt das nackte eiskalte Entsetzen.

»Sag jetzt nicht, du bist plötzlich zum schüchternen Mauerblümchen mutiert«, neckt er mit einem schelmischen Blitzen in den Augen.

Nein, ich bin eher starr vor Schreck. Die Sache ist nämlich die: Um meine untere Körperhälfte habe ich mich gar nicht geschert. Ich dachte, die sieht man eh nicht. Ein bisschen wie ein Nachrichtensprecher, den man nur im schicken Sakko kennt, aber wehe, der Kameramann würde den Fauxpas begehen, kurz unter den Schreibtisch zu filmen, denn dann sähe die ganze Nation, dass er in Unterhose vor der Kamera sitzt.

»Ähm, ja … ein bisschen«, entgegne ich, bemüht um einen anzüglichen Ton, aber meine Stimme klingt plötzlich quietschig und erstickt.

»Das glaube ich dir nicht«, meint er grinsend.

»Nein, wirklich«, protestiere ich.

Denn mein Beinkleid ist schlimmer als ein Schlüpfer. Ich trage eine Pyjamahose. Was sich erst mal halb so schlimm anhört. Fast schon süß. Aber es ist nicht irgendeine gewöhnliche Pyjamahose.

Es ist eine Hose mit völlig albernem Muster.

»Ich glaube, ich muss mir das mal ansehen«, sagt er entschieden und zieht eine Augenbraue hoch.

Ach, du Scheiße. Meine Mum hat mir den Pyjama zu Weihnachten geschenkt. Er ist aus knallrotem Fleece und über und über mit rotnasigen Rudolph-Rentieren und Weihnachtsgebäck bedruckt. Was an sich schon schlimm genug ist, wenn man bedenkt, dass Weihnachten sechs Monate her ist. Aber in Kombination mit einer sexy Chiffonbluse und riesigen flauschigen Schaffellpantoffeln sehe ich darin aus wie eine Wahnsinnige.

»Ähm … echt jetzt?«

O Gott. Wie peinlich. Wie komme ich nur aus der Nummer wieder raus?

»Aber klar.« Er nickt ernst.

»Tja … ähm … da musst du dich wohl noch ein bisschen gedulden«, versuche ich, Zeit zu schinden.

Jack verzieht das Gesicht. »Ach herrje, komm schon, spann mich nicht auf die Folter.«

»Nein.« Entschlossen schüttele ich den Kopf, und plötzlich kommt mir eine geniale Idee. Aber klar! Wieso bin ich nicht schon viel früher darauf gekommen? Ich tue einfach, als wollte ich ihn ein bisschen zappeln lassen. Willst du was gelten, mach dich selten.

»Spielst du jetzt die Unnahbare?«

»Tja, es heißt doch immer, die besten Dinge im Leben sind es wert, dass man auf sie wartet«, entgegne ich neckisch.

Himmel, die Ironie. Wenn er meine Pyjamahose und die Pantoffeln sehen könnte … Nicht mal beim allerbesten Willen könnte man diese haarsträubende Kombination als »die besten Dinge des Lebens« bezeichnen.

»Das kannst du allerdings laut sagen«, stimmt er mir lächelnd zu.

Mein Herz spielt wieder verrückt. Und ich muss an unsere Theaterlehrerin denken, Miss Shrimpton, die mir ins Zeugnis schrieb: »Ruby wird es nie auf die Bühne schaffen. Es gelingt ihr leider nicht, eine Rolle halbwegs überzeugend zu spielen.«

»Du fehlst mir sehr, weißt du das?« Jack wird plötzlich ganz ernst, und als unsere Blicke sich treffen, schaut er mir tief in die Augen.

»Du mir auch«, erwidere ich leise. Und spüre einmal mehr das altbekannte Ziehen in der Brust. Es stimmt, was die Leute sagen. Liebe tut verdammt weh. Seitdem Jack hinter der gläsernen Automatiktür an der Sicherheitskontrolle verschwunden ist, vermisse ich ihn wie verrückt. Und wir konnten uns bisher nicht wiedersehen, weil er zu viel zu tun hatte. Wenn ich eins über Jack gelernt habe, dann, dass er mit Herzblut an seiner Arbeit hängt. Ehrlich gesagt ist er, glaube ich, ein ziemlicher Workaholic. Aber jetzt ist es endlich so weit, bald sehen wir uns wieder.

»Es dauert nicht mehr lange, nur noch achtundvierzig Stunden.«

»Dreiundvierzig«, korrigiere ich ihn umgehend und werde rot.

»Zählst du schon die Stunden?«, zieht er mich auf.

»Nein, entschuldige, wann kommst du noch mal?« Ich lege die Stirn in Falten, als müsste ich angestrengt nachdenken. »Nächste Woche? Oder übernächste?«

Er lacht laut auf. »Übermorgen, und ich zähle auch schon die Stunden. Oder glaubst du etwa, ich lasse dich an deinem Geburtstag allein?«

»Ich freue mich schon so«, sage ich und muss grinsen.

»Und lasse mir ein Wochenende in einem Luxus-Wellnesshotel entgehen?«, fährt er fort.

»Hey!«

Er zwinkert mir zu, und ich muss lachen. Ich habe nächste Woche Geburtstag, und wir haben geplant, gemeinsam wegzufahren und in einem dieser edlen Landhotels abzusteigen. Sie wissen schon, eins dieser Hotels, wie man sie als Single immer in Frauenzeitschriften vorgesetzt bekommt, wo man sich dann deprimiert anschauen muss, wie verliebte Pärchen vor dem offenen Kamin kuscheln oder turtelnd im Luxusspa entspannen.

Aber jetzt gehöre ich auch zu den Pärchen! Ich habe einen umwerfenden amerikanischen Freund, und bald kommt er hierher und entführt mich zu einem romantischen Wochenendausflug! Und dann lümmeln wir in Frotteebademänteln rum und plündern die Minibar und schlafen in einem riesigen Himmelbett und …

»Hey, du weißt schon, dass ich bloß Witze mache«, sagt er und reißt mich aus meinen Tagträumen. »Das wird ganz toll, deinen Geburtstag zusammen zu feiern.«

»Ich weiß«, seufze ich und nicke und bin ganz aufgeregt bei dem Gedanken. Himmel, ist es lange her, seit … Nun, sagen wir es so, auf lange Sicht ist Skype-Sex einfach nicht das Wahre.

Beim Gedanken daran werde ich fast rot vor Scham. Ja, natürlich haben wir es versucht. Und nein, es liegt mir einfach nicht. Nicht dass ich prüde wäre. Das nicht. Im Gegenteil. Schließlich war ich es, die bei unserer ersten gemeinsamen Nacht über Jack hergefallen ist (wobei man sagen muss, dass er keinen nennenswerten Widerstand geleistet hat). Aber ich lasse mich schon äußerst ungern fotografieren, und mich dann auf dem Bildschirm zu sehen, wie ich …

Tja, sagen wir einfach, ich bin ein bisschen kamerascheu, und belassen wir es dabei.

Wir werden von einem klingelnden Telefon im Hintergrund unterbrochen. Jack greift zu seinem iPhone und schaut auf das Display. Und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. »Tut mir leid, Süße. Ich muss rangehen, Arbeit.«

»Aber es ist doch Sonntag …«

Er macht ein schuldbewusstes Gesicht. Die Enttäuschung trifft mich wie ein Faustschlag in den Magen. Wir haben noch gar nicht richtig miteinander geredet.

»Okay, schon gut«, lenke ich nickend ein. »Dann bis bald.«

»Bis bald, persönlich«, sagt er grinsend und schaut mich durchdringend an. Mir läuft ein wohliger Schauer über den Rücken. »Ach, und Ruby …«

»Ja?«

»Willst du mir nicht doch einen schnellen Blick auf dein entzückendes Hinterteil gönnen? Nur als kleine Erinnerung daran, was mir gerade entgeht?«

Ach, du Schande! Nur keine Panik. »Äh … nein … ähm … die besten Dinge im Leben sind es wert, dass man auf sie wartet, schon vergessen?«, blubbere ich und ringe mir ein gequält kokettes Lächeln ab.

»Du bist wirklich knallhart, Ruby Miller.« Grinsend schüttelt er den Kopf, und dann verschwindet das Fenster mit seinem Gesicht.

Kaum ist der Bildschirm wieder schwarz, sinke ich erleichtert in den Schreibtischstuhl. Puh, das war knapp! Wieso hat mir keiner gesagt, dass Fernbeziehungen so anstrengend sein können?

Aber es dauert ja nicht mehr lange, versuche ich mich zu trösten. Noch zweimal schlafen, dann kommt Jack. Nach der langen Zeit, nach all dem Warten und Vermissen können wir uns endlich wieder in die Arme schließen.

Bei dem Gedanken werde ich ganz kribbelig vor Vorfreude, und dann bin ich plötzlich furchtbar nervös. In den vergangenen drei Monaten hat mich nur ein einziges männliches Wesen nackt gesehen, und das war Heathcliff.

Aber halb so wild, sage ich mir entschieden. Jack liebt mich so, wie ich bin. Ihn stört es nicht, dass ich hinten an den Beinen ein bisschen Cellulite habe. Und dass das kleine Röllchen über der Jeans sich beharrlich weigert, wieder zu verschwinden. Wenn man sich liebt, ist so was egal. Liebe macht blind, heißt es doch. Es wird ihm sicher nicht mal auffallen, dass ich kein Peeling gemacht und mir die Bikinizone nicht gewachst und den kleinen Schnurrbart auf der Oberlippe nicht gebleicht habe …

Urplötzlich stutze ich. Lieber Himmel, was rede ich denn da? So blind macht Liebe nun auch wieder nicht.

Und das ist noch nicht alles. Mein Blick geht durch die Wohnung, und ich sehe sie plötzlich mit ganz anderen Augen. Von wegen Liebesnest. Nirgendwo ist auch nur die Spur frischer Blumen oder sinnlicher Duftkerzen zu entdecken. Nur jede Menge leerer Kaffeetassen und Berge achtlos liegen gelassener Klamotten. Hier wird sicher niemand in einen Liebestaumel verfallen, wenn nicht mal das Bett zu sehen ist. Oder auch nur der Boden!

Nervös geht mein Blick zur Uhr an der Wand. Mir bleiben noch genau zweiundvierzig Stunden und fünfundfünfzig Minuten, um alles für eine heiße Liebesnacht herzurichten.

Hastig springe ich auf.

Der Countdown beginnt. Jetzt.

Liebesliste

Okay, ich habe eine Art Checkliste geschrieben.

1. Duftkerzen

Wobei, wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich den ganzen Duftkerzenhype noch nie so richtig verstanden. Okay, sie sind hübsch anzusehen und duften angenehm und so, aber haben Sie mal gesehen, was die Dinger kosten? Und außerdem, warum heißt es in Zeitschriften immer, Duftkerzen seien ideal, »um eine entspannte, sinnliche Atmosphäre zu schaffen«?

Bei mir bewirken sie nämlich genau das Gegenteil; ich werde ganz panisch beim Gedanken daran, ich könnte vergessen, sie auszupusten, und versehentlich das ganze Haus abfackeln. Einmal lag ich mit meinem damaligen Freund im Bett, und ich war so verspannt, dass ich schließlich eine kleine Auszeit einfordern und erst im Wohnzimmer nach dem Rechten sehen musste, ehe wir weitermachen konnten.

Die Stimmung erreichte erst danach ihren Höhepunkt.

Daran ist vermutlich meine Mum schuld. Wie alle guten Eltern hat sie mir als Kind beigebracht, mich von potentiellen Gefahrenquellen wie Messer, Gabel, Schere, Licht fernzuhalten – das Problem ist nur, in den Augen meiner Mum lauern überall Gefahren. Sie sehen eine schöne Vanille-Duftkerze; meine Mum sieht das Haus in Flammen stehen. Sie sehen einen herrlichen Pool, der zum Hineinspringen verlockt; Mum sieht ein gebrochenes Genick. Und Gleiches gilt auch für:

2. Champagner

Ich muss ein Geständnis machen, nach dem Sie mich sicher äußerst seltsam finden werden. Wo jeder andere normale Mensch eine Flasche köstliche, eiskalte Blubberbrause sieht, sehe ich einen Korken, der unkontrolliert aus dem Flaschenhals schießt und einem das Augenlicht auslöscht. Jack wird dastehen und verführerisch die Folie abreißen, während ich kreischend hinter das Sofa hechte, um mich vor herumfliegenden Geschossen in Sicherheit zu bringen.

Zum Glück ist wenigstens nichts Gefährliches an:

3. Massageöl

Für sinnliche Partnermassagen. Denn auf Massagen steht doch wohl jeder, oder? Wobei, als wir uns das letzte Mal gegenseitig massiert haben, war Jack zuerst dran und hat sich eine gute Stunde lang verwöhnen lassen. Als ich schließlich an der Reihe war, dauerte das Vergnügen keine fünf Minuten. Ich werde ihm dieses Mal besser erst erklären, dass es mit Massagen ist wie mit Weihnachten: Die wahre Freude liegt im Geben.

4. Schokolade

Ich habe »Die zehn aphrodisierendsten Lebensmittel« gegoogelt und so erfahren, dass pure Schokolade die Königin der Aphrodisiaka ist. Angeblich ist sie randvoll mit Phenylethylamin, dem »Glücksbotenstoff«, den der Körper auch während des Orgasmus ausschüttet. Aber unter uns: Wer braucht schon einen Grund, Schokolade zu kaufen?

5. Austern

Wobei, vergessen wir das lieber. Eigentlich wollte ich ein halbes Dutzend Austern kaufen, weil ich gehört habe, dass sie die Libido erhöhen. Aber ich habe noch nie Austern gegessen, und was, wenn ich allergisch dagegen bin und einen anaphylaktischen Schock bekomme? (Danke, Mum.)

6. Spargel

Viel ungefährlicher. Allerdings, wenn man bedenkt, dass der Urin nach dem Spargelessen immer so streng riecht, weiß ich nicht, wie der als Aphrodisiakum wirken soll.

Ganz im Gegensatz zu:

7. Blumen ?

Jeder liebt doch Blumen, stimmt’s? Es sei denn … was, wenn Jack unter Heuschnupfen leidet, so wie meine kleine Schwester Amy? Vielleicht gehe ich lieber auf Nummer sicher und kaufe eine Topfpflanze.

8. Musik ?

Da wird es schon etwas schwieriger. Jack hört immer so coole, angesagte Indie-Bands, von denen ich noch nie was gehört habe. Beim Durchforsten der Wiedergabelisten auf meinem iPod ist er in schallendes Gelächter ausgebrochen. Was ich schon ein bisschen gemein fand. Was bitte ist denn so schlimm an Abba und Taylor Swift? Dazu kann man prima im Schlafzimmer herumhopsen, wenn man sich gerade zum Ausgehen zurechtmacht.

Was er unter gar keinen Umständen jemals beobachten darf. Niemals.

9. Zahnseide

Er ist Amerikaner. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen.

10. Erdnussbutter und Marmelade

Dito.

11. Game-of-Thrones-DVD

Liebe ist, seine Vorlieben zu teilen. Mein Pech, dass das eine von seinen ist.

12. Ich !!!

Na ja, wenn ich mich auf eine heiße Liebesnacht vorbereite, braucht es dazu mehr als Duftkerzen und ein paar hübsche Blumensträuße. Ich muss mich vorbereiten auf die Liebe. Und jede Frau weiß, der Unterschied zwischen dem stinknormalen »Mal kurz zum Supermarkt laufen«-Look und dem scharfen »Heiß und sexy«-Look kostet jede Menge Zeit und Mühe.

13. Peeling

Wer kuschelt schon gerne mit einem schuppigen Krokodil? Niemand. Und deswegen habe ich mir eins dieser teuren Spa-Salzkristall-Peelings im Glas besorgt und einen Luffa-Schwamm und mich gestern Abend unter der Dusche von Kopf bis Fuß gründlich abgeschrubbt. Der Packungsbeilage zufolge sollte meine Haut danach »samtweich und rosig« sein, aber ich glaube, ich habe es ein bisschen übertrieben, denn hinterher sah ich aus wie ein gekochter Hummer und hatte überall wundgescheuerte Stellen.

Wobei das Ganze wohl nur halb so schlimm gewesen wäre ohne:

14. Eincremen

Normalerweise bin ich ein überzeugtes Nivea-Mädchen, aber ich habe schon so oft in Zeitschriften gelesen, Olivenöl sei der beste Feuchtigkeitsspender überhaupt, dass ich es einfach ausprobieren musste. Also habe ich mich nach dem Peeling richtig satt mit extra virgine eingerieben. Leider ohne auf das Etikett zu achten, sonst hätte ich vielleicht bemerkt, dass ich eins dieser teuren aromatisierten Öle erwischt hatte. Erst als es unangenehm zu kribbeln anfing, ging mir auf, dass es mit Chili parfümiert war.

Randnotiz: So hatte ich das nicht gemeint mit dem scharfen Heiß-und-sexy-Look.

15. Selbstbräuner

Ich hasse falsche Sonnenbräune. Selbstbräuner riecht streng. Und versaut die Laken. Aber ich habe so einen blassen, sommersprossigen Teint, und ich möchte gerne bronzebraun und sonnenverwöhnt aussehen, wenn Jack mich das nächste Mal wiedersieht.

Ich wollte nicht, ich wiederhole, wollte nicht kürbisorange leuchten. Aber vielleicht verblasst die Farbe noch etwas, bevor ich ihn vom Flughafen abhole. Muss sie ganz dringend.

16. Oberlippe bleichen

Ich meine, hallo? Will ich wirklich aussehen wie meine alte Mathelehrerin? Was kommt denn dann als Nächstes? Blickdichte hautfarbene Strumpfhosen und haarige Beine? Und das bringt mich gleich zu:

17. Komplettwaxing

Was. Habe. Ich. Mir. Nur. Dabei. Gedacht.

Normalerweise trage ich die Haare unten kurz und an den Seiten gestutzt, aber gestern hat meine Freundin Milly aus New York mich bequatscht, mir ein Hollywood-radikal-Waxing verpassen zu lassen. »Der Kerl ist Amerikaner, der steht garantiert auf so was!«, schwärmte sie in ihrer E-Mail, weshalb ich dann umgehend einen Termin bei »Splitz« gebucht habe.

Wobei mir der Name des Salons eigentlich schon hätte zu denken geben müssen, aber erst als ich der humorlosen Russin gegenüberstand, die mein Bikiniwaxing machen sollte, wurde mir etwas mulmig. »Sie machen Yoga!«, kläffte sie mich an, packte mich an den Beinen und zerrte sie in Stellungen, wie sie eigentlich nur eine Olympia-Gymnastikturnerin hinbekommt, während sie mir siedend heißes Wachs auf die Genitalien kippte.

Ganz ehrlich, irgendwann, ein paar Hundert Jahre in der Zukunft, werden die Frauen sich vor Hollywood-Bikini-Waxings gruseln wie wir heute vor mittelalterlichen Foltermethoden und ungläubig nach Luft schnappen, weil sie nicht fassen können, warum man sich so etwas freiwillig antut. Und auch noch Geld dafür bezahlt!

Erwähnte ich übrigens, dass diese ganzen Liebesvorbereitungen ein Vermögen kosten? Ich weiß wirklich nicht, ob ich mir Sex überhaupt noch leisten kann! Denn da wären natürlich auch noch die

18. Dessous

Normalerweise bin ich der »Marks & Spencers«-Baumwollhöschen-Typ: gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, bequem und maschinenwaschbar. Was man von meinen neu erstandenen Spitzenfetzen im rosa Seidenpapier nicht gerade behaupten kann. Aber die sind ja auch nicht zum Tragen gedacht, sondern zum Ausziehen.

Von Jack. Morgen.

O Mann, ich kann es kaum glauben, dass er morgen schon kommt! Endlich. Nach dem ganzen Vermissen und Warten und all der Mühe. Aber das ist es mir wert.

19. Wecker stellen

Noch einmal schlafen, dann kommt er!

Zwei

Piep piep pi…

Der Wecker kommt nicht mal bis zum dritten Pieps, als mein Arm schon unter der Bettdecke hervorschießt und ihn abschaltet. Kaum ist er still, hüpfe – ach, was sage ich, hechte – ich aus dem Bett.

Was schon fast einem jener Wunder gleichkommt, von denen man sonst immer in der Zeitung liest. Wobei, das Antlitz Jesu auf einer Scheibe Toast zu entdecken oder dass ein Toter wieder zum Leben aufersteht, ist nichts verglichen damit, dass ich aus dem Bett aufstehe, ohne vorher mehrere Tausend Mal auf die Snooze-Taste gedrückt zu haben.

Aber heute könnten mich keine zehn Pferde im Bett halten. Denn nach all der langen Zeit kommt Jack heute endlich, endlich an!

Eilig schlüpfe ich in den Bademantel und flitze aufgeregt ins Wohnzimmer. Das ist kaum wiederzuerkennen. Gestern bin ich bis in die frühen Morgenstunden aufgeblieben und habe alles für Jacks Besuch vorbereitet. Meine kleine Wohnung ist wie verwandelt. Ehrlich, es kommt mir fast vor, als sei ich in der Kulisse einer dieser Einrichtungsshows im Fernsehen aufgewacht.

Ich husche in die Küche, in der alles blitzt und blinkt, fülle den Espressokocher, stelle ihn auf den Herd und gehe dann zu Heathcliff, der noch in seinem Körbchen liegt und schläft wie ein Murmeltier. »Morgen, kleiner Kerl«, gurre ich und bücke mich, um seinen seidenweichen kleinen Körper zu streicheln, der fest zusammengeringelt ist wie ein Croissant. Widerstrebend klappt er ein verschlafenes Auge auf und schaut mich an, als wollte er sagen: »Warum um alles in der Welt weckst du mich zu dieser nachtschlafenden Zeit?«

»Jack kommt heute!«, verkünde ich, als sei das die Antwort auf seine Frage. »Ist das nicht aufregend? Heute siehst du Jack wieder!«

Als er Jacks Namen hört, springt Heathcliff aus dem Körbchen und wedelt hocherfreut mit dem Schwanz. Mit anderen Männer ist er manchmal etwas unleidlich – typisch männliches Rüdenkonkurrenzgehabe –, aber Jack liebt er heiß und innig. Genau wie sein Frauchen, denke ich glücklich. Ich nehme ihn auf den Arm und vergrabe die Nase in seinem Fell, und dann tanzen wir zur Feier des Tages ein bisschen durch die Küche. Auf dem Herd blubbert der Espressokocher, passend zu meiner überbordend guten Laune, und ich wirbele Heathcliff von einem Ohr zum anderen grinsend herum, während er mich freudig ankläfft.

So aufgeregt war ich schon seit Jahren nicht mehr. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind am Weihnachtsabend. Letzte Nacht konnte ich kaum schlafen, weil ich immer an heute denken musste. Wieder und immer wieder habe ich mir ausgemalt, wie Jack und ich uns am Flughafen wiedersehen. Wie wir gemeinsam nach Hause gehen. Reden, lachen, küssen … Mein Magen schlägt einen Purzelbaum, als ich mir vorstelle, wie ich ihm mit den Fingern durch die zerzausten dunklen Haare fahre, seinen vertrauten Duft einatme, an ihn gekuschelt einschlafe, das Gesicht in der kleinen Kuhle auf der Mitte seiner Brust vergrabe.

Ehe uns beiden schwindelig wird, setze ich Heathcliff wieder ab, dann gebe ich ihm sein Frühstück, gieße mir eine Tasse Kaffee ein und öffne schwungvoll die Terrassentüren, um in den weiten, strahlend lavendelblauen Himmel zu schauen. Stell dir nur mal vor, da oben ist Jack jetzt irgendwo. Just in diesem Moment sitzt er in einem riesigen Blechvogel und ist auf dem Weg zu mir. Ich versuche mir vorzustellen, was er wohl gerade macht. Vermutlich hält er ein kleines Nickerchen oder sieht sich einen schlechten Film im Bordkino an, oder vielleicht schaut er auch aus dem Fenster auf den Flickenteppich der englischen Landschaft unter ihm.

Wobei, nein, noch ist er sicher nicht über England, wird mir da mit einem Blick auf die Uhr klar. Es ist noch ein kleines Weilchen hin, bis er in Heathrow landet. Zumindest glaube ich das; es sei denn, sein Flug hat Verspätung. Mit einem mulmigen Gefühl tappe ich zum Schreibtisch und klappe den Laptop auf. Ich schaue besser mal nach dem Status seines Flugs, nur um ganz sicher zu sein, dass alles nach Plan läuft.

Rasch tippe ich die Adresse der Webseite ein, aber statt dass sich die American-Airlines-Seite öffnet, sehe ich nur einen grauen Bildschirm und die Nachricht:

»Keine Internetverbindung. Die Seite kann nicht angezeigt werden, da Sie momentan offline sind.«

Ich runzele die Stirn. Wie kann das denn sein? Mein Blick geht zur WLAN-Anzeige oben auf dem Bildschirm, doch statt der beruhigenden vier Balken sehe ich nur ein gruseliges kleines Ausrufezeichen, das mich darüber in Kenntnis setzt, dass der WLAN-Empfang gestört ist.

Verflixt.

Hastig knie ich mich hin und krieche unter den Schreibtisch in das Gewirr aus Kabeln und Drähten. Dass das Internet ausgerechnet heute Mucken machen muss. Endlich habe ich den Router gefunden und schalte ihn aus und wieder ein. In letzter Zeit zickt er öfter mal rum. Irgendwas mit einem Update der Breitbandgeschwindigkeiten oder so …

Angespannt warte ich darauf, dass das blinkende Licht grün wird.

Nichts. Dreck.

Die einfachste Lösung für mein kleines Problem wäre es natürlich, mit meinem glänzenden neuen iPhone am Flughafen anzurufen und nachzufragen. Irgendwann habe ich Jacks ständigem Drängen nachgegeben, habe mein beinahe antikes altes Nokia in den wohlverdienten Ruhestand geschickt und bin mit einem Kopfsprung ins einundzwanzigste Jahrhundert gehechtet. Jetzt habe ich also überall und jederzeit Internetzugang und kann auch von unterwegs meine E-Mails abrufen. Gäbe es da nicht ein klitzekleines Problem.

Ich schnappe mir das iPhone vom Schreibtisch und marschiere im Pyjama in meinen winzigen Garten. Das gehört zu den Nachteilen, wenn man im Souterrain lebt. Absolut kein Handyempfang.

»Alles in Ordnung bei Ihnen, meine Liebe?«

Mitten in meinem verzweifelten Herumwedeln mit dem Telefon gestört, schaue ich auf und sehe meine Nachbarin Mrs Flannegan auf der anderen Seite des Gartenzauns stehen. Auf ihren Gehstock gestützt steht sie an ihrer Tür und raucht eine Zigarette.

»Ach, hallo, ich hatte Sie gar nicht gesehen«, sage ich lächelnd.

»Machen Sie Ihre Morgengymnastik?«, fragt sie mit hochgezogener Augenbraue.

»Ähm, nein.« Ich erröte ganz leicht. »Ich suche nur eine Stelle, an der ich mit dem iPhone Empfang habe.« Und zum Beweis, dass ich nicht vollkommen durchgeknallt bin, winke ich demonstrativ mit besagtem Gerät.

»Ach, bleiben Sie mir weg mit diesem neumodischen Unsinn.« Abfällig schnalzt sie mit der Zunge und zieht mit Nachdruck an ihrer Zigarette. »Mir sind die altmodischen Geräte lieber, die man in die Dose einstöpselt. Sie dürften sich meins gerne ausleihen, wenn Sie irgendwo anrufen möchten.«

»Nein danke, eigentlich hatte ich gerade versucht, online zu gehen …«

»Ihr jungen Leute und dieses Internetz«, brummt sie abschätzig und schüttelt den Kopf. »Meine Enkeltochter liegt mir ständig in den Ohren, ich soll auch dahin, dann könnte ich endlich ›surfen‹.« Sie verzieht das Gesicht.

»Sollten Sie auch.«

»Was soll ich in meinem Alter noch surfen lernen?«, fragt sie entrüstet. »Ich kann ja nicht mal schwimmen!«

Ich muss mir das Lachen verkneifen und beschließe, sämtliche Erklärungsversuche zu unterlassen.

»Und das sage ich ihr auch, wenn ich sie sehe«, fährt sie kopfschüttelnd fort.

»Kommt sie nicht bald zu Besuch?« Ihre Enkeltochter Linda lebt eigentlich in Neuseeland, seitdem ihre Mutter, Mrs Flannegans Tochter, vor einigen Jahren mit ihrem Ehemann dorthin ausgewandert ist. Deshalb war sie ganz aus dem Häuschen, als ihre geliebte Linda feierlich ankündigte, ein Jahr lang auf Reisen gehen und zuallererst London besuchen zu wollen.

»Ja, heute kommt sie an.« Sie strahlt über das ganze Gesicht und bekommt ganz rosige Wangen vor Aufregung.

»Wow, das ist ja toll«, freue ich mich mit ihr. »Genau wie Jack.«

Mrs Flannegan greift sich mit einer ihrer knochigen Hände an die Brust und säuselt mädchenhaft: »GI Jack?« So nennt sie ihn immer. Angeblich erinnert er sie an die amerikanischen Soldaten, die während des Kriegs in England stationiert waren und Kaugummi an die Kinder verteilten. »Seien Sie froh, dass ich nicht zehn Jahre jünger bin, sonst müssten Sie sich vorsehen!« Und dann lacht sie ihr krächziges Raucherhustenlachen.

Ich muss auch lachen. Das glaube ich ihr glatt. Mrs Flannegan ist Witwe und inzwischen Mitte achtzig, wenn nicht noch älter, aber als Jack da war, flirtete sie ungeniert wie ein junges Mädchen mit ihm.

»Sie freuen sich sicher schon sehr auf ihn, was?«

»Ja, sehr«, entgegne ich nickend und spüre wieder das altbekannte schmerzliche Ziehen in der Brust, wenn ich an die vergangenen zehn Wochen denke.

»Als mein Burt damals eingezogen wurde, habe ich ihn so vermisst, das kann ich gar nicht beschreiben. Ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern, als er nach Hause kam. Als sei es gestern gewesen. Ich war so aufgeregt …« Sie bricht ab, und ihr Blick geht in die Ferne. »Manchmal schaue ich aus dem Fenster und sehe ihn, wie er den Weg entlangkommt, in seiner schicken Uniform …«

»Er fehlt Ihnen sicher sehr«, sage ich leise.

»Und wie. Aber ich werde auch nicht jünger, also werden wir uns bald wiedersehen«, meint sie lachend, und ich muss wiederum über ihren typisch unsentimentalen Humor lachen.

»Wann kommt Jack denn an?«, erkundigt sie sich.

»Sein Flieger landet um eins. Ich fahre nach Heathrow und hole ihn dort ab.«

»Genau zur gleichen Zeit wie meine Enkelin«, entgegnet sie. »Wenn Sie sie sehen, sagen Sie ihr hallo. Sie heißt Linda Gledhill, vielleicht können Sie ja ein Schild hochhalten.«

»Dann holen Sie sie nicht am Flughafen ab?«

»Ich würde ja gerne, aber das ist mir ein bisschen zu viel.« Ihr Lächeln wird etwas schief, und sie weist auf ihren Gehstock. »Ich fühle mich zwar manchmal noch wie einundzwanzig, aber meine Hüftgelenke belehren mich leider eines Besseren.«

Ich zögere. Eigentlich wollte ich mich in Ruhe fertig machen und dann fix in die Tube springen. Ich schaue auf die Uhr. Und es wird langsam spät. Ich muss mich beeilen.

Aber andererseits …

Ich schaue Mrs Flannegan an. Ich weiß, wie gerne sie ihre Enkeltochter am Flughafen abholen würde, wie sehr sie sie vermisst hat. Und es gibt doch wirklich Schlimmeres, oder?

»Warum fahren wir nicht gemeinsam hin?«, schlage ich vor, ehe ich es mir anders überlegen kann.

Im ersten Moment scheint sie ganz aufgeregt angesichts der Vorstellung, aber dann sinkt sie in sich zusammen und schüttelt den Kopf. »Seien Sie nicht albern, Kindchen. Sie wollen doch keine alte Frau wie mich am Rockzipfel hängen haben, die Sie ständig bremst.«

»Wenn hier einer albern ist, dann Sie«, widerspreche ich energisch. »Na los, Sie müssen sich umziehen, Sie können Ihre Enkelin schließlich nicht in der Kittelschürze empfangen.«

»Also, wenn Sie ganz sicher sind …«

»Vollkommen«, entgegne ich nickend. »Und jetzt fix. Wir wollen Linda und Jack doch nicht am Flughafen warten lassen.«

»Na ja, wenn Sie meinen …«

Und während Mrs Flannegan mit dem karierten Pantoffel ihre Kippe ausdrückt, gehe ich nach drinnen und springe rasch unter die Dusche. Eigentlich hatte ich vor, mir ein ausgiebiges Bad zu gönnen und mir dann alle Zeit der Welt für Frisur und Make-up zu nehmen … Doch das kann ich mir jetzt abschminken, ich habe höchstens noch Zeit, mir schnell die Haare zu föhnen und ein bisschen Lipgloss und Wimperntusche ins Gesicht zu klatschen.

Aber immerhin bleibt mir noch genügend Zeit, in die entzückende neue Unterwäsche zu schlüpfen. Wobei, ich sage schlüpfen, aber der String sitzt ganz schön eng, und mit dem seidenen Balkonett-BH habe ich auch etwas zu kämpfen, bis ich meine Brüste hineingequetscht habe. Aber es ist die Mühe wert, wenn ich mir vorstelle, wie Jack mir die Sachen später wieder auszieht …

In dieser äußerst angenehmen Vorstellung schwelgend streife ich mir das neue Sommerkleidchen über, das ich eigens für diesen besonderen Anlass erstanden habe. Es ist aus derselben Boutique wie die Chiffonbluse und hatte ein ähnlich tränentreibendes Preisschild. Aber da mein Freund nicht jeden Tag fünftausend Meilen fliegt, um mich wiederzusehen, möchte ich besonders hübsch aussehen. Ich meine, ich kann da schließlich nicht in ollen Leggins und einem labberigen T-Shirt aufkreuzen, oder?

Vor dem Spiegel drehe ich mich einmal um die eigene Achse und betrachte mich kritisch, dann ziehe ich die Sandalen an, die ich damals in Indien gekauft habe. Die habe ich von einem Schuster anpassen lassen, damit sie mir nicht mehr ständig vom Fuß rutschen. Mein Blick geht an mir herunter, und als ich sehe, wie die Sonne sich in den Pailletten der Schuhe spiegelt, stehe ich für einen kurzen Augenblick wieder auf der Dachterrasse in Udaipur mit Blick auf den See, wo Jack mich zum ersten Mal geküsst hat …

In diesen Tagtraum versunken träufele ich mir etwas von dem indischen Parfumöl auf die Handgelenke, wobei mein Blick auf meine Armbanduhr fällt.

Schlagartig bin ich hellwach. Es wird höchste Zeit. Wir müssen los.

Rasch werfe ich Lipgloss, Handy und einen Pashmina in die Handtasche, greife mir im Laufen den Schlüssel und bin schon zur Tür hinaus. Auf der Fußmatte liegt die Post, und beim Aufheben sehe ich, dass unter den Rechnungen auch eine Karte mit Pariser Poststempel ist. Die ist sicher von meiner Freundin Harriet, freue ich mich und stelle sie an die Seite, um sie nachher in Ruhe zu lesen. Sie denkt immer an meinen Geburtstag, sogar jetzt, wo sie in Frankreich lebt, denke ich, und mir wird dabei ganz warm ums Herz. Bestimmt ist es dort ganz toll, ich muss sie unbedingt anrufen, wenn ich einen Moment Zeit habe, damit wir mal wieder ganz in Ruhe quatschen können.

»Sei schön brav!«, rufe ich Heathcliff noch zu, der wieder in sein Körbchen gestiegen ist und sich gemütlich zusammengeringelt hat. »Wenn Mama nach Hause kommt, hat sie Jack dabei!«

Verschlafen wedelt er mit dem Schwanz, als er Jacks Namen hört.

Schwungvoll knalle ich die Wohnungstür hinter mir zu, hole Mrs Flannegan nebenan ab und helfe ihr die Treppe hinauf zur Straße. Gemeinsam schleichen wir dann im Schneckentempo zur Bahn. Ich spüre die Minuten nur so davonticken, aber ich gebe mir große Mühe, meine Ungeduld zu zügeln. Schließlich werden wir irgendwann alle alt. Wenn wir Glück haben. Das sage ich mir wie ein Mantra, während ich meiner Nachbarin helfe, über einen Zebrastreifen zu schlurfen.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichen wir die Haltestelle und fahren gemeinsam mit der Rolltreppe nach unten. Mrs Flannegan gesteht, dass sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr mit der Tube gefahren ist, und so staunt sie lautstark über alles und jeden, angefangen bei den bewegten Werbeanzeigen bis hin zu den Menschenmassen. Fast wie ein Kind bei seinem ersten Ausflug zum Rummelplatz.

Zum Glück ist die Bahn nicht so brechend voll wie sonst, und ich finde schnell einen Sitzplatz für Mrs Flannegan, die mich in den nächsten vierzig Minuten mit Anekdoten über ihre Enkeltochter Linda unterhält. Nickend höre ich zu und werfe auch hin und wieder einen Kommentar ein, aber nach einer Weile merke ich, wie meine Gedanken abschweifen und wieder um Jack zu kreisen beginnen. Dass jede Sekunde, die vergeht, jeder Meter, den wir zurücklegen, jedes Gebäude und jeder Baum, die unscharf vorbeisausen, mich unserem Wiedersehen immer näher bringen.

Ich kann noch immer kaum fassen, was für ein Glückspilz ich bin. Nach der Trennung von Sam hatte ich geglaubt, ich könnte nie wieder so für jemanden empfinden. Mein Glaube an die Liebe war in seinen Grundfesten erschüttert, und mein Herz war so zerschmettert, dass ich dachte, nie wieder einem Mann vertrauen zu können. Vertrauen ist so unbegreiflich, man kann es nicht sehen, man kann es nicht fassen, aber für die Seele ist es so lebenswichtig wie die Luft zum Atmen.

Es heißt immer, alles, was passiert, habe seinen Grund. Oder es sei besser so, wie es ist. Aber mir wollte damals partout nicht in den Kopf, wieso ich meinen Verlobten mit einer anderen Frau im Bett erwischen musste. Heute begreife ich, dass alles gekommen ist, wie es kommen musste. All der Liebeskummer und Herzschmerz waren nötig, um zu verstehen und zu wachsen, um mich selbst zu finden und wieder lieben zu lernen.

Der Schmerz hat mich angetrieben, Dinge zu wagen, die ich mich sonst in meinem normalen Alltagsleben nie getraut hätte. Er hat mir den Mut (vielleicht der Verzweiflung) verliehen, in einen Flieger nach Indien zu steigen und mit einem wildfremden Mann, den ich im Zug kennengelernt habe, einen verrückten Roadtrip durch halb Rajasthan zu unternehmen. Er hat eine Ereigniskette in Gang gesetzt, an deren Ende ich zu Jack gefunden habe. Und dafür bin ich unendlich dankbar.

Endlich fährt die Bahn in die Haltestelle Heathrow Terminal Drei ein. Ich helfe Mrs Flannegan beim Aussteigen, und dann gehen wir gemeinsam in den Ankunftsbereich. Hastig schaue ich auf der Anzeigentafel nach, ob wir zu spät kommen, und sehe erleichtert, dass Jacks Flug gerade erst gelandet ist.

»Welche Flugnummer hat Lindas Flug denn?«, frage ich meine Nachbarin, nachdem ich uns einen Platz gleich hinter der Absperrung gesucht habe, mit freiem Blick auf die ankommenden Passagiere, die durch die automatischen Schiebetüren kommen. Aber kaum habe ich das gesagt, höre ich schon jemanden rufen:

»Nan? Bist du das?«, mit unüberhörbar neuseeländischem Akzent.

Wir drehen uns beide um und sehen eine sonnengebräunte junge blonde Frau mit einem gigantischen Rucksack, die mit einem breiten Lächeln auf uns zustürmt. Mrs Flannegan sieht sie und strahlt über das ganze Gesicht.

»Linda!«

Stürmisch fällt Linda ihrer Großmutter um den Hals und reißt sie beinahe zu Boden, und dann umarmen sie sich und lachen und weinen und schnattern drauflos wie die Gänse. Irgendwann reißt Mrs Flannegan sich widerstrebend los und stellt mich ihrer Enkelin vor, und dann verabschieden sich die beiden.

»Ich hoffe, Sie brauchen nicht mehr allzu lange zu warten«, sagt Mrs Flannegan grinsend.

»Ich auch.« Und ich erwidere aufgeregt ihr Lächeln und winke ihnen nach, dann drehe ich mich wieder zu den Schiebetüren um.

Ich bin ganz zappelig und nervös. Jedes Mal wenn die Tür aufgeht, vergesse ich zu atmen. Ich stehe da wie auf glühenden Kohlen, und mein Magen schlägt vor Aufregung Purzelbäume. Himmel, ich liebe Begrüßungsszenen am Flughafen – immer wenn ich Pärchen sehe, die sich nach langer Zeit wiedersehen, finde ich das so furchtbar romantisch wie eine Szene aus Tatsächlich … Liebe. Und jetzt endlich bekomme ich meine ganz eigene kitschige, schnulzige Begrüßungsszene mit Jack!

Jetzt müsste er jeden Moment durch die Tür kommen … jeden Moment …

Wieder gehen die Türen auf und spucken einen ganzen Schwall Menschen aus. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen. Und dann …

Ach, du lieber Himmel, ich glaube, ich sehe ihn, ich glaube, da ist Jack, ich glaube, da ist er …!

Drei

Also ehrlich, ich glaube ernsthaft, ich brauche eine Brille.

Fünf Minuten später stehe ich immer noch da und warte ungeduldig auf Jack. Der Mann, den ich gesehen hatte, war nicht Jack. Bei näherer Betrachtung sah er ihm nicht mal im Entferntesten ähnlich. Aber als ich das merkte, war es schon zu spät. Bis mir klar wurde, dass er es nicht ist, hatte ich ihm schon wie eine Irre zugewunken und ihn angegrinst wie ein debiles Honigkuchenpferd. Himmel, war das peinlich. Also musste ich tun, als meinte ich jemanden hinter ihm, wobei ich nicht glaube, dass er mir das abgekauft hat, denn hinter ihm kam nur ein Grüppchen japanischer Rentner.

Aber es hätte auch noch schlimmer kommen können. Ich hätte ihm um den Hals fallen und wegen sexueller Belästigung festgenommen werden können. Man stelle sich das vor! Wie ich in Handschellen abgeführt werde, just in dem Augenblick, als Jack durch die Tür kommt!

Bei dem Gedanken schüttelt es mich vor Entsetzen, und ich gucke noch viel genauer hin, damit mir so was kein zweites Mal passiert. Mit den Menschen, die durch die Schiebetüren kommen, ist es wie mit Ebbe und Flut – in einem Moment quillt ein ganzer Schwall heraus, im nächsten Augenblick ist keiner mehr zu sehen. Aber ich bin hoch konzentriert. Ich will den Blick nicht von den Türen nehmen, um ihn auf keinen Fall zu verpassen.

Ich warte.

Hm, irgendwie habe ich das Gefühl, schon eine ganze Weile hier herumzustehen. Inzwischen müsste er doch längst da sein, oder? Kurz reiße ich den Blick von den Schiebetüren los und schaue auf die Uhr. Himmel, ist es wirklich schon so spät? Ich stehe hier wirklich schon seit einer Ewigkeit.

Langsam werde ich doch etwas unruhig. Vielleicht wurde er bei der Kontrolle aufgehalten. Oder vielleicht ist sein Koffer abhandengekommen. Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf. Das sollte mir eine Lehre sein, ich werde mir nie wieder Banged Up Abroad anschauen, diese Sendung darüber, was auf Reisen so alles schiefgehen kann. Auch wenn ich nicht ernsthaft glaube, dass Jack etwas zugestoßen ist. Aber trotzdem.

Urplötzlich summt und brummt es in meiner Handtasche, und mir fällt das iPhone wieder ein. Ich hatte so viel um die Ohren, dass ich gar nicht mehr daran gedacht habe. Mit Mrs Flannegan und der Fahrt zum Flughafen und ihrer Enkeltochter und dem Warten auf Jack.

Der immer noch nicht da ist.

Widerstrebend verlasse ich meinen Wachposten und krame in der Handtasche nach dem iPhone. Verdammt, wo ist das blöde Ding bloß hin? Ich knie mich auf den Boden und fange an, alles hektisch herauszuholen: Schlüssel, Pashmina, Portemonnaie – alles landet auf dem Boden des Ankunftsterminals. Kurz schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass es mal wieder typisch für mich wäre, wenn Jack genau in dem Moment ankäme, während ich auf dem Boden herumkrieche, die Haare mir wirr zu Berge stehen und ich meine sämtlichen Habseligkeiten um mich herum verteilt habe, aber jetzt werde ich wirklich langsam panisch.

Endlich! Ganz unten am Boden der Handtasche entdecke ich schließlich das Handy, ziehe es heraus und schaue aufs Display. Und bekomme den Schreck meines Lebens. Sechs Anrufe in Abwesenheit, vier Nachrichten auf der Mailbox und zehn E-Mails? Ungläubig starre ich auf die kleinen Zahlen auf der Anzeige. Im ersten Moment bin ich wie gelähmt und weiß gar nicht, was ich als Erstes tun soll, dann drücke ich auf das kleine E-Mail-Symbol.

Sämtliche Nachrichten sind von Jack.

Mein Magen krampft sich zusammen.

Die Betreffzeile der ersten lautet: »RUFMICHAN.« Oder ist das die letzte? Ich weiß es nicht, sie sind alle in einer Art Nachrichtenverlauf. Ich klicke auf die Mail und warte ungeduldig, dass sie sich öffnet, werde aber stattdessen zu einem Hotspot umgeleitet. Ein Hotspot? Ich will doch nicht zu einem Hotspot! Ich will einfach bloß meine Mails lesen! Wie wild tippe ich auf dem doofen Handy herum und will wieder zurück zu den E-Mails, aber das Wartesymbol dreht sich und dreht sich, und das blöde Ding lädt einfach nicht. Ach, verflixt und zugenäht, komm schon, komm schon, komm …

Ihre Nachricht konnte nicht vom Server heruntergeladen werden.

Was zum …?

Frustriert starre ich auf die leere Mail von Jack.Am liebsten würde ich laut schreien.

Aber ich reiße mich zusammen und drücke mich weiter durch zu meiner Mailbox. Und warte darauf, verbunden zu werden. Alles dauert eine gefühlte Ewigkeit. Endlich steht die Verbindung, und ich muss mir dann von einer nervigen Frauenstimme erklären lassen, wie viele Nachrichten ich habe und wie ich sie abrufen kann.

Als wüsste ich das alles nicht längst! Hör auf mit den Erklärungen, und beeile dich einfach. Dalli, dalli! Bilde ich mir das nur ein, oder redet sie wirklich so enervierend langsam?

»Hey, ich bin gerade am Flughafen …«

Na endlich. Als ich Jacks sanfte Stimme mit dem gedehnten amerikanischen Akzent höre, verfliegt meine Panik, und ein warmes Gefühl steigt in mir auf. Oooh, er hat mir noch auf die Mailbox gesprochen, ehe er in den Flieger gestiegen ist, sicher um mir zu sagen, dass er mich liebt. Ich stehe auf und gucke rüber zu den Schiebetüren, aus denen jetzt wieder ein Schwarm Menschen drängt.

»… und es ist was dazwischengekommen …«

Es ist was dazwischengekommen?

Mir wird mit einem Mal eiskalt. Ein paar kleine Worte. Aber nicht die, die ich erwartet hatte.

»… es tut mir wirklich leid.«

Es tut ihm leid? Was tut ihm leid? Habe ich irgendwas verpasst?

Meine Gedanken gehen wild durcheinander, aber irgendwo tief drinnen, im Auge des Sturms, überkommt mich ein entsetzliches Gefühl eiskalten Grauens. Wie wenn man merkt, dass man seine Handtasche verloren hat oder sich versehentlich aus der Wohnung ausgesperrt hat …

Oder der Mann, den man liebt, etwas getan hat, das man eigentlich lieber gar nicht wissen will.

»Ich wollte dich anrufen, aber bei euch ist es nach Mitternacht, und du schläfst sicher schon, und per Mail wollte ich es dir nicht sagen, also hoffe ich, du hörst das hier, sobald du wach bist …«

Was ist passiert?

»Ich bin ebenso enttäuscht wie du, aber ich weiß, dass du mich verstehst, und ich mache es wieder gut, versprochen …«

Ich beobachte noch immer die Menschen, die in die Ankunftshalle strömen. Inzwischen kommen sie nur noch vereinzelt durch die Türen. Mein Blick geht ins Leere. Will er mir damit sagen, was ich glaube, das er mir sagen will? Meint er damit, was ich glaube, das er meint?

»Ruf mich an, sobald du meine Nachricht bekommen hast. Ich liebe dich, Süße.«

Er kommt nicht.

Die Enttäuschung trifft mich wie ein Schwinger in die Magengrube. Ich fasse es einfach nicht. Das kann doch nicht wahr sein. Das muss ein Witz sein. Jack liebt Witze. Jack war immer schon ein Witzbold.

Stimmt doch, oder? Oder?

Hastig wähle ich seine Nummer, aber ich habe plötzlich zwei linke Hände und vertippe mich ständig. Meine Kehle ist staubtrocken, und ich muss schwer schlucken. Es klingelt und klingelt, und endlich knackst es in der Leitung.

Jemand geht ran.

»Hallo, Jack?«, japse ich.

ENDE DER LESEPROBE