Löwenzahnkind - Lina Bengtsdotter - E-Book
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Löwenzahnkind E-Book

Lina Bengtsdotter

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Beschreibung

Charlie Lager ist Stockholms beste Ermittlerin – doch sie hat Leichen im Keller ...

Gullspång, eine Kleinstadt in Westschweden. Als in einer heißen Sommernacht die siebzehnjährige Annabelle spurlos verschwindet, ist schnell klar, dass Verstärkung angefordert werden muss. Mit Charlie Lager schickt die Stockholmer Polizei ihre fähigste Ermittlerin – doch was die Kollegen nicht wissen dürfen: Die brillante Kommissarin ist selbst in Gullspång aufgewachsen. Und je tiefer Charlie nach der Wahrheit hinter Annabelles Verschwinden gräbt, desto mehr droht das Netz aus Lügen zu reißen, das sie um ihre eigene dunkle Vergangenheit gesponnen hat. Doch die Zeit drängt – sie muss Annabelle finden, bevor es für sie beide zu spät ist …

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Lina Bengtsdotter

Löwenzahnkind

Thriller

Aus dem Schwedischen von Sabine Thiele

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Annabelle« bei Bokförlaget Forum, Stockholm.
Copyright © 2017 by Lina Bengtsdotter Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Published in the German language by arrangement with Bonnier Rights, Stockholm, Sweden Umschlag: Favoritbüro Umschlagmotiv: Trevillion/© Nik Keevil, Trevillion/© Andy & Michelle Kerry, GettyImages/© Martin Zwick Redaktion: Maike Dörries Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Für meine Töchter Ebba, Edit und Ingrid

It was many and many a year ago,In a kingdom by the sea,That a maiden there lived whom you may knowBy the name of Annabel Lee;And this maiden she lived with no other thought,Than to love and be loved by me.

Aus »Annabel Lee« von Edgar Allan Poe

Jene Nacht

Nebel stieg über den Wiesen auf, Grillen zirpten am Wegesrand. Das Mädchen wankte den Schotterweg entlang. Zwischen ihren Beinen pochte es, etwas floss aus ihr heraus. Sie hätte weinen sollen, doch die Tränen wollten nicht kommen.

Wie spät war es? Elf? Zwölf? Sie holte ihr Handy aus der Tasche. Fast halb eins. Mama würde ausflippen. Sie würde sie in der Haustür abpassen, an den Schultern packen und schütteln und sie anbrüllen, wo sie gewesen sei. Dann würde sie die Kratzer sehen, das Blut, das zerrissene Kleid. Wie sollte sie das nur erklären?

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie die Gestalt vor sich erst bemerkte, als diese nur noch wenige Meter entfernt war. Zuerst schrie sie laut, doch als sie das Gesicht erkannte, atmete sie erleichtert auf.

»Ach, du bist es«, sagte sie undeutlich. »Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt.«

Kapitel eins

Es war Anfang Juni, und nachts wurde es nicht mehr richtig dunkel. Fredrik Roos saß im Auto und blickte über die nebligen Wiesen. Er wusste, dass Annabelle hier gerne den Weg abkürzte, dass sie bereits ihre eigenen Trampelpfade im hohen Gras angelegt hatte. Nora hatte ihr natürlich verboten, sich nachts dort herumzutreiben, aber Fredrik wusste, dass sie es trotzdem tat, und er hatte Verständnis dafür. Bei Noras strengen Ausgangsregeln war jede Minute wertvoll. Er hoffte, dass seine Tochter bald durch das hohe Gras auf ihn zukommen würde, in dem dünnen blauen Kleid, das sie aus dem Schrank ihrer Mutter genommen hatte. Nora hatte sich fürchterlich aufgeregt, als sie es entdeckt hatte. Er dachte an seine Frau, ihre aufbrausende Natur und die innere Unruhe. Sie war schon immer labil und ängstlich gewesen. Als sie sich kennengelernt hatten, war es irgendwie faszinierend gewesen, wie sie aus ganz alltäglichen Ereignissen wahre Horrorszenarien entwickelte. Doch mit den Jahren war die Faszination gewichen, Irritation und Ärger hatten ihren Platz eingenommen. Als er jetzt im Auto saß, wieder einmal von Nora ausgeschickt, um Annabelle nach Hause zu holen, merkte er, dass er bald keine Kraft mehr hatte.

Man kann sie nicht vor allem beschützen, sagte er immer wieder, auch wenn er wusste, dass Nora nichts mehr auf die Palme brachte. Dass man sie nicht vor allem beschützen konnte, war schließlich kein Argument dafür, es nicht wenigstens zu versuchen. Das Problem war nur, dass sie unterschiedlicher Auffassung waren, wie weit sie dabei gehen sollten. Fredrik fand es in Ordnung, wenn Annabelle allein von ihren Freunden nach Hause ging, selbst nachts. Er hielt nichts davon, dass sie ständig anrufen und Bescheid geben sollte, falls sich ihre Pläne spontan änderten. In seiner Jugend war er gekommen und gegangen, wie er wollte. Er wäre wahnsinnig geworden, hätte jemand versucht, ihn so zu kontrollieren, wie Nora es mit Annabelle tat. Kein Wunder, dass Annabelle gegen ihre Regeln aufbegehrte. Nicht die lockeren Zügel sind das Problem, dachte Fredrik, sondern Noras extremes Kontrollbedürfnis.

Das Gebäude, das einmal einen Dorfladen beherbergt hatte, lag auf der anderen Seite des Ortes. Es stand seit Jahren leer und wurde als Treffpunkt von den Jugendlichen der Gegend genutzt. Fredrik wusste, dass viele Einwohner dafür waren, das alte Haus abzureißen. Er selbst hatte bei einer dieser Unterschriftenaktionen unterzeichnet, wenn auch nur wegen des äußeren Scheins. Ihm war klar, dass die Jugendlichen zum Feiern einfach irgendwo anders hinziehen würden, wenn das Gebäude abgerissen wurde. Wahrscheinlich noch weiter außerhalb.

Er parkte vor dem Eingang. Im großen Schaufenster klebten immer noch alte Titelblätter. Ein dumpfer Bass dröhnte aus dem Haus. Fredrik nahm das Handy, um Nora anzurufen und zu fragen, ob Annabelle in der Zwischenzeit nach Hause gekommen war. Er hatte keine Lust, in eine Teenagerparty zu platzen, wenn es sich vermeiden ließ. Er tippte gerade ihre Nummer, als Nora ihn anrief und fragte, ob er schon dort sei.

»Ich bin gerade angekommen.«

»Ist sie da?«

»Ich bin eben erst aus dem Auto gestiegen.«

»Dann geh schon rein.«

»Bin auf dem Weg.«

Die verwilderten Beete entlang der Hausfassade waren voller Bierdosen, Zigarettenkippen und Flaschen. Er ging durch die Tür in den großen Raum, in dem sich früher das Geschäft befunden hatte. Ein Geruch nach Verlassenheit schlug ihm entgegen. Eine Weile stand er da und betrachtete den schmutzigen Boden, den Tresen mit der alten Registrierkasse und die leeren Regale an den Wänden. Über ihm hämmerte der Bass. Er ging zu der Tür, die zu der Wohnung über dem Laden führte. Abgeschlossen. Er ging wieder nach draußen und auf die Rückseite des Hauses. Auf der Veranda an der Schmalseite des Gebäudes schlief ein Junge mit der Hand unter dem Hosenbund. Fredrik musste über ihn hinwegsteigen, um zur Hintertür zu gelangen.

Im Flur roch es süßlich. Er folgte der Musik eine lange, geschwungene Treppe hinauf. Ebba Grön, »800°«, das kannte er noch.

Warme Kleider und trotzdem Gänsehaut.Kein Wunder, ich seh um mich rum nur Idioten.Achthundert Grad, du kannst mir vertrauen, du kannst mir vertrauen.

Fredrik sah gerade noch rechtzeitig zu Boden, um zu merken, dass die nächste Treppenstufe fehlte. Dass hier noch keiner zu Tode gestürzt war, dachte er, während er bis zum Treppenabsatz weiterging.

Zwei Jungen saßen in der Küche an einem dunklen Holztisch, der von Aschenbechern, Flaschen, Dosen und Zigarettenpackungen überquoll. Einer hackte ununterbrochen mit einem kleinen Messer auf die Tischplatte ein. Fredrik hatte die beiden schon mal gesehen, hatte aber keine Namen parat. Sie mussten älter sein als Annabelle, sonst hätte er es gewusst. Sie bemerkten ihn erst, als er direkt vor ihnen stand.

»Hallo!«, rief er dem zu, der die Tischplatte mit dem Messer malträtierte, und erkannte im gleichen Augenblick, dass es sich um den Sohn des Sperrholzfabrikanten handelte. Svante Linder.

»Hey, setz dich und nimm dir was zu trinken!«, brüllte dieser zurück. »Und schau ein bisschen fröhlicher, bei der geilen Party hier. Die anderen haben schon alle aufgegeben, aber wir halten durch, bis die Sonne aufgeht.«

»Das ist sie schon längst, Svante«, meinte der Junge neben ihm lachend und klopfte gegen das schmutzige Küchenfenster. »Ich glaube, die ist gar nicht untergegangen.«

»Ist Annabelle hier?«, fragte Fredrik.

»Annabelle?« Die jungen Männer sahen einander an.

Svante grinste, wobei der Tabakpfropfen unter seiner Oberlippe sichtbar wurde, und sagte, er wisse ja, dass Annabelle auf alte Knacker stünde, aber dass sie jetzt auch nicht übertreiben müsse. »Du könntest ihr Vater sein, verdammt noch mal.«

»Ich bin ihr Vater«, erwiderte Fredrik und trat näher an den Tisch heran mit dem kaum zu unterdrückenden Bedürfnis, diesem abfällig grinsenden Kerl eine reinzuhauen.

Die beiden starrten ihn an.

»Oh, shit«, meinte Svante. »Sie sind das.« Er trat gegen einen freien Stuhl am Tisch und entschuldigte sich hastig. Er hatte doch nicht andeuten wollen … er hatte ihn nur nicht erkannt. Sie hatten ein paar Bier zu viel. »Und dann diese verdammte Hitze, man verdurstet ja geradezu. Gib dem Mann was zu trinken, Jonas«, sagte Svante und nickte dem Jungen zu, der ihm gegenübersaß. »Was ordentlich Starkes. Los, beweg dich, Jonte.«

»Ich möchte nichts trinken«, antwortete Fredrik. »Ich will nur wissen, wo meine Tochter ist. Habt ihr sie gesehen?«

»Es waren so viele Leute hier«, erwiderte Svante. »Und wir haben ganz schön gefeiert, um es mal so zu sagen. Wir haben um sieben Uhr angefangen, deshalb sind die anderen schon umgekippt. Aber sie war hier, auch wenn ich glaube, dass sie schon gegangen ist. Oben sind noch ein paar«, er deutete Richtung Zimmerdecke. »Da würde ich mal nachfragen. Über uns sind noch mehr Stockwerke«, rief er Fredrik nach, als dieser zur Treppe ging.

Je höher Fredrik kam, desto lauter wurde die Musik. Im nächsten Stockwerk war ein langer Flur. An einer Wand stand ein Aquarium. Als er näher kam, sah er eine Schildkröte im Wasser herumpaddeln, das voller Zigarettenstummel war. Wer macht so etwas?, dachte er. Kippen in ein Aquarium werfen, in dem eine Schildkröte lebt?

Von dem Flur ging ein Wohnzimmer mit grünen Plüschsofas voller Brandlöcher ab. Auf einem davon lag ein junges Mädchen mit zerzaustem Haar. Fredrik dachte, sie schliefe, doch als er zu ihr ging, sah er ihre weit aufgerissenen Augen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Total super«, flüsterte das Mädchen. »Danke, dass du fragst.« Dann lachte sie auf einmal und wedelte mit den Händen. Die hat garantiert mehr als nur Alkohol intus, dachte Fredrik. Vielleicht sollte er sie nach ihrem Namen fragen und sie nach Hause bringen. Sobald er Annabelle gefunden hatte, würde er genau das machen, beschloss er.

Wir erfrieren, es ist so kalt. Armes Kind, bald wird es warm.

Die Stereoanlage stand im nächsten Zimmer. Die Musik war ohrenbetäubend laut. Fredrik drehte die Lautstärke herunter. Dann ging er weiter, öffnete eine Tür nach der anderen, doch die anderen Räume auf diesem Stockwerk waren leer. Schließlich landete er in einer kleinen Diele, von der eine schmale Treppe weiter nach oben führte. Wie hoch war dieses Gemäuer eigentlich? Hörte es denn gar nicht auf?

Ganz oben waren zwei Türen. Die linke war verschlossen, die rechte ging auf, als Fredrik die Klinke herunterdrückte.

Das Fenster stand offen, und eine schmutzige Gardine wehte im Wind. Auf dem Bett in der Mitte des Raumes bewegte sich jemand rhythmisch unter einer Decke.

»Annabelle?«, fragte Fredrik. »Bist du hier?«

»Was zum Teufel?« Ein Junge blickte am Fußende des Bettes unter der Decke hervor. »Hau ab, du perverser Sack«, rief er. »Verpiss dich!«

»Ich suche nach meiner Tochter. Ist Annabelle zufällig hier?« Fredrik sah, wie der Junge bei dem Namen zusammenzuckte.

»Nein. Keine Ahnung, wo sie ist.«

»Und wer ist da mit dir unter der Decke?«

»Rebecka«, antwortete der Junge. »Zeig, dass du es bist.«

»Ich bin es«, bestätigte Rebecka unter der Decke. »Ich weiß nicht, wo Annabelle ist. Sie hat gesagt, sie wollte nach Hause gehen.«

»Ich dachte, sie wäre bei dir«, meinte Fredrik. »Nora hat gesagt, ihr wolltet euch bei dir einen Film ansehen.«

»Haben wir auch«, rechtfertigte sich Rebecka, »aber dann hat sich was anderes ergeben.«

»Wann ist sie gegangen?«

»Ich weiß nicht genau. Wir haben ganz schön viel gekippt, und Annabelle … Sie war ordentlich betrunken.«

»Entschuldigung!«, rief Rebecka hinter Fredrik her, als der aus dem Raum stürmte. »Ich hätte mit ihr nach Hause gehen sollen, aber …«

»Sie ist nicht hier, oder?« Svante stand vor der Tür.

»Nein. Rebecka hat es mir gerade gesagt.«

»Als ob die den Überblick hätte.«

»Was ist hinter dieser Tür?«, fragte Fredrik und deutete darauf.

»Da drin ist sie nicht, so viel ist sicher.«

»Wie kannst du das so genau wissen?«

»Weil«, antwortete Svante, »nur ich einen Schlüssel zu dieser Tür habe.«

»Dann könntest du doch kurz aufschließen.«

»Das würde ich echt gern. Aber blöderweise habe ich den Schlüssel verloren. Gestern. Deshalb weiß ich auch genau, dass niemand in dem Zimmer ist. Brauchen Sie Hilfe bei der Suche? Unten steht ein Lastenmofa, das ist höllisch aufgemotzt, damit könnten wir …«

Fredrik blickte in Svantes große Augen. Irgendetwas war seltsam daran. Er wollte wirklich nicht, dass dieser Junge nach Annabelle suchte. In diesem Zustand stellte er eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.

»Natürlich helfen wir Ihnen suchen«, fuhr Svante fort. »Ich meine … Ich habe gehört, dass sie abends nicht so lange weg darf und …«

Fredrik musterte das Gesicht des Jungen und dachte, dass es stimmte, was er im Ort über den Fabrikantensohn gehört hatte – dass er ein unsympathischer Mistkerl war.

Als Fredrik zum Auto zurückkam, sah er drei Anrufe in Abwesenheit von Nora auf seinem Handy. Er rief sie an und hoffte, dass Annabelle mittlerweile nach Hause gekommen war, doch am Klang der Stimme seiner Frau hörte er, dass dem nicht so war.

»Bist du noch im alten Dorfladen?«, fragte sie und sprach gleich weiter: »Ist sie dort?«

»Nein«, antwortete Fredrik. »Sie war nicht dort.«

»Aber wo ist sie dann?«

»Das weiß ich nicht.«

»Fahr bei Rebecka vorbei.«

»Rebecka ist im Dorfladen«, erwiderte Fredrik. »Beruhig dich«, sagte er, als Nora zu weinen begann. »Sie ist sicher auf dem Weg. Ich suche auf der Straße nach ihr.«

»Bring sie nach Hause«, sagte Nora flehend. »Bring sie verdammt noch mal nach Hause, Fredrik.«

Kapitel zwei

Charlie wachte bereits um sieben Uhr morgens auf. Nach einer durchzechten Nacht schlief sie nie besonders gut, schon gar nicht in einem fremden Bett. Sie sah zu dem Mann neben sich. Martin, so hieß er doch? Und welchen Namen hatte sie ihm genannt? Maria? Magdalena? Wenn sie einen Typen in der Kneipe kennenlernte, gab sie immer einen falschen Namen und Beruf an. Zum einen, damit niemand sie ausfindig machen konnte, zum anderen war kaum etwas so unerotisch wie Witze über Handschellen und Frauen in Uniform. Das war auch eins ihrer zahlreichen Probleme – sie langweilte sich so schnell.

Martin hatte sie jedenfalls angesprochen und gefragt, warum sie allein in der Bar saß. Ohne ihre Antwort abzuwarten, hatte er sie auf einen Drink eingeladen und dann noch einen, und als der Laden schloss, gingen sie zu ihm nach Hause. Das wäre sonst nicht seine Art, gleich am ersten Abend jemanden mit nach Hause zu nehmen, hatte er gesagt, als er mit dem Schlüssel zu seiner Wohnung kämpfte. Charlie hatte darauf erwidert, ihre schon. Sie war so jemand, der gleich am ersten Abend mit jemandem mitging. Martin hatte gelacht und gesagt, dass er ihren Humor mochte. Charlie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm zu erklären, dass das kein Witz war.

Vorsichtig richtete sie sich auf. Ihr Kopf schmerzte. Ich muss nach Hause, dachte sie. Meine Kleider finden und nach Hause fahren.

Ihr Kleid lag auf dem Küchenfußboden, auf die Unterhose verzichtete sie. Sie war schon beinahe im Flur, als sie auf ein Spielzeug trat, das »Mary Had A Little Lamb« zu spielen begann. »Verdammt«, flüsterte sie. »Verdammter Mist.« Sie hörte, wie Martin sich in seinem Bett im Schlafzimmer umdrehte. Rasch schlich sie in den Flur, nahm ihre Schuhe in die Hand, öffnete die Tür und lief die Treppe hinunter.

Das Tageslicht überraschte sie, als sie auf die Straße trat, und sie musste sich kurz sammeln, bis sie wusste, wo sie sich befand. Östermalm, Skeppargatan. Mit dem Taxi wäre sie in fünf Minuten daheim. Sie sah sich um, doch als nirgends ein Taxi zu sehen war, ging sie zu Fuß.

Nach zwei Häuserblöcken klingelte ihr Handy.

»Bist du beim Joggen?«, fragte Challe.

»Ja, irgendwie muss man sich ja fit halten. Bist du bei der Arbeit?«

»Ja, wenn man schon in aller Herrgottsfrühe aufsteht, kann man auch zur Arbeit gehen.«

Charlie lächelte. Ihr Chef und sie hatten dieselbe Arbeitsmoral. Ansonsten unterschieden sie sich in vielen Punkten, und wenngleich er es nie vor anderen zugab, schien er im Gegensatz zu gewissen älteren Kollegen nie an ihren beruflichen Fähigkeiten zu zweifeln. Auch wenn es sie wahnsinnig machte, dass er nie ihre Partei ergriff, wenn sie wegen ihres jungen Alters oder Geschlechts dumm angemacht wurde. Doch dann war sie stolz, wenn er sie unter vier Augen seine fähigste Ermittlerin nannte.

Charlie hatte vor zwei Jahren in der Nationalen Operativen Abteilung, kurz NOA, angefangen. Die erste Zeit war hart gewesen. Während ihrer Ausbildung hatte sie viele Gruselgeschichten über die Männerherrschaft unter Polizisten gehört, doch ihr war nicht bewusst gewesen, wie verbreitet die männliche Überheblichkeit war. Der Umgangston, die Sticheleien, die PMS-Unterstellungen, sobald sie jemandem widersprach oder Kontra bot. Der Großteil ihrer Kollegen bei der NOA waren Männer mittleren Alters, die sich seit Jahrzehnten gegenseitig den Rücken freihielten. Schon am ersten Tag hatten sie deutlich gezeigt, dass sie alles andere als begeistert von der Vorstellung waren, in Zukunft mit einer jungen Frau zusammenarbeiten zu müssen, noch dazu auf der Position, die Charlie bekleiden würde. Einer hatte ganz unverblümt gesagt, dass er eine Frau nur im Bett über sich akzeptierte. Charlies Blitzkarriere war dabei völlig unerheblich, ebenso ihr Abschluss in Psychologie, bevor sie ihre Ausbildung an der Polizeihochschule aufnahm. Wie sie das überhaupt geschafft habe?, hatte einer ihrer neuen Kollegen sie gefragt. Wie war es möglich, ein dreijähriges Studium zu absolvieren und trotzdem mit zwanzig Jahren an der Polizeihochschule anzufangen?

Charlie hatte ehrlich geantwortet, nämlich, dass sie in der Schule eine Klasse übersprungen, mit siebzehn Abitur gemacht hatte und dann direkt an die Universität gegangen war. Der Kollege hatte die Stirn gerunzelt und irgendwas gemurmelt von wegen, man solle nach dem Gymnasium nicht gleich studieren, sondern erst einmal reisen und Lebenserfahrung sammeln. Charlie hatte ihn angefaucht, dass sie keinen Sinn darin sehe, herumzureisen und die Zeit zu verschwenden, nur damit man eine Weile unterwegs war. Und Lebenserfahrung hatte sie ja wohl während ihres Studiums gesammelt. Das Leben stand schließlich nicht still, nur weil man an der Universität war. Der Kollege hatte sie mit einem überheblichen Lächeln bedacht, als ob sie zu jung und zu dumm sei, seine Argumente zu verstehen.

Charlie hatte mittlerweile die Hoffnung aufgegeben, dass sich das Verhalten ihrer Kollegen ihr gegenüber mit den Jahren bessern würde. Im Gegenteil, Neid und Misstrauen wuchsen, je höher sie in der Hierarchie aufstieg. Anfangs hatte sie sich verteidigt, diskutiert, aus Protest den Pausenraum verlassen und wütende Mails an ihre Vorgesetzten geschrieben. Doch irgendwann hatte sie es den meisten ihrer weiblichen Kollegen nachgemacht, die es in diesem Beruf zu etwas gebracht hatten: mit tiefer Stimme sprechen und nie lächeln. Danach war wieder mehr Zeit und Energie da, das zu tun, wofür sie bezahlt wurde. Stumpf, feige und egoistisch kam sie sich manchmal vor. Aber sonst hätte sie nicht bleiben und sich weiterentwickeln, Karriere machen können. Und dieser Antrieb war größer als das Bedürfnis, sich mit Idioten herumzuschlagen, die es einfach nicht kapierten.

Natürlich waren nicht alle so. Es gab einige Ausnahmen, und eine davon war Anders Bratt, mit dem sie am engsten zusammenarbeitete. Er war nur wenige Jahre älter als sie und ihr vom ersten Moment an sympathisch gewesen, trotz ihrer völlig verschiedenen persönlichen Hintergründe. Er war ein typischer Oberklassetyp, kam aus reichem Haus mit Segellagern im Sommer und Skiferien in den Alpen im Winter. Er konnte eingebildet, überheblich und nervtötend sein, aber Charlie verzieh ihm das alles, da er über drei Eigenschaften verfügte, die sie an einem Menschen am höchsten schätzte: ein gutes Herz, Humor und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.

Anders betonte gern, wie toll er es fand, dass sie zum Team gestoßen war und alles gehörig durcheinandergewirbelt hatte. Sie hatten auch über ihren Namen gesprochen. Am ersten Tag hatte jemand vorgeschlagen, sie einfach Charline zu nennen, um nicht jedes Mal den Nachnamen dazusagen zu müssen, wenn man von ihr oder dem Chef sprach. Charlie hatte abgelehnt. Sie wollte Charlie genannt werden und sonst nichts.

Anders hatte ihr erzählt, dass sich alle darüber amüsiert hatten, dass der Chef sich wegen ihrer Halsstarrigkeit einen anderen Namen zulegen musste. Wer schaffte das schon einfach so?

Charlie trat auf einen Stein und fluchte.

»Was ist los?«, fragte Challe.

»Nichts.«

»Kannst du später reinkommen?«

Kälte breitete sich in Charlies Brust aus. Hatte sie heute Dienst? Hatte sie nur geträumt, dass Challe ihr gesagt hatte, sie solle freinehmen?

»Ich weiß, dass ich gesagt habe, du sollst heute daheimbleiben«, fuhr Challe fort. »Und ich weiß, dass wir gerade eine Hitzewelle haben, aber es ist etwas passiert. Hast du schon die Titelseiten gelesen?«

»Die Titelseiten?« Charlie hatte noch nicht einmal Nachrichten auf dem Handy gelesen.

»In Västergötland ist ein siebzehnjähriges Mädchen verschwunden.«

»Seit wann?«

»Seit der Nacht von Freitag auf Samstag. Die Landeier da unten dachten zuerst, das Mädchen sei freiwillig untergetaucht, und haben deshalb nichts unternommen. Doch jetzt gibt es neue Hinweise, dass ein Verbrechen vorliegen könnte.«

»Was für Hinweise?«

»Das Übliche, sie hat ihr Handy nicht verwendet, ihre Kreditkarte nicht benutzt.«

»Wo in Västergötland?«, fragte Charlie.

»In Gullspång.«

Charlie blieb stehen. Challe erzählte weiter von dem verschwundenen Mädchen, doch sie hörte nicht mehr zu. In ihren Ohren hallte ein Wort wider: Gullspång.

»Charlie?« Challe zündete sich am anderen Ende der Leitung eine Zigarette an. »Bist du noch dran?«

»Ja.«

»Du und Anders fahrt dahin. Tut dir vielleicht ganz gut, mal rauszukommen.«

Charlie konnte sich die Antwort nicht verkneifen, dass Hugo in diesem Fall genauso gut einen Tapetenwechsel gebrauchen könnte. Außerdem war sie mit einem anderen Fall beschäftigt. Challe erwiderte, er würde jemand anders darauf ansetzen, da sich die Ermittlungen noch im Anfangsstadium befanden, und ja, er könnte natürlich auch Hugo schicken, aber Charlie solle das nicht als Bestrafung verstehen, sondern …

Jetzt, dachte Charlie. Jetzt sage ich, dass ich da nicht hinfahren kann.

»Charlie?«

»Okay«, hörte sie sich sagen. »Ich fahre.« Gibt es das Polizeirevier überhaupt noch?, wollte sie noch hinzufügen, doch stattdessen sagte sie, dass sie in einer Stunde da sei.

Nach Beendigung des Gesprächs ging sie in den nächsten 7-Eleven, in dem ihr von den Titelseiten der gängigen Zeitungen ein junges Mädchen mit großen Augen und rotblonden Haaren entgegenstarrte. »Spurlos verschwunden« titelten die Blätter. Charlie rief die Seite von Dagens Nyheter auf ihrem Handy auf und recherchierte den aktuellen Stand der Dinge. Das Mädchen war siebzehn Jahre alt und hieß Annabelle Roos. Der Nachname kam ihr bekannt vor, sie konnte aber kein Gesicht damit verbinden. Wie sollte sie sich auch an alle Familien in dem kleinen Ort erinnern? Sie war nicht mehr dort gewesen seit … War das wirklich schon neunzehn Jahre her?

Kapitel drei

Charlie hatte noch einige Häuserblöcke vor sich, bis sie zu Hause war. Ein Taxi hatte sie nicht gefunden, und U-Bahn fuhr sie nie. Unter der Erde schien sie keine Luft zu bekommen. Ihre Füße schmerzten in den High Heels, und schließlich streifte sie die Schuhe ab. Der Asphalt war warm unter ihren Fußsohlen. Wer mich jetzt sieht, dachte sie, würde nie erraten, was ich von Beruf bin.

Als sie in ihrer Wohnung in den Flurspiegel blickte, fluchte sie laut. Eine tiefe Schramme leuchtete rot über ihrer linken Augenbraue. Sie betastete vorsichtig die Kruste, die sich mittlerweile gebildet hatte, und erkannte, dass Schminke hier nicht helfen würde. Wie zum Teufel hatte sie das nur wieder geschafft? Dann erinnerte sie sich – die Dusche, wie Martin und sie einander eingeseift hatten, dann war sie ausgerutscht und hatte sich den Kopf angeschlagen … am Duschkopf? Sie wusste nicht einmal, wo sie sich die Wunde zugefügt hatte.

Ich bin die Parodie einer Polizistin, dachte sie, einsam, ohne soziale Kontakte und viel zu trinkfreudig. Dann beruhigte sie sich jedoch damit, dass das ja nur Phasen waren. Im Sommer war es immer am schlimmsten, wenn das Leben ihr Knüppel zwischen die Beine warf.

Sie bedauerte es beinahe, dass sie keinen Mann hatte, den die Kollegen verdächtigen könnten. Jetzt würden alle glauben, dass die Wunde … Ja, was würden sie eigentlich glauben? Im Hinblick auf das letzte Personalfest dachten wahrscheinlich alle an zu viel Alkohol. Challe würde behaupten, sie brauche Hilfe, und sie würde erwidern, dass alles in Ordnung und unter Kontrolle sei.

Aber glaubte sie selbst daran?

Selbstmedikation?, hatte eine Therapeutin sie einmal ernst gefragt, als sie widerwillig von ihrem Verhältnis zu Alkohol erzählt hatte. Sie trinken, um Ihre Angst abzumildern?

Charlie hatte gesagt, darum ginge es nicht.

Und worum ging es dann?

Sich zu entspannen, die Nerven zu beruhigen, die Gedanken zum Schweigen zu bringen. Manchmal brauchte sie einfach ein bisschen Alkohol, damit es ihr besser ging.

Die Therapeutin hatte sie streng angesehen und gesagt, dass genau das der Zweck von Selbstmedikation sei.

Charlie warf ihre Tasche auf den Boden und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch standen Bierdosen und Aschenbecher. So viel zum Thema, dass sie mit dem Rauchen aufhören wollte, dachte sie, als sie eine Plastiktüte für den Abfall suchte. Nachdem das gröbste Chaos beseitigt war, setzte sie sich auf das Sofa und ließ den Blick durch die Wohnung schweifen: die offenen Räume, die Deckenhöhe, der Holzboden. Ohne die vertrockneten Blumen, die Kleiderhaufen und die seit Jahren nicht geputzten Fenster könnte es richtig gemütlich sein. Hier wohnte ganz offensichtlich ein Mensch, der sich keinen Deut um Inneneinrichtung kümmerte. Charlie hätte es gerne schön gehabt, doch sie wusste einfach nicht, wie. Manchmal bildete sie sich ein, ihre Wohnung in ein Zeitschriftenzuhause verwandeln zu wollen. Wie in den Hochglanzmagazinen, in denen sie beim Zahnarzt blätterte. Sie dachte, dass sie in einer völlig weiß eingerichteten Wohnung glücklicher wäre, oder zumindest weniger unglücklich. Weiße Wände, weißer Boden und ein paar strategisch platzierte Antiquitäten, die sie geerbt oder von Reisen mitgebracht hatte. Allerdings hatte sie nichts geerbt, und sie verreiste auch nicht. Außerdem kannte sie viel zu viele Menschen, die in einem schönen Heim lebten und trotzdem unglücklich waren.

Auf der Arbeitsfläche in der Küche lag eine einsame Zigarette. Charlie wollte sie zuerst wegwerfen, überlegte es sich jedoch anders, setzte sich an die Dunstabzugshaube und rauchte die Zigarette bis zum Filter. Jetzt rufe ich ihn an, dachte sie. Jetzt rufe ich Challe an und sage ihm, dass ich nicht fahren kann, dass dieser Ort … dass ich persönliche Gründe habe. Sie nahm das Telefon in die Hand, legte es jedoch wieder hin. Von der Zigarette wurde ihr übel. Sie stand auf und ging ins Badezimmer.

In der Dusche hielt sie das Gesicht in den Wasserstrahl und dachte, dass sie sich einfach professionell verhalten wollte. Dann würde schon alles gut gehen. Oder? Sie hatte getan, was sie konnte, um alles zu vergessen und hinter sich zu lassen. Den Ort zu vergessen, das Haus, die Partys, Bettys Stimmungsschwankungen. Manchmal hatte sie beinahe das Gefühl, dass es ihr gelungen war, doch mit der Zeit hatte sie gemerkt, dass das immer nur vorübergehend war. Auf ruhigere folgten immer düsterere Phasen, und die Erinnerungen holten sie jederzeit hinterrücks ein und brachten sie an den Ort, zu dieser Nacht zurück.

Eine echte Erfolgsgeschichte, hatte es eine Mitarbeiterin des Jugendamtes in Gullspång formuliert, als sie sich einmal zufällig auf der Drottninggatan getroffen hatten. Ein Löwenzahnkind, das es allen Widrigkeiten zum Trotz zu etwas gebracht hatte.

Charlie hatte in das überschwängliche Gesicht geblickt und gedacht: Du solltest lernen, zwischen den Zeilen zu lesen.

Nachdem sie geduscht hatte, begann sie zu packen. Auf dem Nachttisch lagen drei angefangene Bücher. Sie markierte alle mit Eselsohren und legte sie in ihre Reisetasche. Im Schrank befand sich fast keine saubere Kleidung mehr. Sie holte ein paar Kleider, Jeans und Pullover aus dem Korb mit der Schmutzwäsche und dachte, dass Klamotten ihr geringstes Problem sein würden.

Kapitel vier

»Was hast du denn angestellt?«, war Anders’ erste Frage, als Charlie und er sich im Eingang zum Polizeigebäude in der Polhemsgatan trafen.

»Mich gestoßen.«

»Ja, das sehe ich, aber wie ist das passiert?«

»Ist das wichtig?«

»Wenn du da mal keine Narbe zurückbehältst.«

»Ach, bei mir heilen Wunden gut.«

Sie gingen durch die Empfangskontrolle. Am Aufzug trennten sich ihre Wege, da Charlie immer zu Fuß ging. Es war ihr egal, dass ihre Kollegen sich über ihre Klaustrophobie lustig machten. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass der Aufzug stecken blieb, pflegten sie zu sagen, und für den Fall gab es den Notrufknopf. Doch Charlie fand die Vorstellung, zwischen zwei Stockwerken in so einer winzigen Kabine stecken zu bleiben, unerträglich. Sie würde wahnsinnig werden, bevor Hilfe eintraf.

»Challe wartet im Besprechungsraum auf dich«, sagte Anders, als sie sich im dritten Stock vor dem Aufzug wiedertrafen.

»Und wohin gehst du?«

»Ich hole mir einen Tee. Die Nacht war furchtbar.«

Und was soll Tee da helfen?, dachte Charlie.

»Annabelle Roos«, sagte Challe, als Anders mit seinem Tee dazukam und sich auf einen der weichen roten Stühle im Besprechungsraum setzte. »Sie ist am Freitag nach einer Party verschwunden, auf die sie gar nicht gehen durfte. Das Ganze war offensichtlich eine ganz schön feuchtfröhliche Angelegenheit, weshalb aus den Jugendlichen nicht viel herauszubringen war. Irgendwann in der Nacht, schätzungsweise zwischen zwölf und eins, hat sie allein die Party verlassen und ist seither spurlos verschwunden. Ihr Handy wurde nicht gefunden, von ihrem Konto wurde kein Geld abgebucht.«

»Vier Tage also schon«, sagte Anders. »Wieso hat man nicht schon früher nach ihr gefahndet?«

»Sie ist siebzehn«, antwortete Challe, »und ist wohl schon öfter von zu Hause abgehauen. Laut der Polizei da unten hat sie den Ruf, etwas … ausschweifend zu sein.«

»Ausschweifend?«, meinte Charlie. »Was soll das genau heißen?«

»Ich gebe nur weiter, was man mir gesagt hat. Sie brauchen auf jeden Fall Verstärkung, so viel ist klar. Ich habe euch alle bisherigen Informationen gemailt. Es sind dreihundert Kilometer bis da unten, da habt ihr genug Zeit auf der Fahrt, euch mit dem Material zu beschäftigen.«

Anders ging auf die Toilette. Charlie holte ihren Laptop aus der Tasche, fuhr ihn hoch, loggte sich ein, öffnete das Mailprogramm und begann das Dokument zu studieren, das Challe ihnen geschickt hatte. Trotz der formellen und sachlichen Schilderung der bisherigen Ermittlungsergebnisse sah Charlie alles nur allzu deutlich vor sich.

»Du siehst blass aus«, meinte Anders, als sie zum Auto gingen.

»Ich bin nur ein wenig müde«, erwiderte Charlie. »Das ist sicher die Hitze.«

Keiner von beiden saß gerne auf dem Beifahrersitz, weshalb sie bei jeder längeren Fahrt immer diskutierten, wer fahren durfte. Dieses Mal hielt sich Charlie allerdings wegen ihrer Fahne zurück.

Sie klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel. Anders hatte recht. Sie würde eine Narbe zurückbehalten. Neben dem linken Auge war die helle Narbe von dem Unfall mit der Glasflasche zu sehen, die wie ein umgekehrtes S aussah. Betty hatte gesagt, dass es schon ganz schönes Pech war, so unglücklich zu fallen, aber wenigstens war dem Auge nichts passiert. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.

»Spät geworden gestern?« Anders musterte sie.

Charlie nickte.

»Ich verstehe nicht, wie du das schaffst. Und dann wirst du immer noch als Letzte auf die Straße gekehrt.«

»Es ist noch gar nicht so lange her, dass man uns zusammen auf die Straße gekehrt hat.«

Anders seufzte. »Das war in einem anderen Leben.«

Charlie schwieg. Es gefiel ihr nicht, wie Anders sich verändert hatte, seit er Vater geworden war. In den letzten Monaten war er permanent gereizt und angespannt gewesen. Charlie wusste, dass seine Frau auf einer gleichberechtigten Partnerschaft bestand, was für sie bedeutete, dass sich die Eltern nachts abwechselnd um das Baby kümmerten. Dabei war es egal, dass seine Frau in Elternzeit war, beklagte sich Anders regelmäßig, weil sie es genauso anstrengend fand, sich den ganzen Tag um ein Kind zu kümmern, wie einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Wenn er das sagte, wollte er Charlies Zustimmung, doch sie wusste nicht, wie sie dazu stand. Es kam wohl auf die Art der Arbeit an und wie das Kind war.

Anders schaltete das Radio ein. Ein Countrysong ertönte.

»Warte mal«, sagte er, als Charlie sich vorbeugte, um den Sender zu wechseln. »Hör nur, das Lied heißt ›Annabelle‹.«

Anders drehte die Lautstärke hoch.

»Gruselig, dass sie das ausgerechnet jetzt spielen. Ein totes Mädchen mit demselben ausgefallenen Namen wie in unserem Fall.«

»Das ist doch nur Zufall«, meinte Charlie.

»Sagst du nicht immer, dass du nicht an den Zufall glaubst?«

»Da verwechselst du mich mit Challe. Ich glaube nicht an das Schicksal.«

»Ist das nicht langweilig, nur an den Zufall zu glauben? Die meisten Leute, die ich kenne, glauben an irgendeine Form von Schicksal.«

»Weil sie nicht zwischen Schicksal und Zufall unterscheiden können«, entgegnete Charlie. »Und außerdem ist ganz viel Wunschdenken dabei.«

»Ich glaube, die meisten Menschen wollen einfach einen Sinn in dem sehen, was geschieht.«

»Ja. Und deshalb bilden sie sich ein, es gäbe ein Schicksal.« Sie stellte die Musik leiser und wünschte sich, Anders würde aufhören zu reden.

Kapitel fünf

»Hast du dich über den Ort informiert?«, fragte Anders.

Sie waren mittlerweile auf der Schnellstraße, und Charlie ärgerte sich über seine ungleichmäßige Fahrweise. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, die wachsende Übelkeit zu unterdrücken, indem sie auf die Straße blickte und nicht an all das dachte, was sie am vorherigen Tag zu sich genommen hatte. Sie hatte sich vorgenommen, nur Bier zu trinken (mit diesem Versprechen an sich selbst begann es immer). Sie hatte einen ehemaligen Kollegen getroffen und alles ganz entspannt angefangen: ein paar Bier, Erinnerungen und allgemeines Geplauder. Um halb zwölf war der Kollege nach Hause gegangen, weil er am nächsten Morgen wegen einer Reise früh aufstehen musste. Dann war dieser Martin aufgetaucht und hatte alles kaputtgemacht. Sie dachte an die süßen Cocktails und schluckte gegen ein saures Aufstoßen an. Immer mehr Erinnerungen an den gestrigen Abend drängten sich auf. Sie hatte ein Glas Wein über sich verschüttet, weshalb Martin sie in die Dusche getragen hatte, und da … er hatte sie gegen die Duschwand gepresst und von hinten genommen, während das Wasser auf sie herabprasselte. Fast wie in einem Film, dachte sie, wenn sie nur nicht so betrunken gewesen wären, wenn sie nicht ausgerutscht wäre und sich die Stirn angeschlagen hätte, wenn er ihr nicht ins Bett hätte helfen müssen und … verdammt noch mal, dass sie auch nie aus ihren Fehlern lernte.

Anders fasste zusammen, was er im Netz über Gullspång recherchiert hatte. Eine kleine Industriestadt mit sechstausend Einwohnern, den jüngsten Müttern im Land, schlechter Zahngesundheit und hoher Arbeitslosigkeit. Das klang doch nach einem netten Ort, meinte er.

»Du bist so ein arroganter Stockholmer«, antwortete Charlie seufzend. »Herablassend und sarkastisch allem gegenüber, das außerhalb der Stockholmer Stadtgrenzen liegt.«

»Da hat aber jemand wirklich schlechte Laune.«

»Kein Wunder, wenn man von einem Tag auf den anderen auf einen anderen Fall angesetzt wird.«

»Das macht dir doch sonst nichts aus. Sagst du nicht immer, du spielst auf der Position, die der Trainer dir zuteilt?«

»Nicht, wenn er mich dadurch bestraft.«

Anders verstand nicht, was sie meinte. Wieso Strafe? Challe war nicht nachtragend. Wenn sie dabei immer noch an die Betriebsfeier dachte, das war doch mittlerweile längst vergessen.

Er weiß es, dachte Charlie. Er weiß alles.

»Was hast du gehört?« Sie drehte sich zu ihm.

»Was meinst du damit? Ich dachte nur daran, dass du ein wenig … na ja, dass du ganz schön zu viel getrunken hast. Warum siehst du mich so an?«

»Weil ich das Gefühl habe, dass du Dinge über mich weißt, von denen ich dir nichts erzählt habe.«

»Du erzählst doch nie etwas von dir.«

»Wer hat gequatscht?«, fragte Charlie. »Challe? Hugo?«

»Keiner von beiden. Ich weiß, dass ihr eine Affäre hattet, weil ich euch zufällig einmal gesehen habe, als ihr wahrscheinlich dachtet, dass alle anderen schon nach Hause gegangen sind. Im Besprechungsraum …«

Charlie errötete. Sie dachte daran, wie sie Hugo zurückgewiesen, wie sie gesagt hatte, dass sie zu ihr nach Hause fahren sollten. Sie war wahrlich nicht prüde, aber die Arbeit bedeutete ihr alles, und sie hatte keine Lust, mit heruntergelassener Hose auf einem Konferenztisch erwischt zu werden. Hugo war jedoch nicht von der Idee abzubringen gewesen, und dann hatte er sie an genau den richtigen Stellen berührt, bis sie nachgegeben und alles um sich herum vergessen hatte. Was hatte Anders gesehen?

»Ich habe nicht viel gesehen«, beantwortete Anders ihre unausgesprochene Frage. »Ich wusste zuerst auch gar nicht, dass ihr das seid, erst als mir klar war, dass alle anderen schon nach Hause gegangen waren.«

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Was hätte ich denn sagen sollen?« Anders sah sie fragend an.

»Na ja, du hättest mir erzählen können, dass du es weißt.«

»Ich dachte, du würdest es mir schon selbst erzählen, wenn du das Bedürfnis hast.«

»Auf jeden Fall ist es aus.«

»Gut.«

»Warum ist das gut?«

»Na ja, weil … immerhin ist er verheiratet und …«

»Er hat gesagt, dass er unglücklich ist«, erwiderte Charlie. Sie musste lachen, weil ihr erst jetzt, als sie es laut aussprach, klar wurde, wie klischeehaft das alles war. Ein verheirateter Mann, dessen Ehefrau ihn nicht verstand. Wie hatte sie nur darauf hereinfallen können?

»Außerdem mag ich ihn nicht«, sagte Anders. »Unter uns – er findet sich selbst viel zu gut.«

Charlie musste ihm zustimmen. Sie erinnerte sich an ein Treffen in seinem Schärengartenhäuschen. Sie und Hugo im Bett. Er wollte sie dazu bringen, »sich zu öffnen« und etwas aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Wie und wo war sie aufgewachsen? Er wusste ja noch nicht einmal, woher sie stammte.

»Ist das wichtig?«, hatte Charlie gefragt.

»Nein, überhaupt nicht.«

Na also.

Aber sie könnte ihm doch wenigstens … irgendwas erzählen.

Und was zum Beispiel?

Vielleicht irgendein Geheimnis.

Charlie hatte gesagt, das würde sie tun, wenn er zuerst etwas von sich preisgab.

Hugo hatte sich bequem zurechtgelegt und mit kaum verhohlenem Stolz erzählt, wie er als Jugendlicher Wände und Mauern beschmiert hatte. Als sie lachte, war er fürchterlich gekränkt gewesen. Was daran denn so lustig sei?

Nichts, hatte sie gesagt, aber die meisten Jugendlichen kritzeln doch mal irgendwo etwas hin. Das ist nicht gerade eine Todsünde.

Was sie selbst denn so viel Schlimmeres getan hätte, wollte er wissen.

Einen kurzen Moment lang war sie versucht, es zu sagen: Ich habe einen Menschen sterben lassen. Doch dann beherrschte sie sich und antwortete, dass sie nie etwas Ungesetzliches getan hätte.

Das ist eine Lüge, hatte Hugo gesagt. Alle Menschen haben schon mal etwas Ungesetzliches getan. Er hatte sich rittlings auf sie gesetzt und ihre Handgelenke festgehalten. Los, erzähl es mir.

Nichts Ungesetzliches, hatte sie gesagt, aber ich war schon mit einer ganzen Menge Männer zusammen.

Wie viele? Sein Griff war fester geworden, und sie hatte die Lust in seinen Augen aufblitzen sehen.

Ein paar Hundert.

Hugo hatte gelacht. Deshalb war er so gerne mit ihr zusammen. Er liebte Frauen, die ihn zum Lachen brachten.

Und sie erinnerte sich, wie sie gedacht hatte, dass Hugo entgegen seiner eigenen Einschätzung alles andere als ein guter Menschenkenner war. Jetzt, nachdem sich die Leidenschaft verflüchtigt hatte, sah sie es ganz deutlich, dass er ein Mensch war, mit dem sie ihre Schwierigkeiten hatte: verlogen, mit schlechter Selbsterkenntnis und wenig Intuition. Weshalb konnte sie dann nicht damit abschließen?

Nach zwanzig Minuten Fahrt fiel Charlie ein, dass sie ihr Sertralin daheim vergessen hatte. Hatte sie am Morgen überhaupt eine Tablette genommen? Sobald Anders außer Hörweite war, musste sie ihren Arzt anrufen und sich um ein Rezept kümmern. Sie hatte schon mehrfach den Fehler begangen, das Medikament abrupt abzusetzen, in dem Glauben, die Entzugssymptome könnten gar nicht so schlimm werden, doch dann war ihr der kalte Schweiß ausgebrochen, zusammen mit Übelkeit und Panikattacken. Das wollte sie auf keinen Fall noch einmal erleben, vor allem nicht im Hinblick darauf, wohin sie unterwegs waren. Vielleicht sollte sie die Dosis sogar erhöhen.

»Was glaubst du, was mit dem Mädchen passiert ist?«, fragte Anders.

»Es ist zu früh, etwas dazu zu sagen.«

»Das weiß ich doch. Aber sie scheint ja schon der Typ zu sein, der mal eine Weile freiwillig untertaucht.«

Anders begann zu referieren, was sie bisher über Annabelle wussten. Sie war schon einmal verschwunden. Vielleicht war sie ein Mädchen, das erst nach einer gewissen Zeit vermisst wurde.

»Sie war noch nie verschwunden«, warf Charlie ein.

»Aber Challe hat doch gesagt …«

»Ich habe mir alles durchgelesen, und in der Anzeige stand nur, dass sie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause gekommen ist. Sie hat bei einer Freundin übernachtet, wo ihre Mutter sie am nächsten Morgen gefunden hat. Völlig normal.«

»Wann hast du das gelesen?«

»Als du auf der Toilette warst.«

»Ich war doch nur fünf Minuten weg?«

»Ich lese schnell.«

»Du bist überhaupt immer so schnell«, sagte Anders. »Alles machst du immer so verdammt schnell.«

Man machte oft Bemerkungen über Charlies Tempo. Sie selbst dachte eigentlich nie darüber nach. Außer wenn sie mit anderen zusammenarbeiten oder neben jemandem hergehen sollte, oder wenn ihr mal wieder jemand sagte, dass sie zu schnell sprach, dann merkte sie, dass sie sich nicht im selben Takt wie ihre Umgebung bewegte. Aber vielleicht waren die anderen ja auch nur zu langsam.

»Hast du noch etwas anderes Interessantes gelesen?«, fragte Anders.

»Das war kein leer stehendes Haus. Die Party. Sie fand in einem aufgegebenen Dorfladen statt.«

War das wichtig, fragte Anders, um was für ein Haus es sich handelte?

Nicht für einen Außenstehenden, dachte Charlie, nicht für jemanden, der nicht dort seinen ersten Drink getrunken, dort nicht geknutscht hatte, die Treppen hinuntergefallen war und auf den Boden gekotzt hatte. Für jemanden, der an einem anderen Ort auf der Welt aufgewachsen war, spielte es keine Rolle. Doch für sie … für sie war es von Bedeutung.

»Könntest du bitte versuchen, nicht so furchtbar ungleichmäßig zu fahren?«, bat sie angespannt.

»Was meinst du damit?« Er warf ihr einen ratlosen Blick zu.

»Ich meine, dass du ständig bremst und wieder Gas gibst, anstatt ein gleichmäßiges Tempo zu fahren.«

»Ich orientiere mich doch nur am Verkehr.«

»Das machst du nicht. Du fährst immer so ruckartig, selbst wenn gar kein Verkehr ist. Deshalb fahre ich lieber selbst.«

»Na dann«, entgegnete Anders, »trink einfach nicht so viel.«

»Halt die Klappe.«

»Ich meine es ernst.«

Sie schwiegen die nächsten Kilometer. Charlie sehnte sich nach ihrem Bett, wollte einfach nur schlafen, mit Sertralin, zwei Kopfschmerztabletten und einer Beruhigungstablette im Blut, doch stattdessen saß sie in diesem Wagen, ihr war schlecht, und sie war aufgewühlt, weil sie an den Ort fuhren, an den sie nie wieder hatte zurückkehren wollen.

Kapitel sechs

An einem Rasthaus machten sie halt. Die dunklen Stühle und die Tische mit den rot-weiß karierten Plastiktischdecken hatten etwas Heimeliges an sich. Eine ältere Frau nahm ihre Bestellungen auf. Anders entschied sich nach einer Weile für dasselbe wie Charlie: ein Krabbenbrot.

»Keinen Hunger?«, fragte er, als sie nicht sofort zu essen begann.

»Das reicht jetzt. Ich brauche keinen Vater.«

»Wer hat gesagt, dass du einen brauchst?«

»Ich verstehe einfach nicht, warum sich jeder einmischen muss. Ich bin fünfunddreißig, wo ist das Problem, wenn ich mir ab und zu ein Glas genehmige?«

»Dreiunddreißig.«

»Was?«

»Du bist dreiunddreißig.«

»Scheißegal.«

Sie sah Anders dabei zu, wie er die Beilagen von seinem Krabbenbrot schabte und die Brotscheibe zur Seite legte.

»Warum isst du es nicht einfach so?«, fragte sie.

»Ich passe mit den Kohlenhydraten auf.«

»Aber wieso bestellst du Brot, wenn du es nicht isst?«

»Es gab ja nicht viel Auswahl«, meinte Anders und aß ein Salatblatt.

Dann hielt er einen Vortrag, dass es nicht schaden könne, sich bewusst zu ernähren. Man hatte schließlich nur ein Leben, einen Körper. Charlie stimmte ihm zu und sagte, dass genau aus diesem Grund nur Idioten ihre Zeit mit dem Zählen von Kalorien verschwendeten, mit Sport und irgendwelchen Wunderkuren.

»Das Gehirn braucht Kohlenhydrate«, verkündete sie abschließend.

»Mein Gehirn funktioniert ausgezeichnet«, erwiderte Anders und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Jedenfalls habe ich keine Verschlechterung bemerkt.«

»Vielleicht fehlt dir einfach Selbsterkenntnis. Du weißt doch, dass man sich ganz generell gern mal überschätzt, nicht wahr?«

»Ganz generell«, äffte Anders sie nach. »Du magst es doch sonst nicht, wenn man etwas verallgemeinert.«

»Nur wenn andere das machen, nicht bei mir selbst. Weil ich davon ausgehe, dass ich meine Aussagen belegen kann.«

»Das glauben doch alle, die verallgemeinern. Das ist das Problem.«

»Vielleicht«, gab Charlie zu. Sie legte die Gabel zur Seite und stand auf.

»Wohin gehst du?«, fragte Anders.

»Rauchen.«

»Hast du nicht aufgehört?«

»Ich habe wieder angefangen.«

Sie ging zu der Tankstelle, die direkt an das Rasthaus angrenzte, und kaufte eine Packung Blend Menthol, dieselbe Marke, die Betty immer geraucht hatte. Sie stellte sich unter das Vordach der Tankstelle, weil sie wusste, dass sie im Sonnenlicht ohnmächtig werden würde.

Der Mentholgeschmack versetzte sie in die Vergangenheit zurück. Sie sah Betty vor sich, wie sie am Küchentisch saß, eine Zigarette im Mundwinkel, und hörte Janis Joplins raue Stimme aus dem alten Plattenspieler im Wohnzimmer. In ihrem Haus lief immer Musik. Ich halte es nicht aus, wenn es ruhig um mich ist, Charline. Ohne Musik würde ich wahnsinnig werden.

Und Charlie hatte im Stillen gedacht: Das bist du doch schon, Mama.

Noch eine Erinnerung: Sie und Betty tanzen im Garten. Die Kirschbäume blühen, die Katzen streichen ihnen um die Beine. Betty hat alle Fenster geöffnet, die Musik ist bis nach draußen zu hören.

Das alte Lied von Inger Berggren über ein neunzehnjähriges Mädchen, das noch keine Ahnung vom Leben hat, über kleine Mädchen, die man im Frühling einsperren sollte.

Betty ist der Mann, sie die Frau.

»Vergiss nicht, dass der Mann führt«, sagt Betty mit gespielter Strenge.

Und als Charlie fragt, warum das so sei, zuckt Betty nur mit den Schultern und antwortet, dass sie es nicht wisse, dass es nur eine dumme Regel sei. Und Regeln seien ja bekanntlich dazu da, dass man sie breche, also könne sie eigentlich auch führen.

Betty lacht über ihre Füße, die es auf ihre Zehen abgesehen haben. Entspann dich, sei ganz locker.

Doch Charlie kann nicht. Sie ist einerseits zu angespannt, andererseits zu schlaff.

Aus dir wird nie eine Tänzerin, Charline.

Du sagst doch immer, dass ich alles werden kann.

Alles außer einer Tänzerin, Schatz.

Charlie nahm einen Lungenzug. Sie war nicht mehr der schlaksige Teenager, der den Ort vor beinahe zwanzig Jahren verlassen hatte. Sogar den Dialekt hatte sie sich abtrainiert. Und trotzdem, dachte sie, trotzdem ist immer noch so viel da. Sie dachte an die Menschen, die ihr damals nahegestanden hatten, wer von ihnen wohl noch dort wohnte. Sie hatte nicht besonders viele Freunde gehabt, und die wollten Gullspång bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verlassen. Es war einfach zu trostlos, es gab nichts zu tun, alle Träume wohnten in den Städten. Und dann dachte sie an Susanne, die früher einmal ihre beste Freundin gewesen war. Sie beide zusammen in Bettys Fenster im Haus in Lyckebo, wie sie die Beine vom hölzernen Fensterbrett baumeln ließen, die Eltern, die lachend und johlend durch den Garten tollten.

Wir sind hier die einzigen Erwachsenen, Charlie.

Und dann das Bild von ihnen auf dem Absatz unter dem Wasserfall, die nackten sonnengebräunten Körper, Susanne, die mit dem Skizzenblock in der Hand in die Sonne blinzelte. Es ärgert mich, dass ich dich nie so zeichnen kann, wie du wirklich aussiehst. Nein, du darfst nicht schauen, ich bin noch nicht fertig, verschwinde!

Charlie reißt ihr den Block aus den Händen.

Du hast mich viel hübscher gezeichnet, als ich bin!

Ich bin noch nicht fertig.

Dann beeil dich gefälligst.

Charlie beugt sich über Susannes Schulter, als diese die Narbe an ihrem Auge zeichnet und darunter einen Punkt setzt, sodass sie einem Fragezeichen ähnelt.

Du bist ein Rätsel, Charline Lager.

Susanne … Charlie war gegangen, ohne sich von ihr zu verabschieden.

Warum?

Weil sie Abschiede hasste.

Charlie schloss die Augen, lehnte den Kopf an die Hauswand hinter sich und sah sich selbst im Wald, damals, in dieser Nacht, barfuß, schreiend, davonstolpernd.

»Spinnst du, hier zu rauchen?« Plötzlich stand Anders vor ihr. »Ist dir bewusst, wie nahe du an den Zapfsäulen stehst?«

»So nahe bin ich doch gar nicht.«

»Ich trinke noch eine Tasse Kaffee.«

»Ich komme gleich«, erwiderte Charlie. »Ich rauche nur noch schnell fertig.«

Bevor sie ins Rasthaus ging, rief sie bei ihrem Arzt an. Sie wurde durch das Anrufbeantwortermenü geführt, und nachdem sie die letzte verlangte Taste gedrückt hatte, hoffte sie verärgert, dass man sie tatsächlich wie angekündigt bald zurückrief. Sie brauchte wirklich ein neues Rezept.

»Du bist so still«, meinte Anders. Sie hatten ihre Kaffeebecher mit zum Auto genommen.

»Ich denke nach«, erwiderte Charlie.

»Über was?«

»Alles Mögliche.« Himmel noch mal, warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe.

Ihr Handy klingelte. Charlie warf einen Blick auf das Display und erkannte das H. Warum machte ihr das eigentlich immer noch Hoffnung? Liebe oder Leidenschaft oder was auch immer es war, konnte einen wirklich zum Idioten machen.

»Wenn du nicht rangehen willst, stell es wenigstens auf lautlos«, beschwerte sich Anders.

Charlie gehorchte und schaltete das Telefon auf stumm. Sekunden später traf eine SMS von der Voicemail ein. Sie hörte die Nachricht ab.

»Hallo, ich bin’s. Wir müssen reden. Es geht um Anna. Sie hat in meinem Handy herumgeschnüffelt, und jetzt ist die Hölle los. Ich … ich habe gesagt, dass es nur ein unschuldiger Flirt war, dass wir uns nicht mehr sehen, aber sie glaubt mir nicht, und jetzt droht sie damit, dich anzurufen und … ja, es wäre gut, wenn du dich so schnell wie möglich melden könntest.«

Aber ganz bestimmt doch, dachte Charlie und schob das Telefon zurück in die Tasche.

»Wer war das?«, fragte Anders.

»Geht dich das was an?«

»Ich dachte, dass es vielleicht um die Arbeit geht.«

»Das hätte ich gesagt.«

»Es ist nur … du bist so geheimnistuerisch«, sagte Anders. »Also, noch mehr als sonst, meine ich.«

»Das liegt an dem Ort«, erklärte Charlie nun doch. »Gullspång. Ich habe früher dort gewohnt.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass ich dort früher einmal gewohnt habe.«

»Und das sagst du jetzt erst?« Anders warf ihr einen Blick zu, als ob sie nicht ganz richtig im Kopf wäre.

»Das ist eine Ewigkeit her.«

»Das ist unwichtig. Dort bist du also aufgewachsen?«

»Ja.«

»Und wie war das so?«

»Wie in jeder anderen schwedischen Kleinstadt«, erwiderte Charlie. »Junge Mütter, schlechte Zähne, hohe Arbeitslosigkeit. Ich war seit beinahe zwanzig Jahren nicht mehr dort.«

»Warum?«

»Ich hatte keine Lust.« Verdammt, es war ein Fehler, von ihrer Vergangenheit zu erzählen, aber falls sie dort wider Erwarten jemand erkennen sollte, war es besser, jetzt darüber zu sprechen.

»Kennst du das Mädchen?«, fragte Anders.

Charlie schüttelte den Kopf. Annabelle war noch nicht einmal geboren, als sie Gullspång verlassen hatte.

»Wann bist du weggezogen?«

»Vor langer Zeit. Ich war erst vierzehn.«

»Da seid ihr dann nach Stockholm gezogen?«

»Ich«, korrigierte ihn Charlie.

»Nur du?« Anders warf ihr einen ungläubigen Blick zu.

»Ja, daheim war es nicht so toll. Ich bin zu einer Pflegefamilie gekommen. Könntest du bitte auf die Straße schauen?«

»Warum hast du nie davon erzählt?«

»Ich denke ja nicht die ganze Zeit daran, und außerdem möchte ich nicht darüber sprechen, wenn’s recht ist.«

Anders schien sie jedoch nicht zu verstehen. Er wollte wissen, wie es bei der Pflegefamilie gewesen war. Man hörte schließlich so viele schlimme Geschichten von Kindern bei Pflegeeltern.

»Ich bin zurechtgekommen«, meinte Charlie knapp.

»Du bist also zum ersten Mal seit damals wieder in Gullspång.«

»Ja.«

»Und was ist mit deinen Eltern?«

»Es gab nur meine Mutter, und sie ist nicht mehr dort.«

Charlie trank einen großen Schluck Kaffee und dachte an das Haus in Lyckebo. Vor ein paar Monaten hatte ein Angestellter der Kommunalverwaltung angerufen und gesagt, sie sollte es vielleicht besser verkaufen. Vorbeikommen, es in Ordnung bringen und einen Käufer suchen. Doch es war ihr Haus, und sie machte damit, was sie wollte. Und selbst wenn es verfiel – es gab sowieso keine Nachbarn, die sich beklagen konnten. Das war doch allein ihr Problem, oder nicht?

Anders ließ nicht locker.

»Hattet ihr engen Kontakt, du und deine Mutter?«

»Nicht so besonders«, erzählte Charlie widerwillig. »Es ist sehr lange her, dass wir uns gesehen haben.« Das war die Wahrheit. Sie hatte keine Lust, Anders von Betty zu erzählen. Den Fehler hatte sie früher einmal bei ein paar Freunden gemacht, die sie danach immer bemitleidet hatten.

Anders’ nächste Fragen beantwortete sie daher immer kürzer angebunden.

»Die Frau ohne Vergangenheit«, sagte er schließlich.

»Nennt ihr mich so?«

»Ist das so verwunderlich? Du erzählst ja nie etwas Persönliches.«

Charlie seufzte. Sie hatte nie verstanden, warum man allen Leuten um sich herum ständig von sich selbst erzählen musste. Einmal hatte ein Bekannter (der sich mehr erhoffte) gesagt, dass sie deshalb keine Nähe zulassen könnte. Es sei ja kein Wunder, dass sie allein war, hatte er gesagt. Weil sie wie eine Muschel zumachte, sobald jemand sie besser kennenlernen wollte.

Das käme wohl ganz darauf an, wer es ist, hatte Charlie geantwortet, und damit war die beginnende Beziehung beendet gewesen.