Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Finanzkrise ist nach wie vor überall auf Zakynthos zu spüren. Das neue geplante Hotelprojekt verspricht viele, dringend benötigte Arbeitsplätze. Als einer der sechs Bewerber um die Stelle des Architekten tot aufgefunden wird, ist die ganze Insel in Aufruhr. Das Opfer, ein alteingesessener Zakynthier, wurde hinterrücks erstochen. Ganz klar: Mord. Für Kommissarin Eleni Mylona präsentieren sich mehr als genug Verdächtige. War es einer seiner Konkurrenten? Oder vielleicht seine, von den ständigen Seitensprüngen ihres Mannes abgebrühte, Ehefrau? Zum dritten Mal lädt Antonia Pauly auf die griechische Insel Zakynthos ein. In einer Geschichte um die Gnadenlosigkeit der Finanzkrise und deren verheerenden Auswirkungen auf die Menschlichkeit ist Kommissarin Eleni Mylona erneut gefragt. Korruption, Rache und Konkurrenzkampf vermischen sich in das Blau des Ionischen Meeres, eine Farbe, die verführerisch zum Baden lockt. Bis zum ertrinken.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 256
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lügenblau
Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Erste Auflage 2017
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-95771-140-3
eISBN: 978-3-95771-141-0
Antonia Pauly
Kommissarin Mylona und die lieben Konkurrenten
Lügenblau
Autor
Antonia Pauly
Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Schriften
Constantia
Covergestaltung
Marti O´Sigma
Coverbild
Marti O’Sigma: ›Blaumeer‹
Lektorat
Britta Voß
Druck und Bindung
Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Mai 2017
ISBN: 978-3-95771-140-3
eISBN: 978-3-95771-141-0
Handlung und alle agierenden Personen sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit reellen Personen ist rein zufällig.
Für Chloe Sophia,
bestes Produkt der Insel Zakynthos
»Denn ich sage: Das Recht ist ein Unding, ein Nichts!«
Aristophanes, Die Wolken, 3. Szene, 900
Die Inseln im Ionischen Meer liegen unter der ersten drückenden Hitzewelle dieses Sommers. Schon am Morgen klettert das Thermometer auf 30 Grad. Im Laufe des Vormittags kommt der Meltemi auf. Der Wind aus Nordost bringt zwar ein wenig Abkühlung, schürt aber die Feuer an, die wegen der extremen Trockenheit überall im Land ausbrechen. Mehr als hundert Wald- und Buschbrände haben in den vergangenen Tagen in Griechenland gewütet.
Im Gebäude des Ersten Kommissariats der Ionischen Inseln an der Hafenpromenade der Stadt Zakynthos ist es stickig. Der große Deckenventilator, der noch im vergangenen Sommer für ein wenig Erfrischung gesorgt hat, ist kaputt und kann aufgrund der Sparmaßnahmen, die das ganze Land zu tragen hat, bis auf Weiteres nicht ersetzt werden. Eleni Mylona erhebt sich, um ein Fenster zu öffnen und setzt sich wieder an ihren Platz. Die Kommissarin und ihre beiden Inspektoren reden wie so oft über die Auswirkungen der Krise und den Kurs der Regierung. »Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass all diese Sparpakete uns aus der Krise herausführen«, meint sie mit einem lakonischen Achselzucken.
»Solange dafür die Gelder weiter so üppig aus deiner ehemaligen Heimat fließen ...« Nionio Spirakis, der jüngere Inspektor, grinst Eleni, die zwei längere Phasen ihres Lebens in Deutschland verbracht hat, an.
Die Kommissarin nippt an ihrem Kaffee und denkt an Zoi, ihre in Köln lebende Schwester, mit der sie regelmäßig sonntags telefoniert, wobei sie nicht nur Privates austauschen, sondern sich auch gegenseitig über die politische Stimmung am jeweiligen Wohnort informieren. »Was Griechenland meiner Meinung nach braucht, ist ein radikaler Umschwung! Nur leider fällt mir kein Politiker ein, dem ich den notwendigen Biss zutraue. Bisher hat sich noch jeder früher oder später von Frau Merkel und Co. gängeln lassen!«
»Well, das ist wohl wahr.« Spirakis lehnt sich zurück und legt den linken, mit einem Westernstiefel bekleideten Fuß auf sein rechtes Knie. »Und so lange die das Sagen hat, werden wir hier den Gürtel wohl immer noch enger schnallen müssen.«
»Das wollen wir doch nicht hoffen«, wirft der sonst eher wortkarge ältere Inspektor Gamiras ein und erschaudert bei dem Gedanken. »Weitere Lohnkürzungen kann ich nämlich nicht verkraften.« Dabei wägt er die Summen ab, die er in die Ausbildung seiner beiden Kinder steckt und denkt an die Kredite, die er für diverse Anschaffungen des modernen Lebens aufgenommen hat. Satellitenfernsehen, Spülmaschine, Computer und Handys – die Konsumwelle hat Inspektor Gamiras und seine Familie schon vor Jahren mit sich fortgerissen.
Als könne sie seine Gedanken lesen, erinnert Eleni sich plötzlich an das Vor-Konsum-Griechenland, an die 70-er Jahre, die sie mit ihrer Familie in dem Strandort Nea Michaniona verbracht hat. Die Eltern hatten dort, nach einigen Jahren als Gastarbeiter in Deutschland, ein kleines Restaurant geführt, während sie und Zoi die deutsche Schule in Thessaloniki besuchten. Damals, so stellt sie fest, war Griechenland zwar arm, aber sauber gewesen. Der EWG-Eintritt 1981 hatte dem Land in ihren Augen gar nicht gut getan. Plötzlich hatten die Griechen gedacht: Jetzt sind wir Europäer, jetzt müssen wir auch so leben wie andere Europäer! Und um diesen Standard zu erreichen und zu halten, lebten sie immer weiter auf Pump. Aus diesem Verhalten, gepaart mit der Währungsumstellung, der Korruption im Land und den Unsummen, welche die Ausrichtung der Olympischen Spiele verschlungen haben, resultiert nach ihrer Überzeugung die aktuelle Krisensituation.
Rasch verscheucht sie ihre nostalgischen Gedanken, als Spirakis unvermittelt verkündet: »Ich für meinen Teil habe endlich eine Möglichkeit gefunden, den Sparmaßnahmen der Regierung entgegenzuwirken«, bemerkt er augenzwinkernd und fährt fort: »Zumindest kann ich meine Wasser- und Stromkosten bald erheblich senken.« Einen Augenblick lang genießt er die erwartungsvollen Blicke seiner Kollegen, bevor er mit seiner Neuigkeit herausrückt: »Ich ziehe mit Tassoula zusammen! Ein Singlehaushalt ist mit unseren Einkommen ja gar nicht mehr finanzierbar. Da ist so eine Art WG, in der man sich die Kosten teilt, am vernünftigsten.« Mit der Kriminaltechnikerin Tassoula ist der gutaussehende junge Mann seit einem knappen Jahr liiert. Aber dass die beiden nun schon eine gemeinsame Wohnung anstreben, verblüfft Eleni doch sehr.
»Schau an! Der liebe Nionio wird sesshaft«, schmunzelt sie. »Wer hätte das gedacht, nach all den Jahren, in denen du zwischen dem Winterquartier bei deiner Mutter und diversen Sommerunterkünften hin und her gependelt bist.« Ganz zu schweigen von der Pendelei zwischen verschiedenen Frauen, der er sich bis vor kurzem noch hemmungslos hingegeben hat, denkt sie im Stillen noch. »Habt ihr denn schon etwas Passendes für eure WG gefunden?« Dem Wort Wohngemeinschaft verleiht sie einen unüberhörbar ironischen Ton.
»Well, wir sind auf der Suche. Das Angebot auf der Insel ist eigentlich groß genug, weil viele jetzt ihre Sommerhäuser ganzjährig vermieten. Aber Tassoula will nicht irgendwo am Strand oder in der Pampa wohnen, sondern in der Stadt bleiben, und da sieht es deutlich schwieriger aus.«
»Na dann, jeder ist seines Glückes Schmied!«, beendet die Kommissarin die Unterhaltung und geht nahtlos zum Tagesgeschäft über, indem sie ihren Mitarbeitern berichtet, was am gestrigen Montag, an dem sie den beiden freigegeben hatte, los war. »Den Verdächtigen von dem Raubüberfall auf die Tankstelle am Wochenende musste ich wieder laufen lassen. Keine Beweise und drei Leute, die mit klassischer Unschuldsmiene beteuern, ihn zum entscheidenden Zeitpunkt am anderen Ende von Zakynthos gesehen zu haben.«
»Hätten den Kerl wohl härter rannehmen müssen! Auf die weiche Tour kriegt man von so einem kein Geständnis«, stellt Gamiras unzufrieden fest.
»Sparen Sie sich bitte die ewige Kritik an meinen Arbeitsmethoden«, entgegnet Eleni, ein wütendes Funkeln in ihren dunklen Augen. Seit ihrer Ankunft auf Zakynthos vor viereinhalb Jahren kämpft sie gegen den Unmut des deutlich älteren Beamten an, der sich immer noch schwer damit tut, eine Frau als Vorgesetzte zu akzeptieren. »Ich musste ihn, wie gesagt, auf freien Fuß setzen, weil die 24-Stunden-Frist vorüber war. Dann hat es gestern Nachmittag gebrannt in … Moment.« Sie verschiebt einige Papiere auf der Tischplatte vor sich. »Ah ja, in Orthonies! Das Feuer konnte aber wohl nach einigen Stunden unter Kontrolle gebracht werden. Ich habe über ERZ unseren üblichen Aufruf verbreiten lassen.«
Bei wetterbedingter akuter Brandgefahr gibt die Polizei in ganz Griechenland über die lokalen Radiosender, wie die Elliniki Radiophonia Zakynthou, Appelle an die Bevölkerung heraus, in denen davor gewarnt wird, glimmende Zigaretten wegzuwerfen oder offene Feuer zu entzünden und Vorsicht beim Umgang mit leichtbrennbaren Materialien oder beim Gebrauch von Maschinen mit Funkenflug walten zu lassen.
Kommissarin Mylona fasst weiter zusammen: »Gestern am Abend gab es einen Verkehrsunfall in Argassi, bei dem ein junger Mopedfahrer schwer verletzt wurde. Dazu könntest du gleich noch das Protokoll schreiben, Nionio. Und Sie«, wendet sie sich an den Älteren, bei dem sie die förmliche Anrede beibehält, »kümmern sich bitte weiter um die Diebstähle in dem Hotel in Tsilivi. Bringen Sie die Touristen bitte dazu, ihre Anzeigen gegen dieses Zimmermädchen zurückzuziehen.«
»Warum denn?«, protestiert Gamiras. »Diebstahl ist Diebstahl.«
»Eben nicht«, entgegnet die Kommissarin. »Das arme Ding schuftet sieben Tage die Woche, zwölf Stunden täglich für einen Hungerlohn. Wahrscheinlich hat sie aus purer Not gestohlen.«
»Noch dazu nur Bargeld«, stimmt Spirakis zu. »Und immer nur kleinere Summen.«
Eleni nickt vehement. »Genau! Wir wollen ihr doch nicht wegen einer solchen Lappalie die ganze Zukunft versauen. Also bitte, sorgen Sie dafür, dass wir den Fall ad acta legen können.«
»Hm«, brummelt Gamiras unzufrieden.
»Ach ja«, gibt Eleni abschließend noch bekannt, »unser Antrag auf Beschaffung von Büromaterialien wurde abgelehnt. Es ist also weiterhin ein sparsamer Umgang mit Papier, Kugelschreibern etc. angesagt.«
»Das mit dem Papiersparen ist ja easy, nachdem unser Drucker hier oben schon seit Monaten nicht mehr funktioniert«, witzelt Spirakis.
»Der Antrag auf einen neuen wird noch geprüft«, weist Eleni ihn zurecht. »Solange wird eben weiter alles auf dem Gerät unten im Eingangsbereich ausgedruckt.« Als Chefin ist sie dafür zuständig, dass die internen Sparmaßnahmen eingehalten werden, aber auch ihr machen die dadurch erschwerten Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Die Kommissarin wendet sich endlich dem ziemlich hohen Aktenberg auf ihrem Schreibtisch zu, doch viel Zeit, diesen zu verkleinern, bleibt ihr nicht. Der Uniformierte von der Pforte, wo die Telefonnotrufzentrale untergebracht ist, stürzt aufgeregt in das Büro in der ersten Etage, wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und berichtet atemlos: »Ein Mann hat angerufen. Es gibt eine Leiche am Aussichtspunkt zum Navagio!«
Eine kräftige Boe des Meltemi lässt das Bürofenster scheppernd zufallen.
Es dauert nur wenige Minuten, bis das Team den Amtsarzt und die Spurensicherung zum genannten Ort bestellt hat und selbst in einem Dienstwagen in nordwestlicher Richtung über die Insel braust. Die ersten Kilometer führen durch eine weite flache Ebene, und Nionio Spirakis, der am Steuer sitzt, tritt das Gaspedal voll durch. Hinter Agios Dimitrios muss er das Tempo drosseln. Die Straße wird hier schlechter und führt in steilen Kurven bergan. Die sanfte Landschaft der Ebene verwandelt sich jäh in wildes, raues Karstland. Bizarre Felsen aus porösem Kalkstein und karges Buschland säumen den Weg. In der Gegend um Orthonies, die sie passieren müssen, um ihr Ziel zu erreichen, steigen noch dünne Qualmwolken wie Nebel aus dem letzten gerade erst gelöschten Brand hervor. Hinter dem Marienkloster Anafonitria wird die Straße immer holpriger, aber nun sind sie fast am Ziel.
Schon von weitem können die drei Polizeibeamten eine kleine Menschenansammlung an dem Aussichtspunkt mit dem Leichenfund erkennen. Ein brusthohes Geländer umgibt eine Betonplatte, die ein Stück weit über die hier ungefähr 200 Meter tief, sehr schroff abfallende Klippe hinausragt. Dieser Panoramabalkon bietet etwa einem Dutzend Menschen Platz, die von hier aus einen grandiosen Blick auf die Bucht mit dem berühmten Schiffswrack von Zakynthos werfen können. Es ist der einzige Punkt an Land, von dem aus man das Wrack des Küstenmotorschiffs Panagiotis liegen sieht; zugänglich ist dieses nur vom Meer her.
Eine kleine dunkelhaarige Frau in einem anbetracht der Hitze viel zu schwer wirkenden grauen Kostüm lehnt mit dem Rücken am Geländer der Aussichtskanzel. Eleni zählt außerdem sechs Männer, die ungemein wichtig wirken und den Eindruck machen, als ob sie sich am Tatort verabredet hätten. In einiger Entfernung steht ein junges Paar neben einem gemieteten Honda Civic.
Erst beim Aussteigen wird der Grund ihrer Anreise, ein in einer Blutlache am Boden unmittelbar vor der Aussichtsplattform liegender Mann, sichtbar. Während Gamiras sich sogleich daran begibt, alle Anwesenden in eine sichere Entfernung von der Leiche zu lotsen, sperrt Spirakis, eine Zigarette im Mundwinkel, den Platz um den Toten weiträumig mit einem rot-weißen Plastikband ab.
Eleni tritt auf die Gruppe der sechs Männer zu, denen sich nun auch die Frau von dem Balkon zugesellt: »Guten Tag, ich bin Kommissarin Mylona. Bitte bleiben Sie alle so lange hier, bis wir sie kurz befragt und Ihre Personalien aufgenommen haben.« Mit einer Geste schickt sie den älteren Inspektor zu dem Pärchen, das immer noch verschreckt an seinem grünen Mietwagen steht und wendet sich an die Umstehenden. Sie scheinen den Schock, auf Tuchfühlung mit einer Leiche zu sein, bereits überwunden zu haben. Ihre Mienen drücken eher Ärger über die Verzögerung ihrer Geschäfte aus, als Entsetzen oder Angst.
»Wer von Ihnen hat den Mann gefunden und den Notruf abgesetzt?«, fragt die Kommissarin und lässt ihren Blick über die einzelnen Gesichter schweifen.
Ein mittelgroßer unscheinbarer Herr, ungefähr in Elenis Alter, hebt die Hand. »Das war ich«, sagt er mit leiser Stimme. Die Ärmel seines hellblau-weiß gestreiften Hemdes sind hochgekrempelt, ein helles Cordjackett hält er an zwei Fingern über seiner Schulter. »Pavlos Leukippos ist mein Name. Ich war als Erster heute Morgen hier«, erläutert er ohne weitere Aufforderung.
Leukippos, weißes Pferd, übersetzt Eleni ins Deutsche, so wie sie es manchmal automatisch tut. »Sie waren als Erster hier? Heißt das, Sie alle haben sich hier zu einem Treffen zusammengefunden?« Erstaunen klingt in der Stimme der Kommissarin mit.
»So ist es«, meldet sich ein korpulenter, stark schwitzender Mann zu Wort. »Dionysios Tsamaras von der Bauaufsichtsbehörde. Wir haben hier einen Ortstermin.«
Zwei andere aus der Gruppe nicken zustimmend und Tsamaras erläutert weiter: »Die Herrschaften sind Architekten und Bauingenieure und waren hier mit mir und meinem Kollegen«, er deutet auf einen hageren jüngeren Mann mit stark hervorspringendem Adamsapfel, »zu einer Besprechung verabredet.«
»Gehört er«, Eleni deutet auf den einige Meter entfernten Toten, »auch zu Ihnen?«
»In der Tat. Das ist der Architekt Makis Konstantinos.«
Aus dem Augenwinkel nimmt die Kommissarin wahr, wie der weiße Kastenwagen der Spurensicherer vorfährt und die beiden Kollegen von der Kriminaltechnik herausspringen. Vom Arzt, Dr. Xenakis, ist noch nichts zu sehen.
»Konstantinos ist – äh, war – einer der sechs Konkurrenten der Ausschreibung, um die es hier geht«, teilt der Baubeamte Tsamaras weiter mit.
»Verstehe ich das richtig: Hier soll etwas gebaut werden?«, wundert sich Eleni und schaut über die markanten Felsen aufs Meer.
»In der Tat«, kommt es abermals. »Genau genommen soll hier nicht irgendetwas gebaut werden. Es handelt sich um ein Jahrhundert-Projekt!« Seine feisten Wangen scheinen bei diesen Worten nicht nur von der Hitze, sondern auch vor Stolz zu glühen. Ein dicker Schweißfilm hat sich auf seiner Halbglatze gebildet.
Die Frau im grauen Kostüm verzieht leicht ironisch den Mund und zündet sich eine lange Slim-Zigarette an.
»Das müssen Sie mir näher erläutern«, fordert Eleni Mylona den Baubeamten auf.
»Schauen Sie, das Schiffswrack ist zum wichtigsten Aushängeschild der Insel geworden. Ein Touristenmagnet, der seinesgleichen sucht. Weltweit werben die Reisebüros mit Fotos vom Navagio für Urlaub auf Zakynthos. Was liegt da näher, als genau hier den Tourismus weiter zu fördern. Um es auf den Punkt zu bringen: Hier soll ein größerer Hotelkomplex entstehen.«
Elenis Augen weiten sich entsetzt: »Ein Hotel? Hier? Und wo genau soll das hin?«
»Kommen Sie, bitte kommen Sie mit.« Der rundliche Mann wendet sich geschäftig von der Gruppe ab und strebt auf den Aussichtsbalkon zu. Dabei winkt er der Kommissarin eifrig zu, ihm zu folgen. Nicht nur sie kommt der Aufforderung nach sondern auch die Gruppe der Architekten und Bauingenieure schließt sich automatisch an.
Auf der Zementplatte stehend bleibt keine Muße, die atemberaubende Aussicht zu genießen, denn Tsamaras zeigt gleich mit weit ausgestrecktem Arm auf den neben dem Schiffswrack ins Meer ragenden länglichen Felsen, der die Bucht bildet.
Eleni schluckt schwer. »Das ist Wahnsinn«, haucht sie.
»In der Tat«, lacht der dicke Baubeamte. »Aber ein Wahnsinn, der Realität wird und Zakynthos um ein unvergleichliches touristisches Highlight bereichern wird.«
Eleni, die einerseits immer noch nicht fassen kann, wie dieser absurde Plan realisiert werden soll, andererseits innerlich grollt über so viel Mut zur Zerstörung der Natur, hat sich wieder in der Gewalt. »Das wird aber ganz schön teuer, oder nicht?«, fragt sie zweifelnd.
»Hauptinvestor ist eine amerikanische Reederei«, ertönt eine raue Stimme in ihrem Rücken. Der Mann, der diese Antwort gegeben hat, trägt ein frisch gestärktes weißes Hemd und eine leichte khakifarbene Stoffhose. Er überragt die Gruppe fast um Haupteslänge und seine stahlblauen Augen sind mit visionärem Blick auf den länglichen ins Meer ragenden Felsen geheftet. Er ist der Einzige, der keine Sonnenbrille aufhat.
»Sie sind?«, erkundigt sich die Kommissarin freundlich.
»Mein Name ist Angelos DeVita.« Er wendet sich ihr zu und lächelt sie breit an. Seine Zähne strahlen zu weiß, um echt zu sein. Sein Alter schätzt Eleni auf etwa Mitte fünfzig. Ungefragt beginnt er mit einer Beschreibung des Bauvorhabens. »Der spitze Grat des Felsens wird abgetragen und begradigt, so dass ein Plateau entsteht. Diese Arbeiten werden teils aus der Luft und teils mit Gigakränen von Schiffen aus vonstatten gehen. Danach …«
»Halt, halt, halt«, stoppt Eleni den Redefluss des Mannes, der die bäuchlings in einer Blutlache liegende Leiche bereits vergessen zu haben scheint. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten: Ihr Ortstermin wurde abgesagt.« In ihrem Ärger über so viel menschliche Ignoranz hat sie ziemlich laut gesprochen. Nun fügt sie gemäßigter hinzu: »Da vorne liegt ein Kollege von Ihnen, der allem Anschein nach keines natürlichen Todes gestorben ist. Solange wir hier ermitteln, werden Sie Ihre Besprechungen woanders abhalten müssen. Bitte gehen Sie alle jetzt zu meinen Mitarbeitern und geben Sie Ihre Personalien und wo wir Sie erreichen können zu Protokoll. Wenn Sie irgendwelche wichtigen Informationen haben oder Beobachtungen zur Sache beitragen können, teilen Sie auch diese bitte meinen beiden Kollegen mit.«
Sie dreht sich um und verlässt den Aussichtsbalkon. In diesem Augenblick fährt auch der graue Ford Combi des Arztes vor. Dr. Xenakis hat eine Praxis in der Stadt, betreut aber zugleich viele Patienten, die nicht mobil sind, auf der ganzen Insel. Seit kurzem weiß Eleni, dass er sich unbürokratisch und ohne Bezahlung auch um Menschen ohne Krankenversicherung kümmert. Dass er nicht mehr der Jüngste ist, zeigt schon die Art, wie er schwerfällig aus seinem Wagen steigt und danach erst einmal seine arthritischen Kniegelenke lockert.
Nach einer kurzen Begrüßung streift der Arzt ein Paar Plastikhandschuhe über, stellt seine Tasche weit geöffnet auf den Boden und beugt sich sogleich über den Corpus. Geschickt schneidet er das blutgetränkte Hemd des Toten am Rücken auf und stößt einen leisen Pfiff aus. »Die Todesursache scheint auf den ersten Blick ganz klar zu sein«, teilt er der Kommissarin in breitem Zakynthisch mit ohne die Augen von seiner Arbeit zu heben. »Fünf Stiche in den Rücken, davon mindestens zwei der Lage nach letal. Alleine kann er sich diese Verletzungen nicht beigebracht haben.«
Nach gründlicher Inspektion der Rückseite des Mannes wendet Dr. Xenakis den Leichnam. Eine schwere Goldkette am Hals des Ermordeten fängt einen Sonnenstrahl auf und schickt ihn als blendenden Glanz zurück. Noch im Tod zeugt sein Gesichtsausdruck von einem selbstbewussten Charakter. Nur eine Spur von Erstaunen hat sich in seine Miene geschlichen Der Arzt nimmt noch einige Untersuchungen am verkrusteten Gesicht, an der Brust und den Extremitäten des Toten vor. Ächzend erhebt er sich danach. »Müssen Sie mir Ihre Patienten eigentlich immer auf dem Boden präsentieren?«, witzelt er. »Lange machen meine armen geplagten Knie das nicht mehr mit. Wird Zeit, dass sich ein Jüngerer dieses Jobs annimmt.«
Er stülpt die nun rotgefärbten Handschuhe nach vorne ab und wendet sich Eleni direkt zu. »Der Mann dürfte um die sechzig sein und nicht schlecht gelebt haben. Der Bauch spricht für kräftige Ernährung, die Nägel sind sorgfältig gepflegt, und er hat sich die Brust rasiert.« Ein missfallendes Räuspern bringt seine Meinung zu diesem Detail zum Ausdruck.
»Können Sie mir schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
»Hm, im Gesicht einsetzende Totenstarre«, überlegt der Arzt laut. »Der Mann dürfte also ungefähr vor zwei bis drei Stunden gestorben sein. Todesursächlich waren, wie gesagt, mehrere Stiche in den Rücken mit einer etwa dreißig bis vierzig Zentimeter langen Klinge. Ich vermute, dass er von dem Angriff überrascht wurde, vielleicht ist er auch gleich nach dem ersten Zustechen zu Boden gegangen. Jedenfalls konnte ich keinerlei Abwehrspuren feststellen.« Xenakis bückt sich, um seine Tasche wieder einzuräumen.
»Also glasklar ein Mord«, stellt Eleni fest. »Selbst ein Totschlag im Affekt scheidet bei der Spurenlage wohl aus, oder?«
»Kaum vorstellbar bei einem Angriff von hinten. Und das Ergebnis eines Kampfes ist das hier auch nicht. Dafür gibt es nicht die geringsten Anhaltspunkte.« Er hebt seine fertig gepackte Tasche auf. »Den Rest erzählt Ihnen dann die Pathologie in Patras. Wünsche noch einen schönen Tag.«
»Ihnen auch, Herr Doktor und vielen Dank.«
Eleni macht den Kriminaltechnikern, die sich bisher mit den Spuren im Umkreis des Toten beschäftigt haben, ein Zeichen, dass sie sich jetzt den sterblichen Überresten von Makis Konstantinos widmen können. »Ist der Leichenwagen bestellt?«, fragt sie noch über die Schulter, während sie der Gruppe um ihre Inspektoren zustrebt.
»Ist unterwegs«, antwortet Mathew, der britische Spurensicherer, der vor langer Zeit nach einem irgendwie misslungenen Urlaub auf Zakynthos hängen geblieben ist.
Wieder bei den anwesenden Leuten der Baubranche erfährt die Kommissarin, dass der Tote in Bochali wohnte, verheiratet und mit seinen 59 Jahren der Älteste in der Runde der Konkurrenten war. Neben Pavlos Leukippos und Angelos DeVita, den beiden Herren, die sich zuvor schon zu Wort gemeldet haben, sind nun noch die Bauingenieure Herrmann Braunschweiger und Nikos Chelidonios sowie die Dame im dunklen Kostüm, die Architektin Rosaria Palliris-Limeniadou, im Rennen. Inspektor Gamiras hat alle Personaldaten sorgfältig auf seinem Schreibblock notiert und lässt Eleni einen Blick darauf werfen. Der zweite Mann von der Baubehörde heißt Giannis Kazaroglou, und hat – so berichtet Gamiras – einen auffälligen Sprachfehler.
»Die beiden jungen Leute«, Gamiras nickt in Richtung des gemieteten Kleinwagens, »können wir wegschicken. Das sind Touristen, die erst hier ankamen, als die Bauleute schon alle versammelt waren.«
»In Ordnung«, stimmt Eleni zu. »Wenn Sie ihre Namen und ihr Hotel haben, können Sie sie wegschicken.«
Sie wendet sich den Wartenden zu: »Ihr Kollege, Herr Konstantinos, wurde eindeutig ermordet«, informiert sie die Gruppe knapp. »Ich möchte Sie bitten, die Insel bis auf Weiteres nicht zu verlassen.«
Ein mürrisches Stimmengewirr kommt in der Schar auf, aus dem das Wort Warum am deutlichsten herauszuhören ist.
»Wenn ich alles richtig verstanden habe«, setzt Kommissarin Mylona zu einer Erklärung an, »dann geht es hier um einen riesigen Bauauftrag, um den sie konkurrieren. Um es kurz zu machen: Es hat schon schlechtere Mordmotive gegeben. Sie alle sind im Augenblick verdächtig und deshalb zur Ortsanwesenheit verpflichtet.«
Das unzufriedene Gebrumme hinter sich lassend, wendet Eleni sich ab und geht auf die abgestellten Fahrzeuge zu.
Nachdem die Kommissarin ihrem älteren Inspektor, der bei der Spurensicherung helfen soll, noch einige kurze Anweisungen gegeben hat, macht sie sich mit Nionio Spirakis auf den Weg zu den Angehörigen. Die Adresse hat Giannis Kazaroglou in seinen Unterlagen für sie gefunden.
Das Anwesen der Familie Konstantinos ist dennoch nicht so einfach aufzuspüren. Von der steil und kurvig nach Bochali hinaufführenden Straße aus, lenkt Spirakis den Wagen kurz vor dem Eingang zum venezianischen Kastro nach rechts in einen unasphaltierten Schotterweg. An einer hohen Mauer entlang geht es noch etwa hundert Meter weiter, bevor der Weg abrupt an einem wild bewachsenen Felsvorsprung endet. Unmittelbar vor diesem Steinmassiv liegt rechts ein großes Metalltor, das so gar nicht in die aus rohen Natursteinen bestehende Mauer passen will.
Eleni steigt aus, findet nach einigem Suchen die Klingel hinter einer Efeuranke und betätigt sie. Es bleibt still, nur das Rauschen des Windes in den hohen Bäumen hinter der Mauer ist zu hören. Erst nach dem zweiten Versuch ertönt eine weibliche Stimme durch die Gegensprechanlage: »Ja, bitte?«
»Eleni Mylona von der Polizei Zakynthos. Würden Sie uns bitte das Tor öffnen.«
»Worum geht es?«
»Das möchte ich Ihnen lieber persönlich sagen. Bitte lassen Sie uns herein.«
Ein lautes Summen ertönt und wird gleich durch ein scharrendes Geräusch verstärkt, als die Torflügel langsam nach innen aufschwingen. Auf ein Zeichen Elenis hin fährt Nionio den Wagen auf das Grundstück und tritt beim Aussteigen noch rasch seine Zigarette aus. Über einen gewundenen Weg durch einen Garten, der schon bessere Tage gesehen hat, gehen die beiden auf das Haus zu. Die Ziersträucher und Blumenrabatten, die den Pfad säumen, müssten dringend zurückgeschnitten werden, die freien Flächen dazwischen zeigen nur noch Relikte eines Rasens. Alles wirkt ungepflegt, fast verlassen.
Das Wohnhaus entpuppt sich als protzige Villa, in der sich die unterschiedlichsten Baustile eigenwillig vermischen. Über sechs Stufen gelangt man auf eine Veranda, die mit einer wilden Auswahl von zu Gruppen arrangierten Terrakottagefäßen dekoriert ist. Eine mittelgroße blonde Frau erwartet sie mit vor der Brust verschränkten Armen in der Eingangstür. Obwohl ihre Mimik und Körperhaltung alles andere als Besorgnis zum Ausdurck bringen, meint Eleni ein nervöses Flattern der Augenlider wahrzunehmen.
Die Kommissarin nennt erneut ihren Namen und stellt auch ihren Kollegen vor.
»Lydia Konstantinou«, erfährt sie von ihrem Gegenüber.
»Sind Sie verheiratet mit Makis Konstantinos?«
»Allerdings«, erwidert sie und behält ihre strenge Selbstbeherrschung bei. »Bitte.« Die Frau dreht sich um und geht voran ins Haus.
Durch eine im Halbdunkel liegende Diele gelangen sie in einen großen Raum, der sicherlich noch größer wirken würde, wäre er nicht so übervoll mit Möbeln bestückt. Es bleibt nur Zeit für einen kurzen Blick auf das Interieur, denn Frau Konstantinou führt die Beamten direkt auf die rückwärtige Terrasse und deutet auf die Sitzgelegenheiten. Eleni nimmt auf einem der hohen Lehnstühle Platz, deren Polster die ehemalige Leuchtkraft ihrer Farben verloren haben. Nach hinten ist der Garten deutlich kleiner als vor dem Gebäude. Er wird durch ein von alten Mauern durchzogenes Felsengewirr begrenzt. Mit einem Blick nach oben stellt Eleni fest, dass sie sich hier unmittelbar am Fuß des Kastros befinden. Genau betrachtet müsste das Grundstück eigentlich noch zum Terrain der mittelalterlichen Festungsanlage gehören. Sie will sich gar nicht vorstellen, wie Konstantinos an die Baugenehmigung gekommen ist.
Auf dem Tisch steht ein Krug mit Wasser, in dem ein paar Eisklümpchen und eine Zitronenscheibe schwimmen. Daneben stehen drei Gläser. Frau Konstantinou musste dies arrangiert haben, während sie den Weg zum Haus erklommen. Nun lässt sie sich den Polizisten gegenüber nieder und wirkt dabei äußerlich weiter ganz ruhig. Ihrem Mienenspiel ist weder Neugierde, noch die geringste Besorgnis anzumerken.
»Was kann ich also für Sie tun?«, eröffnet sie das Gespräch. Die Frau trägt einen schwarzen Jumpsuit aus ganz leichtem Stoff. Das Gesicht ist viel zu stark geschminkt. Immerhin scheint sie eine echte Blondine zu sein. Ihr straff aus der Stirn gekämmtes Haar ist mit einem schwarzen Chiffonschal zurückgebunden und leuchtet weizenfarben, die Augen unter den fast nicht vorhandenen Brauen schimmern veilchenblau. Eleni nimmt das Alles mit routiniertem Blick in kürzester Zeit auf und stellt weiter fest, dass die Dame deutlich jünger sein muss als ihr ums Leben gekommener Gatte. Sie ist ohne Zweifel eine attraktive Frau, eine fast perfekte weibliche Schönheit. Was fehlt, ist das bestimmte Etwas, das einem Gesicht seinen ureigenen Charakter verleiht. Gesicht und Körper sind einfach zu makellos.
»Ich habe leider eine sehr unangenehme Nachricht für Sie«, beginnt Eleni vorsichtig. »Man hat Ihren Mann heute Morgen tot am Aussichtspunkt zum Navagio aufgefunden.« Eleni studiert das nahezu reglose Gesicht.
»Ja, da wollte er heute in der Früh hin. Hat sein Herz schlappgemacht?«, fragt sie völlig emotionslos.
»Nein, es war nicht sein Herz. Ihr Gatte wurde ermordet.«
Nicht der kleinste Muskel regt sich unter dem Make-up der Blondine.
»Sie scheinen nicht sonderlich erstaunt oder betroffen«, versucht die Kommissarin sie aus der Reserve zu locken. Sie wirkt fast so, als hätte sie früher oder später mit einer solchen Benachrichtigung gerechnet. »Hatte Ihr Mann Feinde oder wurde er bedroht?«
Nun stößt sie doch einen kleinen Seufzer aus. »Feinde? Ja, es gab bestimmt eine Menge Leute, die ihn nicht mochten. Ob diese Antipathien allerdings so weit reichten, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete, weiß ich nicht. Und konkrete Namen von etwaigen Feinden kann ich Ihnen auch nicht nennen.«
»Seine Feindschaften lagen Ihrer Meinung nach also eher im beruflichen als im privaten Bereich?«, fragt Eleni weiter. Nionio hat sich zurückgelehnt und eine Zigarette angezündet.
»Beides ist vorstellbar. Von seinem Privatleben habe ich genau so wenig Ahnung wie von seinen Geschäften.«
»Wie lange ist das schon so?«, hakt Eleni nach. Paare, die scheinbar ohne Berührungspunkte nebeneinander her leben, begegnen ihr von Jahr zu Jahr häufiger.
»Spätestens seit die Kinder aus dem Haus sind. Meine Tochter ist in Patras verheiratet und unser Sohn studiert in England.«
Die seltsame Verwendung der Personalpronomen lässt die Kommissarin stutzen. »Hat Ihre Tochter einen anderen Vater?«, kontert sie deshalb sogleich.
Frau Konstantinou scheint sich über diese Frage nicht zu wundern und beantwortet sie nüchtern: »Nein, sie ist seine Tochter, aber die beiden standen sich nie wirklich nahe. Genau genommen war sie von Anfang an Luft für ihren Vater.«
Die Frau beugt sich vor, entnimmt einem silbernen Etui eine Zigarette und lässt sich von Spirakis Feuer geben. Dabei scheint sie innerlich mit sich zu ringen, ob sie den Polizisten freiwillig noch mehr anvertrauen soll, oder nicht.
Schließlich entscheidet sie sich dafür und schildert ihre familiären Verhältnisse in schlichtem Ton: »Wir haben schon seit vielen Jahren nicht mehr miteinander, sondern nur noch unter einem Dach gelebt. Zu den Kindern halte ausschließlich ich Kontakt. Erst heute Vormittag habe ich beide kurz gesprochen.« Sie zieht an ihrer Zigarette und lässt den Rauch langsam aus ihrem Mund entweichen, bevor sie fortfährt. »Im ersten Jahr, in dem unser Sohn Menelaos im Ausland war, hat auch Makis ab und zu mit ihm telefoniert, aber das hat er dann irgendwann eingestellt.« Sie zuckt die Achseln. »Ist auch besser so. Er weiß nämlich gar nicht, dass Menelaos das Ingenieurstudium aufgegeben und auf Archäologie umgeschwenkt hat. Er würde toben, wenn er es wüsste.«
Das triumphierende Lächeln, das ihre Lippen bei diesen Worten umspielt, gibt ihrem Antlitz einen weichen Ausdruck. »Zu Penelope hat mein Mann, wie gesagt, nie eine Beziehung gehabt, während wir beide ein sehr inniges Verhältnis zueinander pflegen, uns täglich sprechen und sehr oft besuchen.«
»Vielen Dank für Ihre Offenheit.« Eleni weiß, dass so viel spontane Preisgabe familiärer Interna alles andere als selbstverständlich ist. Wie oft hat sie es mit Menschen zu tun, denen man jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen muss. »Wissen Sie, warum Ihr Gatte heute Morgen zum Schiffswrack gefahren ist?«, fragt sie noch.
»Irgendein Lokaltermin, nehme ich an. Genaueres weiß ich aber nicht. Über Geschäftliches haben wir, wie gesagt, nie gesprochen.«
»Das macht nichts«, meint Eleni. »Darüber werden wir uns noch mit seinen Angestellten unterhalten. Er hatte doch sicher einige Mitarbeiter?«
»Natürlich, obwohl es in den letzten Jahren wegen der Krise wohl immer weniger geworden sind.«
»Vielen Dank für das Gespräch, Frau Konstantinou.« Kommissarin Mylona erhebt sich. »Ach, ja und natürlich mein Beileid.«
Die Hausherrin macht eine abwinkende Geste und steht ebenfalls auf. Gefolgt von Spirakis durchschreiten sie abermals das Innere des Hauses und verabschieden sich an der Tür von der eleganten Witwe.
»Die Dame war nicht gerade schockiert«, kommentiert Nionio auf der Rückfahrt in die Stadt seine Eindrücke. »Außerdem glaube ich, dass sie uns etwas verschweigt.«
»Stimmt, sie wirkte sehr gefasst«, bestätigt Eleni. »Aber nicht so, als sei sie froh, ihn los zu sein, eher gleichgültig. Das Ehepaar hatte sich definitiv schon geraume Zeit nicht mehr viel zu sagen.«
Sie öffnet das Fenster und beschäftigt sich kurz mit Nionios zweiter Bemerkung. »Du hast Recht: Ihre Offenheit war vielleicht kein Entgegenkommen, um uns die Arbeit zu erleichtern, sondern diente vielmehr der Ablenkung von irgendetwas, das wirklich wichtig sein könnte.«
Dann lenkt Eleni das Gespräch auf das besuchte Haus. »Ist dir aufgefallen, dass das Grundstück geradezu an der Mauer des Kastro klebt?«
»Yeah, habe mir überlegt, wie der Konstantinos das wohl hingekriegt hat, so dicht an den antiken Ruinen.«