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Mit Herz, Humor und Hund
Nach ihrer Scheidung braucht Liv dringend einen Tapetenwechsel und zieht in ein verschlafenes Dörfchen in Yorkshire. Gegen ihre Einsamkeit will sie im Tierheim einen Welpen adoptieren. Doch ihr Blick fällt auf einen betagten Hund mit angegrauter Schnauze: Er sieht so verlassen aus, wie sie sich fühlt – sie sind füreinander bestimmt.
Adoptivhund Harry und Liv erkunden nun gemeinsam die Nachbarschaft: Da ist Valentin, ein alter, einsamer Mann, der stumm am Fenster sitzt. Stanley, der Autismus hat und sich hinter dem Gartentor versteckt. Teenager Maya, die auf alles und jeden wütend ist. Doch mit Harrys Ankunft beginnen die Dinge, sich zu ändern. Die Dorfgemeinschaft wächst wieder zusammen. Und auch Liv traut sich, ihr Herz wieder zu öffnen …
Von der Autorin des SPIEGEL-Bestsellers »Je größer der Dachschaden, desto besser die Aussicht«
Mit Farbschnitt!
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Aus dem Englischen von Karolin Viseneber
Für Elton.
Und alle anderen wunderbaren Tiere,
die unser Leben bereichern.
© Alexandra Potter 2022
Titel der englischen Originalausgabe: »One Good Thing« Macmillan, ein Imprint von Pan Macmillan, Macmillan Publishers International Limited, London 2022
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2022
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Cover & Impressum
Prolog
Die sieben Phasen
Phase 1
Was zum Teufel
Yorkshire
London
Wie gewonnen, so zerronnen
Stanley
Für einen guten Zweck
Valentin
Online-Dating
Maya
Rette mich
Phase 2
Bleib ruhig (und geh spazieren)
Vertrauen
Valentin
Erste Schritte
E-Mail 1
Der Moment der Wahrheit
Wut & Loslassen
Der Junge
Die Jugendliche
Nachricht
Nur eine Zahl
Zurück in die Zukunft
Kein Date
Der alte Mann
Phase 3
Hätte, hätte, Fahrradkette
Trümmerfeld
Zwei Wochen Vorlaufzeit
Der Schneemann
Heathcliff
Valentin
E-Mail 2
Vater und Sohn
Die Burg
Tapferkeit
Phase 4
Halte durch
E-Mail 3
Schlafsituation
Stanley
Schicht für Schicht
Reue
Dorfdeppen
Der Morgen danach
Maya
Was ungesagt bleibt
Überall und doch unsichtbar
Phase 5
Unverhofft kommt oft
Glück gehabt!
Eine helfende Hand
Valentin
E-Mail 4
See You Later, Alligator
Leergelaufen
Stanley
Ein runder Geburtstag
Überraschung
Vor achtzehn Monaten
Gute Miene …
Phase Sechs
Liebe deine Fehler
Landwirtschaftsmesse
Der Teebeutel
Ein Geständnis
Valentin
WhatsApp mit Maya
Nacherfüllen
E-Mail 5
Mit der Tür ins Haus fallen
Stanley
Ein Tisch für zwei
Maya
Sticky-Toffee-Pudding
Neesha Sharma
Harry
Phase 7
Das Beste kommt noch
E-Mail 6
Ein Fest des Lebens
Ein neues Kapitel aufschlagen
Valentin
WhatsApp mit Naomi
Versöhnung
Die große Eröffnung
Der letzte Tanz
E-Mail 7
Stanley
Valentin
Der Rest des Lebens
Eine Art Nachwort
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
He du,
weißt du noch, wie wir als Kinder Dankesbriefe geschrieben haben? Meist in der Weihnachtszeit oder nach Geburtstagen in unserer schönsten Schrift. Diese E-Mail ist mein Dankeschön an dich.
Als alles auseinanderbrach, verlor ich die Zukunft aus dem Blick. Der Gedanke, mein altes Leben hinter mir zu lassen und ein neues zu beginnen, war wirklich Furcht einflößend. Du weißt ja, wie viel Angst ich immer davor hatte, etwas Neues auszuprobieren. So mutig wie du war ich noch nie. Was hast du immer gesagt? Das Leben beginnt, sobald man die Komfortzone verlässt.
Irgendwann habe ich dann doch deinen Rat befolgt. Und weißt du, warum? Weil der Gedanke, nie wieder glücklich zu sein, noch viel schlimmer ist. Es gibt so viele Menschen mit gebrochenen Herzen um uns herum, und trotzdem habe ich mich so furchtbar einsam gefühlt.
Hier habe ich endlich verstanden, dass manchmal erst etwas, das man liebt, verloren gehen muss, um herauszufinden, was wirklich wichtig ist. Und dabei habe ich noch ein Geheimnis entdeckt. Um sein Leben umzukrempeln, kann bereits ein Stück vom Glück ausreichen. Oder ein namenloser, struppiger Hund.
Dadurch kann sich alles verändern. Daraus kann man die Kraft ziehen, ein Herz zu heilen, Mut und Freude zu wecken und echte Freundschaften aufzubauen, die eine Gemeinschaft zusammenbringen können. Es kann sogar Leben retten.
Ich danke dir also für deinen Rat. Es ist weder Weihnachten noch mein Geburtstag, aber deine Worte haben mir genau das gegeben, was ich am meisten brauchte: Hoffnung.
x
Die sieben Phasen der Trauer basieren auf der berühmten Theorie der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross und erklären unsere Reaktionen auf unterschiedliche Arten von Verlusterfahrungen. Verlust kann durch viele Situationen entstehen: den Tod eines geliebten Menschen, das Ende einer Beziehung oder irgendeine große Lebensveränderung. Scheidung etwa steht für den Tod einer Ehe mit all ihren Hoffnungen und Träumen und bedarf ebenfalls eines Heilungsprozesses.
Nach anfänglichem Schock und Unglauben beginnt eine Reise durch vielschichtige Gefühlslagen, bis es schließlich aufwärts in Richtung Akzeptanz, Hoffnung und sogar Freude geht. Im echten Leben verläuft Trauer jedoch niemals linear, Gefühle sind kompliziert, also ist es wichtig, die sieben Phasen als ungefähre Richtlinien zu verstehen. Sie sind ein Anhaltspunkt und können von Person zu Person unterschiedlich sein. Verlust ist universell, aber gleichzeitig sehr individuell, und jeder Weg ist unterschiedlich.
»Und? Was denken Sie?«
Nachdem ich mir das Erdgeschoss angesehen habe, öffnet der Makler im ersten Stock eine abgebeizte Kiefernholztür und zeigt mir das Schlafzimmer.
Eigentlich ist die Frage harmlos, trotzdem ist es vielleicht nicht gerade ratsam, sie einer frisch geschiedenen Frau zu stellen. Und noch dazu einer, die sich dafür entschieden hat, London und ihre Freunde zu verlassen, ihren Job als Lehrerin, in dem sie die letzten zehn Jahre gearbeitet hat, an den Nagel zu hängen und mehrere Hundert Meilen entfernt in die Yorkshire Dales zu ziehen, wo sie niemanden kennt.
Ich denke viel. Hauptsächlich, dass ich noch unter Schock stehe. Dass ich das Aus meiner Ehe immer noch nicht fassen kann. Dass ich mich ganz offensichtlich in einer Midlife-Crisis befinde. Dass ich seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen habe. Dass ich gestern überall nach meinem Schlüsselbund gesucht und ihn dann im Kühlschrank gefunden habe. Dass ich fünf Pfund mehr auf die Waage bringe – ha, wer’s glaubt, wird selig, wohl eher fünfzehn. Dass ich mich verloren und verwirrt fühle. Dass ich oft nachts allein im Dunkeln liege und mir alles wie ein schlechter Traum vorkommt. Dass alles mein Fehler ist.
Dass ich ihn liebe.
Dass ich ihn hasse.
Dass ich mir heimlich wünsche, die Art Frau zu sein, die ihrem untreuen Ex verrückte, wütende und rachsüchtige Dinge antut, gefrorene Krabben und Sprühfarben inklusive, anstatt die Art Frau zu sein, die seine Hemden bügelt, sie ordentlich gefaltet in Müllsäcke verpackt und diese dann in die Garage stellt, für den Tag, an dem er seine restlichen Sachen abholt.
»Sehr hübsch«, sage ich höflich und sehe mich in dem schlecht beleuchteten Zimmer mit der altmodischen Blumentapete und dem verblichenen braunen Teppichboden um, der an den Stellen, wo einst Möbel standen, dunkler ist.
Ich muss vollkommen übergeschnappt sein. Das ist alles ein furchtbarer Fehler.
Den durchdringenden, muffigen Geruch von altem Haus in der Nase, verspüre ich plötzlich Heimweh.
Nur leider habe ich kein Heim mehr, nach dem ich mich sehnen kann. Es wurde wie vertraglich vereinbart mit der Scheidung verkauft. Die jetzigen Eigentümer, ein Paar mit zwei kleinen Kindern, werden im neuen Jahr einziehen. Mein Ex-Ehemann wohnt jetzt bei seiner Freundin. Sein Sohn Will, mein wunderbarer Stiefsohn, der immer an Wochenenden und in den Ferien bei uns war, hat sein Studium abgeschlossen und ist nun auf Reisen. Nur mein leeres Haus voller Erinnerungen und ich sind noch übrig.
Das ist der Grund dafür, warum ich wenige Wochen vor Weihnachten, während alle Welt Geschenke und Weihnachtsschmuck kauft, auf der Suche nach einem Ort bin, den ich mein Zuhause nennen kann.
»Ich bin mir natürlich bewusst, dass Sie laut Ihren Suchkriterien eine Wohnung bevorzugen, die am besten sofort bezugsfähig ist, aber ich dachte, als letztes Objekt könnte ich einen etwas abweichenden Vorschlag wagen.«
Es wird langsam spät. Das ist meine letzte Besichtigung, bevor ich zurück nach London muss. Der Tag war ganz schön lang. Im Morgengrauen bin ich am Bahnhof Kings Cross in den Schnellzug gestiegen, dann in Leeds in eine der regionalen Bahnen, die mich auf einer langsamen, aber dafür umso atemberaubenderen Reise durch die spektakuläre Landschaft gebracht hat, um mich schließlich an einem kleinen, vom Wind gepeitschten Bahnhof in den Yorkshire Dales abzusetzen.
Dort wartete Mr Hardcastle auf mich, ein Makler, mit dem ich bisher nur per E-Mail Kontakt gehabt hatte. Rotgesichtig und wuchtig in seiner Wachsjacke mit Cordkragen, wirkte er ganz anders als seine Londoner Pendants in ihren schicken Anzügen. Nachdem er mir mit seinem beherzten Händedruck fast die Finger zerquetscht hätte, führte er mich zum Beifahrersitz seines alten Toyota RAV4 und fuhr mit mir tief in die Dales hinein, vorbei an Feldern mit Kühen und Schafen. Er zeigte mir alles, was der Markt zu bieten hatte, während er in seinem für die Pennines typischen Dialekt vergnügt über das Wetter plauderte.
»Es sollte eigentlich regnen … ganz schön frisch heute … Sie haben Glück, gestern hat es wie aus Kübeln geschüttet … auf den Gipfeln soll bereits Schnee liegen … sieht aus, als würde es vorüberziehen, da ist schon ein Stück blauer Himmel … mit ein bisschen Glück wird das Wetter am Wochenende wieder großartig …«
Wenn man bedenkt, dass wir gerade Anfang Dezember haben, ist sein Optimismus in Sachen Wetter beachtlich. Genau wie seine Fähigkeit, irgendetwas Positives in diesem dreihundert Jahre alten Steinhäuschen zu sehen, das ursprünglich für Landarbeiter in dem kleinen, wenngleich überaus pittoresken Dörfchen Nettlewick erbaut wurde. Mit seinen winzigen dunklen Räumen, den morschen Fenstern und nikotingelben Wänden wirkt es einfach nur alt, müde und als bräuchte es dringend eine Veränderung.
Das Gefühl kenne ich.
»Es hat einen ganz eigenen Charme, finden Sie nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Schimmelpilze so charmant finde.« Ich zeige auf ein gruselig aussehendes Exemplar an der Wand. »Oder Holzwürmer.« Misstrauisch betrachte ich die winzigen Löcher in den langen Deckenbalken.
»Der Verkäufer nimmt gern Angebote entgegen«, fährt er gut gelaunt fort und wiegt sich leicht vor und zurück. »Und der Blick nach Westen vom Garten aus ist wirklich hübsch. Nur ein paar Häuser und ansonsten ein freier Blick auf die Dales.«
»Und was sieht man hier?«
Ich gehe auf das Schiebefenster zu und ziehe die gräulich gefleckte Gardine beiseite.
»Oh, einen Friedhof.«
»Immerhin herrscht Totenstille.« Er schmunzelt über seinen Witz.
Jetzt muss ich an Tote denken, an Michael Jacksons Thriller-Video.
»Der Besitzer hat es wohl von seiner Großtante geerbt, aber er kann nichts damit anfangen, weil er im Ausland lebt.«
Es ist schon dunkel draußen, und ich spiegele mich in der Fensterscheibe. Müde sehe ich aus. Alt. Geisterhaft bleich.
Er kann nichts damit anfangen.
So muss sich unsere Ehe für meinen Mann angefühlt haben, als er sich entschied, sie zu beenden. Der Gedanke schnürt mir die Brust zu. Dem Makler noch immer den Rücken zugewandt, presse ich die Augen zusammen, drücke mit Daumen und Zeigefinger auf die Tränenkanäle. Ich darf jetzt nicht weinen. Nicht hier.
»Wie gesagt, es entspricht nicht ganz Ihren Kriterien, aber einen Versuch war es wert.«
Als er den Lichtschalter betätigt und die nackte Glühbirne über mir ausgeht, öffne ich die Augen und bleibe noch einen Augenblick am Fenster stehen. Mein Spiegelbild ist verschwunden, und ich kann über die hohe Steinmauer hinweg und durch die Astgerippe der Bäume bis in die dunkelsten Winkel des Friedhofs sehen. Es ist gerade einmal sechzehn Uhr und trotzdem schon tiefschwarz dort draußen.
»Also, wenn ich noch einmal auf die umgebauten Fabrikgebäude zurückkommen darf, die ich Ihnen heute als Erstes gezeigt habe …«
Hinter mir kann ich das Klicken der Lichtschalter bei dem Versuch, den richtigen für die Treppe zu finden, hören. Vielleicht sollte ich mir die ganze Sache mit dem Umzug doch noch einmal überlegen. Einfach zugeben, dass ich einen Fehler gemacht und überstürzt gehandelt habe. Irgendetwas in London mieten und darum bitten, meinen alten Job zurückzubekommen. Das ist schließlich alles überhaupt nicht meine Art. Impulsiv bin ich doch sonst nicht. Ich bin vernünftig. Vorsichtig. Alles andere als risikofreudig, wenn man meinem Rentenberater Glauben schenken darf.
Außerdem raten alle Selbsthilfebücher, von denen mittlerweile ein ganzer Stapel auf meinem Nachttisch liegt, mindestens ein Jahr nach der Scheidung keine großen Entscheidungen zu treffen.
»Ich meine die Wohnung mit der Dachterrasse, zehn Meilen von hier, die Ihnen gut gefallen hat. Es gibt jede Menge Interessenten, kein Wunder, sie liegt ja auch in einer beliebten Stadt mit einem tollen Markt, in der Nähe von großen Geschäften, dem Bahnhof und vielen anderen Freizeiteinrichtungen …«
Der Makler setzt sein Verkaufsgespräch im Hintergrund fort.
»Wenn Sie die Wohnung ernsthaft in Betracht ziehen, sollten Sie nicht zu lange zögern …«
Während ich weiter aus dem Fenster starre, entdecke ich plötzlich etwas. Etwas Pinkes. Weiße Punkte. Ich gucke genauer hin. Es hat angefangen zu regnen, Tropfen prasseln gegen das Fenster, werden zu Rinnsalen, die an den Scheiben hinunterlaufen. Ein Regenschirm. Ein leuchtend pinker Regenschirm mit weißen Punkten. Mein Blick folgt ihm, während er sich über den Friedhof bewegt, aber der Besitzer bleibt darunter verborgen. Irgendetwas daran stimmt mich fröhlich. Dieser Farbtupfer wirkt so unpassend, wie er so vergnügt durch die winterliche Kargheit und zwischen den Gräbern hin und her hüpft. Ein Licht der Hoffnung in der Dunkelheit.
»Ich würde gern ein Angebot abgeben.«
Ich drehe mich um, werfe dem Makler einen Blick zu, der auf dem Treppenabsatz auf mich wartet und dabei auf sein Smartphone schaut. Er sieht mich an wie meine Schüler, wenn ich sie bei einem Fehlverhalten ertappt habe.
»Weihnachtseinkäufe«, erklärt er mir verlegen. »Parfum. Für meine Frau. Ich kaufe ihr jedes Jahr dasselbe.« Er steckt schnell sein Telefon ein. »Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«
»Ich möchte ein Angebot abgeben.«
»Oh! Fantastisch! Eine exzellente Entscheidung. Unsere umgebauten Fabrikgebäude sind bei Berufstätigen sehr beliebt …«
»Nein, ich möchte dieses Haus hier kaufen.«
»Dieses Haus hier?«, wiederholt er, als könnte er es selbst kaum fassen, dass seine Verkaufstaktik gewirkt hat.
Sein Staunen bestätigt mich nur noch mehr in meiner Entscheidung. Irgendetwas an diesem Haus, die Art, wie es vernachlässigt und nicht genug geliebt wurde, hat etwas in mir aufgewühlt. Jemand muss dem Haus neues Leben einhauchen. Langsam steige ich die steile, enge Treppe hinunter.
»Ich werde ein Angebot machen, das sehr nah an dem anberaumten Verkaufspreis liegt, wenn Sie es dafür schnell vom Markt nehmen und wir zum Jahreswechsel die Schlüsselübergabe machen können.«
»In Ordnung. Ja. Natürlich … Ich werde mich sofort mit dem Verkäufer in Singapur in Verbindung setzen.« Seine Schritte folgen mir eilig die Stufen hinunter. »Seien Sie unbesorgt, Ms Brooks, bei Hardcastle & Son sind Ihre Probleme unsere Lösungen.«
»Oh, und noch etwas, Mr Hardcastle …«
Als ich unten ankomme, drehe ich mich zu ihm um und bemerke, wie er sich den Kopf an den tief hängenden Balken stößt und zusammenzuckt.
»Kaufen Sie Ihrer Frau diese Weihnachten etwas anderes. Ich bin mir sicher, dass sie das verfluchte Parfum nicht mehr riechen kann.«
Sechs Wochen später.
»Ist das alles?«
Die Möbelpacker holen den letzten Umzugskarton aus dem Flur.
»Ja, ich denke schon …«
Der Tag des Umzugs ist endlich da. Nachdem ich wochenlang von Kreppband und Luftpolsterfolie umgeben war, ist das Haus nun seines Inhalts entleert.
Dort auf dem Treppenabsatz, bevor ich den Schlüssel im Schloss umdrehe, zögere ich.
»Also eigentlich, warten Sie«, rufe ich den Möbelpackern hinterher, die sich durch den Vorgarten entfernen, »lassen Sie mich noch einen letzten Rundgang machen.«
Schnell laufe ich durch die leeren Räume. Die Vorhänge habe ich alle hängen lassen, trotzdem höre ich das Echo meiner Schritte auf dem Holzboden und muss daran denken, wie wir vor zehn Jahren frisch verheiratet hier eingezogen sind. Damals waren die Zimmer noch neu und aufregend. Ich lief voller Vorfreude und Energie darin umher, jede Menge Farb- und Gestaltungsideen im Kopf …
Ich bleibe stehen.
Meinen gesamten Besitz habe ich eingepackt, doch meine Erinnerungen sind in das Haus eingeschrieben. Aber jetzt ist nicht die Zeit, in die Vergangenheit abzudriften. Da entdecke ich einen kleinen Bilderrahmen auf den eingebauten Regalbrettern im Wohnzimmer, ich nehme ihn an mich und fühle mich bestätigt.
Das Foto hat diesen typischen weißen Rand aus den Siebzigerjahren. Ich bin darauf mit meiner großen Schwester Josie zu sehen, wie wir auf der Mauer vor dem Haus unserer Großeltern in Yorkshire sitzen, in die Kamera grinsen und Eis am Stiel essen, das wie eine Rakete geformt ist. Unsere Mutter starb, als wir noch sehr klein waren, deshalb verbrachten wir meist unsere gesamten Ferien bei ihnen. Um irgendwie mit der Situation klarzukommen, vergrub sich unser alleinerziehender Vater in seine Arbeit, und unser Zuhause wirkte traurig und leer. Ganz im Gegensatz zum Haus unserer Großeltern in Nettlewick, das immer ein warmer, einladender Ort war. Das ist auch der Grund, warum ich gerade dieses Dorf für einen Neuanfang ausgewählt habe. Ich möchte von glücklichen Erinnerungen umgeben sein. An einem Ort aufwachen, der sich immer, egal, was sonst gerade passierte, als der einzige wirklich sichere Hafen angefühlt hat.
Ich stecke das Foto in meine Handtasche, setze meine Runde durch das leere Haus fort, schließe die Eingangstür ab und lasse den Schlüsselbund in den Briefkasten fallen. Der Makler hat bereits ein Exemplar, das hier kann für die neuen Eigentümer dableiben. Ich höre, wie er auf der Fußmatte landet, und dabei fällt mir auf, dass ich vergessen habe, den Schlüsselanhänger abzunehmen, ein albernes Andenken an ein Wochenende in Italien zu einem meiner Geburtstage vor ein paar Jahren.
Meine Gedanken schweifen ab, aber ich zwinge sie zurück ins Hier und Jetzt. Wer braucht schon einen bescheuerten Schlüsselanhänger in Form des Schiefen Turms von Pisa? Er war noch nicht einmal in die richtige Richtung geneigt.
Der Umzugswagen steht mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf der Fahrbahn. Das Haus liegt an einer stark befahrenen Straße in London und hat keine eigene Auffahrt, weshalb der Wagen sich an die nächste Straßenecke direkt neben ein paar alte Weihnachtsbäume gequetscht hat. Obwohl bereits die dritte Januarwoche angebrochen ist, läuft die Abholung schleppend. Die Bäumchen harren dort als trauriger Haufen aus, ganz ohne Schmuck und Nadeln. Das Leben kann wirklich hart sein, selbst für Weihnachtsbäume.
»Olivia …«
Während ich den Möbelpackern dabei zuschaue, wie sie meine letzten Kisten einladen, höre ich hinter mir eine Stimme.
»Oh, hallo, Madeleine.«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und drehe mich zu meiner Nachbarin aus dem Eckhaus um. Madeleine weiß gern über alle in der Nachbarschaft Bescheid – sie ist die personifizierte Nachbarschaftswache –, und seitdem mein Ex-Mann ausgezogen ist, hat sie ihren Posten hinter den Holzlamellen bezogen, stets im Dienst. Glücklicherweise habe ich es durch eine Mischung aus List und frühmorgendlichem Arbeitsbeginn geschafft, mich nicht in ein Gespräch verwickeln zu lassen.
Bis jetzt.
»Ich habe schon lange gehofft, dich zu treffen. Roger und ich wollten dir doch sagen, wie schade wir das mit dir und David finden …« Sie wickelt ihre Wasserfall-Strickjacke fester um ihren Körper und verschränkt die Arme, um sich vor der Kälte zu schützen. Ganz offensichtlich ist sie gerade schnell hinter ihren Lamellen hervorgestürmt, wie an ihren peruanischen Hausschuhsocken unschwer zu erkennen ist. »Wie geht es dir?«
»Ach ja, du weißt schon …« Ich verstumme.
Aber natürlich weiß Madeleine nichts, überhaupt nichts. Sie hat nicht die leiseste Ahnung. Seit vierzig Jahren ist sie mit Roger verheiratet, einem ehemaligen Buchhalter, ihr Leben ist eine einzige Routine. Bestehend aus Treffen mit der Kirchengemeinde, Supermarktlieferungen von Ocado und dem Waschen von Rogers Hemden am Wochenende, die sie in immer gleichen Abständen an die Wäscheleine im Garten hängt. Ich bin mir sicher, dass sie ein Maßband dafür benutzt.
In ihrem Leben gibt es keine Scheidungsanwälte, kein Chaos und auch keinen Ehemann, der davonläuft, um sein Leben mit einer hübschen, jungen Amerikanerin zu verbringen, die er beim Bikram-Yoga kennengelernt hat.
Ehrlich gesagt, kann ich immer noch nicht glauben, dass mein Leben nun so ist. Ausgerechnet David! David, der so gern Golf spielt, Rotwein aus Neuseeland und die Abendessen mit dem Rotary Club schätzt. Ein Mann, der Segelschuhe und Button-down-Hemden trägt und mich immer damit aufgezogen hat, wie gern ich Vintage-Kleidung kaufe.
»Du bist und bleibst ein Hippie«, sagte er jedes Mal lachend, wenn ich ihm eins meiner neuen Charity-Shop-Fundstücke zeigte. Dennoch wirkte er immer erstaunt. »Du weißt ja, dass du einfach meine Kreditkarte nehmen kannst, wenn dein Gehalt nicht ausreichen sollte. Ich möchte nicht, dass unsere Freunde denken, meine Frau könne sich keine neuen Kleider leisten.«
Segelschuhe und Button-down-Hemden gehören jetzt der Vergangenheit an. Als er kam, um seine restlichen Sachen abzuholen, trug er den kompletten Peaky-Blinder-Style mit Tweed-Mütze, Weste und eng anliegenden 7/8-Hosen. Allerdings sah er darin nicht gerade wie Tommy Shelby aus, sondern eher wie ein fünfzigjähriger Zahnarzt mit Bluthochdruck. Was ursprünglich mal der Grund dafür war, dass ich ihn überhaupt dazu animiert hatte, mit Bikram-Yoga zu beginnen. Oh, welch Ironie! Wenn es nicht gerade mein Ehemann gewesen wäre, der da vor der Tür stand, hätte das Ganze durchaus komisch sein können.
Zumindest nehme ich an, dass es mein Mann war. Ich erkannte ihn kaum wieder. Und dabei meine ich nicht nur äußerlich.
»Du siehst müde aus.«
Madeleines Kommentar reißt mich aus meinen Gedanken, sie mustert mich eingehend.
»Ein Umzug macht müde«, antworte ich.
Warum benutzen Leute das Wort »müde«, wenn sie eigentlich »schrecklich« meinen?
»Roger und ich haben uns wirklich Sorgen um dich gemacht …«, fährt sie mit leicht zur Seite geneigtem Kopf fort.
Unangenehm berührt trete ich von einem Fuß auf den anderen. Da sind sie, die gefürchteten Mitleidsbekundungen. Seitdem die Nachricht unserer Scheidung die Runde gemacht hat, ernte ich jede Menge davon.
»Liv, altes Haus!«
Also, nicht von allen natürlich. Winkend rast jemand auf einem Roller über den Gehweg auf uns zu.
»Naomi!«, rufe ich überrascht. »Was um Himmels willen machst du denn hier?«
»Ich konnte dich doch nicht einfach so gehen lassen, ohne mich richtig zu verabschieden!«, antwortet sie grinsend, ihre dunklen Augen blitzen, während sie abspringt und mich umarmt, sodass ich von ihrem dicken Kuschelfellmantel umhüllt werde. »Gerade ist Mittagspause, da wird schon niemand bemerken, dass ich weg bin.«
Dankbarkeit steigt in mir auf. »Wirklich schön, dich zu sehen …«
Naomi ist nicht nur eine der Lehrerinnen an meiner alten Schule, sondern auch eine meiner engsten Freundinnen. Wir haben uns an meinem ersten Tag an der Carlton-Gesamtschule kennengelernt. Ich hatte dort als Elternzeitvertretung angefangen und war sehr nervös gewesen. Sie schaffte es jedoch augenblicklich, mich zu beruhigen, indem sie in ihrem Glasgower Dialekt alberne Witze riss.
»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du gehst und mich mit dem ganzen Chaos und Ungehorsam allein lässt«, rügt sie mich und löst die Umarmung. »Und damit meine ich nur die Lehrer«, fügt sie hinzu und lacht kehlig.
Es ist mir wirklich nicht leichtgefallen, zu kündigen, aber Naomi hat mich dabei auf ihre unvergleichliche Art unterstützt. Sie hat mir immer wieder gesagt, dass ich das Richtige tue, und Witze darüber gemacht, wie sehr sie mein Verhalten an Gesprengte Ketten erinnert. »Endlich kommst du hier raus, denk daran! Du musst nie wieder eine der fürchterlichen Veranstaltungen mit Godfrey über dich ergehen lassen.« Mr Godfrey war unser Schulleiter, und bei seinen berühmt-berüchtigten Reden nickten regelmäßig alle, Lehrkräfte wie Schülerschaft, ein.
Aber Naomis Zuspruch und ihre Scherze konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht nur mir schwerfiel, Abschied zu nehmen.
»Wem gehört der Roller?«, frage ich sie.
»Keine Ahnung, den habe ich mitgehen lassen.«
»Von jemandem aus der Schule?«
Sie grinst verlegen und rückt die Pudelmütze auf ihren Zöpfen zurecht. »Roller stehlen und blaumachen, was bin ich bloß für eine?«
»Naomi, bist du verrückt geworden? Du riskierst Riesenärger, wenn Mr Godfrey Wind davon bekommt!«
»Da siehst du, was passiert, wenn du nicht mehr da bist! Ich habe niemanden mehr, der mich auf den Pfad der Tugend …«
»Du solltest schnell zurück, bevor du erwischt wirst …«
»Entschuldigen Sie, Frau Lehrerin.« Sie lässt nach meiner Standpauke betrübt den Kopf hängen.
Ich hingegen kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Naomi schafft es immer, mich zum Lachen zu bringen. Egal, wo. Die Schulkonferenzen, bei denen ich mein Gekicher hinter einem Ordner verbergen musste, kann ich kaum zählen.
»Wie fühlst du dich denn mittlerweile beim Gedanken an den Umzug?«
»Ich bin aufgeregt, neuer Anfang und all das.«
»Das ist gut.«
»Ein wenig nervös vielleicht …«
»Das ist normal.«
»Ich habe, ehrlich gesagt, echt Schiss.«
»Das liegt daran, dass Aufregung und Angst ganz nah beieinanderliegen, eigentlich sind sie sogar ein und dasselbe.«
»Ist das so?«
»Ja, das hat mit dem Hypothalamus zu tun. Beide Gefühle rufen dieselbe Reaktion im Gehirn hervor, es wird Cortisol ausgeschüttet, und Herzschlag und Atemfrequenz erhöhen sich, um die Kampf-oder-Flucht-Reaktion auszulösen.«
»Da sieht man mal wieder, warum du Biologie und ich Englisch unterrichte. Hüpo- was?«
Sie lacht. »Hast du dich schon für einen neuen Job beworben?«
»Nein, noch nicht. Mir bleibt durch den Hausverkauf noch ein wenig Geld. Keine Riesensumme, aber zumindest genug, um das Häuschen zu renovieren und mich eine Weile finanziell über Wasser zu halten. Vielleicht kann ich nebenbei als Nachhilfelehrerin ein paar Stunden geben.«
»Du Glückliche, was würde ich dafür geben, nicht ständig vor einer Klasse stehen zu müssen …«
»Wir sind dann jetzt fertig mit dem Einladen.«
Ich drehe mich um. Einer der Möbelpacker steht hinter mir.
»Super, danke.« Mein Blick fällt auf den Umzugswagen. Das ist mein ganzes Leben. Verpackt in Umzugskisten und eingewickelt in Packdecken. Erstaunlich, wie wenig davon übrig ist.
»Ich werde mit meinem Mietwagen hinter Ihnen herfahren«, sage ich zu ihm. »Sie haben ja die Adresse. Der Makler trifft uns vor Ort und übergibt uns die Schlüssel.«
»Alles klar, wir fahren dann los.« Er pfeift, und seine Kollegen schließen den Wagen. Es rattert laut. »Wir haben eine lange Fahrt vor uns.«
»Eine lange Fahrt?«
Madeleine hatte ich vollkommen vergessen, aber als ich mich jetzt umdrehe, sehe ich, dass sie immer noch am selben Fleck steht, nur wenige Schritte entfernt, und uns gespannt zuhört.
»Ziehst du denn weit weg? Roger und ich haben uns schon gefragt, wohin es dich wohl verschlägt, aber wir wollten natürlich nicht neugierig sein …«
Natürlich.
»In die Yorkshire Dales.«
Sie reißt die Augen auf. »Du verlässt London?«
Man könnte glatt meinen, ich hätte ihr erzählt, dass ich auf den Mars ziehe.
»Und was ist mit David? Geht er auch?«
»Nein, er wohnt jetzt mit seiner neuen Freundin in Hackney.«
Einen Augenblick lang bin ich mir nicht sicher, was sie schlimmer findet, die Sache mit der neuen Freundin oder dass er jetzt in Hackney lebt.
»Um Gottes willen, ich hatte ja keine Ahnung.«
»Da sind wir schon zu zweit.«
Plötzlich fällt mir auf, dass ich mehr mit Madeleine gemein habe, als ich dachte. Sie ist nicht die Einzige auf der Suche nach Antworten. Ich kann das alles schließlich selbst noch nicht fassen.
»Olivia, du armes Ding, das muss ja furchtbar für dich sein.«
»Danke, es geht schon …«
»Wirklich?«
Madeleines Kopf liegt nun so schief, dass er fast horizontal wirkt.
»Haben Sie nicht gehört, was sie gesagt hat? Alles in Ordnung«, fährt Naomi dazwischen und sieht meine Nachbarin an, als wäre sie eine ihrer aufsässigen Schülerinnen. »Sparen Sie sich Ihr Mitleid für die neue Freundin.« Damit tritt Naomi einen Schritt näher an Madeleine heran und lehnt sich vor, als wollte sie ihr ein Geheimnis verraten. »David hat einen winzigen Penis.«
Madeleine blinzelt verstört.
»Wirklich. Winzig.« Naomi presst Daumen und Zeigefinger aufeinander, um ihre Aussage zu unterstreichen. »Liv hat deutlich Größeres und Besseres vor …«
»Ach je, so spät ist es schon?« Madeleine klammert sich an ihre Armbanduhr, weicht zurück und gerät dabei aus dem Gleichgewicht. Sie stolpert in ihren Hausschuhsocken über die Bordsteinkante. »Also, ich muss dann los … Meine Enkel kommen. Gute Fahrt, Olivia …« Hastig läuft sie zurück zu ihrem Haus und verschwindet hinter der Eingangstür.
»Die wären wir los …«
»Warum zum Teufel hast du das gesagt?«, schnauze ich Naomi an.
»Ich weiß nicht«, gibt sie kleinlaut zu. »Aber was soll’s, sie wird David doch eh nicht wiedersehen.«
»Er ist ihr Zahnarzt.«
Sie hält sich schuldbewusst die Hand vor den Mund.
»Oh-oh!«
Einen Moment lang sehen wir einander an, dann kichert sie los, und auch ich kann es nicht mehr unterdrücken. Lachen ist ansteckend.
»Ich bin manchmal ein echter Kindskopf, das kommt davon, wenn man Dreizehnjährige unterrichtet.« Sie hört auf zu lachen und verzieht besorgt das Gesicht. »Entschuldige, Liv. Ich fand es einfach zu schrecklich, wie sie unter dem Deckmantel des Mitgefühls ein wenig Klatsch und Tratsch aus dir herauslocken wollte …«
»Keine Sorge. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal so gelacht habe.« Ich schüttle den Kopf, muss an den Gesichtsausdruck der armen Madeleine denken, dann schaue ich auf die Uhr. »Es ist spät, ich sollte langsam losfahren. Ich habe noch eine lange Reise vor mir.«
»Wenn ich Ostern nach Schottland fahre, um meine Familie zu besuchen, komme ich bei dir vorbei. Ellie hat ihre Großeltern schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen …«
»Das wäre schön …«
Ich weiß natürlich, wie unwahrscheinlich das ist. Naomis Beziehung zu ihren religiösen Eltern hat einen Knacks bekommen, als diese von ihrer Entscheidung erfuhren, durch eine Samenspende schwanger werden zu wollen. Mittlerweile sind sie ganz vernarrt in ihr Enkelkind, aber am Anfang hat die Sache einen Keil zwischen sie getrieben. In letzter Zeit hat die Ablehnung von Naomis Partner Danny, einem Musiker, der auf einem Hausboot lebt, die Gräben allerdings wieder vertieft.
»Versprich mir, dich zu melden.«
»Versprochen.«
Wir umarmen einander, dann steige ich ins Auto. Als ich gerade dabei bin, mich anzuschnallen, klopft sie ans Fenster. Ich lasse es herunter.
»Ich meinte das ernst, was ich eben gesagt habe. Du weißt schon, die andere Sache. Ich glaube wirklich, dass etwas viel Größeres und Besseres vor dir liegt.«
Dankbar lächle ich sie an. »Ja, ich auch.«
Dann winken wir einander zu. Ich sehe ihr nach, wie sie auf dem Roller die Straße hinunterfährt, bis sie irgendwann aus meinem Rückspiegel verschwindet.
Natürlich war das gelogen.
Ich stelle den Spiegel ein, löse ein Stück Paketband aus meinen Haaren, bevor ich sie wieder zu einem zerzausten Dutt zusammenbinde, dann starte ich das Auto. Der Motor läuft, und ich sehe noch einmal zu dem Haus mit dem »Verkauft«-Schild im Vorgarten hinüber. Mein Blick wandert hinauf zum Schlafzimmerfenster, ich muss daran denken, wie ich zehn Jahre lang jeden Morgen den Vorhang zur Seite geschoben und das Wetter kommentiert habe. Plötzlich überkommt mich eine Welle der Trauer, mein Körper schmerzt.
Gerade fühlt sich mein Leben nicht nach Größerem und Besserem an. Eher, als wäre es vorüber.
Ich schaue nach vorn, fahre aus der Parklücke heraus und die Straße hinunter.
Neu ist das sicher nicht.
Ehemann verlässt Frau wegen einer Jüngeren. Kann es ein übleres Klischee geben? Wir haben diese Geschichte schon so oft gehört, dass wir taub dafür geworden sind. Wie einer meiner Schüler, Kieran O’Conner, einmal gesagt hat, als ich ihn beim Spicken während einer Klausur erwischte: »Was ist so schlimm daran? Dieser Scheiß passiert doch ständig.«
Was, wenn ich darüber nachdenke, das Einzige war, womit Kieran jemals recht hatte. Das macht das Ganze allerdings nicht weniger beschissen. Und nur, weil man etwas schon viele Male gehört hat, ist es nicht weniger schmerzhaft, wenn es einem selbst passiert.
Die Sache ist nur, dass ich niemals gedacht hätte, dass mir so etwas passieren könnte. Schließlich gehöre ich nicht zu den Menschen, die sich an Skandalen und Dramen erfreuen, ein aufregendes Leben führen und alle Anekdoten und Gespräche atemlos mit: »Du ahnst nicht, was mir passiert ist!« beginnen. Ich war glücklich verheiratet, hatte einen unspektakulären Beruf, bezahlten Urlaub, ein schönes Zuhause und einen soliden Kredit. Geahnt habe ich nichts.
In meiner Jugend war ich »die Vernünftige«, meine Schwester Josie hingegen galt als wild und unbesonnen. Auch wenn ich zwei Jahre jünger war als sie, passte ich auf sie auf, kümmerte mich darum, dass sie keinen Ärger bekam, und half ihr, wenn es doch einmal geschah. Abgesehen von einem eher halbherzigen Versuch während des Studiums, Grufti zu sein, habe ich nie Grenzen ausgetestet. Zu ängstlich, um Risiken einzugehen und eine falsche Entscheidung zu treffen, blieb ich hartnäckig in meiner Komfortzone. Ich ging mit langweiligen Männern aus, hatte langweiligen Sex. Dann traf ich David, und alles änderte sich. Letztes Jahr haben wir unseren zehnten Hochzeitstag gefeiert.
Mit vierzig plus verlief mein Leben in geregelten Bahnen. Ich hatte gute Freunde, ein erfülltes Sozialleben, liebte meinen Mann, arbeitete hart und ging ins Fitnessstudio (Allerdings nicht annähernd so oft, wie es gut gewesen wäre, wenn man bedenkt, dass ich einmal den Mitgliedsbeitrag durch die Anzahl der absolvierten Kurse geteilt habe. Dabei musste ich feststellen, dass mich das letzte Mal Yoga vierzig Pfund gekostet hatte – das sind eine ganze Menge Namastes). In meiner Küche gab es ein Regalbrett mit Kochbüchern irgendwelcher Stars, die damit warben, mich schlanker zu machen, und einen Schrank voller Kleider und Absatzschuhe, in denen ich immer noch ganz passabel aussah, hatte ich auch. Und dazu noch genügend Haarpflegeprodukte, um einen Friseursalon eröffnen zu können. Von meiner Mutter habe ich die dichten, dunklen Locken geerbt, die zwar widerspenstig, aber gleichzeitig mein ganzer Stolz sind, wenn sie mich nicht gerade zur Verzweiflung bringen. Das tun sie meist, wenn es regnet.
Ich war eine ganz normale Frau, die ein ganz normales Leben führte. Manchmal, wenn ich in einer Zeitschrift Artikel über Menschen las, die irgendwelche Abenteuer erlebten und dafür ihr ganzes Leben auf den Kopf stellten, fragte ich mich heimlich: War’s das jetzt? Wenn ich dann allerdings zu David sah, der neben mir auf dem Sofa saß, mit mir eine Flasche Wein und chinesisches Fast Food teilte, verlor sich dieses Gefühl genauso schnell wieder, wie es gekommen war. Ich war zufrieden. Sicher. Glücklich.
Nach den Erlebnissen in meiner Kindheit lebte ich ein unaufgeregtes Leben, und genauso wollte ich es auch. Keine großen Überraschungen. Kein Chaos. Kein Liebeskummer. Mein Leben lief gemächlich vor sich hin.
Und dann plötzlich nicht mehr.
»Nach anfänglichem Schock und Unglauben beginnt eine Reise durch vielschichtige Gefühlslagen …«
Die unverwechselbare Stimme einer berühmten Oscar-Preisträgerin schallt mir aus der Anlage im Auto entgegen. Das Hörbuch läuft, um mich wach zu halten. Ich muss gähnen, also öffne ich das Fenster, und frische, kalte Luft strömt herein. Seit vier Stunden bin ich nun unterwegs. Es ist bereits dunkel, und die Scheinwerfer beleuchten die Katzenaugen-Reflektoren, die mich durch die engen Straßen der Yorkshire Dales leiten. Den lichtverschmutzten Himmel der Großstadt gewöhnt, ist auf einmal alles pechschwarz, und London scheint sehr weit weg. Baumgerippe tauchen drohend vor mir auf, während jenseits der Trockensteinmauern auf beiden Seiten der Straße Felder, wilde Heidelandschaften und weite Täler liegen. Meilenweit kann der Blick hier schweifen.
Wenn man denn über die Trockensteinmauern hinwegsehen könnte. Der gemietete Fiat 500, der mir im Hauptstadtverkehr schnell und irgendwie niedlich vorkam, wirkt hier in der Dunkelheit des offenen Landes auf einmal lächerlich klein und verletzlich. Ich schalte das Fernlicht ein, da die Straße immer kurviger und steiler wird, und beuge mich erschöpft und mit müden Augen noch weiter über das Lenkrad. Hoffentlich komme ich bald an. Es kann doch sicher nicht mehr weit sein.
Was ist das?
Etwas schießt vor mir über die Straße, und ich reiße das Lenkrad herum. Bevor ich es erkennen kann, ist es schon wieder weg. Sicher irgendein wildes Tier. Mein Herz pocht laut, und als die Autoreifen auf den Grünstreifen treffen, bremse ich scharf. Das Auto bleibt stehen. Angst überkommt mich.
Es ist lange her, dass ich zuletzt selbst irgendwohin gefahren bin. In London reichte der öffentliche Nahverkehr, und wenn wir mal ins Ausland wollten, hat immer David den Mietwagen gefahren. Ich atme mehrfach tief ein und aus. Früher war ich eine selbstbewusste Fahrerin. Ehrlich gesagt, war ich in jüngeren Jahren in vielerlei Hinsicht selbstbewusster.
Zitternd starte ich den Wagen. Der Motor springt an. Mit ihm auch die Anlage.
»… Leugnen, Schmerz, Scham, Wut, Verzweiflung, Einsamkeit …«
Na, das sind ja tolle Aussichten!
Schnell will ich es ausschalten. Mein Wagen steht quer über die Straße. Wenn jetzt jemand um die Kurve kommt, fährt er genau in mich rein. Ich muss mich konzentrieren. Da ich mich mit der Anlage nicht auskenne, drehe ich aus Versehen zuerst die Lautstärke höher.
»… UND SCHLIESSLICH AKZEPTANZ …«, dröhnt die unverwechselbare Stimme durchs Auto.
»… HOFFNUNG UND SOGAR FREUDE.«
Himmeldonnerwetter noch mal, die verfluchte Freude ist mir gerade wirklich scheißegal!
Jede Scheidung ist anders. Es soll Frauen geben, die ihre Ehe mit einem Gefühl der Freude und Erleichterung hinter sich lassen. Die neue Freiheit feiern sie mit Scheidungspartys, bei denen in ihren mit All The Single Ladies-Girlanden geschmückten Wohnzimmern Piñatas in Penisform zerschlagen werden.
Ich hingegen befinde mich gerade irgendwo mitten im Nichts, um mich herum herrscht tiefschwarze Nacht, und ein Mobilfunksignal gibt es auch nicht. Und jetzt hat auch noch Google Maps den Dienst quittiert. Ich schaue auf meinem Telefon nach dem Weg, aber es buffert nur. Mein Leben verlief so lange in geregelten Bahnen, jetzt weiß ich einfach nicht mehr, wohin. Wie komme ich von meinem alten Leben ins neue? Selbst Google weiß es nicht, dabei weiß Google doch sonst immer alles.
Auf Beyoncé-Level bin ich wohl noch nicht angelangt.
In Ermangelung von Straßenschildern biege ich irgendwann rechts ab. Auch jetzt, Monate später, kann ich noch nicht ganz glauben, dass es wirklich wahr ist. Ich komme mir vor, als würde ich das Leben von jemand anders leben, nicht mein eigenes, nicht das Leben von Liv Brooks: Ehefrau, Lehrerin, Stiefmutter. Nichts davon bin ich mehr. Weshalb sich die dringende Frage stellt: Wer bin ich?
Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, immerhin bleibt mir mein Name. Den habe ich nach der Hochzeit nicht geändert. Das kam mir wie eine überholte Tradition vor, zumindest wenn man keine Kinder will, und David wollte keine. Da war er von Anfang an sehr entschieden. Er hatte ja schließlich auch schon seinen Sohn aus erster Ehe, Will, und die Privatschulgebühren für ein Kind waren mehr als genug, wie er bei einem unserer ersten Dates witzelte.
Worauf ich schlagfertig erwiderte, dass ich als Lehrerin an einer staatlichen Schule mein eigenes Kind selbstverständlich nur über meine Leiche auf eine Privatschule schicken würde. Aber Scherz beiseite, ihm war es ernst damit. Und ich war vollkommen verrückt nach ihm. Als er mir nach sechs Monaten einen Heiratsantrag machte, gab ich gern meinen Gedanken an ein Baby, von dem ich noch nicht einmal sicher war, dass ich es überhaupt wollte, für einen Mann auf, den ich ziemlich sicher wollte. In den Worten Jane Eyres: Leser, ich habe ihn geheiratet.
Es gab jedoch einen weiteren Grund, um Davids Namen nicht anzunehmen: Ich wollte den von Dad nicht aufgeben. Nur wenige Monate nachdem er mich durch den Gang des Standesamts geführt hatte, ging er von uns. Er war sein Leben lang ein starker Raucher gewesen. Meine Schwester Josie qualmte während seiner Beerdigung wütend eine Selbstgedrehte nach der anderen. »Na, warum auch nicht?«, fluchte sie. Sie hatte so viel Wut in sich, ich hingegen nur Trauer. Eine nah am Wasser gebaute Frischvermählte, die nun beide Elternteile verloren hatte. Wie dankbar war ich dafür, David an meiner Seite zu wissen.
Jetzt habe ich mich so richtig verirrt.
Ich fahre in eine Haltebucht. Zum Glück habe ich eine Straßenkarte dabei, ich schalte das Innenlicht ein und suche die entsprechende Seite heraus. David und ich haben uns so oft über den Weg gestritten. Er brauchte nie Richtungsangaben, ganz besonders nicht von mir. Zehn Minuten später entdecke ich die Schilder, die Nettlewick ankündigen, und verspüre heimliche Genugtuung. Nicht schlecht für jemanden, der anscheinend keine Karte lesen kann.
Mein Telefon piept, eine neue Nachricht. Ich habe wieder Netz. Sie ist von der Umzugsfirma, die mir mitteilt, bereits alles ausgeladen zu haben und sich nun wieder auf den Weg zurück zu machen. Als Nächstes kommt eine Nachricht von Mr Hardcastle, dem Makler, der bestätigt, dem Umzugsunternehmen den Schlüssel ausgehändigt zu haben, und mich darüber informiert, dass das Büro nun schließen wird.
»Aber keine Sorge«, fügt er noch hinzu. »Ich habe die Schlüssel sicher unter der Topfpflanze auf dem Fensterbrett verstaut.«
Ach so, na dann. Da würde bestimmt niemals jemand auf die Idee kommen nachzuschauen.
Während ich erst über eine steinerne Brücke und dann über einen Hügel fahre, versuche ich, mir nicht zu viele Sorgen darüber zu machen, dass sich mein kompletter Besitz in diesem Haus befindet. Seit den Ferien in meiner Kindheit scheint sich hier nicht viel verändert zu haben, denke ich, als ich die Hauptstraße hinauf und ins Dorf hineinfahre. An dem kleinen gepflasterten Dorfplatz gibt es noch immer eine Handvoll Geschäftchen mit ihren Erkerschaufenstern, dann komme ich an dem einzigen Pub vor Ort, einem Café und der winzigen Postfiliale vorbei.
Aber natürlich hat sich ganz viel verändert. Unsere Großeltern leben schon lange nicht mehr, wie auch unsere Eltern, und selbst wir sind mittlerweile erwachsen geworden. Josie, die Freiheitsliebende und Kreative von uns, ist Fotografin geworden und auf Weltreise gegangen. Und ich, die Vernünftige, habe geheiratet, bin Lehrerin geworden und nach London gezogen. Aber auch das hat sich nun schon wieder alles verändert.
Mein kleines Häuschen liegt am Ortsrand, in einer engen Gasse mit Kopfsteinpflaster, weshalb ich dankbar für den winzigen Fiat bin, der die Kurven gut meistert. Ich halte vor dem Haus und stelle den Motor aus. Es sieht heruntergekommener aus als beim letzten Mal, und in mir steigen Zweifel und Sorgen auf wie Sodbrennen. Schnell schlucke ich sie hinunter, denke daran, dass laut Naomi Aufregung und Angst eigentlich dasselbe sind. Mein Blick wandert zu den schäbigen Gardinen im Schlafzimmer hinauf. Ich bin nicht überzeugt. Bleibe im warmen Auto sitzen. Trotz der langen Fahrt bin ich noch nicht bereit, hineinzugehen.
Selbst mit Schlüssel muss ich dreimal fest gegen die Tür treten, bis sie endlich aufgeht und den Blick auf einen engen Flur freigibt, in dem sich Umzugskartons stapeln. Die Möbelpacker haben einfach alles abgeladen und sind wieder gefahren. Ich schalte das Licht ein, mache einen großen Schritt über die Werbeprospekte auf dem Boden hinweg und wickle meinen Mantel fester um mich. Das Thermometer im Auto hat minus zwei Grad angezeigt, und selbst hier drinnen kann ich noch meinen Atem sehen. Zitternd schließe ich die Eingangstür hinter mir.
Als ich ankündigte, London verlassen und aufs Land ziehen zu wollen, erntete ich ein paar ungläubige Blicke, die meisten Leute waren jedoch begeistert: »Oh! Du Glückliche! Entkommst dem ewigen Hamsterrad! Was für ein Abenteuer! Da kannst du bestimmt dein eigenes Gemüse anpflanzen!« Wer guckt schließlich nicht Escape to the Country und träumt von einer Rückkehr in die Natur und von Hochbeeten? Auch wenn es natürlich verlockender ist, von einem einfachen Leben zu träumen, wenn man es sich auf seinem Flachbildfernseher anschaut und sich dazu etwas von Deliveroo gönnt. Ein paar meiner Freunde nannten mich sogar mutig.
Für mich war es keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit. Ich wollte keine alten Tomatensorten züchten, ich musste mein Leben retten. Das klingt jetzt natürlich ziemlich dramatisch, besonders, wenn man noch nie die unsägliche Verzweiflung von Liebeskummer erlebt hat, aber genauso fühlte es sich für mich an. In London drohte ich unterzugehen. Ich musste raus. Wollte vor allem wegrennen und verschwinden. Aber jetzt überwältigt mich die harte Realität. Das Ganze hier fühlt sich überhaupt nicht wie ein Abenteuer an, sondern ist einfach nur Furcht einflößend und verwirrend.
Eine Maus huscht über den Boden, ich springe zur Seite und schreie auf. Ich muss mich zusammenreißen. Es ist schon spät. Ich bin erschöpft. Ich sollte schnell ins Bett. Allerdings lehnt mein Bett in seinen Einzelteilen im Flur an der Wand. Also richte ich mich auf dem Sofa ein, das ich im Wohnzimmer finde, und decke mich mit meiner Daunenjacke zu. Es ist Winter, es gibt keine Heizung, das Haus ist eiskalt. Müde kuschle ich mich in die Kissen, liege allein in der Dunkelheit, lausche den ungewohnten Geräuschen im Haus und dem Wind im Kamin.
Das ist es also. Mein neues Leben.
Ich komme mir alles andere als mutig vor.
Doch dann fällt mir plötzlich etwas ein. Ich greife nach meiner Handtasche, hole das Foto von Josie und mir hervor und halte es so, dass ich es im Mondschein, der durch das vorhanglose Fenster fällt, betrachten kann. Sobald ich ihr Gesicht sehe, das mich vom Foto aus angrinst, fühle ich mich besser, nicht mehr so allein. Ich stehe auf und stelle das Foto auf den leeren Kaminsims, dann lege ich mich zurück aufs Sofa, und zum ersten Mal seit Monaten falle ich sofort in einen tiefen Schlaf.
»Wie läuft’s?«
»Gut … wirklich gut …«
Samstag. Zwei Wochen später. Ich telefoniere mit Naomi.
»Siehst du! Ich habe es ja gesagt! Ach, wie gern würde ich auch London verlassen, die frische Luft und der ganze Platz. Ellie würde es bestimmt gefallen. Hast du schon viele ausgedehnte Spaziergänge gemacht?«
»Kann man so sagen …«
Den Einkaufswagen vor den unendlich langen Farbregalen im Baumarkt hin und her zu schieben ist zwar vermutlich nicht das, was sie bei Spaziergängen im Sinn hatte, aber ich möchte sie nicht enttäuschen.
»Du Glückliche, das klingt nach glänzenden Aussichten!«
Ich bleibe vor der Auswahl an matten Wandfarben stehen, die von flackernden Leuchtstoffröhren beleuchtet wird.
»Glänzend.«
Erst seitdem ich aufs Land gezogen bin, weiß ich, dass es in meinem Häuschen keinen Mobilfunkempfang gibt. Laut meinem Anbieter befinde ich mich hier in einem Funkloch. Übersetzt bedeutet das, ich muss in die letzte Ecke meines Gartens gehen und, während ich fast erfriere, wie eine verdammte Irre mit meinem Telefon herumwedeln, um wenigstens einen halben Balken zu bekommen. Zumindest so lange, wie ich noch auf den Internetanschluss warten muss.
Dann lieber Multitasking. Während Naomi mir den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Schule erzählt, bestaune ich die gewaltige Menge an Pinseln. So viele verschiedene Größen, Arten und Preise. Ich fahre mit den Fingern über die Borsten eines Pinsels und frage mich, ob ich mich wohl eher für einen 50-mm-Kunststoffborsten-Flachpinsel oder für den abgeschrägten 75-mm-Fensterpinsel mit Holzgriff entscheiden soll. Da entdecke ich einen Bereich nur mit Farbrollen und bin vollkommen überwältigt. Dabei wollte ich doch nur das Schlafzimmer renovieren.
»Und? Hast du schon irgendwelche heißen Bauern kennengelernt?«, fragt sie, nachdem sie mir von irgendeinem Streit wegen ein paar Kaffeebechern im Lehrerzimmer erzählt hat. Kaffeebecher sind unter Lehrern hart umkämpft, und anscheinend wären die neue stellvertretende Schulleiterin und eine Aushilfskraft fast wegen eines Keep-Calm-and-Carry-On-Bechers aneinandergeraten.
»Äh, Moment. In welchem Catherine-Cookson-Roman lebst du denn?«
Naomi gluckst fröhlich. »Tja, man weiß ja nie.«
»Glaub mir, ich weiß sehr wohl. Und das ist wirklich das Letzte, wonach ich gerade suche.«
Ich werfe ein paar Pinsel und Farbrollen in den Einkaufswagen.
»So, jetzt muss ich langsam aufhören …«
»Ja, ich auch, Ellie muss gleich zum Fußball. Genieß dein Wochenende!«
»Das werde ich, du hoffentlich auch!«
Nachdem ich aufgelegt habe, stecke ich mein Telefon wieder ein und wende mich einem Eimer mit weißer Wandfarbe zu. Wenn Naomi bloß die Wahrheit kennen würde. Vorsichtig, um mir nicht den Rücken zu verrenken, gehe ich in die Hocke und fasse mit beiden Händen zu, dann hieve ich den Eimer laut ächzend in meinen Wagen.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich seit meinem Umzug noch kein bisschen frische Luft geschnappt geschweige denn malerische Landschaften bestaunt. Stattdessen habe ich mottenzerfressene Teppichböden herausgerissen und zur Müllverbrennungsanlage gebracht. Es war eine schaurige Arbeit, wer weiß, wie lange der Teppich schon dort gelegen hat, aber es gab genug Mäusekot, Spinnen (tot und lebendig) und glitzernden Schneckenschleim, um Ich bin ein Star – Holt mich hier raus Konkurrenz zu machen.
Zugleich habe ich mir bei verschiedenen Baufirmen in der Gegend Kostenvoranschläge eingeholt und mich durch die dazugehörigen Papierberge, Pläne und Genehmigungen gelesen, um mit den Renovierungsarbeiten beginnen zu können. Ein Architekt hat Pläne gezeichnet, er möchte Wände einreißen, um einen offeneren Wohnraum zu gestalten, die Küche zu erweitern und ein Gäste-WC hinzuzufügen, außerdem soll ein Holzofen eingebaut werden. Die Zimmer im ersten Stock haben eine angenehme Größe, aber das winzige Badezimmer braucht dringend eine Veränderung.
Leider wird die ganze Angelegenheit deutlich teurer und komplizierter, als es diese Hochglanz-Wohnmagazine immer suggerieren. Ein denkmalgeschütztes, über dreihundert Jahre altes Haus zu kaufen, bringt so manche Tücken mit sich. Die feuchte Stelle in meinem Schlafzimmer hatte ich zum Glück bereits beseitigen lassen, bevor ich eingezogen bin. Zumindest habe ich anstelle des riesigen Schimmelpilzes nun glatten frischrosa Putz an der Wand, der darauf wartet, überstrichen zu werden. Nach allem, was ich bisher gelesen habe, ist es sehr wichtig, zumindest ein Zimmer im Haus so weit fertig zu haben, dass man darin leben kann, wenn die Umbaumaßnahmen beginnen.
In meiner Tasche suche ich den mehrseitigen Einkaufszettel und streiche Farbe aus. Die Liste wird immer länger, wie damals, als das Faxgerät im Lehrerzimmer irgendeinen Fehler hatte und Unmengen an Papier auswarf, das sich auf dem Boden wellte. Daran sieht man, wie alt ich bin. Heutzutage hat schließlich niemand mehr ein Fax, oder? Ich könnte wetten, dass Davids neue Freundin noch nie ein Faxgerät gesehen hat.
»Entschuldigung, wo sind denn hier die Fußabtreter?«
»Wie bitte?« Ich sehe von meiner Liste auf und bemerke, dass mich ein Mann eingehend mustert.
»Ich suche einen Fußabtreter.«
Wirklich, er sieht mich genau an.
»Äh … Ich arbeite nicht hier.«
»Oh, okay.«
Der Mann entfernt sich zügig, und ich merke, dass meine Wangen brennen. So ganz falsch war er bei mir nicht. Mein Mann ist mit einer Frau durchgebrannt, die jung genug ist, seine Tochter zu sein, und was habe ich gemacht?
Seine Bügelwäsche.
Trotzdem. Immerhin war ich es, die die Scheidung eingereicht hat. Sich wie ein Fußabtreter zu fühlen, ist eine Sache. Ein Opfer zu sein, eine ganz andere.
Mein Gesicht glüht, als ich mir einen Weg zur Kasse bahne. Es ist viel los, und die Schlange ist lang. Es war ein Fehler, am Wochenende hierherzukommen. Es geht nur langsam vorwärts. Wahrscheinlich war das Ganze hier ein Riesenfehler. Jetzt mal im Ernst, wenn ich schon mein Leben auf den Kopf stelle und versuche, ganz von vorn anzufangen, sollte ich da nicht lieber eine spirituelle Reise nach Bali oder so etwas machen? Oder in der sonnigen Toskana ein altes Bauernhaus renovieren und jede Menge gut aussehender Italiener kennenlernen? Das ist es doch, was geschiedene Frauen ab einem gewissen Alter in Filmen immer tun, oder etwa nicht?
Das hier ist jedoch kein Film, sondern ein Baumarkt.
Ich schnappe mir den Warentrenner und beginne, den Inhalt meines überquellenden Einkaufswagens auf das Band zu legen. Statt eines Bauernhauses in der sanften Hügellandschaft der Toskana habe ich mir eine feuchte, schimmelige Ruine in den Yorkshire Dales gekauft. Die ganzen tollen Selbsthilfebücher und Ratgeber, die ich mir zugelegt habe, empfehlen einen Neubeginn und neue Projekte. Hätte ich nicht einfach eine Sprache lernen oder anfangen können, Sauerteigbrot zu backen? In London kann man doch sicher auch etwas zur Miete finden. Ein allzu großes Risiko, meinem Ex über den Weg zu laufen, besteht schließlich nicht, da er jetzt am anderen Ende der Stadt lebt. Ich hätte einfach nur ein paar gemeinsame Freunde meiden müssen.
Wahrscheinlich wäre das noch nicht einmal nötig gewesen, da sie mich schon von ganz allein mieden. So ist das bei Scheidungen. Verheiratete befürchten, es könnte ansteckend sein wie die Masern. Wenn David und Liv sich trennen, wer ist dann wohl als Nächstes dran? Als David mich verließ, waren meine Freundinnen wirklich fantastisch und kümmerten sich um mich. Wir lästerten über David und tranken Wein. Nach einer Weile jedoch wurden die SMS, Whatsapp-Nachrichten und Anrufe immer weniger, bis sie schließlich ganz aufhörten. Wenn der erste Schock einmal überstanden ist, machen alle mit ihrem eigenen Leben weiter und nehmen an, dass man dasselbe tut.
Aber so ist es nicht: Entsetzen und Unglauben verschwinden nicht einfach über Nacht. Am schlimmsten ist jedoch, dass man niemanden enttäuschen oder belasten möchte, indem man zugibt, immer noch nicht darüber hinweg zu sein. Dass man letztes Wochenende nichts vorhatte, sondern es einfach nicht geschafft hat, sich anzuziehen. Dass die Zukunft, die so sicher schien, jetzt furchtbar Angst einflößend ist.
Also sagt man nichts. Löscht die ganzen Social-Media-Apps auf seinem Telefon. Kündigt seinen Job und zieht Hunderte Meilen weit weg, um ein neues Leben zu beginnen. Ich bin mitten in der Nacht mit Panikattacken aufgewacht, habe im Bett wach gelegen und geweint und meinen Geburtstag einzig und allein von Umzugskisten umgeben gefeiert. Aber eins ist sicher, ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben.
»Das macht dann dreihundertfünfundsiebzig Pfund und achtzig Pence bitte.«
»Wie viel?« Ich merke, wie ich blass werde.
Wow! Es wäre sogar deutlich billiger geworden, sich auf Bali herumzutreiben. Ich krame meine Kreditkarte hervor. Dabei muss ich daran denken, dass ich schon längst ins Dorf gehen wollte, um einen Aushang im Zeitschriftenladen zu machen. Ich möchte schließlich Nachhilfestunden anbieten. Wenn es so weitergeht, werde ich mit meinen Ersparnissen nicht lange auskommen.
Wortlos dreht die Kassiererin das Kreditkartenlesegerät in meine Richtung und tippt mit ihren Fingernägeln auf dem Display herum. Sie hat unglaublich lange, leuchtend orange Fingernägel. Fast automatisch verberge ich meine von den Renovierungsarbeiten eingerissenen, unansehnlichen Nägel in der Handfläche.
Ich werfe einen Blick auf die Summe.
»Ja, in Ordnung«, sage ich und nicke, obwohl ich gar nichts sehen kann. Meine Lesebrille liegt zu Hause. Ich stecke meine Karte in das Gerät und gebe die Geheimzahl ein. Sie muss akzeptiert worden sein, da ein langer Kassenbon herauskommt.
»Vielen Dank für Ihren Einkauf.«
»Danke.« Ich lächle, aber die Kassiererin hat schon den nächsten Warentrenner entfernt und sich dem neuen Kunden zugewandt, einem alten Mann mit einer Hyazinthe im Topf.
Draußen hat es sich zugezogen, der Himmel ist grau und düster, und es ist kälter geworden. In London war es im Februar niemals so kalt. Hier dringt einem die Kälte bis in die Knochen. Ich setze mir meine Mütze auf, ziehe die Handschuhe an und schiebe den Einkaufswagen in Richtung Parkplatz. Ich bin zu einem Gewerbegebiet ein wenig außerhalb gefahren. Den Vertrag für den Mietwagen habe ich um ein paar Wochen verlängert, aber ich sollte ihn bald wieder abgeben, da er mich ein kleines Vermögen kostet.
»Eine kleine Spende bitte.«
Ich komme an einer jungen Frau mit einer Sammeldose vorbei. Die Frau trägt eine Warnweste mit irgendeinem Spruch darauf, den ich nicht weiter beachte …
»Tut mir leid, ich habe kein Wechselgeld.«
Die Standardantwort. Ich will einfach nur ins Auto und die Heizung hochdrehen.
»Selbst wenn es nur ein paar Münzen sind, Kleinvieh macht auch Mist.« Sie lächelt. Ihre Haare sind pink, und sie trägt einen silbernen Nasenring. Sie ist deutlich jünger, als ich zuerst angenommen hatte. Vermutlich erst im Teenager-Alter. Da fällt mir auf, dass sie gar keine Handschuhe anhat und die Ärmel ihres Sweatshirts nach unten zieht, um ihre Hände zu bedecken, die schon ganz rot und rau vor Kälte sind.
»Ich sammle für die Hunde im Tierheim.«
Jetzt schäme ich mich, bleibe stehen und krame in meiner Tasche. Da ist nichts, also hole ich mein Portemonnaie hervor.
»Haben Sie einen Hund?«
»Äh … nein.«
Mist. Ich habe nur einen Zwanziger.
»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, sich einen anzuschaffen?«
»Nein, eigentlich nicht.« Ich schüttle den Kopf. »Ich bin nicht so der Hunde-Typ.«
»Das glaub ich nicht«, sagt sie, grinst und kräuselt die Nase.
Ich bin hin- und hergerissen. Gern würde ich etwas spenden, es geht schließlich um eine gute Sache, und sie scheint wirklich engagiert zu sein, sich bei dieser Kälte am Wochenende hier hinzustellen, aber eigentlich kann ich es mir nicht leisten, zwanzig Pfund wegzugeben.
»Wenn Sie es sich doch einmal anders überlegen, bei uns finden Sie viele wunderbare Hunde, die ein liebevolles Zuhause suchen.«
Sie hält mir ein Faltblatt hin. Darauf sind Fotos von Hunden, die mich aus ihren traurigen Augen flehend ansehen.
»Hier.« Ich ziehe den Zwanziger aus meinem Portemonnaie.
»Oh, Wahnsinn …« Sie strahlt über das ganze Gesicht, bis sie plötzlich die Stirn runzelt. »Entschuldigung … Ich habe kein Wechselgeld, das ist alles in der Sammeldose.«
»Ich möchte auch keins.«
»Das ist verrückt! Unmöglich …«, ruft sie, dann hält sie sich ihre eingefrorene Hand vor den Mund. »Wirklich, sind Sie sicher? Wow, vielen Dank!«
»Es ist ja für einen guten Zweck«, antworte ich lächelnd.