2,99 €
FOLGE 3:
Rays Leben gerät immer mehr aus den Fugen. Er will für ein paar Tage von der Bildfläche verschwinden. Gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern fährt er zur Hütte seines Großonkels in Coldwater. Doch als sich die Berkeleys bei einem Ausflug in einer Höhle verirren, holen Ray die tödlichen Ereignisse, vor denen er fliehen wollte, wieder ein.
Zur gleichen Zeit in der Schweiz: Im Teilchenbeschleuniger CERN kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall. Der Versuchsleiter Daniel Brown bemerkt im Beschleunigerring eine seltsame Kreatur, die halb mit dem Boden verschmolzen ist. Als sie etwas zu flüstern scheint, begeht Brown einen fatalen Fehler ...
LOVECRAFT LETTERS - DIE SERIE:
Ray Berkeley führt ein zufriedenes Leben. Er ist ein angesehener Psychologe und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem großen Haus im Grünen. Doch vom einen auf den anderen Tag gerät Ray in einen Sog aus brutalen Morden, schockierenden Geständnissen und mysteriösen Ereignissen. Rätselhafte Spuren führen zu dem Schriftsteller H. P. Lovecraft - und Ray erkennt, dass die Welt weit furchterregender ist, als der berühmte Horror-Autor sie in seinen Geschichten jemals hätte schildern können ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 147
Cover
Die Serie
Lovecraft Letters – Folge III
Über den Autor
Titel
Impressum
Prolog
Schweiz. CERN. Pforte.
Burke/Coldwater.
CERN. Kontrollraum.
Coldwater. Mammut-Cave.
CERN. Kontrollraum/Beschleunigertunnel.
Coldwater.
Bern. Inselspital.
Industriegelände. Fabrikhalle.
Coldwater. Lake Blank.
Bern. Inselspital.
Coldwater. Lake Blank.
Bern. Fernsehstudio.
Coldwater. Lake Blank.
Bern. Fernsehstudio.
Coldwater. Lake Blank.
Coldwater. Lake Blank.
Fernsehstudio. Garderobe.
Coldwater. Hütte Gardner.
Burke. Haus der Berkeleys.
Fernsehstudio. Tiefgarage.
In der nächsten Folge
Fußnoten
Ray Berkeley führt ein zufriedenes Leben. Er ist ein angesehener Psychologe und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem großen Haus im Grünen. Doch vom einen auf den anderen Tag gerät Ray in einen Sog aus brutalen Morden, schockierenden Geständnissen und mysteriösen Ereignissen. Rätselhafte Spuren führen zu dem Schriftsteller H. P. Lovecraft – und Ray erkennt, dass die Welt weit furchterregender ist, als der berühmte Horror-Autor sie in seinen Geschichten jemals hätte schildern können …
Rays Leben gerät immer mehr aus den Fugen. Er will für ein paar Tage von der Bildfläche verschwinden. Gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern fährt er zur Hütte seines Großonkels in Coldwater. Doch als sich die Berkeleys bei einem Ausflug in einer Höhle verirren, holen Ray die tödlichen Ereignisse, vor denen er fliehen wollte, wieder ein.
Zur gleichen Zeit in der Schweiz: Im Teilchenbeschleuniger CERN kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall. Der Versuchsleiter Daniel Brown bemerkt im Beschleunigerring eine seltsame Kreatur, die halb mit dem Boden verschmolzen ist. Als sie etwas zu flüstern scheint, begeht Brown einen fatalen Fehler …
Christian Gailus studierte Germanistik in Hamburg und Drehbuch in Köln. Er arbeitete in einer Werbeagentur und verfasst Kriminalromane, Thriller und Hörspiele. Bereits in seiner Jugend wurde er von Lovecrafts Geschichten gepackt. Seitdem lassen ihn Horrorstorys nicht mehr los. Mit der Serie »Lovecraft Letters« hat er ein Ventil gefunden, seine Albträume zu verarbeiten.
CHRISTIAN GAILUS
III
beBEYOND
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Lektorat/Projektmanagement: Stephan Trinius
Cover-Motiv: © Timo Wuerz
Covergestaltung: Thomas Krämer
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5254-2
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Mein lieber William,
liegt Hoffnung jenseits des Seins? Gibt es hinter der Dunkelheit Licht? Existiert ein Leben nach dem Tod?
Diese großen Fragen kommen für einen jungen Mann wie dich sicher genauso überraschend wie dieser Brief von mir.
Du kennst mich nicht, und ich bin mir nicht mal sicher, ob es nicht besser so geblieben wäre. Manchmal ist Nichtwissen die größere Gnade. Aber manchmal wird Nichtwissen auch zur Qual, wenn die Seele – scheinbar grundlos – keine Ruhe findet.
Du wirst den Schmerz kennenlernen, den ein Mangel erzeugt, ohne dass man sich seiner bewusst ist. Und du wirst die Qualen schmecken, die dich am eigenen Verstand verzweifeln lassen, ohne dass du die Ursache auch nur zu erahnen vermagst.
Dein Mangel ist das Aufwachsen ohne Vater. Deine Mutter hat es so entschieden. Sie dachte dabei nur an dich und deine Zukunft. Aber sie übersah die Brücke, die die Herkunft eines Individuums zwischen zwei Welten schlägt. Dieser Gedanke bringt mich zu den entscheidenden Fragen: Gibt es eine Verbindung zwischen Lebewesen, die tiefer geht als kulturelle Herkunft? Besteht eine engere Bande als die der Blutsverwandtschaft? Existiert ein evolutionäres Erbe, das bis in die kleinste Zelle hinein den Ursprung des Seins in sich verwahrt wie ein Gedächtnis?
Wohlgemerkt: Ich spreche nicht von den lächerlichen Versuchen der Psychoanalytiker, aus einem Traum mehr abzuleiten als ein ausgelassenes Feuerwerk der Neuronen. Ich halte nichts von den so tiefschürfend klingenden Begründungen dieser Seelenklempner, die ihre Theorien mit allem würzen, was sie stützt, alles andere aber geflissentlich übersehen. Das ist moderne Quacksalberei mit den Mitteln der Suggestion. Jeder Zauberer wäre ein besserer Therapeut als dieser Wiener Scharlatan.
Was ich meine, gelangt nicht durch Magie oder göttliches Walten in die Welt, sondern durch das Wesen des Lebens selbst. Wie entsteht aus Materie Leben? Wie entwickelt sich aus Zellen gleichen Ursprungs ein Organismus, der atmet, lebt und stirbt?
Diese Fragen haben sich die Menschen schon immer gestellt. Und sie wurden nicht müde bei der Erkundung von Erklärungen. Aber Seele, Geist und Gott sind nichts weiter als naive Hilfskonstruktionen, die mehr verschleiern als erklären. Das Leben selbst ist ein Prozess, kein Resultat. Dieser Prozess begann lange bevor es die Absicht gab, ihn durchschauen zu wollen. Leben ist Struktur, ein integraler Bestandteil einer allumfassenden Matrix, die nicht vor den irdischen Begrenzungen haltmacht.
Bedenke, William: Die Erde ist nur ein Planet unter vielen. Im Weltraum existieren viele Milliarden Sterne, um die viele Milliarden Planeten kreisen. Es wäre eitel und dumm davon auszugehen, dass wir die einzige bewohnte Welt im Kosmos sind. Und nur, weil wir diese fremden Welten nicht sehen, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.
Schließlich können wir auch nicht ins Innere der Erde sehen und glauben dennoch fest daran, dass sich dort etwas befindet. Wie es geschaffen ist und woraus es besteht, mag den Menschen noch unbekannt sein. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie die Augen öffnen und die Welt erkunden werden – die äußere wie die innere.
Wenn die Menschen das tun, sind sie besser gewappnet, denn möglicherweise findet nicht alles, was sie vorfinden werden, ihren Beifall. Es gibt Konflikte, die schwelen langsam – und brechen umso heftiger aus.
Die Menschen können für diese Konfrontation gerüstet sein, William. Du kannst dafür gerüstet sein. Es ist keine zwingende Notwendigkeit, dass der Konflikt in Blut ertrinken muss. Es kann Versöhnung geben, doch sie muss hart erkämpft werden.
Ich war zu schwach, genau wie meine Mutter. Aber dir kann es gelingen, William, denn du bist anders als wir. Du bist so viel mehr als wir es je sein konnten. Durch deine Adern fließt das Blut aus zwei Welten und mischt sich zu etwas Neuem, Aufregendem und nie zuvor Dagewesenem.
Aus diesem Grund glaube ich fest daran: Ja, es gibt Hoffnung jenseits des Seins. Ja, es gibt hinter der Dunkelheit Licht. Ja, es gibt ein Leben nach dem Tod.
Wenn du es willst, William.
Es liegt in deiner Macht.
Du bist der Auserwählte.
HPL
Westlich von Arkham steigen die Hügel abrupt an; zwischen ihnen liegen Täler mit Wäldern, denen nie die Axt gedroht hat. Dort gibt es dunkle enge Schluchten, wo die Bäume sich auf wundersame Weise neigen, dünne Bäche plätschern vor sich hin, auf die nie ein Sonnenstrahl fiel. An den sanfteren Hängen stehen uralte und steingraue Bauernhöfe mit geduckten moosbedeckten Hütten, die im Windschatten großer Felsvorsprünge auf ewig über den alten Geheimnissen Neuenglands brüten; doch sie alle sind mittlerweile verlassen, die breiten Kaminschlote sind zerfallen, und die niedrigen Walmdächer mit ihren Dachschindeln hängen gefährlich durch.1
Das ist nicht tot, was ewig liegt,und in fremder Zeit wird selbst der Tod besiegt.2
Daniel Brown stand kurz vor dem Durchbruch: dem Nachweis für die Existenz der Dunklen Materie. Bei dieser Form spekulativer Teilchen handelte es sich bislang nur um ein theoretisches Konstrukt, mit dem die Bewegungen der sichtbaren Materie im Standardmodell der Kosmologie erklärt werden konnten, oder anders gesagt: So, wie die Physiker das Universum verstanden, musste es Dunkle Materie besitzen – andernfalls hätten sie etwas gründlich missverstanden.
Aber das glaubte Daniel Brown nicht. Er war davon überzeugt, dass Dunkle Materie existierte, man musste sie nur noch finden, so wie das Higgs Boson, das sogenannte Gottesteilchen, gefunden wurde. Jahrzehntelang war es ein hypothetisches Postulat gewesen, 2013 wurde es dann am CERN erstmals nachgewiesen und lieferte einen wichtigen Beitrag zum Standardmodell, nach dem das Universum einst mit einem Big Bang begann und sich seither ausdehnt.
Der Nachweis der Dunklen Materie wäre ein weiterer Beleg für die Korrektheit der Theorie. Da sie aber – wie der Name schon sagt – dunkel und damit nicht sichtbar ist, lässt sie sich nur indirekt beobachten, beispielsweise über sogenannte Axione. Auch dabei handelt es sich um hypothetische Teilchen, die sich im Gegensatz zur Dunklen Materie jedoch experimentell nachweisen lassen müssten – wenn es sie gab.
Als sich diese Erkenntnis in der Wissenschaft durchsetzte, begann ein regelrechter Wettlauf um den Nachweis der Axione. Und dafür brauchte man einen Teilchenbeschleuniger wie den Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN.
Das CERN war im schweizerischen Bern beheimatet und beherbergte nicht irgendeinen Teilchenbeschleuniger, sondern den größten der Welt. Der Large Hadron Collider war ein fast siebenundzwanzig Kilometer langer ringförmiger Tunnel, vollgestopft mit modernster Technik, in dem Elektronen und andere Materieteilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht wurden. Mit der Energie, die dabei eingesetzt wurde, ließ sich mühelos eine Kleinstadt mit Strom versorgen, und das Personal, das nötig war, um ein Experiment durchzuführen, bestand aus mehreren Hundert Wissenschaftlern, Ingenieuren und Informatikern. Kurz: Forschungen am CERN waren sauteuer.
Daniel Brown war es nur deshalb gelungen, die notwendige Finanzierung durchzubekommen, weil er alles auf eine Karte gesetzt hatte. Der Enddreißiger war ein brillanter Kopf und hatte sich über viele Jahre einen exzellenten Ruf erarbeitet. Bei der Suche nach den Axionen war er aber nicht der Einzige. Sollte einem anderen Wissenschaftler vor ihm der Nachweis gelingen, würde dessen Name in die Annalen der Physik eingehen, und nicht der von Daniel Brown. Es war wie bei einem sportlichen Wettkampf: Der Sieger bekam die Medaille, der Zweite ein bisschen Applaus.
Dan war davon überzeugt, dass er auf dem richtigen Weg war. Jahrelang hatte er verbissen sein Ziel verfolgt. Die Arbeit am CERN würde seine Arbeit krönen.
Wären da nicht die Daten.
Die Ergebnisse seiner Messungen irritierten ihn deshalb so sehr, weil sie nicht das hergaben, was er erwartet hatte. Erst war Dan von einem Fehler ausgegangen, aber als die Daten auch nach endlosen Korrekturen und Analysen immer noch nicht das erhoffte Ergebnis brachten, geriet er in Panik. Er stand mit dem Rücken zur Wand und würde keine zweite Chance bekommen, wenn er das gewünschte Ergebnis nicht lieferte.
Dan fieberte nach dem Erfolg. Deshalb hatte er die Zahlen manipuliert. Nur ein wenig, und nur dahingehend, wie sie seiner Meinung nach aussehen müssten, wenn alles mit rechten Dingen zuging. Er wertete seine Schönfärberei nicht als Betrug, sondern sah sie als vorweggenommene Bestätigung seiner Prognose. Würde ein Experiment sie bestätigen, wäre das nur der Nachweis dessen, wovon er sowieso ausgegangen war.
Käme allerdings heraus, dass Dan die Zahlen manipuliert hatte, wäre seine Karriere beendet. Dann würde er den Rest seines Lebens in Hörsälen versauern, wo er mittelmäßig begabten Studenten die Grundlagen der modernen Physik beibrachte – wenn überhaupt. Ein solches Leben konnte sich Dan nicht vorstellen. Er brauchte den Erfolg und hatte sich damit in eine Sackgasse manövriert. Vom Ausgang seiner Versuche hing nicht weniger als seine berufliche Existenz ab.
Dementsprechend nervös steuerte Daniel Brown seinen Porsche Cayman zur Eingangspforte des CERN, wo ihn die übliche Menge Skeptiker begrüßte: notorische Schwarzseher und selbst ernannte Spezialisten, die allen Ernstes glaubten, man könne mit dem Teilchenbeschleuniger ein schwarzes Loch erzeugen, das die ganze Erde verschlingen würde. Was für Idioten! Diese Leute mit ihren verschrobenen Ideen hatten nicht den leisesten Schimmer, was Strom war, glaubten sich aber als Experten, weil sie einen Staubsauger einschalten konnten.
Eigentlich waren ein paar Dutzend Demonstranten zu wenig, um öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber irgendwie war es ihnen gelungen, sich mit Marco Pitrelli prominenten Beistand zu organisieren.
Pitrelli war Physiker und hatte sogar eine Zeit lang am CERN gearbeitet, bevor er sich in den Sumpf der Verschwörungstheoretiker begeben hatte. Mit ihm als Gallionsfigur gelang es den Kritikern immer wieder, die Medien davon zu überzeugen, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Den Zeitungen und Fernsehsendern musste dann Rede und Antwort gestanden werden. Irgendein Experte – nicht selten Daniel Brown – versuchte dann einem Laienpublikum begreiflich zu machen, wieso es unmöglich war, mit dem Large Hadron Collider ein schwarzes Loch zu erzeugen. Und das war sogar noch frustrierender, als unbegabte Studenten zu unterrichten.
»Schluss mit CERN!«, skandierte die Menge. Dan betätigte den elektronischen Fensterheber und ließ die Scheibe herunterfahren.
»Morgen, Philipp«, begrüßte er den Pförtner und streckte ihm seinen Ausweis entgegen.
»Doktor Brown«, grüßte der Mann und tippte sich mit dem Finger an die Mütze.
»Sind ja früh dran heute«, sagte Dan und nickte in Richtung Demonstranten.
»Haben vielleicht gewittert, dass heute was los ist«, gab der Pförtner zurück. »Die stehen jedenfalls schon seit zwei Stunden da.«
Dan hob überrascht die Brauen. »So lange? Bei der Kälte?« Er zog seine Brieftasche hervor und kramte einen Fünfzig-Franken-Schein heraus. »Kaufen Sie denen mal ’ne Runde Tee«, sagte er und reichte dem Pförtner den Schein. »Zum Aufwärmen.«
»Sie geben einen aus?«
Dan zuckte mit den Schultern. »Du sollst auch deine Feinde lieben«, sagte er. »Hat schon Gandhi gesagt.«
»Jesus«, korrigierte der Pförtner grinsend. »Dann besorge ich mal in der Kantine ’ne Kanne. Vielleicht nimmt ihnen das ja den Wind aus den Segeln.«
»Schön wär’s«, erwiderte Dan und sah noch einmal zur Gruppe. Zwischen den brüllenden Leuten stand ein Mann und starrte ihn mit finsterem Blick an. Es war Marco Pitrelli.
Dan fühlte sich plötzlich unwohl. Rasch wandte er sich ab und fuhr durch das Tor auf das Gelände des größten Teilchenbeschleunigers der Welt.
Ray hatte Karen und die Kinder früh geweckt. Erst waren sie deswegen muffig gewesen, aber dann hatten sie sich von seiner guten Laune anstecken lassen. Ray fühlte sich, als würde er in einen lang ersehnten Urlaub aufbrechen.
Mit dem Entschluss, die Hütte seines Großonkels aufzusuchen, hatte er sich auch entschieden, die Ereignisse und den Stress der vergangenen Tage hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken – auch wenn es nur für ein Wochenende sein würde. Manchmal bedurfte es eben einfach eines Ortswechsels, um sich den Kopf durchpusten zu lassen.
Er genoss die Fahrt auf dem Highway Richtung Norden. Auch Karen und die Kinder wirkten mit jeder gefahrenen Meile gelöster, machten Scherze und sangen Lieder – so wie früher, wenn sie als Familie gemeinsam unterwegs waren.
Sie passierten Philadelphia und New York City und folgten der Küste Richtung Rhode Island. Auf Höhe von New London verließen sie die raue Uferlandschaft und fuhren über die 395 direkt in den sich anbahnenden Indian Summer, der die Wälder links und rechts der Straße in ein Farbenmeer leuchtender Rot- und Brauntöne verwandelte.
In Norwich überquerten sie den Shetucket River und erreichten kurz darauf ein ausgedehntes Waldgebiet, das sich über die Ostgrenze Connecticuts hinaus bis nach Providence zog. Die Zeichen der Zivilisation wurden weniger. Nur noch hin und wieder sah man Farmen oder Selbstbedienungs-Tankstellen.
Als das Navigationsgerät verlangte, die befestigte Straße zu verlassen, lenkte Ray den Subaru auf einen holperigen Waldweg. Nach wenigen Metern verkündete das Navi, dass es den aktuellen Streckenabschnitt nicht in seinem Straßenverzeichnis finden könne und es das Beste wäre, umzukehren.
»Mir wird schlecht«, sagte Caroline, als der Wagen durchgerüttelt wurde wie eine Waschmaschine im Schleudergang.
»Wir haben es gleich geschafft«, versuchte Ray die Stimmung zu heben. »In ein paar Minuten sind wir da.«
»Bist du sicher?«, fragte Karen zweifelnd. »Das Navi sagt mittlerweile gar nichts mehr, und Kartenlesen war noch nie meine Stärke.« Sie warf einen ratlosen Blick auf den Faltplan in ihren Händen.
»Vertrau mir«, erwiderte Ray gelassen. »Wir sind auf dem richtigen Weg. Das habe ich im Gefühl.«
Nach kurzer Zeit lichtete sich der Wald. Vor ihnen breitete sich ein weites Tal aus. Eine lang gestreckte Ebene führte sanft hinab, um auf der gegenüberliegenden Seite steil anzusteigen und in einem Bergmassiv zu münden, das sich hoch in den Himmel hinaufschwang. Der spektakuläre Anblick verschlug allen die Sprache.
»Das ist ja der Wahnsinn!«, fand Caroline als Erste die Sprache wieder.
»So habe ich mir das nicht vorgestellt«, fügte Karen beeindruckt hinzu.
»Und wo ist die Hütte?«, wollte Mervyn wissen.
Ray kramte einen Zettel aus seiner Hemdtasche und warf einen Blick darauf. »Nach der Beschreibung des Notars müssen wir der Straße bis zur Abzweigung folgen und uns dann links halten.«
Sie fuhren weiter. Nach einer halben Meile zog sich der Wald zu ihrer Linken zurück und machte einer großen Wiese Platz. Dort stand die Hütte.
Ray parkte den Wagen, schaltete den Motor aus und zog den Hausschlüssel, der ihm vor Jahren vom Notar zugeschickt worden war, aus der Tasche.
»Dann wollen wir unseren Grund und Boden mal in Augenschein nehmen«, sagte er grinsend und stieg aus. Karen und die Kinder folgten ihm.
Die Hütte war uralt. Das Holz, aus der sie gebaut war, hatte sich im Laufe der Jahrzehnte schwarz verfärbt. Sie hatte die Ausmaße einer Doppelgarage und grenzte mit der Rückseite an den Wald. Aus den schwarzen Ziegeln ihres Spitzdachs schob sich ein rußgeschwärztes Kaminrohr aus Metall. Alles in allem machte die Hütte einen robusten Eindruck, und das war sie wohl auch, sonst hätte sie die vielen Jahre in der rauen Natur Neuenglands nicht überstanden.
Ray entriegelte das Schloss und schob die Tür auf. Ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen.
»Puh, stinkt das«, sagte Caroline, die hinter ihm stand.
»Es stinkt nicht, es riecht …« Ray suchte nach dem richtigen Wort. »Intensiv. Nach Holz.« Er tat einen kräftigen Atemzug. »Nach Natur.«
Mervyn drückte sich an ihm vorbei und schlüpfte ins Innere der Hütte. »Wo ist das Licht?«
»Ich glaube nicht, dass es hier Strom gibt«, sagte Ray.
Sein Sohn grinste. »Cool!«
»Und wie sollen wir was sehen?«, fragte Caroline besorgt.
»Indem wir die Fenster öffnen«, erwiderte Ray und nahm die Außenfassade der Hütte in Augenschein. Die Fensterläden an der Längsseite waren mit mehreren schmalen Brettern vernagelt. An der Rückseite der Hütte fand Ray einen kleinen Anbau, in dem er den Werkzeugschuppen vermutete.
»Ich such ’ne Zange«, rief er.
»Und ich den Weg zum Hotel«, rief Karen zurück.