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FOLGE 6:
Ray will Antworten! Er bricht in Colemans Haus ein und dringt von dort in ein unterirdisches System aus Tunneln und Gängen vor. Die Erkenntnis trifft Ray wie ein Schlag: Das Spiel hat bereits vor Jahrzehnten begonnen und ein schon jetzt unermessliches Ausmaß erreicht. Und: Die Spieler schrecken vor nichts zurück - auch nicht vor Mord!
Zur gleichen Zeit in Rhode Island/USA: Am Teufelsriff vor der Küste von Lynxworth geht ein Spezialkommando auf Spurensuche. Was als harmlose Expedition beginnt, endet in einer Katastrophe, als die Taucher in der Tiefe von einer grauenhaften Bestie attackiert werden ...
LOVECRAFT LETTERS - DIE SERIE:
Ray Berkeley führt ein zufriedenes Leben. Er ist ein angesehener Psychologe und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem großen Haus im Grünen. Doch vom einen auf den anderen Tag gerät Ray in einen Sog aus brutalen Morden, schockierenden Geständnissen und mysteriösen Ereignissen. Rätselhafte Spuren führen zu dem Schriftsteller H. P. Lovecraft - und Ray erkennt, dass die Welt weit furchterregender ist, als der berühmte Horror-Autor sie in seinen Geschichten jemals hätte schildern können ...
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Seitenzahl: 145
Cover
Die Serie
Lovecraft Letters – Folge VI
Über den Autor
Titel
Impressum
Prolog
Highway nahe Lynxworth.
Washington D. C. Weisses Haus. Oval Office.
Amtrak. Grossraumwaggon.
Tunnel 3. Büro Traben.
Delaware. Seaford. Baxter-Drive.
Tunnel 3. Flur.
Seaford. Mall. Parkplatz.
Washington D. C. Weisses Haus. Flur.
Seaford. Parkplatz.
Rückblende.
Seaford. Parkplatz.
Washington D. C. Weisses Haus. Besprechungsraum.
Seaford. Mall.
Tunnel 3. Kommandozentrale.
Seaford. Baxter-Drive 42.
An Bord einer Boeing E-6.
Baxter-Drive 42. Keller.
Washington D. C. Weisses Haus. Büro Bannon.
Baxter-Drive 42. Keller.
Am Teufelsriff. Eine Meile vor der Küste von Lynxworth.
Baxter-Drive 42. Keller.
Washington. MPDC. Büro Legrasse.
Am Teufelsriff. Unter Wasser.
Im Boot.
MPDC. Büro Legrasse.
Am Teufelsriff. Unter Wasser.
MPDC. Büro Legrasse.
Video-Dokumentation.
MPDC. Büro Legrasse.
Am Teufelsriff. Im Boot.
MPDC. Büro Legrasse.
Unter Wasser.
MPDC. Büro Legrasse.
Video-Dokumentation.
MPDC. Büro Legrasse.
Am Teufelsriff. Unter Wasser.
Video-Dokumentation.
Am Teufelsriff. Über Wasser.
Video-Dokumentation.
Lynxworth. Am Strand.
Büro Legrasse.
Washington D. C. Weisses Haus. Oval Office.
Burke. Haus der Berkeleys.
Washington D. C. Kapitol. Festbühne am Eingangsbereich.
In Sicherheit.
Washington D. C. George Washington University Hospital.
Katakomben.
Im Riff.
Epilog
In der nächsten Folge
Fußnoten
Ray Berkeley führt ein zufriedenes Leben. Er ist ein angesehener Psychologe und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem großen Haus im Grünen. Doch vom einen auf den anderen Tag gerät Ray in einen Sog aus brutalen Morden, schockierenden Geständnissen und mysteriösen Ereignissen. Rätselhafte Spuren führen zu dem Schriftsteller H. P. Lovecraft – und Ray erkennt, dass die Welt weit furchterregender ist, als der berühmte Horror-Autor sie in seinen Geschichten jemals hätte schildern können …
Ray will Antworten! Er bricht in Colemans Haus ein und dringt von dort in ein unterirdisches System aus Tunneln und Gängen vor. Die Erkenntnis trifft Ray wie ein Schlag: Das Spiel hat bereits vor Jahrzehnten begonnen und ein schon jetzt unermessliches Ausmaß erreicht. Und: Die Spieler schrecken vor nichts zurück – auch nicht vor Mord!
Zur gleichen Zeit in Rhode Island/USA: Am Teufelsriff vor der Küste von Lynxworth geht ein Spezialkommando auf Spurensuche. Was als harmlose Expedition beginnt, endet in einer Katastrophe, als die Taucher in der Tiefe von einer grauenhaften Bestie attackiert werden …
Christian Gailus studierte Germanistik in Hamburg und Drehbuch in Köln. Er arbeitete in einer Werbeagentur und verfasst Kriminalromane, Thriller und Hörspiele. Bereits in seiner Jugend wurde er von Lovecrafts Geschichten gepackt. Seitdem lassen ihn Horrorstorys nicht mehr los. Mit der Serie »Lovecraft Letters« hat er ein Ventil gefunden, seine Albträume zu verarbeiten.
CHRISTIAN GAILUS
VI
beBEYOND
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Lektorat/Projektmanagement: Stephan Trinius
Cover-Motiv: © Timo Wuerz
Covergestaltung: Thomas Krämer
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5257-3
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Er öffnete die Augen, und das Chaos flutete seine Sinne. Aus den Eingeweiden der Erde ergoss sich der Realität gewordene Fiebertraum eines Wahnsinnigen. Die Kreaturen kamen aus Höhlen, Vulkanschloten und Tunneln. Sie krochen durch Kohleschächte und Erdgas-Pipelines, schoben sich durch Bohrlöcher, Abwasserkanäle und stillgelegte U-Bahn-Netze. Einer Entzündung gleich waren sie unter der Erdkruste gewachsen. Als die Eiterblase platzte, hatte die Menschheit ihrer geballten Gewalt nichts entgegenzusetzen.
Mit Klauen und Zähnen wüteten sie ohne Rücksicht auf Verluste. Mit Steinen und Stahl schlugen und stachen sie auf die Menschen ein und verwüsteten ihre Körper. Bitten, Betteln und Flehen war vergebens. Ihr Vorgehen war erbarmungslos und brutal.
Wer nicht sofort starb, wurde wie Schlachtvieh aus den Häusern getrieben, auf den Straßen versammelt und in endlosen Trecks zu ihren Höhlen gebracht, wo die Menschen den langen Weg in die Unterwelt antreten mussten. Zahllose kamen dabei ums Leben. Leichenberge säumten den Weg. Aber obwohl von tausend Gefangenen nur eine Handvoll überlebte, war ihre Zahl dennoch so groß, dass Millionen in die Katakomben der Unterwelt abstiegen und dort ein Leben in Ketten fristeten.
Unterdessen verwüsteten die Invasoren die Oberwelt, bis von den Errungenschaften der Menschheit nichts mehr übrig war. Häuser zerfielen, Städte verwaisten. Am Ende blieb eine Wüste aus Beton, Silizium und Plastik zurück.
Ein Mann durchstreifte das Chaos und suchte nach einem Sinn. Aber es blieb bloß die Erkenntnis, dass er es hätte verhindern können. Wenn er gewollt hätte.
Aber er wollte nicht.
Warum nicht, William? Warum nicht?
Man sollte nicht glauben, der Mensch sei der älteste oder der letzte der Herren der Welt, oder die gewöhnliche Masse des Lebens und der Materie könne alleine bestehen. Die Alten waren, die Alten sind und die Alten werden sein. Nicht in den Räumen, von denen wir wissen, sondern zwischen jenen Räumen. Sie wandeln seit Anbeginn, wohlgemut und ungehindert, nicht gesehen von unseren Augen. Yog-Sothoth kennt die Pforte. Yog-Sothoth ist die Pforte. Yog-Sothoth ist der Schlüssel und der Wächter der Pforte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alle sind eins in Yog-Sothoth.1
Das ist nicht tot, was ewig liegt,und in fremder Zeit wird selbst der Tod besiegt.2
Ray fuhr hoch. Die apokalyptischen Bilder standen noch vor seinem geistigen Auge, als sich das Sirenengeheul eines näher kommenden Streifenwagens aus dem Chaos schälte.
Er saß in einem Auto. Am Straßenrand. Offenbar hatte er die Leitplanke gestreift. Aber wieso … Die Erinnerungen schoben sich wie die Teile eines Puzzles in sein Bewusstsein: Das Treffen mit Trance, das Lovecraft-Spiel, die Flucht aus Lynxworth. Der Unfall.
Und nun? Kam die Polizei. Zu ihm.
Rays Gedanken rotierten. Er hatte Trance gesagt, er wolle der Polizei alles berichten, was geschehen war. Aber das war vor der Flucht über die Hausdächer gewesen, vor dem Tod des Gamers und vor dem Krakenwesen im Altstadtkern von Lynxworth.
Und auch vor der Erkenntnis, dass Ray Hauptakteur des Spiels war. Eines Spiels auf Leben und Tod, bei dem ihn Männer in Kampfanzügen verfolgten und auf ihn schossen. Gehörten sie auch zum Spiel? Und was für ein perverser Zeitvertreib war das überhaupt, bei dem der Spielleiter Menschen tötete, um das Spiel voranzutreiben? Alles wegen eines Buchs und eines Rings? Das jedenfalls hatte Trance behauptet.
Ray rieb sich die Schläfen. Das konnte nicht sein. Unmöglich! Menschen starben, Monster hausten an finsteren Orten, und Paramilitärs schossen sich den Weg frei. Das war kein Spiel. Das war bitterer Ernst. Trance musste etwas übersehen haben. Sie hatten ihm eine Rolle innerhalb des Szenarios zugewiesen, und er hatte sie ausgefüllt. Ohne zu fragen, welcher Sinn dahintersteckte. Trance musste etwas übersehen haben.
Die Sirene wurde lauter. Im Innenspiegel sah Ray das nervöse Flackern der Streifenwagen-Beleuchtung. Er war schon einmal vor der Polizei geflüchtet. Warum sollte er es nicht wieder tun? Schlimmer als der Albtraum, den er gerade hinter sich gebracht hatte, konnte es nicht werden. Nicht, wenn Ray endlich aktiv wurde. Er brauchte Informationen. Aus erster Hand.
Hastig suchte er seine Papiere zusammen und stieg aus dem Wagen. Er kletterte über die Leitplanke, rannte die Böschung herunter und verschwand in der Dunkelheit.
Richard »Dick« Towers lehnte sich im Ledersessel zurück und kratzte sich am Sack. Er hatte es geschafft. Wieder. Wer hätte das gedacht? Er jedenfalls nicht. Obwohl er natürlich davon überzeugt war, dass er der Richtige für den Posten war. Nur deshalb hatte er ja für die erste Amtszeit kandidiert: Weil er den Leuten beweisen wollte, dass er ein Land regieren konnte. Das war keine große Sache in seinen Augen. Schließlich war ein Land auch nichts anderes als eine Firma, und von denen besaß er Hunderte.
Towers war von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt. Dennoch war ihm nicht entgangen, dass seine Umfragewerte in den vergangenen vier Jahren in den Keller gegangen waren. Anfangs hatten ihn seine Analysten damit beruhigt, dass es sich dabei um ein ganz normales Phänomen handelte: Nach einer gewonnenen Wahl musste der Sieger beweisen, dass er die Vorschusslorbeeren auch verdient hatte.
Als Towers zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt worden war und seine Wahlversprechen umsetzen wollte, musste er feststellen, dass die Praxis komplizierter war, als er gedacht hatte. Als Chef einer Firma konnte er mehr oder weniger machen, was er wollte. Als Präsident musste er sich mit Repräsentantenhaus und Senat abstimmen, die Verwaltungen der Bundesstaaten respektieren und die Urteile der Richter achten.
Towers empfand die Instrumente, die eine funktionierende Demokratie garantieren sollten, als machtpolitische Steine, die ihm in den Weg gelegt wurden. Für ihn ergab es keinen Sinn, dass er erst gewählt wurde und dann nicht regieren durfte. Jedenfalls nicht so, wie er es wollte.
Als er das kapierte, verlor er das Interesse an der Präsidentschaft und kümmerte sich um sein Handicap. Mit dem Golfspielen hielt er sich bei Laune, um die verbleibenden Monate seiner Präsidentschaft durchzustehen. Einem TV-Sender sagte er: »Wenn dieses Land unbedingt vor die Hunde gehen will – bitte schön. Ich lasse mir deswegen nicht den Tag verderben.«
Dann kam der Zwischenfall an Loch 11. Nach einem spektakulären Hole in One bückte sich Towers breit grinsend nach dem Ball, als plötzlich etwas nach ihm schnappte. Der Präsident taumelte rückwärts und ging zu Boden. Die Security nahm das Loch unter Beschuss. Als ein Spezialteam später den Golfplatz umgrub, fand es ein ausgedehntes Tunnelsystem vor.
Erst da wurde Towers die Dimension der Operation Outburst bewusst. Sein Chef-Stratege Charles Bannon hatte ihn darüber zwar informiert. Aber wie üblich hatte Towers nur mit halbem Ohr zugehört. Viecher im Untergrund? Ach, lasst mich doch mit diesem Scheiß zufrieden! Ich wollte die Amerikaner retten, und sie haben mir den Stinkefinger gezeigt. Wenn sie jetzt von irgendwelchem Höhlen-Ungeziefer gefressen werden: Wen juckt’s?
Bannon hatte die Arbeit der Spezialeinheit, die zur Bekämpfung der Tunnel-Ghouls eingesetzt worden war, dennoch vorangetrieben. Ein kluger Schachzug, wie Towers anerkennen musste. Denn als er über die Möglichkeiten, die ein unterirdisches Tunnelsystem der globalen Wirtschaft eröffnen konnte, nachdachte, machte es bei ihm Klick. Wenn es möglich wäre, Waren oder sogar Menschen durch diese Tunnel zu transportieren … Towers sah seinen Reichtum ins Unermessliche wachsen.
Und plötzlich freute er sich auf seine zweite Amtszeit. Denn wie durch ein Wunder waren seine Umfragewerte zum Ende der Präsidentschaft wieder gestiegen. Das Wunder hatte natürlich einen Grund: Mehrere von Towers Dekreten waren von Senat und Kongress gebilligt worden. Damit setzte er zentrale Wahlversprechen um – und das brachte ihm seine Popularität zurück.
Towers rieb sich die Hände. Mit einer zweiten Amtszeit wäre er für weitere vier Jahre nicht nur der einflussreichste Mensch der Welt; er würde auch die Grundlage dafür legen, der reichste zu werden. Der reichste Mensch aller Zeiten.
Bei dieser Vorstellung zeichnete sich ein breites Grinsen auf Towers Gesicht ab.
Ray nahm den Nachtzug nach Washington. Die Ironie wurde ihm erst bewusst, als er einen Platz in dem Großraumwaggon gefunden hatte. In einem Amtrak-Zug! Wie Mahmoud Al-Tahiri, der Afghane, der den Tod einer Zugbegleiterin zu verantworten und über den Ray ein psychologisches Gutachten erstellt hatte.
Al-Tahiri war auf der Flucht gewesen. Er hatte Stimmen gehört und teuflische Fratzen gesehen. Mit seinen Wahnvorstellungen war er – zumindest phasenweise – nicht mehr in der Lage gewesen, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden.
Und Ray? Konnte er es noch? Je intensiver er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er. Und wenn er sich klarmachte, in was für einer kurzen Zeit sein Abstieg vom geachteten Psychologen zum durchgeknallten Verschwörungstheoretiker erfolgt war, musste dahinter einfach mehr stecken als eine zufällige Verkettung unglücklicher Ereignisse.
Nein, er war nicht durch Zufall in diese Sache reingeraten. Es gab einen Plan. Und der hatte schon lange vor Al-Tahiri begonnen. Irgendjemand hatte das alles von langer Hand geplant. Und Ray musste herausfinden, wer dahintersteckte und was sein Ziel war.
»Sie sehen nicht gut aus.«
Er drehte den Kopf zur Seite. Am Fensterplatz auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs saß eine ältere Frau und sah ihn an. Ihre gefalteten Hände ruhten auf einem grauen Rock. Über ihrer beigefarbenen Bluse trug sie eine rote Strickjacke. Ray schätzte sie auf mindestens achtzig. Ihr Gesichtsausdruck war alles andere als freundlich.
»Was haben Sie gesagt?«
»Sie sehen nicht gut aus«, wiederholte die Alte ohne erkennbare Regung.
Ray zuckte mit den Achseln. »Ich nehme mal an, das ist Geschmackssache.«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht Ihr Äußeres. Ich spreche von Ihrer Aura.«
Ray stutzte. »Meiner … was?«
»Sie haben eine negative Ausstrahlung«, fuhr die Alte unbeirrt und in ruhigem Tonfall fort. So, als analysiere sie den Zustand ihres Gegenübers. »Aber diese Ausstrahlung entspricht nicht Ihrem eigentlichen Wesen. Das ist ganz anders. Nur zurzeit ist es nicht sichtbar.«
Ray verzog das Gesicht. Was redete die denn da? Und wie kam sie überhaupt dazu, ihn auf diese Art und Weise anzuquatschen?
»Ich denke nicht, dass Sie recht haben«, widersprach er und wollte hinzufügen, dass er seit zwanzig Jahren praktizierender Psychologe war und sich ziemlich gut mit Menschen und ihrem Inneren auskannte. Doch als er einen Blick auf das Titelblatt der Zeitschrift warf, die auf dem Sitz neben der Alten lag, verkniff er sich die Bemerkung. Die Astro-News war sicher nicht das geeignete Medium, um einen fundierten Dialog über die Psyche eines Menschen zu führen.
Ray hatte schon oft die Erfahrung gemacht, dass esoterisch veranlagte Personen weitgehend unzulänglich für Argumente waren, die ihrer Weltsicht widersprachen. Sie waren von sich und ihrer Meinung überzeugt und betrachteten sich als eine Art Messias in Kleinformat, der seine Mitmenschen nicht nur durchschauen konnte, sondern seine Pseudo-Analysen auch noch umgehend mitteilen musste. Esoteriker hatten oft ein in sich geschlossenes Weltbild, dessen Grenzen ihre nicht selten äußerst beschränkten intellektuellen Fähigkeiten definierten. Deshalb sparte sich Ray einen Kommentar und wandte sich wieder dem Fenster auf seiner Seite zu. In der spiegelnden Scheibe sah er jedoch, dass die Alte ihn weiterhin anstarrte.
Wütend drehte er sich zu ihr. »Muss das sein? Können Sie nicht woanders hinsehen?«
Statt sich abzuwenden, erwiderte sie: »Da passt was nicht zusammen. Innen und Außen – das geht auseinander.«
Ray sprang von seinem Sitz auf. »Als wenn Sie davon Ahnung hätten«, zischte er. »Sie mit Ihrer Yellow-Press-Psychologie.« Er drehte sich um und stapfte über den Gang zur Toilette.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stieß er einen wütenden Fluch aus. Diese unverschämte Person regte ihn mehr auf, als er sich eingestehen wollte. Dabei plapperte sie einfach ins Blaue hinein.
Menschen ließen sich nicht mit einem Blick durchschauen. Menschen waren vielschichtig. Ihre Psyche offenbarte ein komplexes Geflecht aus zahlreichen Faktoren. Die Feststellung Innen und Außen passen nicht zusammen war ungefähr so tiefgründig wie die Beobachtung Der Himmel ist blau, weil er nicht rot ist. Sie sagte nichts aus. Gar nichts!
Wieso regte sie ihn dann so auf?
Er warf einen Blick in den Spiegel. Und erschrak. Abgezehrt und ausgemergelt sah er aus, seine Kleider besudelt und die Augen unterlaufen. Die Alte hatte doch recht: Das war nicht Ray Berkeley, der Psychologe, der durch widrige Umstände aus seinem Leben gerissen worden war und nun wie Harrison Ford in Auf der Flucht versuchte, wieder in die Spur zu kommen.
Die Entfremdung reichte tiefer. Das, was Ray aus dem Spiegel entgegenstarrte, war schon immer in ihm gewesen. Unter der lächelnden Oberfläche des Psychologen war es im Verborgenen geblieben und hatte sich nur herausgetraut, wenn alle anderen schliefen. Dann war es durch die Nacht gehuscht und hatte sich neugierig umgesehen. Hatte in der warmen Sommerluft Witterung aufgenommen und geheime Plätze aufgesucht. Dieses andere Ich war ein Teil von ihm. Er hatte es nur vergessen.
Ray taumelte zurück. Im selben Moment wurde von außen gegen die Tür gehämmert.
Das waren seine Häscher. Sie hatten ihn gefunden. Und nun? Welche Optionen hatte er?
Verschanzen?
Angriff?
Flucht?
Plötzlich stand die Antwort glasklar vor seinen Augen: Notbremse ziehen, rausspringen, abhauen. Sie waren mitten in der Pampa, die mondlose Nacht würde ihn verbergen …
Nein, nein, nein, was mache ich denn da?Ich bin nicht Mahmoud Al-Tahiri!
Er hatte das nur nachgestellt. Er wurde nicht verfolgt. Jedenfalls nicht hier in diesem Zug. Das war: Absolut! Ausgeschlossen!
Ray öffnete die Tür. Sein Gegenüber wich erschrocken zurück. »Entschuldigung, ich …«
Ray winkte ab. »Mir tut es leid. Bitte, die Toilette ist wieder frei.« Er drängelte sich an dem jungen Mann vorbei und ging zurück zu seinem Platz. Die Alte war fort. Ihre Zeitung hatte sie vergessen.
Astro-News.Nachrichten aus der Zukunft. Darunter war das Bild einer Atombombenexplosion zu sehen. Der Begleittext fragte: Ist das Ende nah?
Ray nahm die Zeitung und blätterte sie durch. Inhaltlicher Schwerpunkt war ein Dossier über die Apokalypse. Mehrere Beiträge und Interviews befassten sich mit diesem Thema, darunter war auch das Gespräch mit einem evangelikalen Reverend, der das Ende der Welt als Geburtsstunde eines neuen Menschheitsalters beschwor. Ray hatte für das endzeitliche Denken, das in den USA seit Jahrzehnten Konjunktur hatte, nichts übrig. Und die Sehnsucht nach der Zerstörung als Reinigungsprozess empfand er als pervers.
Er wollte die Zeitung schon beiseitelegen, als ihm ein Text ins Auge fiel, der ihm bekannt vorkam: