Lügen in Zeiten des Krieges - Louis Begley - E-Book

Lügen in Zeiten des Krieges E-Book

Louis Begley

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Beschreibung

Lügen in Zeiten des Krieges erzählt die Geschichte einer Kindheit in Polen. Maciek, Sohn jüdischer Eltern, wächst – in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts – behütet in einem wohlhabenden Arzthaushalt auf, bis der Herbst 1939 mit einem Schlag das Schicksal seiner Familie verändert. Louis Begley erzählt in seinem ersten Roman die Geschichte unseres Jahrhunderts, eine Geschichte, die hier mit den mal märchenhaft, mal brutal einfachen Worten des jungen Maciek geschildert wird.

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Seitenzahl: 295

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Lügen in Zeiten des Krieges erzählt die Geschichte einer Kindheit in Polen. Maciek, Sohn jüdischer Eltern, wächst behütet in einem wohlhabenden Arzthaushalt auf, bis der Herbst 1939 mit einem Schlag das Schicksal seiner Familie verändert. Gemeinsam mit seiner Tante Tanja, einer eigensinnigen und klugen Frau, muß Maciek untertauchen.

Ruth Klüger schrieb in der ZEIT: »Die Ausgrabung der verschütteten Kindheit und ihre Verwertung in einer ›Erfindung‹ haben offensichtlich einen erstklassigen Romancier zutage gebracht.« Und Marcel Reich-Ranicki lobte im »Literarischen Quartett«: »Ein einzigartiges Zeitdokument und ein ergreifender Roman.«

Louis Begley wurde 1933 in Polen geboren. 1947 emigrierte seine Familie in die USA. Er studierte in Harvard Literatur und Recht und arbeitete von 1959 bis 2004 als Anwalt in New York. Lügen in Zeiten des Krieges ist sein erster Roman, der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane Zeig dich, Mörder (2015) und Erinnerungen an eine Ehe (st 4549).

Louis Begley

Lügen in Zeiten des Krieges

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 11. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 2546.

© Louis Begley 1991

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1994

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie

der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlagfoto: Joe J. Heydecker

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74556-4

www.suhrkamp.de

Für meine Mutter

Ein Mann von fünfzig Jahren könnte er sein, oder auch etwas älter, schon leicht gebeugt, ein Mann mit freundlichem Gesicht und traurigen Augen; sagen wir, er lebt verhältnismäßig angenehm in einem friedlichen Land. Er umgibt sich gern mit Büchern, arbeitet womöglich in einem angesehenen Verlag oder lehrt an einer Provinzuniversität, wie man Literaturen miteinander vergleicht. Vielleicht vermittelt er auch Autoren, Manuskripte von Dissidenten liegen ihm besonders am Herzen, Texte, die Zeugnis ablegen gegen Unterdrückung und Unmenschlichkeit. Abends liest er manchmal lateinische Klassiker. Rückübersetzen kann er nicht mehr – die Zeiten sind vorbei. Latein hat er bloß lückenhaft gelernt, immer nur, wenn ihm wieder einmal ein Examen bevorstand, und auch dann erst in letzter Minute; gründlich sind seine Kenntnisse nie gewesen. Aber zum Glück kann er die Bedeutung eines Textes noch erfassen; auch sein Erinnerungsvermögen ist ihm erhalten geblieben. Er bewundert die Äneis. In ihr fand er zum ersten Mal literarisch ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, am Leben geblieben, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren, unter ihnen so viele, die das Überleben eher verdient hätten als gerade er.

Er achtet darauf, die Metapher nicht zu nahe an sich heranzulassen. Seine Heimatstadt in Ostpolen war kein Ilium. Ein SS-Mann, der ungerührt mit der Reitpeitsche auf einen alten Mann einschlägt, auch wennder schon nicht mehr wie ein Mensch aussieht, könnte zwar gut für Pyrrhus’ blutigen Mord an Priamus stehen – aber wo bleiben in diesem sinnlosen Tableau die mitstreitenden goldhaarigen Götter und Göttinnen? Er hat gesehen, wie ein alter Mann gnadenlos totgeschlagen wurde; der kahlköpfige Alte hatte sich hinknien müssen, die Peitschenhiebe zielten nur auf seinen blanken Schädel, das Blut strömte ihm übers Gesicht, abwischen konnte er es nicht, die Hände waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden. Welche Göttin hätte durch diese Greueltat gerächt werden sollen, und wodurch hätte man sie beleidigt? War es etwa der zürnende Juppiter gewesen, der den Sondertrupp von alten Juden zu der überaus nützlichen Arbeit der Gullyreinigung abkommandiert hatte, die sie, auf den Knien liegend, absolvierten, bewacht vom jüdischen Ordnungsdienst mit schlagbereiten Gummiknüppeln?

Jetzt aber werden unserem Mann die Metaphern vertrauter: Als Äneas, von seiner unsterblichen Mutter vorsorglich in dichten Nebel gehüllt, in Karthago den Touristen spielt, sehen seine erstaunten Augen an den Wänden von Didos Palast kunstvolle Bilder mit blutigen Schlachtszenen aus dem Trojanischen Krieg. Hat unser Mann nicht auch gleich nach dem Ende seines Krieges die ersten Bildbände mit Photos von Auschwitz, Bergen-Belsen und Buchenwald betrachtet, nackte, zu Skeletten abgemagerte Männer und Frauen gesehen, die noch lebten und in die Kamera starrten? Wüst auf einen Haufen geworfene Leichen? Warenlager von Brillen, Uhren und Schuhen? Welchen Sinn hat da sein Überleben? Wenn Vater Äneas mit dem kleinen Julus aus Troja flieht, erfüllt er damit ein bindendes Versprechen: Er wird das ewige Rom gründen; kraft Juppiters Willen und mit etwas Zungenakrobatik wird Ascanius-Julus zum Ahnherrn der Julischen Cäsaren. Unser Mann, Treibgut, untergetaucht und hochgespült, ausgelaugt und gestrandet, kann keine Bestimmung für sich erkennen. Seine Erinnerungsbilder sind Stoff für Alpträume, mit Mythen haben sie nichts gemein.

Unser Mann meidet Holocaust-Bücher und läßt sich bei Essenseinladungen nicht auf Plaudereien über Polen im Zweiten Weltkrieg ein, auch wenn die schönen Augen seiner Tischdame ihm parfümierten Trost versprechen. Berichte über Folterungen von Dissidenten und politischen Gefangenen dagegen liest er wieder und wieder, jedes Verhör stellt er sich bis in alle Einzelheiten vor. Wie lange hätte es wohl gedauert, bis er schreiend zusammengebrochen und zu Kreuze gekrochen wäre? Ob er sofort weich geworden wäre oder erst, nachdem sie ihm die Finger gebrochen hätten? Wen hätte er verraten und wie schnell? Er ist ein Voyeur des Bösen geworden, starrt gebannt auf die grauenhaften Szenen, die vor seinem inneren Auge abrollen; manchmal weiß er nicht, welchen Part er darin spielt. Mußte das Kind, das er einmal war, sich so entwickeln, ist das der Preis für seine Weise des Überlebens?

Für Catull empfindet er eine Affinität anderer Art, die aufblitzt wie ein Leuchtfeuer über schwarzem Wasser. Er malt sich die Kindheit des Dichters aus, das Leben in der Umgebung von Verona, das anheimelnde Landhaus am Gardasee, die schnittige Jacht. Ein gütiger Vater begleitet Catull nach Rom und ebnet ihm die Wege. Der Dichter liebt Lesbia, die schöne Nymphomanin Lesbia, nicht begehrlich, wie jedermann Frauen liebt, sondern mit der Liebe, die ein Römer für seine Söhne und Schwiegersöhne empfindet. Leider ist die Liebe zu Lesbia eine Krankheit. Diese treulose Lesbia,die Catull mehr als sich und seine Sippe liebt, spielt üble Spiele – »an Kreuzwegen, in schmutzigen Seitengäßchen rupft sie die hochgeborne Römerjugend!« Nun will der Dichter nicht mehr, daß sie treu ist, selbst wenn das möglich wäre. Er möchte nur selbst gesunden, die quälende Krankheit abschütteln, die ihm alle Freude vergällt hat. Ipse valere opto et taetrum hunc deponere morbum … Diese Zeilen haben unseren Mann jahrelang verfolgt, er meint Catulls Krankheit bis auf den Grund zu kennen, auch er wollte nichts anderes mehr, bloß noch gesunden, um jeden Preis. Nur trifft auch diese Metapher nicht. Seine Krankheit geht tiefer als die des Dichters. Catull zweifelt keinen Augenblick daran, daß er geboren ist, um glücklich zu sein und Freude zu empfinden angesichts der guten Taten, die er früher begangen hat, benefacta priora voluptas. Das sind die Götter ihm schuldig, da er ihnen treu war. O di, reddite mi hoc pro pietate mea. Der Mann mit den traurigen Augen ist überzeugt, daß er für alle Zeiten verändert ist, wie ein geprügelter Hund, und daß kein Gott ihn heilen kann. Gute Taten, auf die er zurückblicken könnte, hat er nicht getan. Trotzdem, es hilft ihm, das Gedicht wieder und wieder zu sagen. Heulen vor Verzweiflung wird er nicht.

Er denkt an die Geschichte des Kindes, aus dem so ein Mann geworden ist. Maciek soll das Kind heißen, wie der kleine Maciek in dem alten Lied, der feine Kerl, der unermüdlich immer weitertanzt, solange die Musik spielt.

I

Geboren bin ich ein paar Monate nach dem Reichstagsbrand, in T., einer Stadt mit ungefähr vierzigtausend Einwohnern in einem Teil Polens, der vor dem Ersten Weltkrieg zur K.u.K.-Monarchie gehört hatte. Mein Vater war der angesehenste Arzt in T. Keiner konnte ihm das Wasser reichen, weder der Chef des Krankenhauses, ein katholischer Chirurg, noch die beiden praktischen Ärzte, meines Vaters Kollegen. Nur mein Vater hatte Diplome von der Universität Wien; nur er hatte vom ersten gimnazjum-Jahr an als zeller gegolten und die in ihn gesetzten Erwartungen glänzend erfüllt, indem er eine jener goldenen Uhren gewann, die Kaiser Franz Joseph jedes Jahr an die besten Abiturienten im Kaiserreich verteilen ließ; und keiner tat es ihm gleich an aufopfernder Freundlichkeit und Fürsorge für die Patienten. Meine Mutter, eine Schönheit aus Krakau, war viel jünger als er; sie starb im Kindbett. Die Heirat war durch einen Ehevermittler zustande gekommen, aber der Doktor und die Schönheit verliebten sich so schnell und heftig ineinander, daß man in der Familie die Geschichte wie ein Märchen erzählte, und mein Vater schwor, er werde den Rest seiner Tage nur der Erinnerung an meine Mutter und dem Leben mit mir widmen. Er hielt sein Wort sehr lange.

Meine Mutter hatte eine ältere Schwester, die noch schöner als sie war und jetzt als einziges Kind auch viel reicher; alle waren sich einig, daß diese Schwester wohl nie heiraten würde, auch nicht ihren verwitweten Schwager. In der hermetischen Welt reicher galizischer Juden hing ihr ein Gerücht an: Man munkelte, sie habe sich mit einem katholischen Maler eingelassen, und bei dem Versuch auszureißen seien die beiden erwischt worden. Der Künstler habe sich in seinem Verhalten offenbar von der angenehmen Aussicht auf ihre Mitgift leiten lassen; als aber mein Großvater einschritt und seinen lodernden Zorn gleichmäßig auf die Religion und das Boheme-Leben des Freundes meiner Tante verteilte, sei dessen Hoffnung auf die Mitgift zerronnen, und er habe sein Verhalten dementsprechend geändert. Wäre es um eine andere Frau gegangen, dann hätten akzeptablere Liebhaber von Schönheit und Geld und erst recht ihre Mütter und alle weiblichen Verwandten, die sonst noch nach Bräuten Ausschau hielten, derlei Geschichten wohl geflissentlich vergessen. Aber Tanja, so hieß meine Tante, Tanja konnte auf soviel Nachsicht nicht hoffen. Ihre Respektlosigkeit und ihre unerbittlich scharfe Zunge waren genauso Stadtgespräch wie ihr Eigensinn und Jähzorn. Man bezeichnete sie als weibliche Variante ihres Vaters: Der war ein Mann, den sich zwar jeder zum Geschäftspartner wünschte, den aber kein denkender Mensch ernsthaft als Ehemann oder Schwiegersohn in Betracht gezogen hätte.

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