Lovecraft Letters - I - Christian Gailus - E-Book

Lovecraft Letters - I E-Book

Christian Gailus

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Beschreibung

LOVECRAFT LETTERS - DIE SERIE: Ray Berkeley führt ein zufriedenes Leben. Er ist ein angesehener Psychologe und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem großen Haus im Grünen. Doch vom einen auf den anderen Tag gerät Ray in einen Sog aus brutalen Morden, schockierenden Geständnissen und mysteriösen Ereignissen. Rätselhafte Spuren führen zu dem Schriftsteller H. P. Lovecraft - und Ray erkennt, dass die Welt weit furchterregender ist, als der berühmte Horror-Autor sie in seinen Geschichten jemals hätte schildern können ...

FOLGE 1: Ray wird als psychologischer Gutachter mit einem scheinbar eindeutigen Fall betraut: Der Geschichtsprofessor Henry Coleman soll seine Ehefrau brutal ermordet haben. Aber weder ihr Tod noch der anstehende Prozess scheinen Coleman sonderlich zu berühren. Dafür zeigt der Historiker eine manische Besessenheit für das Leben von H. P. Lovecraft. Coleman ist der festen Überzeugung, dass der Ursprung für dessen Geschichten nicht allein in der ausufernden Fantasie des Schriftstellers liegt. Ray hält den Historiker für geistesgestört - bis sein eigenes Leben in einem Alptraum versinkt ...

Zur gleichen Zeit in Coldwater/Massachusetts: Eine Gruppe Studenten macht sich auf eine Expeditionstour in die Mammut-Cave. Tief im Innern der Höhle stoßen sie auf etwas, das besser für immer verborgen geblieben wäre.

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Seitenzahl: 147

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Inhalt

Cover

Die Serie

Lovecraft Letters – Folge I

Über den Autor

Titel

Impressum

Prolog

Washington D. C. Bezirksgericht. Zwei Wochen später.

Burke. Haus der Berkeleys.

Henderson & Remington.

Mammut-Cave.

Henderson & Remington. Kantine.

Henderson & Remington. Rays Büro.

Mammut-Cave.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Mammut-Cave.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Salem/Strand. Nacht. Erinnerungsprotokoll.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Mammut-Cave.

Salem. Hafen. Lagerhalle. Gedächtnisprotokoll.

Mammut-Cave.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Salem. Hafen. Lagerhalle. Gedächtnisprotokoll.

Mammut-Cave.

Leiden. Wohnung des Zwischenhändlers.

Mammut-Cave.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Salem. Hafen. Lagerhalle. Gedächtnisprotokoll.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Salem. Hafen. Lagerhalle. Gedächtnisprotokoll.

Mammut-Cave.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Henderson & Remington. Rays Büro.

Mammut-Cave. Plateau vor der Höhle.

Burke. Haus der Berkeleys.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Delaware. Haus der Colemans.

D. C. Central Detention Facility. Vernehmungsraum.

Burke. Haus der Berkeleys.

In der nächsten Folge

Fußnoten

Die Serie

Ray Berkeley führt ein zufriedenes Leben. Er ist ein angesehener Psychologe und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem großen Haus im Grünen. Doch vom einen auf den anderen Tag gerät Ray in einen Sog aus brutalen Morden, schockierenden Geständnissen und mysteriösen Ereignissen. Rätselhafte Spuren führen zu dem Schriftsteller H. P. Lovecraft – und Ray erkennt, dass die Welt weit furchterregender ist, als der berühmte Horror-Autor sie in seinen Geschichten jemals hätte schildern können …

Lovecraft Letters – Folge I

Ray wird als psychologischer Gutachter mit einem scheinbar eindeutigen Fall betraut: Der Geschichtsprofessor Henry Coleman soll seine Ehefrau brutal ermordet haben. Aber weder ihr Tod noch der anstehende Prozess scheinen Coleman sonderlich zu berühren. Dafür zeigt der Historiker eine manische Besessenheit für das Leben von H. P. Lovecraft. Coleman ist der festen Überzeugung, dass der Ursprung für dessen Geschichten nicht allein in der ausufernden Fantasie des Schriftstellers liegt. Ray hält den Historiker für geistesgestört – bis sein eigenes Leben in einem Alptraum versinkt …

Zur gleichen Zeit in Coldwater/Massachusetts: Eine Gruppe Studenten macht sich auf eine Expeditionstour in die Mammut-Cave. Tief im Innern der Höhle stoßen sie auf etwas, das besser für immer verborgen geblieben wäre.

Über den Autor

Christian Gailus studierte Germanistik in Hamburg und Drehbuch in Köln. Er arbeitete in einer Werbeagentur und verfasst Kriminalromane, Thriller und Hörspiele. Bereits in seiner Jugend wurde er von Lovecrafts Geschichten gepackt. Seitdem lassen ihn Horrorstorys nicht mehr los. Mit der Serie »Lovecraft Letters« hat er ein Ventil gefunden, seine Albträume zu verarbeiten.

CHRISTIAN GAILUS

I

beBEYOND

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat/Projektmanagement: Stephan Trinius

Cover-Motiv: © Timo Wuerz

Covergestaltung: Thomas Krämer

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3162-2

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Herz raste, das Blut kochte. Sein Atem ging stoßweise, pfiff wie ein defektes Ventil. Die Luft war zum Schneiden dick, die Hitze unerträglich. Lichtfetzen zwängten sich durch die Ritzen des Fensterrollos. Von irgendwoher kam ein Wimmern.

Zum hundertsten Mal sah er auf die Uhr. Einundsiebzig Stunden und achtzehn Minuten. Unfassbar! Seit fast drei Tagen harrte er hier schon aus, in diesem Loch, kaum größer als die Zelle in Bridgewater. Allerdings hatte er in den vier Monaten, die er dort verbracht hatte, niemals Hunger leiden müssen. Der Knast hatte vielleicht einen schlechten Ruf, aber das Essen war einwandfrei.

Hier hingegen gab es nichts. Nicht mal ein verfluchtes Sandwich brachten sie ihm. Und er hatte nichts mitgenommen. Hatte ja nicht damit gerechnet, dass sie ihn finden würden, im Nachtzug von Boston nach Washington D. C. Wer konnte schon ahnen, dass die Hunde ihn über den halben Erdball jagen würden, nur weil er gesehen hatte, was er nicht hätte sehen sollen.

Aber: Hatte er überhaupt etwas gesehen? Oder war es nur Einbildung gewesen? Vielleicht spukten bloß Dämonen in seinem Kopf, bissen sich wie giftige Schlangen durch seine Hirnwindungen, saugten sich an seinen Synapsen fest und manipulierten seine Erinnerungen.

Nur, wenn er nichts gesehen hatte: Wieso waren sie dann hinter ihm her? Und wer schickte sie? Die Taliban? Das FBI? Die US-Army?

Er presste die Hände an die Schläfen und verzog das Gesicht. Wenn nur die verdammten Kopfschmerzen nicht wären! Kein klarer Gedanke ließ sich fassen. Alles wurde zersetzt im Blitzlichtgewitter der Schmerzen. Er musste hier raus. Sofort!

Er zog die Pistole aus dem Hosenbund und ließ das Magazin herausschnellen. Auch das hatte er schon ein Dutzend Mal getan. So wie alles andere. Das ganze verdammte Dasein spiegelte sich in lächerlich wenigen Bewegungsmustern wider: aufstehen, setzen, atmen, husten, spucken, pissen. Er musste lachen. Wenn man sich die Beschränktheit der menschlichen Ausdrucksformen vor Augen führte, war das Leben nicht mehr als eine Nummernrevue auf irgendeiner Provinzbühne. Ein Schmierentheater. Die x-te Wiederholung derselben schalen Szene für ein Publikum voller Demenzkranker.

Er steckte die Pistole zurück und tigerte hin und her. Hin und her.

Schritt, Schritt, Schritt – wenden.

Schritt, Schritt, Schritt – wenden.

Schritt, Schritt, Schritt …

Wieso um alles in der Welt hatte er den Nachtzug genommen? Wieso war er nicht per Anhalter gefahren? Boston–Washington – das war nicht die Welt. Aber er hatte gehofft, die Nacht würde ihn schützen. Stattdessen hatten sie ihn erwartet. Hatten zu zweit den Zug durchstreift, jedes Abteil gefilzt, jedem sein Foto gezeigt. Reiner Zufall, dass er nach einem Nickerchen zur Toilette gegangen war und sie gesehen … nein, erkannt hatte. Obwohl sie in Zivil waren. Waren ja nicht dumm.

Er war zurück in die Toilette gehuscht und hatte die Tür verriegelt. Welche Optionen hatte er? Mitten in der Nacht. In einem fahrenden Zug. Zwei Häscher auf den Fersen.

Verschanzen?

Angriff?

Flucht?

Die Antwort hatte glasklar vor seinen Augen gestanden: Notbremse ziehen, rausspringen, abhauen. Sie waren mitten in der Pampa, die mondlose Nacht würde ihn verbergen. Aber er brauchte seinen Rucksack. In ihm steckte alles, was er besaß: Rasierzeug, Pass, Geld – und die Glock. Ohne Waffe war er aufgeschmissen. Er brauchte den Rucksack. Musste ihn haben! Und dazu musste er an ihnen vorbei.

Also hatte er sich gegen die Toilettentür gelehnt und sich gesammelt: einatmen, ausatmen, ein, aus. Dann hatte er sich ruckartig umgedreht, die Tür aufgerissen und war losgestürmt; direkt in die beiden Typen rein. Einer stürzte ihm entgegen, der andere ging zu Boden. Im Gerangel war es ihm gelungen, sich loszureißen und durch den Gang bis zu seinem Platz zu hetzen. Er hatte seinen Rucksack geschnappt und war weitergerannt, das Ende des Wagens schon im Visier – als plötzlich eine Frau aus dem Abteil trat. Er rannte mit so viel ungehemmter Energie in sie hinein, dass sie beide stürzten. Dann ging alles so schnell, dass er sich im Nachhinein nur noch an Fragmente erinnerte: wie er sie an den Haaren gepackt und ins Abteil gezerrt hatte … wie die beiden Leute darin sich an ihm vorbeigedrängt hatten … wie er die Tür zugeworfen und abgeschlossen hatte.

Gefangen im Schlafwagenabteil.

Seit einundsiebzig Stunden und … er … starrte … auf …

Ein Geräusch! Er zog die Glock und zielte auf die Abteiltür. Was ging da draußen vor? Wollten sie die Tür aufbrechen? Aufsprengen? Ihn ausräuchern?

Er lauschte. Trat näher. Legte das Ohr an die graue Fläche. Spürte die seichten Vibrationen in den Molekülverbindungen des Kunststoffs. Sie schlichen vorüber. Von links nach rechts. Und wieder zurück. Dann blieb einer stehen. Direkt vor der Tür. Lehnte sich an sie. Horchte auch. Und für einen Moment schlugen ihre Herzen synchron.

Er sprang zurück, riss die Waffe hoch und betätigte den Abzug. Nichts geschah. Wütend hantierte er am Sicherungshebel herum, entsicherte die Glock nach endlosen Sekunden und ging erneut in Feuerstellung.

»Ich schieße!«, schrie er, und seine Stimme überschlug sich beinahe. »Weg von der Tür, oder ich mach euch alle!«

Sein zitternder Finger krümmte sich am Abzug. Nur Millimeter trennten die Kugel von ihrem Opfer.

Aber war er überhaupt fähig, jemanden zu töten? Ein einfacher Berater, nicht mal Soldat. Ein Mann, der zufällig zwei Sprachen beherrschte und zufällig in einem Land aufgewachsen war, in dem die Supermächte ihre Stellvertreterkriege ausfochten. Reiner Zufall, dass er in Dschalalabad auf die Welt gekommen war. Und nicht in Boston, Paris oder Hamburg. Reiner Zufall, dass seine Eltern ihn nicht aufs Feld, sondern in die Schule schickten. Reiner Zufall, dass ein amerikanischer Major auf ihn aufmerksam wurde und ein Stipendium in den USA besorgte. Und reiner Zufall, dass er zeitweise mit einem der Boston-Attentäter zusammengewohnt hatte. Vier Monate Bundesgefängnis – und Ende. Nach der U-Haft gab ihm keiner mehr einen Job. Er war gebrandmarkt. Ein Afghane in Massachusetts – klang eher nach Satire als nach hoffnungsvoller Utopie.

Sein Leben war bestimmt von Zufällen. Nichts davon war seins, nichts davon war er. Er war, was seine Umwelt aus ihm gemacht hatte: ein Produkt aus Zufall und Krieg.

Aber kein Mörder!

»Weg von der Tür«, schrie er noch einmal. »Weg von der Tür!«

Stille.

Er hielt den Atem an.

Krümmte den Finger.

Dann schlich der andere fort.

Er ließ die Waffe sinken und atmete tief durch. Der Schweiß lief in Strömen. Seine Kehle war knochentrocken. Er musste etwas trinken. Brauchte Flüssigkeit. Irgendwas.

Hektisch machte er sich an seinem Rucksack zu schaffen, warf achtlos heraus, was ihm im Weg war, Rasierzeug, Sonnenbrille, Pass – und fand die Wasserflasche. Gierig drehte er den Verschluss ab und setzte die Öffnung an die Lippen. Aber da kam nichts. Kein einziger Tropfen. Nicht mal der Hauch einer Hoffnung. Das Schicksal war unerbittlich … der Sekundenzeiger seiner Uhr … tick, tick, tick … mit jedem Tick dem Tod entgegen.

Die Toilette! Ja klar, auch wenn sie das Wasser abgestellt hatten: in der Toilette müsste noch welches sein. Vielleicht ließ es sich mit der Flasche abschöpfen.

Er wankte in den Waschraum und sank auf die Knie. Er hob den Deckel und starrte in das schwarze Loch. Nichts. Kein Wasserreservoir. Nicht ein einziger Tropfen. Seine Kehle schnürte sich zusammen. Vom Schmerz betäubt, richtete er sich wieder auf – und die Kreatur starrte ihm direkt ins Gesicht. Wie ein zum Leben erwachter Albtraum stand sie vor ihm, abgezehrt und ausgemergelt, die Kleider besudelt und zerrissen und glotzte ihn aus kranken Augen an. Starr vor Entsetzen schnappte er nach Luft, da öffnete das Ungeheuer sein modriges Maul und schien etwas zu sagen. Etwas, das er nicht verstand und auch nicht verstehen wollte.

Er taumelte zurück, schrie auf und warf die Flasche in die reflektierende Fläche über dem Waschbecken. Die Scherben prasselten zu Boden, und die Kreatur verschwand. Er presste die Fäuste gegen die Schläfen. Wie lange konnte er es noch aushalten? Einen Tag? Eine Stunde? Oder nicht mal mehr eine Minute?

»Herr Al-Tahiri?«

Wieder die Stimme.

»Geht es Ihnen gut? Wir haben Lärm gehört. Schreie. Ist alles in Ordnung?«

Diese Stimme! Ruhig und sanft, als wolle sie ihn aushöhlen, sein Inneres aufsaugen, wie durch einen Strohhalm. Und plötzlich waren sie wieder da, die Schlangen, die sich durch seine grauen Zellen schoben, sein Hirn zerbissen und ihr Gift in seine Poren spritzten. Er musste sie rausholen, raus aus dem Kopf. Den Schädel aufbrechen. Aber wie? Womit?

Sein Blick fiel auf die Glasscherben im Bad. Das könnte gehen: mit einer Scherbe durch den Augapfel direkt ins Gehirn. Ein tiefer Schnitt, dann mit dem Finger hindurch und sie rausziehen. Dann wäre Schluss mit den Schmerzen. Endlich Schluss.

Still!

Da waren sie wieder. Vor der Tür. Obwohl er gesagt hatte, dass sie verschwinden sollten! Sie verdienten eine Lektion. Er musste ihnen zeigen, dass er es ernst meinte. Todernst!

Er nahm die Glock und entsicherte sie. Diesmal würde sie nicht versagen. Diesmal würde die Kugel ihr Ziel finden. Und es zerstören.

»Herr Al-Tahiri?«

Von wegen: Herr Al-Tahiri! Mahmoud Al-Tahiri kommt jetzt raus! Und es wäre besser für euch, ihr würdet verschwinden! Den Weg frei machen! Sonst gibt es ein verdammtes Blutbad!

Die Glock in der Rechten, drehte er mit der Linken den Schlüssel und legte die Hand auf den Griff. Einatmen, ausatmen, ein, aus.

Er stieß die Tür auf und stürmte hinaus. Blick nach rechts – frei. Blick nach links – frei. Blick nach rechts …

Was war hier los? Wo waren sie? Hatten sie ihn bemerkt und sich verschanzt?

Langsam schlich er über den Gang, vorbei an mehreren leeren Abteilen. Am Ende des Wagens ging er in die Hocke und lugte um die Ecke. Die Waggontür stand offen. Draußen war niemand zu sehen.

War das ein Scherz? Er berührte mit der Hand den Boden. Nein, das war kein Traum. Das war real.

Er stand auf und trat zur offenen Waggontür. Der Nachtwind fuhr ihm ins Gesicht. Er schloss die Augen und sog die frische Luft gierig in seine ausgehungerten Lungen. Ein Schauer der Erregung durchflutete ihn. Das wahre Leben, ja, so fühlte es sich an. Die vergangenen drei Tage im Abteil waren nur ein böser Traum gewesen. Das wahre Leben spielte sich hier ab. Draußen. In Freiheit.

Er ging über die Trittbretter hinab und setzte seine Füße in den Kies. Wandte den Kopf nach links … Da war sie! Die Kreatur!

Hockte auf ihren angewinkelten Hinterbeinen wie zum Sprung bereit und starrte ihn höhnisch grinsend an. Speichel tropfte in den Styroporbecher, den sie mit ihren Klauen umklammerte. Und ihre kranken Augen funkelten boshaft.

Einen Moment lang war er wie gelähmt, konnte nicht glauben, dass sein Albtraum Realität geworden war. Dann begriff er, dass genau darin die Lösung für alles lag: Weder Bundespolizei noch Geheimdienst waren hinter ihm her, und auch keine ausländische Macht, die ihn für was auch immer bestrafen wollte. Und schon gar nicht war es sein vernebelter Verstand, der ihm etwas vorgaukelte, was es in Wirklichkeit gar nicht gab. Es war viel einfacher: Die Kreatur aus seinen Albträumen war Realität geworden. Es gab sie wirklich. Sie hockte direkt vor ihm.

Er riss die Glock hoch. Die Kreatur ließ den Becher fallen.

»Nein!«, schrie eine Stimme. Im selben Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Er wurde zurückgerissen, verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Bevor er das Bewusstsein verlor, spürte er das Brennen im rechten Arm. Und sein einziger Gedanke war, dass dieser Schmerz die Schlangen aus seinem Kopf vertrieb.

Endlich Frieden.

Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Wahnsinn reitet auf dem Sternenwind … Klauen und Zähne, die sich über Jahrhunderte an Leichen geschliffen haben … der triefende Tod inmitten eines Gelages von Fledermäusen aus den nachtschwarzen Ruinen der begrabenen Tempel des Belial … Nun, da das Bellen der toten, entfleischten Monstrosität lauter und lauter wird und das verstohlene Schwirren und Flattern der verfluchten Lederschwingen näher und näher kommt, will ich mithilfe meines Revolvers das Vergessen suchen, das meine einzige Zuflucht vor dem Unbekannten und Unfassbaren ist.1

Das ist nicht tot, was ewig liegt,und in fremder Zeit wird selbst der Tod besiegt.2

Washington D. C. Bezirksgericht.Zwei Wochen später.

Ray Berkeley senkte den Blick und prüfte den Sitz seiner Schnürsenkel; ein alter Trick, um sich vor einer Rede zu sammeln. Als er sich versichert hatte, dass beide Senkel geschnürt und die Gefahr des Stolperns damit gebannt war, hob er den Kopf und sagte mit fester Stimme: »Mahmoud Al-Tahiri ist der Entführung mit Todesfolge an der Zugbegleiterin Dana Thompson beschuldigt. Meine Aufgabe als vom Gericht bestellter Psychologe war es, herauszufinden, warum sich der Angeklagte auf keine Verhandlungen eingelassen und nicht auf die Gesprächsangebote des FBI-Vermittlers reagiert hatte. Wieso schlug Al-Tahiri nicht Alarm, als das Opfer kollabierte? Wieso ignorierte er sämtliche Außenweltreize? Wollte er nicht reagieren oder konnte er es nicht?«

Ray ließ den Blick durch den Gerichtssaal wandern. Abgesehen vom Richter, der Staatsanwältin, dem Verteidiger, den Geschworenen und dem Gerichtspersonal waren noch der Angeklagte sowie die Eltern der verstorbenen Zugbegleiterin anwesend. Im hinteren Teil verfolgten rund fünfzig Zuschauer den Prozess, unter ihnen auch Rays Freund und Mentor, der Rechtsanwalt Kenneth Sturman.

»Mahmoud Al-Tahiri fühlte sich verfolgt. Deshalb verschanzte er sich im Schlafwagenabteil des Amtrak-Nachtzugs von Boston nach Washington D. C. Ob die Verfolger real waren oder auf bloßer Einbildung beruhten, ist ungeklärt; bisher konnte ihre Existenz weder bestätigt noch ausgeschlossen werden. Ohne Zweifel real hingegen war die Belagerung des Abteils durch Polizei und FBI in den drei Tagen darauf. Allerdings war Al-Tahiri fest davon überzeugt, dass es sich dabei um seine Häscher handelte und sie nur deshalb den Zug nicht stürmten, weil er bewaffnet war. Aus seiner Sicht war es also logisch, sich im Schlafwagenabteil einzusperren. Herauszukommen hätte den sicheren Tod bedeutet.«

Er sah zum Angeklagten. Der Afghane hockte mit gesenktem Blick neben seinem Verteidiger und rührte sich nicht. Ray hatte in den vergangenen Wochen mehrfach mit ihm gesprochen und keine Hinweise auf wahnhafte Störungen gefunden. Der schlanke Mann mit den sanften Zügen bedauerte den Tod der Zugbegleiterin und versicherte, dass er sie nur beiläufig wahrgenommen hatte. Die Geiselnahme schilderte er als eine Art Reflex. Aber als er erst einmal im Abteil war, hatte die Angst vor seinen Verfolgern zu einem Zustand der Lähmung geführt, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.

Ray sollte die Frage beantworten, ob Al-Tahiri die Wahrheit sagte oder ihn dreist belog, um einer Verurteilung zu entgehen und auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren. Auf den ersten Blick war das schwer vorstellbar, denn der Afghane wirkte so sanftmütig, dass man ihm eine Gewalttat nicht zutraute. Als Psychologe waren Ray jedoch mentale Zustände vertraut, die ein empathisches Wesen in eine kaltblütige Bestie verwandeln konnten. Und einen dieser Zustände hatte er gerade am eigenen Leib erfahren, als er Al-Tahiris Isolations-Odyssee rekonstruiert hatte.