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Seit einem schweren Autounfall besteht Lucys Leben aus Studium, einem Nebenjob im Café – und vor allem daraus, sich um ihre schwerverletzte Mutter im Pflegeheim zu kümmern. Das Geld ist knapp, das Studentenheim kann sich die junge Frau kaum noch leisten. Da erbt sie auf einmal von ihrer Großtante eine wunderschöne Wohnung mitten in Edinburgh. Der einzige Haken an der Sache: Ryan, der ebenfalls in der Wohnung lebt. Und es gibt nur drei Dinge, die Ryan so sehr liebt wie sich selbst: Partys, sein Schlagzeug – und Mädchen …
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ISBN 978-3-492-98266-5
Überarbeitete Neuausgabe Mai 2016
© der Originalausgabe: Latos Verlag, Calbe/Saale 2014
© für diese Ausgabe: Piper Fahrenhein, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
© Piper Verlag GmbH, München 2016
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: © sivilla/shutterstock.com
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Lucy
»Ich bin fertig. Triffst du mich im Café? Ich muss gleich meine Schicht antreten«, murmelte ich in mein Handy und wühlte gleichzeitig in meiner Handtasche nach dem Schlüssel für meinen kleinen Peugeot. Das Auto hatte einmal meiner Mutter gehört. Jetzt, da sie es nicht mehr benutzen konnte, fuhr ich es. Es war auch viel leichter, in Edinburgh von A nach B zu kommen, wenn man einen fahrbaren Untersatz besaß – vorausgesetzt, man fand einen Parkplatz. Und gerade kam ich aus dem Büro eines Anwalts und war auf dem Weg in das kleine Campuscafé auf dem Gelände der Edinburgh University, in dem ich jeden Tag nach der Uni, einem Besuch bei meiner Mutter und den Hausaufgaben ein paar Stunden bediente, um mir das Studium, Mutters Pflegeheimplatz und ein Zimmer auf dem Campus leisten zu können. Zumindest das Zimmer könnte ich mir demnächst sparen, wenn ich Anne von meiner Idee überzeugen konnte.
»Bin sofort da. Ich platze schon vor Neugier. Man erbt ja nicht jeden Tag was von einer unbekannten Großtante.« »Unbekannte Großtante« traf es auf den Punkt. Wie sich herausgestellt hatte, hatte ich hier in Edinburgh eine Verwandte, die die Tante meines verstorbenen Vaters gewesen war. Niemand wusste etwas von ihr, weil mein Vater sie nie erwähnt hatte. Zumindest erinnerte ich mich nicht daran, dass er je von ihr gesprochen hatte. Leider konnte ich meine Mutter auch nicht nach dieser Elisabeth Donald fragen. Und da ich nichts von ihrer Existenz gewusst hatte, hatte mich das Schreiben, in dem ich über eine Erbschaft in Kenntnis gesetzt wurde, auch völlig überrascht.
»Also dann, in zwanzig Minuten?«
»Werde da sein. Mach uns schon mal einen Latte. Oder sollten wir besser eine Flasche Schampus köpfen?« Anne machte schon seit Tagen ihre Witze. Anfangs meinte sie, ich wäre vielleicht jetzt Millionärin oder Besitzerin einer großen Firma oder hätte gar einen Adelstitel geerbt. Ich rollte mit den Augen, musste aber über Anne lächeln, da ich wusste, dass sie die Neugier schier zerriss. Aber die paar Minuten konnte sie auch noch warten, schließlich betraf dieses Erbe auch sie, wenn sie sich denn mit meinen Plänen anfreunden konnte.
Ich stellte mein Auto auf dem Parkplatz vor dem Swann Building ab und ging in das Café, wo Ben, mein Chef, mich bereits mit zusammengekniffenen Lippen erwartete.
»Ich hatte schon Angst, du kommst heute nicht mehr.« Ben war knapp vierzig, sah für sein Alter aber umwerfend gut aus: groß, schlank und dunkelhaarig mit wenigen grauen Strähnen. Er trug eine silberne Brille, was ihm zusätzlich noch einen gewissen intelligenten Touch verlieh. Nicht, dass er nicht intelligent wäre, aber die Brille unterstrich das noch äußerlich.
»Tut mir leid, der Termin beim Anwalt hat doch etwas länger gedauert, als ich angenommen hatte. Du weißt ja, wie das so ist mit dem ganzen Papierkram.«
Ben nickte brummend und ging hinter den Tresen, wo er mir gleich die Kasse übergab. In den frühen Abendstunden war hier besonders viel los. Dann nämlich kamen zahlreiche Studenten her, um zu lesen, sich auf Seminare vorzubereiten oder sich zu unterhalten.
Nachdem Ben mich eingewiesen hatte, ging ich schnell in die Garderobe und band mir die schwarze Kellnerschürze um, die die einzige Kleidungsvorschrift im Swann Café war. Als ich zurück ins Café kam, war auch Anne schon eingetroffen. Sie wartete auf dem Barhocker, auf dem sie immer saß, wenn ich bediente, damit sie die Minuten nutzen konnte, in denen ich hinter dem Tresen Espresso oder Latte macchiato zubereitete, um mit mir zu plaudern. An den vier Tagen pro Woche, an denen ich hier bis zweiundzwanzig Uhr arbeitete, hatten wir nämlich kaum Zeit, um zu reden.
Heute würde das anders sein, denn es regnete in Strömen und dann kamen nur wenige Gäste. Deswegen hatte Ben es auch so eilig, mir die Kasse zu übergeben, weil er solche Tage dafür nutzte, im Büro den ganzen Schreibkram zu erledigen.
Ich machte Anne und mir einen Latte macchiato mit sehr viel Milchschaum, nachdem ich zwei Mädchen mit Tee versorgt hatte, die gerade lachend hereingekommen waren und sich das Wasser aus den Haaren geschüttelt hatten. Dieser Spätsommer hatte es in Edinburgh wirklich in sich.
»Also, Schluss mit der Folter! Ich will es sofort wissen, sonst platze ich noch. Und das wird nicht schön für dich, weil du dann diesen riesigen Fettfleck von allen Wänden hier putzen musst.«
Ich stöhnte theatralisch. »Du weißt genau, dass du nicht dick bist.« Mindestens einmal am Tag musste ich Anne erklären, dass sie kein Übergewicht hatte. Vielleicht war sie nicht Size Zero, aber wer wollte schon so klapprig aussehen wie Frau Beckham? Ich nicht. Ich war stolz auf meine kleinen Rundungen. Fünfundfünfzig Kilo auf einen Meter achtundsechzig waren doch ganz in Ordnung. Und wenn Anne sich für dick hielt, dann würde das bedeuten, dass ich es auch war, schließlich wog sie nur drei Kilo mehr als ich und die kamen, da war ich mir sicher, von ihren riesigen Brüsten, während meine BH-Größe absolut nicht erwähnenswert war.
Anne seufzte und brabbelte etwas in ihren Milchschaum. »Jetzt erzähl schon!«
»Erst gestehst du, dass du nicht dick bist.«
Schmollend rührte Anne mit dem Löffel ihren Kaffee um und strich dann ihren blonden kinnlangen Bob hinter die Ohren. Eine Frisur, auf die ich ganz neidisch war, denn sie sah wirklich absolut heiß mit ihren halblangen Haaren aus. Eine Mischung aus frech und begehrenswert. Mir standen kürzere Haare gar nicht. Irgendwie fand ich mein Kinn dafür zu spitz und meine Wangenknochen zu breit, weswegen ich meine hellbraune Mähne immer ein bisschen in mein Gesicht hängen ließ.
»Ich gestehe«, sagte sie genervt. »Also?«
Ich löffelte etwas Schaum in mich hinein. Ich muss zugeben, ich war nervös. Wenn Anne nicht so überzeugt von meiner Idee war wie ich, dann wusste ich nicht, was ich tun sollte. Denn dieses Erbe war meine Chance, im Café kürzertreten und mich vielleicht etwas mehr um meine Mutter kümmern zu können. Und das Studium, das brauchte auch etwas mehr Aufmerksamkeit, denn sonst sah es wirklich schlecht mit einem Abschluss in Literaturwissenschaften aus. Die Kosten für Wohn- und Pflegeheim waren auf die Dauer zudem kaum noch zu stemmen für mich. »Ich habe eine Dreizimmerwohnung geerbt. Ganz in der Nähe, 13 West Newington Place.«
Anne runzelte die Stirn. »Eine Wohnung? Willst du die vermieten?« Sie dachte kurz darüber nach. »Ja, das wäre doch eigentlich eine gute Idee. Du vermietest sie und musst nicht mehr im Café schuften.«
»Eigentlich hatte ich gedacht, da es ja drei Schlafzimmer gibt, könnten du und ich dort einziehen. Dann würde ich mir das Wohnheim ersparen.« Ich zögerte. »Und vielleicht könntest du mir etwas Miete zahlen.« O Mann, war mir das unangenehm! Ich wollte Anne ja nicht ausnutzen.
»Du meinst, du und ich in einer WG? Keine Partys mehr im Wohnheim, kein Grölen, keine laute Musik, kein Müll überall. Und keine überfüllten Duschen! Ja, das wäre auch eine Möglichkeit. Wann schauen wir uns das schöne Erbe an? Ich meine, wir möchten ja nicht in eine Bruchbude ziehen.« Eigentlich hätte Anne auch bei ihren Eltern in der großen Stadtvilla wohnen können, aber sie wollte unbedingt weit weg von ihrer bevormundenden Mutter sein. Und nachdem ich ihre Mutter kannte, verstand ich, dass sie eine Dusche in einem Wohnheim einem Luxusbad im Haus ihrer Eltern vorzog.
Anne hatte das verdammte Glück, dass ihre Eltern recht gut verdienten. Beide hatten wichtige Positionen in einer Marketingfirma. Sie hatte mir auch schon mehrfach angeboten, meine Kosten für das Zimmer, das wir im Wohnheim teilten, zu übernehmen, aber das wollte ich nicht. Es wäre mir unangenehm, auf Kosten anderer zu leben. Wenn sie aber bei mir zur Untermiete wohnen würde, dann könnte ich gut damit leben, ihr Geld zu nehmen, denn dann würde ich ihr ja eine Gegenleistung dafür bieten.
»Morgen Nachmittag. Ich werde Mum morgen mal nicht besuchen, damit wir uns alles in Ruhe anschauen und überlegen können, was wir machen wollen.«
»Hey, Lucy! Machst du mir ein Glas Cola? Ohne Eis bitte.« Stephan stand plötzlich vor mir und sah mich aus blitzenden Augen an. »Wo warst du nur gestern, meine Schöne? Den ganzen Abend habe ich auf dich gewartet. Einen Strauß mit fünfzig roten Rosen für jedes Mal, wenn du mir dein wundervolles Lächeln geschenkt hast, hatte ich auch besorgt. Aber du warst einfach nicht da.« Stephan war ein großer, schlaksiger blonder Typ, der mit mir zusammen die Geschichtsvorlesungen besuchte und immer einen solchen Spruch für mich parat hatte.
»Tut mir leid. Gestern war ich leider nicht im Dienst. Aber wie ich Ben kenne, hat er sich genauso über die Rosen gefreut.«
Stephan lief feuerrot an, denn Ben stand total auf ihn und ließ ihn das auch immer wieder gerne spüren. Ich stellte ein Glas mit Cola vor Stephan auf den Tresen und er nahm es und ging damit zu den zwei Mädchen, die noch immer ihre Hände bibbernd um ihre heißen Teetassen geschlossen hatten. Wahrscheinlich würden sie sich jetzt die nächste halbe Stunde Stephans nette Anmachsprüche anhören müssen. Bei Anne hatte er es aufgegeben, als die ihm einmal erklärt hatte, dass sie es nur mit viel Leder und Masken mochte. Und sie wäre bereit, es mit ihm zu versuchen, wenn er bereit wäre, sich von ihr den Hintern versohlen zu lassen. Stephan war dazu nicht bereit gewesen. Vielmehr wich er seither Annes Blicken immer aus. Sie schüchterte ihn wohl ein. Und keine von uns wollte ihn darüber aufklären, dass Anne in Wirklichkeit keinerlei Hang zu SM hatte.
»Das könnte richtig schön werden. Wir zwei zusammen in einer Wohnung. Oh, wir müssen unbedingt IKEA plündern. Und Vliestapeten! Ich liebe Blumentapeten. Ich kann es schon vor mir sehen.«
»Mir reicht in meinem Zimmer ein Bett, ein Schreibtisch und ein Kleiderschrank. Aber das Wohnzimmer sollten wir uns richtig toll einrichten«, schwärmte ich, von Annes Überschwang angesteckt.
»Ich bin ja so gespannt! Nur wir zwei Mädchen. Und hin und wieder ein Date«, fügte sie an. In einem Gemeinschaftszimmer war das mit den Dates gar nicht so einfach. Nicht, dass ich häufig welche hatte. Aber bei Anne hatte ich den Eindruck, dass sie sich öfter meinetwegen zurückhielt.
»Was ist denn mit Daniel von letzter Woche? War er nicht dein absoluter ›Traummann‹?«, hakte ich grinsend nach. Ich wusste natürlich genau, dass so ziemlich jeder Typ Annes Traummann war.
Anne lächelte verschmitzt und schob mir ihr leeres Glas über die Theke zu. »Auffüllen, bitte. Es hat sich herausgestellt, dass er Dinge bevorzugt, mit denen ich mich nicht anfreunden kann.«
»Die da wären?«
Anne sah über ihre Schulter zurück, um sicherzugehen, dass uns keiner hören konnte. »Er wollte mit mir in einen Swingerclub. Er meinte, es würde ihn nur anmachen, wenn er mir dabei zusehen könnte, wie ich es mit einem Mädchen mache.«
»Nicht dein Ernst?« Schockiert schlug ich eine Hand vor meinen Mund und verfiel dann in Kichern, als ich mir Annes Blick in dem Moment vorstellte, als Daniel ihr das gestanden hatte.
»Und ob! Wir saßen gerade in seinem Zimmer auf dem Bett und haben herumgemacht und ich hab schon angefangen, mich zu wundern, weil sich da unten so gar nichts geregt hat, und da platzt er damit raus. Du kannst dir bestimmt denken, dass ich aufgestanden und aus dem Zimmer gerannt bin.«
Ich lachte laut auf und hielt mir den Bauch.
»Was ist so lustig?«, wollte Ben wissen, der den Papierkram entweder aufgegeben hatte oder fertig war. Seinem mürrischen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er aufgegeben.
»Annes Date wollte mit ihr in einen Swingerclub.«
Ben brüllte vor Lachen auf. »Anne? Niemals.«
Anne guckte beleidigt und räusperte sich. »Wieso eigentlich nicht?«
»Dafür bist du viel zu fein und sittlich. Du suchst dir zwar immer die bösen Jungs aus, aber ich werde das Gefühl nicht los, das ist nur ein Protest gegen deine Eltern.« Annes Eltern waren ziemliche Moralapostel. Außerdem musste bei ihnen alles immer perfekt sein, auch ihre Tochter.
»Vielleicht bin ich ja gar nicht so, wie du denkst.« Anne zog einen Schmollmund.
Ben wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und nickte. Dabei presste er seine Lippen fest aufeinander und versuchte krampfhaft, nicht wieder loszulachen. Er schnappte sich ein paar schmutzige Tassen und stellte sie in den Geschirrspüler. Dann verschwand er breit grinsend wieder im Büro. Annes kleines Abenteuer hatte ihm wohl die Motivation zurückgebracht.
Lucy
»Das hier muss es sein.« Anne blieb mit dem Auto vor einem dreistöckigen Haus im gregorianischen Stil stehen. Die Steine waren gelb und wirkten im häufigen tristen Grau Edinburghs freundlich und frisch. Zwei schwarze schmiedeeiserne Zäune umrandeten einen winzigen Vorgarten und drei Stufen führten zu einer blauen Eingangstür hinauf. Alle Stockwerke im Haus schienen bewohnt, zumindest hingen überall Gardinen an den Fenstern. »Es ist ein altes Haus. Alter englischer Stil. Bestimmt gibt es Stuck im Wohnzimmer.« Anne seufzte. Alt und edel, gemischt mit schlichter Moderne war genau ihr Ding.
»Wir haben noch gut dreißig Minuten bis zur Schlüsselübergabe. Lass uns um die Ecke noch einen Kaffee trinken«, schlug ich vor. Ich war erleichtert. Das Haus machte zumindest von außen einen sehr guten Eindruck.
Wir standen beide vor dem Haus und starrten in die Fenster, als sich die Eingangstür öffnete und ein ziemlich heißer Typ in löchrigen Jeans herauskam. Er war ein Kerl Marke Sonnyboy: mittelblondes, kinnlanges Haar, das in sanften Wellen ein markantes Gesicht umspielte und dessen Spitzen wild abstanden. Sein T-Shirt lag eng an einem perfekten, sportlichen Oberkörper. Nicht zu muskulös, aber gut ausgebildete Brustmuskeln. Und ich hätte wetten können, einen Sixpack besaß er auch. Der Typ ging mit großen, weit ausholenden Schritten an uns vorbei, warf uns einen irritierten Blick zu und musterte Annes freizügigen V-Ausschnitt etwas genauer im Vorbeigehen.
»Wenn der hier wohnt, dann ist mir egal, wie die Wohnung aussieht, ich zieh ein. Und wenn ich mir mein Bett mit sämtlichen Kakerlaken Edinburghs teilen muss«, sagte Anne und folgte dem Sonnyboy mit ihrem Blick, bis er um die Ecke bog.
Ich schürzte die Lippen und versuchte vergeblich ein Grinsen zu unterdrücken. Auch wenn ich es ungern zugab, dieser Typ erweckte selbst in mir erotische Fantasien und das passierte mir wirklich nicht oft. Besser gesagt, ich konnte mich nicht erinnern, dass der bloße Anblick eines Mannes jemals solche Gefühle in mir ausgelöst hatte. Das lag vielleicht daran, dass ich bisher andere Probleme hatte, die mich davon abhielten, mich solchen Gedanken hinzugeben. Die Aussicht darauf, das Geld für das Wohnheimzimmer vielleicht bald sparen zu können, wirkte sich wohl schon jetzt befreiend auf mich aus.
Mit einem letzten Blick auf das Haus griff ich nach Annes Hand und zog sie hinter mir her den Weg entlang, den eben auch dieser heiße Kerl genommen hatte. »Hör auf zu sabbern und komm, sonst wird die Zeit zu knapp, um uns noch einen Kaffee zu genehmigen.«
Wir setzten uns an den letzten freien Tisch unter dem überdachten Wintergarten. Die Temperaturen waren ausgesprochen angenehm und das schien jeder hier noch einmal genießen zu wollen, bevor der Winter kam. Auf dem Tisch lag noch eine aufgeschlagene Zeitung, auch ein halb volles Glas Cola und ein Teller mit Resten eines Muffins standen noch auf der Seite des Tisches, an die ich mich setzte. Die Bedienung war offensichtlich noch nicht dazu gekommen, den Tisch abzuräumen. Als ich das Sportmagazin zuschlug, kam darunter ein Handy zum Vorschein. Unser Vorgänger hatte also auch sein Handy vergessen. Ich sah mich nach der Bedienung um, die gerade drei Tische weiter eine ältere Dame bediente.
Anne angelte gerade neugierig nach dem Handy, als dieses in meiner Hand anfing zu klingeln. »Geh ran! Los, mach schon!«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann doch da nicht einfach rangehen.«
»Warum nicht? Vielleicht ist es der Besitzer, der sein eigenes Handy anruft.«
»Oder vielleicht ist es meine Mutter. Dann solltest du auf jeden Fall rangehen, so bleibt mir das erspart«, sagte der Typ, der vorhin aus dem Haus gekommen war, und sah mich scharf an.
»Oh, das tut mir leid. Ist das hier dein Platz?«, stotterte ich peinlich berührt und hielt ihm das Handy hin. Er legte ein in Alufolie gewickeltes Päckchen auf die Zeitung.
»Ist es. Wenn euch die Zeitung, der Teller und das halb volle Glas nicht darauf gebracht haben, dass hier besetzt sein könnte, dann hätte es spätestens das Handy tun sollen.«
»Wir haben gedacht, es wäre nur noch nicht abgeräumt worden«, sprang Anne entschuldigend ein, als sie mein schockiertes Gesicht sah.
»Dann habt ihr falsch gedacht.« Verärgert starrte er auf mich runter und verschränkte die Arme abwartend vor seiner Brust.
Wütend zog ich eine Augenbraue hoch. »Hör mal, hier stand nirgends ein Reserviert-Schild oder so was.« Mein Magen flatterte bei dem intensiven Blick aus diesen schokoladenbraunen Augen.
»Mag sein, aber ihr müsst doch wohl zugeben, dass ich das Vorrecht auf diesen Platz habe, da meine Sachen schon hier stehen. Außer ihr wollt unbedingt sitzen bleiben und meine Rechnung bezahlen.«
Ich stand auf und zog Anne mit mir hoch. »Vor nicht einmal fünf Minuten bist du unten aus dem Haus gekommen, wo du – mit Verlaub – meiner Freundin im Vorbeigehen auch noch so tief in den Ausschnitt gestarrt hast, dass sie jetzt Sabberspuren da vorne hat.« Er fuhr sich grinsend durch sein dunkelblondes Haar. Ein paar Strähnen leuchteten im Sonnenlicht kupferfarben. »Wie kannst du so schnell schon gegessen, nebenbei noch die Zeitung gelesen und was auch immer dir einpacken lassen haben? Vielleicht ist das ja gar nicht dein Platz.«
»Ist es, ich habe nur mein Geld geholt, das hatte ich nämlich zu Hause liegen gelassen.«
Ich funkelte den Typen an. Wenn der also wirklich mit uns im gleichen Haus wohnte, dann konnte ich nur hoffen, dass wir uns nie über den Weg laufen würden. Der Typ war ja so was von arrogant. Hätte man das nicht im ruhigen Tonfall klären können? Nee, der wurde gleich aufbrausend und das machte mich wütend, weil ich so nicht gerne mit mir umspringen ließ.
»Entschuldige bitte, dass wir uns geirrt haben. Wird nicht wieder vorkommen.«
Jetzt grinste er mich auch noch auf eine herablassende, siegessichere Art an, die zugleich so sexy und verführerisch wirkte, dass mein Herz einen kleinen Satz machte. Ich schob mich wütend an ihm vorbei und zerrte Anne hinter mir her, weg von dem Café und diesem Kerl, dessen zuckende Wangengrübchen ein verbotenes Prickeln in mir auslösten.
»Und unser Kaffee?«, murrte Anne und warf dem Kerl einen giftigen Blick zu.
»Vergiss den Kaffee«, knurrte ich und verschwand mit Anne um die Ecke. »Wie kann man sich nur wegen so einer Kleinigkeit so aufführen? Boah, bin ich vielleicht stinkig.«
»Ich glaube, die Einzige, die sich hier aufgeregt hat, warst du. Er war die ganze Zeit eigentlich relativ ruhig«, sagte Anne achselzuckend.
Da hatte sie wohl recht, wenn ich noch einmal darüber nachdachte. »Es war nicht, wie er es sagte, sondern was«, verteidigte ich mich noch immer sauer.
»Das Einzige, was ich gesehen habe, waren die Funken in seinen Augen, als er dich abgecheckt hat. Der hatte eindeutig keine jugendfreien Hintergedanken.«
Ich blieb vor Haus Nummer dreizehn stehen und wandte mich Anne zu. »Sein einziger Gedanke galt mit Sicherheit nur seinem Platzanspruch.«
»Das denke ich nicht. Aber wenn er wirklich hier im Haus wohnt, dann werden wir ja bald rausfinden, wer von uns richtigliegt. Wollen wir wetten?« Anne hielt mir ihre Hand hin und ich rollte nur genervt mit den Augen und sah auf die Uhr meines Handys.
»Noch immer fünfzehn Minuten«, stöhnte ich und trat von einem Fuß auf den anderen. Je eher dieser Anwalt sich hier blicken ließ, desto geringer wurde die Chance, dass ich diesen Kerl noch einmal ertragen musste.
Ein Auto parkte am Straßenrand und ich atmete erleichtert auf, als ich Mr Wilde erkannte. Er trug wie auch schon am Vortag einen sehr vornehmen und offenbar teuren Anzug, der eigentlich gar nicht zu dem roten Mini passte, aus dem er ausstieg.
»Sie sind schon da«, sagte er erfreut und gab erst mir und dann Anne lächelnd die Hand. »Dann können wir ja sofort anfangen.« Er nickte zum Haus. »Die Wohnung in der mittleren Etage ist es.«
»Oh, das ist gut. Das bedeutet, es sind nicht zu viele Stufen. Ich hatte schon befürchtet, dass wir uns unser Fitnessprogramm in Zukunft sparen können, weil wir jeden Tag bis ganz nach oben steigen müssen.« Anne grinste Mr Wilde zwinkernd an. Sie konnte es wirklich nicht lassen. Jeder Mann war ein potenzieller Kandidat für einen kurzen Flirt.
»Als ob du jemals ein Fitnessstudio von innen gesehen hättest«, sagte ich und folgte Mr Wilde in das Haus.
Das Treppenhaus wirkte sauber, aber sehr schlicht. Ein paar der bunten Steinplatten auf dem Boden hatten Risse und die Treppen waren abgetreten. Aber für ein Haus dieses Alters war das nichts Ungewöhnliches.
Mr Wilde öffnete eine große zweiflügelige, dunkelgrüne Tür und ließ uns in einen langen, geräumigen Korridor treten; dunkler, glänzender Dielenboden, die Wände bis zur schulterhohen Sockelleiste im selben Grünton wie die Tür gestrichen. Vom Korridor gingen mehrere weiße Holztüren ab. Zwischen zwei Türen stand eine rustikale Kommode mit einer Tiffany Lampe. Der Korridor machte schon mal einen passablen Eindruck, stellte ich zufrieden fest und auch Anne wirkte sichtlich überrascht und lächelte mir beeindruckt zu.
»Fangen wir mit dem Wohnzimmer an?«, wollte Mr Wilde wissen und sah leicht nervös aus.
Stimmte etwas mit dem Wohnzimmer nicht? Wir folgten ihm durch die Tür am linken Ende des Korridors. Anne zog zischend die Luft ein und auch mein Herz setzte für einen Schlag aus. Nicht, dass das Wohnzimmer mit seiner hohen weißen Stuckdecke, dem großen Kronleuchter in der Deckenmitte und den raumhohen Fenstern nicht absolut traumhaft war, aber meine Tante musste ein Messie gewesen sein. Zumindest war sie wohl nicht die Ordentlichste, denn überall lagen Zeitungen verteilt, leere Essensverpackungen, Getränkeflaschen und es roch auch nicht besonders angenehm.
Hastig eilte Mr Wilde auf eines der beiden Fenster zu, die sich in einem halbrunden Erker befanden, und schob es nach oben. »Ich bitte das Chaos zu entschuldigen.«
»Kein Problem«, sagte Anne. »Sicher sind das die Reste der Beerdigungsfeier.«
Mr Wilde lächelte nur und schob eine große, breite Glastür auf, die das Wohnzimmer von der Küche trennte. Die Küche war im Landhausstil eingerichtet und wirkte sehr gemütlich – oder könnte gemütlich wirken, wenn dort nicht das gleiche Chaos herrschen würde wie im Wohnzimmer. Nach und nach zeigte uns Mr Wilde die ganze Wohnung. In jedem Raum würden wir Hand anlegen müssen, aber die Wohnung selbst war wirklich in einem sehr guten Zustand. Selbst das Bad war modern ausgestattet.
Im letzten Zimmer allerdings erwartete uns eine kleine Überraschung. Es war aufgeräumt und gehörte wohl irgendwann einmal einem Teenager. Die Wände waren mit Bandpostern beklebt und ein Schlagzeug stand vor dem Fenster. Eine E-Gitarre hing über einem Futonbett an der Wand. Das Zimmer eines Jungen, eindeutig.
»Wenn sie einen Sohn hatte, warum hat sie ihm die Wohnung nicht vererbt?«, flüsterte Anne mir zu.
»Keine Ahnung. Vielleicht lebt er nicht mehr und sie hat das Zimmer nur einfach so belassen, um sich zu erinnern?«, wisperte ich zurück und Anne gab sich vorerst mit dieser Antwort zufrieden.
»Ja, das könnte stimmen. Die Bands sind nicht gerade aktuell.« Sie nickte in Richtung der Poster, auf denen LedZeppelin und Nirvana abgebildet waren.
In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür und mein Herz rutschte mir in den Magen. Der Typ von vorhin stand in meiner Wohnung. »Was macht der denn hier?«, entfuhr es mir und ich sah wütend und fassungslos zwischen Mr Das-ist-mein-Platz und Mr Wilde hin und her. Auch Anne blickte mich verwirrt an.
»Ich wohne hier«, sagte der Kerl breit grinsend und schloss die Tür. »Und ihr zwei habt echt ein Problem mit anderer Leute Eigentum. Das ist mein Zimmer.«
»Was?«, keuchte ich und schlug dem Kerl auf die Finger, als er mich an meinem Oberarm packte und harsch aus dem Zimmer zerrte.
Mr Wilde räusperte sich und auf seine Stirn traten Schweißperlen. »Das ist Mr McFarlane. Ich hatte Ihnen doch von dem Untermieter Ihrer Tante erzählt.«
Anne sah mich fragend an und ich zog die Schultern hoch. Um ehrlich zu sein, hatte ich ab dem Zeitpunkt, da Mr Wilde mir in seinem Büro erklärt hatte, dass ich eine Wohnung geerbt hatte, nur noch mit halbem Ohr zugehört, da ich in Gedanken sofort angefangen hatte, Pläne für Anne und mich zu schmieden. Der Untermieter musste mir wohl entgangen sein. Ich musterte Mr McFarlane noch einmal. Ein Untermieter war vielleicht gar nicht so schlecht. Das würde noch mehr Geld für mich und eine richtige Erleichterung für mein Konto bedeuten. Vielleicht könnte ich meiner Mutter sogar ein Einzelzimmer bezahlen? Aber nicht mit ihm! Ich würde ihm kündigen und jemand anderen finden müssen. Am besten eine Frau. Sina aus unserem Wohnheim wäre doch nett. Sie würde gut zu Anne und mir passen.
Ich schüttelte die Hand von meinem Oberarm, die mich dort noch immer hielt, und sah in diese schokoladenbraunen Augen auf. »Mr McFarlane, Ihr Mietvertrag ist hiermit gekündigt.«
Mr Wilde schluckte schwer und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Aber ...« Weiter kam er nicht, denn der unverschämte Kerl neben mir fiel ihm ins Wort.
»Sagen Sie bloß? Mir gehört die Hälfte der Wohnung. Ich muss sie nicht mieten und du, kleines Mädchen, kannst mich hier nicht rauswerfen.« Der Kerl funkelte mich mit zusammengekniffenen Augen an. Lag da etwa Mitleid in seinem Blick? Sah ich etwa mitleiderregend aus?
Ich schluckte. Die Hälfte der Wohnung? Meiner Wohnung?
»Also, davon hast du aber nichts gesagt«, meinte Anne mit vor der Brust verschränkten Armen.
»Ich wusste das nicht«, knurrte ich, ohne Mr McFarlane aus den Augen zu lassen. Der Kerl grinste mich doch tatsächlich überheblich an. Außerdem war er näher getreten, um sich bedrohlich über mir aufrichten zu können, denn plötzlich umgab mich sein wilder, herber Geruch nach Aftershave und diese gut ausgeprägte Brust schwebte vor meiner Nase. Ich trat einen Schritt zurück und sah Mr Wilde an.
»Warum weiß ich davon nichts?«
»Aber ich hatte es erwähnt«, verteidigte sich der Anwalt. Er drückte mir hastig den Wohnungsschlüssel und einen Hefter mit Papieren in die Hand. »Am besten ist, Sie lernen sich erst mal in aller Ruhe kennen und dann klären Sie, was mit der Wohnung werden soll. Danach können Sie sich wieder bei mir melden.« Damit stürmte der Anwalt aus der Tür und ließ uns mit dem Kerl allein, dem offensichtlich die Hälfte meiner Wohnung gehörte.
»Wir verkaufen«, sagte ich, ohne darüber nachzudenken.
»Werden wir nicht. Zufälligerweise hänge ich an dieser Wohnung.« Der Typ trat auf Anne zu und lächelte sie verführerisch an. »Mein Name ist Ryan, schöne Frau.«
»Anne«, antwortete sie und schmachtete ihn so widerlich an, dass ich mich schütteln musste.
»Okay«, sagte ich und unterbrach damit diese Zurschaustellung sexueller Begierden. »Dann zahlst du mich aus.«
»Klar«, meinte Ryan und starrte weiter auf Annes Ausschnitt. »Gib mir das Geld, dann zahle ich dich aus.«
»Aber wir können hier unmöglich mit dir zusammen wohnen.«
Ryan sah mich an und legte den Kopf schief. Er lächelte auf eine so düstere sexy Art und Weise, die ein Kribbeln in meinem Magen verursachte, mich einschüchterte und mir durch und durch ging. Wie konnte so ein Idiot nur so umwerfend aussehen? »Dann wohnt ihr eben nicht hier. Und was heißt hier wir?«
»Ich rede von Anne und mir.«
»Also, ich hätte kein Problem damit, wenn Anne hier wohnen würde. Aber bei dir?«
Ich schnappte nach Luft und suchte nach Worten, die ich ihm entgegnen konnte, aber mir fiel einfach nichts Passendes ein, also sagte ich nur: »Dann hast du wohl Pech, denn wir ziehen am Wochenende hier ein. Und bis dahin hast du hoffentlich dieses Chaos hier beseitigt.«
Ryan wandte sich seinem Zimmer zu. »Da ich jetzt mit zwei Frauen hier wohne, ist Putzen dann wohl euer Job.« Damit schlug er die Tür zu und fünf Sekunden später dröhnte lauter Metalsound aus dem Zimmer in den Korridor.
»Na toll«, sagte Anne und warf die Arme hoch. »Zu allem Überfluss steht er auch noch auf Metallica.«
»Ach, du sei ruhig! Du hast den Typen doch geistig schon ausgezogen«, brummte ich verärgert.
»Und ich bin ehrlich genug, es zuzugeben, was man von dir nicht behaupten kann. Dabei hatte ich schon befürchtet, du holst jeden Moment deine Zunge raus und leckst über seine Brust.«
»Das ist nicht wahr«, zischte ich leise, denn wir standen noch immer genau vor seiner Tür.
»Oh doch, und ihm ist das auch nicht entgangen. Du hast sekundenlang schweigend auf seine Brust gestarrt und dich nicht gerührt. Und er hat auf dich runtergegrinst, ziemlich überheblich, möchte ich anfügen.«
Ich winkte frustriert ab und riss die Wohnungstür auf.
Eine halbe Stunde später saß Anne vor dem Tresen im Café und löffelte genüsslich Milchschaum aus ihrem Glas und ich wischte die Theke sauber.
»Wie konntest du beim Gespräch mit deinem Anwalt nur überhören, dass es einen weiteren Erben gibt?«
»Ich war eben etwas abgelenkt. Als ob du nicht ständig mit den Gedanken woanders wärst. Du verlierst ja schon deine Konzentrationsfähigkeit, wenn ein Typ an dir vorbeigeht und dich dabei ansieht.« Ich legte das Wischtuch beiseite und füllte ein Glas mit Limonade, um es an einen der Tische zu bringen. Am liebsten wollte ich mich selbst ohrfeigen, weil ich eine so wichtige Tatsache einfach nicht mitbekommen hatte.
Eigentlich war ich jemand, der jegliche Informationen wie ein Schwamm in sich aufsaugte. Aber in letzter Zeit war ich immer öfter unkonzentriert. Das Loch auf meinem Konto nagte an mir und ließ mich kaum noch atmen. Der Pflegeplatz für meine Mutter, gleichzeitig das Studium, ich war einfach am Ende. Ich wusste nicht einmal, wie ich die Heimkosten für den nächsten Monat noch aufbringen sollte. Aus diesem Grund hatte ich sogar schon darüber nachgedacht, das Studium aufzugeben und Vollzeit zu arbeiten. Hinzu kam, dass sich dieses von mir gefürchtete Datum näherte, das in mir Panikattacken verursachte, das ich aber trotzdem nicht vergessen durfte. Diese Wohnung hätte ein kleiner Befreiungsschlag für mich sein können, zumindest was meine finanziellen Probleme betraf. Wenn wir zu dritt dort wohnten, dann würden auch die Nebenkosten durch drei geteilt. Vielleicht könnte diese Erleichterung zusammen mit Annes Mietzahlung schon ausreichen, um die Unterbringungskosten für meine Mutter zu tragen.
»Dieser Ryan ist vielleicht ein Blödmann, aber ich denke, wir kommen schon klar mit ihm«, sagte ich zu Anne.
»Um mich mach ich mir da keine Sorgen, aber um dich. Dieses Sahneschnittchen hat dich gefressen. Ihr zwei unter einem Dach, da befürchte ich, ihr bringt euch gegenseitig um oder ihr vögelt euch um den Verstand. Letzteres wäre für dich zu hoffen.«
»Dann hoffe lieber, dass er überlebt und ich dir noch genug von ihm übrig lasse, damit du dann deinen Spaß mit ihm haben kannst.«
»Aber du putzt seinen Dreck weg. Ich werde bestimmt nicht seine Putzfrau. Ich möchte nur mit ihm spielen.«
»Du willst doch mit jedem Typen spielen.« Ich warf ein Geschirrtuch nach ihr. Als sie es von ihrem Kopf riss, hinterließ es ein kleines Chaos in ihrer Frisur. Anne stöhnte, als sie in den Spiegel starrte, der an der Wand hinter mir angebracht war, und kämmte ihre Haare mit den Fingern wieder glatt.
»Ich hab eben noch nicht den Richtigen gefunden. Außerdem sind wir jung. Wir sollten uns ausprobieren. Ich kann unmöglich für alle Zeiten mit dem ersten oder zweiten oder vierten Mann zusammenbleiben, nur weil es überholte Konventionen als schicklich ansehen. Die Zeiten sind längst vorbei. Spätestens seit Sex and the City weiß die ganze Welt, dass auch Frau ein Recht auf Befriedigung hat.«
»Da hast du wohl recht. Keine Frau verdient es, an einen Mann gebunden zu sein, der es ihr nicht richtig gut besorgen kann«, sagte ich sarkastisch.
Anne lachte und warf mir das Geschirrtuch zurück ins Gesicht. »Als ob du in den letzten sieben Monaten überhaupt irgendwann von einem Mann befriedigt worden bist. Dein Mr Powerful schiebt doch schon Überstunden und dein Batterieverbrauch ist höher als der Stromverbrauch von ganz Edinburgh.«
Hitze schoss mir ins Gesicht, und das, obwohl Anne maßlos übertrieb. Aber seit sie meinen kleinen elektrischen Freund in der Schublade meines Nachttisches entdeckt hatte – und nicht im Papierkorb, wie sie vermutete, als sie mir dieses Ding geschenkt hatte –, machte sie sich ständig lustig über mich. Dabei besaß sie selbst auch so einen netten Spaßmacher. »Du übertreibst.«
»Das müsste ich nicht, wenn du außer Mr Powerful auch mal einen anderen Freudenspender in dein Schatzkästchen lassen würdest.«
»Du weißt genau, ich habe keine Zeit für Dates.«
»Dann musst du dir welche nehmen oder willst du als einsame alte Strick Liesel mit zwanzig Katzen sterben?«
Annes Besorgnis um mein Liebesleben war einer unserer Hauptstreitpunkte. Was meine Gefühlswelt betraf, war sie an die Stelle meiner Mutter gerückt, seit diese sich nicht mehr um mich kümmern konnte. Aber manchmal konnte es nervenaufreibend sein, wenn Anne sich so aufspielte. Ich hatte ihr schon verboten zu versuchen, mein emotionales Trauma zu reparieren. Denn ich zog es vor, dieses Trauma in mir zu vergraben – wobei vergraben hieß, jeden Tag an meinen Schuldgefühlen zu zerbrechen, denn ich war eine Überlebende.
Anne hatte schon immer so etwas wie die leitende Funktion in unserer Freundschaft inne. Das hatte bereits an dem Tag begonnen, an dem wir beide uns zum ersten Mal begegnet waren. Wir waren damals sieben Jahre alt gewesen, sie die Tochter der Arbeitgeber meiner Mutter, die im Haus von Annes Eltern zeitgleich Haushälterin und Kindermädchen gewesen war, ich die Tochter der Angestellten, die zum ersten Mal im Leben ein Haus gesehen hatte, das groß genug für eine ganze Fußballmannschaft gewesen wäre. Heute, dreizehn Jahre später, war Anne alles, was mir noch geblieben war. Anne war meine Familie geworden.
»Bis ich so alt bin, wird es noch eine Weile dauern«, verteidigte ich mich. Aber ich wusste am besten, dass das eine lahme Ausrede war. Denn man musste nicht alt werden, um zu sterben. Viel zu oft wurde man auch von einem Augenblick auf den anderen aus dem Leben gerissen. So wie mein Vater, der im einen Moment noch vor mir im Auto gesessen hatte und Sekunden später von einem Transporter zerquetscht wurde. Bei der Erinnerung legte ich meine Hand auf die Seite, ein Stück unterhalb des Rippenbogens, dorthin, wo ich von diesem Unfall eine acht Zentimeter lange Narbe behalten hatte. Ein Stück Glas der Fensterscheibe hatte an dieser Stelle gesteckt. Ich war glimpflich davongekommen. Meine Eltern nicht.
Anne sah mich traurig an. Sie hatte längst durchschaut, wann ich meine Hand auf die Narbe legte. Immer dann, wenn mich die Erinnerung übermannte und der Schmerz zurückkam. »Lass uns erst mal umziehen in zwei Tagen und dann, wenn wir uns eingelebt und eingerichtet haben, dann reden wir über Dates. Aber ich lasse nicht zu, dass du dich wegen einem Idioten wie Kyle aufgibst. Du brauchst mehr in deinem Leben, sonst verlierst du irgendwann dich selbst in all diesem Mist, den du mit dir rumschleppst.«
Lucy
Das Pflegeheim, in dem meine Mutter untergebracht war, befand sich in Portobello, ganz in der Nähe des Strandes. Wie jeden Tag, wenn ich sie besuchte, saß sie in ihrem Sessel vor dem Fenster und starrte auf das Meer. Dieser Ausblick hatte scheinbar eine beruhigende Wirkung auf sie. Manchmal, wenn ein Pfleger oder ein Arzt sie von dem Fenster wegholte, hatte ich den Eindruck, dass sie nervös oder aufgebracht wirkte. Vielleicht war das aber auch nur Einbildung von mir, weil ich mir so sehr wünschte, dass zumindest eine geringe Chance darauf bestand, dass sie noch irgendwo in diesem Körper war und sie nur keine Kontrolle mehr über ihn hatte. Aber meist wischte ich diesen Wunsch schnell wieder weg, denn die Vorstellung, ihr Geist war dort drinnen gefangen, unfähig, mit der Außenwelt zu kommunizieren … Nein, das durfte auf gar keinen Fall so sein.
Während des Unfalls hatte der Seitenairbag versagt. Meine Mutter Amanda war mit dem Kopf gegen die Scheibe geschleudert worden und hatte mehrere Hämatome am Gehirn davongetragen. Sie lag einige Zeit im künstlichen Koma und nachdem sie aufgewacht war (was man in ihrem Zustand so aufgewacht nennen konnte), hatten die Ärzte recht schnell festgestellt, dass die Hirnverletzungen nicht ohne Folgen geblieben waren. Meine Mutter war seit dem Unfall ein Pflegefall. An jenem Tag vor zwei Jahren auf der Kreuzung Willowbrae Road und Northfield Broadway hatte ich beide Eltern verloren. Und das nur, weil ein junger Mann im Drogenrausch in seinem Transporter mit überhöhter Geschwindigkeit in den Ford Escort meines Vaters gerast war, als wir gerade auf dem Heimweg vom Hollyrood Park gewesen waren. Dort, wo ich den letzten perfekten Nachmittag mit meinen Eltern verbringen durfte, bevor ein einziger Augenblick alles, was mir wichtig war, einfach fortriss.
»Hallo Mum«, begrüßte ich meine Mutter, lehnte mich über sie und küsste sie auf die Stirn. Wie immer reagierte sie nicht. Ich zog mir den Besucherstuhl heran und setzte mich neben sie. Es war auch nach all der Zeit noch immer schwierig für mich, sie so zu sehen. Eigentlich machte es alles sogar noch schlimmer. Die meiste Zeit des Tages konnte ich die Erinnerungen an den Unfall verdrängen, aber sobald ich meine Mutter sah, kochten die Bilder immer wieder in mir hoch.
Mein Vater saß vor mir, den Kopf auf die Brust gesunken. Blut tropfte ihm aus Mund und Nase. Sein Unterkörper war unter dem Lenkrad eingeklemmt. Ich versuchte, ihn mit meinen Rufen zu wecken, und hatte dabei nicht einmal meine eigenen Verletzungen bemerkt. Alles lief wie ein dumpfer Traum ab. Meine Mutter stöhnte leise. Draußen versuchten Leute die Türen zu öffnen. Meine Mutter auf der Beifahrerseite kam als Erste frei, während Vater und ich von der Feuerwehr herausgeschnitten werden mussten. Ich werde nie vergessen, wie einer der Sanitäter nach dem Puls meines Vaters gefühlt hatte und dann mit einem Kopfschütteln seinem Partner signalisierte, dass er tot war. Die Schreie, die sämtliche anderen Geräusche um uns herum zerschnitten, waren meine eigenen gewesen. Ich konnte sie noch heute in meinem Kopf widerhallen hören. Noch Monate später war ich wie betäubt. Selbst im Gerichtssaal. Weder konnte ich mich an die Gesichter der Anwälte und des Richters erinnern noch an ihre Fragen und das, was gesprochen wurde. Das einzige Gesicht, das ich klar wahrgenommen hatte, das sich noch heute in meine Albträume schlich, war das des Fahrers des weißen Transporters: Ein vom Drogenkonsum vorzeitig gealtertes, eingefallenes Gesicht, das nicht zu einem Zwanzigjährigen passte. Ich wusste, dass man sich Mühe gegeben hatte, ihm ein gepflegtes Äußeres zu geben, aber der schwarze Anzug passte nicht zu ihm. Man hatte wohl auch darauf geachtet, dass er vor der Verhandlung nicht an Drogen kam, denn er wirkte unkonzentriert und fahrig. Sechzehn Monate Haftstrafe für den Tod eines Menschen empfand ich noch heute wie einen Schlag ins Gesicht.