Luzerner Gabelfrühstück - Viktor Steinhauser - E-Book

Luzerner Gabelfrühstück E-Book

Viktor Steinhauser

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Beschreibung

Nach einem Maskenball liegt der Bauer Aurel Zemp am Fasnachtsdienstag erschlagen im Stall neben der Kuh Aurora. Wer hat diesen Mord begangen? Die Familie ist zerstritten, Tierschützer kritisieren die Tierhaltung auf dem Hof, der polnische Knecht verschwindet und die schöne Freundin des Jungbauern erhält seltsame Briefe. Die Ermittlungsarbeiten führen die Kommissare Timo Braunwalder und Eva Bilic Kerner außerdem auf die Spur dubioser Machenschaften im Gastro- und Baugewerbe der Stadt. Im Luzerner Filz rumort es.

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Viktor Steinhauser

Luzerner Gabelfrühstück

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Piotr Krzeslak / stock.adobe.com; Aksenova Natalya / shutterstock; KarepaStock / shutterstock; Werner Sidler / Pixabay

ISBN 978-3-8392-7130-8

 

 

Güdisdienstag

1

Guggenmusikklänge drangen aus dem Pilatussaal bis auf die Straße. Luzern und seine Agglomeration bebten seit dem Schmutzigen Donnerstag jetzt bald schon fünf Tage. Heute in der Nacht vom Güdismontag auf den Dienstag war noch keine Spur von Müdigkeit oder Sättigung auszumachen. Fasnachtsfieber, ein rauschartiges Sirren und Brummen lagen in der Luft. Ausnahmezustand, die fünfte Jahreszeit.

Im Saal drin staute sich dicke Luft von Holdrio und Bier, alles schletzfertig, also zum Abeschletze, um sich zu berauschen. Die Stimmung war vom Tanzen zu einer schränzenden Guggenmusik und erhitzten Körpern ausgelassen, laut, närrisch hoch vier und das morgens um 2.30 Uhr.

Mittendrin Aurel und Rosa. Sie mit ihren roten langen Haaren als Hexe verkleidet, mit Spitzhut, einem großen Leberfleck auf der rechten Wange, einzelnen gefärbten Zähnen, mit einem schwarzen Mieder, das ihren Busen betonte, im Rock reitend auf einem Besen. Er als Pirat mit Dreieckshut, Augenbinde links, den Dreitagebart etwas länger als gewohnt. Sein schwarzes T-Shirt mit Totenkopf und gekreuzten Knochen betonte seinen muskulösen Körper. Neben den Pluderhosen baumelte ein Gummidegen am Gurt. Aurel und Rosa suchten immer wieder Blickkontakt, schauten sich begehrlich an, schnitten Grimassen, lachten sich zu. Die Krienbachhusaren spielten La Montanara, das Lied der Berge, und alle sangen mit, schunkelten, hoben ihre Flaschen oder Gläser an der Bar.

Als die Musik verklang, weil die Musikanten einen Drink brauchten, drängelten auch Rosa und Aurel zur Bar. Sie nahm ein Mönze-Zwätschge, das zur Fasnachtszeit Mannekiller genannt wurde, da in den Pfefferminztee ein Extraschuss Zwetschgenschnaps gegossen wurde. Er löschte seinen Durst mit einem Mons rubin aus der Krienser Brauwerkstatt. Sie prosteten sich vergnügt und ausgelassen zu.

»Zu mir oder zu dir«, fragte Rosa mit Verlangen in den Augen.

»Lieber zu dir, du weißt ja, meine Mutter ist altmodisch. Ich muss zudem noch in den Stall, Aurora könnte niederkommen.«

»Aha, womöglich noch Geburtshelfer heute, mein lediger Bauer, der nicht mehr sucht«, merkte sie an und zwinkerte ihm dabei zu.

»Könnte das die Hexe mit ihren übersinnlichen Kräften nicht aus der Ferne besorgen, dass ich bei ihr bleiben könnte bis zum Frühstück?«

»Ich werde alles tun, damit das gelingt.«

Rosa drehte sich von ihm weg und schaute zur Guggenmusik, die wieder zu spielen begonnen hatte. Erneut begannen die Menschen zu tanzen, einzelne hüpften rhythmisch zu den wilden Klängen.

Rosa hakte sich bei Aurel ein und zog ihn von der Theke fort.

Sie verließen den Saal. Sogleich flutete frische Luft ihre Gesichter. Einzelne Schneeflocken setzten sich auf ihre glühenden Wangen und die Nasenspitzen. Die Straßen waren fast leer. Auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite ging ein Maskierter, leicht schwankend, ein Krienser Deckel, dem es offenbar nicht so gut ging.

Etwas zu tief ins Glas geschaut, dachte Aurel.

Rosa fröstelte rasch, und er legte seinen Arm um ihre Schultern und küsste sie immer wieder. Glücklicherweise war es nicht weit zum Gärtnerweg, wo Rosa wohnte. Er war froh, dass er noch nicht fahren musste, noch etwas ausnüchtern konnte.

Kaum fiel die Wohnungstür ins Schloss, nahm Aurel mit beiden Händen das Gesicht von Rosa und küsste sie zärtlich, aber leidenschaftlich auf den Mund.

»Ich muss noch auf Toilette«, sagte sie und löste sich aus seiner Umarmung.

Aurel zog die Schuhe aus und setzte sich an den Küchentisch. Auf einer Pinnwand hingen Karten, die viel Sonne und Meer, Sehenswürdigkeiten, aber auch Partygetränke und Haut, eine lachende Giraffe und anderes zeigten. Sein Blick blieb an einer Karte mit einer jungen Frau auf einem Stuhl in Netzstrümpfen hängen. Sie war umgeben von Schuhen, die sie anprobierte. Darunter der Schriftzug »ctrl ­a – alles auswählen«. Jedes Mal, wenn er diese Karte sah, musste er schmunzeln.

Kurz schweiften seine Gedanken zu seiner hochträchtigen Kuh Aurora in den Stall ab. Er checkte sein Smartphone. Bogdan, der polnische Knecht, hatte sich bis jetzt nicht gemeldet.

Dann hörte er die Toilettenspülung und trat in den Gang. Die Tür ging auf, und Rosa kam auf ihn zu. Er nahm sie in die Arme, hob sie hoch und drehte sich übermütig mit ihr im Kreis. Ihre roten Haare schwebten wild durch die Luft. Während er langsam in einen Walzerschritt wechselte und sie geschmeidig in seinem Rhythmus mitging, begann er, ihr Mieder aufzunesteln. Sie schob ihre Hand unter sein T-Shirt und nahm mit äußerster Lust und Wohlgefallen seinen muskulösen Körper wahr. Dann begann sie seinen Gürtel zu lösen. Sie tanzten, während ihre Kostümteile flogen und fielen. Als Rosas Blick dabei auf Aurels schwarzen Slip fiel, musste sie herzhaft lachen, denn vorne waren zwei weiße, gekreuzte Piratenschwerter aufgedruckt. Er umschlang sie mit seinen kräftigen Armen und flüsterte ihr »Du heiße Hexe« ins Ohr. Dann hob er sie hoch und trug sie über die auf dem Boden verstreuten, mit farbigen Konfetti vermischten, Kleider ins Schlafzimmer. Dort legte er sie sanft auf das große Boxspringbett.

2

Aurel fuhr in seinem Land Rover Richtung Sonnenberg. Noch war er keinesfalls nüchtern, etwas berauscht vom Alkohol, vom süßherben Parfum, vom Anblick der Wölbungen ihres geschmeidigen Körpers, von ihrem Liebesstöhnen und den sinnlich süßen Liebesworten. Ein Gen­tleman genießt und schweigt, dachte er.

Rosa hatte geschlafen, als er sich leise aus dem Bett davongemacht und sich im Gang angezogen hatte. Er hatte auf einen Zettel geschrieben:

Hoffe, du hast gut geschlafen, meine wilde schöne Hexe. Wenn alles gut läuft, bin ich vielleicht schon zum Frühstück zurück. Dein Pirat.

P.S.: Ich war gestern noch bei der Bank wegen der Finanzierung des Umbaus.

Die Straße war eisig. Er musste vorsichtig fahren.

Er passierte die letzten Einfamilienhäuser des Quartiers, dann offenes Feld, und schon langsam öffnete sich der Blick gegen Horw, er sah die Lichter in der Ebene, die Hochhaustürme auf der Almend, den See.

Hier würde die Polizei nicht mehr kontrollieren. Bei der Wegfahrt von dem alten Gemeindehaus war er auf der Hut gewesen. Die Polizei schaute an den Fasnachtstagen immer wieder genau hin und machte verstärkt Kontrollen.

Sein Hof, respektive bald sein Hof, lag prächtig, erhöht am Sonnenberg, je etwa zur Hälfte auf Krienser und Luzerner Boden. Die Zufahrt war aber nur über Kriens möglich. Wenn er endlich alles mit den Geschwistern geregelt hätte, wäre er dann der alleinige Besitzer von Oberlehn. Er hatte große Pläne, dachte an Kräuteranbau und eine Neuanlage von Reben. Die Südlage würde das wohl erlauben.

Das tiefe Brummen des Motors seines Land Rovers und der warme geheizte Sitz gaben ihm wohlige Geborgenheit. Die Gedanken schweiften zurück an den Gärtnerweg zu Rosa. Sie war eine Klassefrau, wild, leidenschaftlich, manchmal aber auch zickig und unberechenbar. Diese Mischung machte sie für ihn unwiderstehlich. Er war stolz, dass er sie erobert hatte, denn Rosa verdrehte im Ausgang vielen Männern den Kopf. Sie war eine bekannte Partynudel, obwohl sie sogar noch etwas älter als er war. Ein Kollege hatte wohl leicht eifersüchtig gemeint: »Pass auf! Irgendeinmal wirst du wieder geparkt. Dann bin ich gerne Partner, wenn du deine Eselsohren abspülen musst.«

Am Hang stand ein Fuchs mit leuchtend gelben Augen und buschigem Schwanz im Schnee. Ein leicht schüchterner Lonely Hero, dachte Aurel.

Er bog in die Hofeinfahrt ein, löschte die Lichter, stellte den Motor ab. »Aurora, ich komme«, sagte er so vor sich hin, stieg aus und trat in den Neuschnee. Er nahm eine Handvoll davon und rieb sich damit das Gesicht ab. Das tat gut, sein Kopf wurde klarer.

Der vertraute Stallgeruch stieg ihm in die Nase. Er stapfte zur Melkkammer und zog seinen Overall und die Stiefel an. Müde fühlte er sich nicht, eher energiegeladen und vom Leben durchflutet. Es waren kaum Geräusche aus dem Stall zu vernehmen, die Kühe ruhten noch. Aurel sah, dass Aurora zufrieden dalag. Ihr Euter war nicht übervoll und die Beckenbänder nicht eingefallen. Er prüfte die Schwanzspitze und auch diese war noch nicht geschmeidig. Er fand keine Indizien, dass sie kalben wollte.

»Du lässt es langsam angehen und gönnst deinem Meister noch etwas Erholung, du Gute«, sagte er zu ihr und tätschelte ihren Rücken. »Ich hole dir etwas Kraftfutter, Bogdan bringt dann in einer Stunde noch frisches Heu.«

Es war für ihn immer wieder ein schönes und erfüllendes Gefühl, bei seinen Tieren zu sein.

Er schritt durch den Stall zum Futterlager, nahm gleich zwei frische Säcke vom Palett, schulterte den einen, nahm den andern unter den rechten Arm und ging zurück zu Aurora. Er legte die Säcke auf den Boden. Seine Blase hatte sich gefüllt, und er stellte sich neben die Kuh, um sich gleich hinter ihr in die Harnsammelrinne zu erleichtern.

Plötzlich mischte sich zum plätschernden Geräusch seines Strahls von hinten ein anderes dazu. Irritiert drehte er sich um und erblickte eine Gestalt mit der dunklen Maske eines Krienser Deckels. Die eng stehenden und weit aufgerissenen Augen der Maske fixierten ihn fratzenhaft. Dann realisierte er noch, wie die Gestalt mit einem Holzknüppel weit ausholte.

3

Es war 6.20 Uhr, vor dem Fenster tanzten Schneeflocken. Timo Braunwalder brühte gerade Kaffee mit seiner Bialetti auf dem Herd. Er war noch rechtzeitig vor Mitternacht zu Bett gegangen, sodass seine nötigen sechs Stunden Schlaf gesichert waren. Er hatte sich ein der Jahreszeit angepasstes währschaftes Znacht gegönnt. Blätterteigtaschen mit Blut- und Leberwurst. Wunderbar, wie die Boskop-Zwiebel-Mischung mit der Leberwurstmaße im Teig harmonierte. Für die Blutwurstscheiben im Teig reichte eine reine fein gedämpfte Zwiebelcouvertüre. Leberwurst vertrug den Apfel. Die Würste waren natürlich von seinem Metzger an der Zürichstraße. Spitzenklasse. Den Chef traf man dort während der Fasnacht selten im Laden an. Zu sehr war er ein vom Narrenvirus befallenes Wesen. Er, Braunwalder, war gegen das Fasnachtsvirus immun. Für ihn waren da einfach zu viele Leute auf den Straßen und in den Beizen unterwegs. Auch die lauten, schränzenden Töne vertrug er mit zunehmendem Alter nicht mehr. Also wieso sollte er sich das antun? Narrenfreiheit wollte er sich, wenn möglich, das ganze Jahr gönnen und nicht nur während den von der Gesellschaft legitimierten Tagen.

Zu den Teigtaschen hatte er bloß noch etwas Sauerkraut gekocht. Das war quasi ein Schlankheitsmenü, abgesehen von den vier verwendeten Würsten und dem Blätterteig. Auch der Flasche Barbera war er auf den Grund gegangen und hatte den Wein bis zum letzten Tropfen genossen. Ein guter Barbera musste das Aroma von Kirschen, gut eingebunden in etwas Schmelz, abbilden und durfte nicht zu ungestüm daherkommen.

Beim Schauen einer aufgezeichneten Kochsendung im Fernsehen hatte er bereits wieder ein leichtes Hungergefühl verspürt. Da war die Tarte au Citron, die ihm seine jüngere Tochter gebracht hatte, sehr gelegen gekommen. Nichts war schlimmer, als in der Nacht von einem knurrenden Magen geweckt zu werden. Dann fand er erst wieder nach einem Rendezvous mit dem Kühlschrank Schlaf.

Das Blubbern seiner Bialetti war für Braunwalder wie ein zweiter Wecker, und er nahm sie vom Herd. Er schnitt zwei Stück Sauerteigbrot, bestrich diese mit genug Butter, um alle Poren des Brotes abzudecken, und holte die Aprikosenkonfitüre, die ihm seine Putzfrau zu Weihnachten geschenkt hatte, aus dem Regal.

So ließ sich der Tag beginnen, bevor es im Büro vielleicht wieder ein Gstürm geben würde.

Mit dem Raubüberfall auf ein Uhrengeschäft am Schwanenplatz waren sie noch nicht so recht vorangekommen. Die Bilder der Überwachungskamera taugten wenig, wenn die Täter sich vollständig vermummten. Wahrscheinlich organisierte Kriminalität, und nur mit intensiver internationaler Zusammenarbeit waren da Fortschritte möglich. Er biss genüsslich ins Brot, als sein Smartphone sich mit »Eins, zwei, Polizei« meldete. Seine ältere Tochter hatte ihm diesen Klingelton von MO-DO geschenkt und in­stal­liert. So wusste er Bescheid, wenn es dienstlich war. Er wischte mit dem Finger über das Display und hinterließ eine leichte Konfitürespur.

»Hallo, bist du es, Brownie«, tönte es aus dem Lautsprecher.

Mit vollem Mund sagte Braunwalder so etwas wie »ja« und kaute weiter.

»Eine Leiche zum Frühstück, Brownie«, sagte Brunner von der Einsatzzentrale.

»Danke, bevorzuge im Moment noch Sauerteigbrot mit Butter und Aprikosenkonfitüre, nicht ganz vegan, aber vegetarisch.«

»Oberlehn am Sonnenberg. Der junge Bauer Aurel Zemp. Ein Streifenwagen ist vor Ort und einer bald auf dem Weg zu dir. Vielleicht gibt es ja auf dem Hof ein zweites Frühstück.«

»Ist Eva auch schon informiert?«, fragte Braunwalder.

»Sie hat sich heute freigenommen, um mit ihrem Sohn an den Kinderumzug zu gehen. Du bist heute solo. Tschüss.«

»Aha, so ist das«, sagte er noch, obwohl die Verbindung schon unterbrochen war. Kaum hatte der Tag begonnen, sollte er schon rennen, was bei seiner Postur einer Lachnummer gleichkam. Rennen reimt sich auf pennen, ging ihm durch den Kopf, als er noch einmal herzhaft in sein Konfitürebrot biss.

Braunwalder hatte noch nicht ganz fertig gegessen, als es schon klingelte. Er trank den schwarzen Kaffee aus, hielt noch einmal inne, sammelte sich kurz am Frühstückstisch, bevor er aufstand.

Er zog die braune Wolljacke über das Hemd, richtete die rote Krawatte und nahm seinen Mantel aus der Garderobe.

Als er im Treppenhaus aus dem Lift trat, sah er den Streifenwagen mit Helfenstein am Steuer und einer Beamtin auf dem Rücksitz. Der Sitz auf der Beifahrerseite war ganz nach hinten geschoben, sodass Braunwalder mit seinem »Prachtsranzen«, wie Kollegen immer wieder anmerkten, mehr oder weniger bequem Platz fand. Er sei der Stucki von Luzern, hieß es, in Anlehnung an die Postur des Schwingerkönigs, mit seinen 58 Jahren einfach gut abgehangen und gelagert, quasi dry-aged. Er hatte auch schon gekontert, er habe eben ein Fässchen und kein bescheidenes Six-Pack wie viele dieser fitnessverrückten Kollegen.

Vor jetzt schon über 20 Jahren hatten sie ihn von der Fachgruppe Betäubungsmitteldelikte zur Fachgruppe Delikte Leib und Leben befördert. Der Polizeipräsident hatte damals gemeint, er solle es nicht persönlich nehmen, aber die Dealer seien wohl mittlerweile zu schnell für ihn, sodass etwas mehr Schreibtischarbeit bestimmt zu seinem Vorteil sei. Er hatte dem nicht widersprochen und sich einsichtig gezeigt.

Helfenstein fuhr los, während sich Braunwalder mühsam den Sicherheitsgurt überzog und einhakte.

4

Auf der schneebedeckten Straße ging es bergwärts. Das Tageslicht kam im Februar schon wieder merklich früher. Wieder einmal war Winter in der Stadt. Braunwalder erinnerte sich an seine Kindheit, als sie noch auf von der Polizei gesperrten Quartierstraßen mit den Schlitten fahren durften. Heute waren für Kinder gesperrte Straßen undenkbar.

»Wie war die Nacht?«, fragte Braunwalder.

»Glaube, ganz okay, habe erst um 7 Uhr angefangen. Das Übliche, viel Alkohol und die eine oder andere Rauferei.«

»Wer hat die Meldung gemacht?«

»Weiß nicht. Die Streife vor Ort wird Bescheid wissen.«

Dann schwiegen sie wieder. Bei Braunwalder meldeten sich erste Gedanken zum Zustand, genauer zum Füllgrad seines Kühlschrankes. Er hoffte, trotz Leiche, auf einen regulären Feierabend.

Helfenstein bog in die Hofeinfahrt ein. Hier stand bereits hinter dem Streifenwagen der Kastenwagen der Spurensicherung.

Carmen und Enzo von der Streife begrüßten ihn.

»Theres Zemp, die alte Bäuerin, hat um 6. 25 Uhr angerufen«, sagte Carmen.

»Bogdan, der polnische Gastarbeiter, sei ganz verstört aus dem Stall gekommen und habe gesagt, Aurel liege neben Aurora in seinem Blut. Die Bäuerin ist dann in den Stall gegangen. Der Gastarbeiter und sie werden jetzt in der Küche von einer Psychologin betreut.«

Braunwalder stapfte durch den Schnee zum Stall, der bereits von Scheinwerfern hell erleuchtet war. Er zog die hellblauen Plastiküberzüge über seine Schuhe und trat ein. Doktor Uwe Krempel, der Gerichtsmediziner, mit zwei Mitarbeitenden kniete am Boden. Jetzt sah Braunwalder die ganze Bescherung.

Hinter einer Kuh, die stand, lag ein junger Mann in einem grünen Overall auf dem Rücken, die Arme wie ein Engel ausgebreitet. Die Augen waren weit aufgerissen und seine Lippen schon blau. Sein Hals war von einer Heugabel durchbohrt, die im Boden steckte. Die Brust war mit Blut bespritzt, und auch sein Kopf lag in einer roten Lache. Uff, da brauchte man doch starke Nerven. Der Overall des Opfers hatte fast die Farbe von einem grünen Operationskittel, was aber die Blutlache nicht erträglicher machte. Jetzt entdeckte Braunwalder, dass der Hosenladen des Opfers offenstand und sein Penis entblößt war. Zwischen Kuh und Mann lagen zwei ungeöffnete Kraftfuttersäcke UFA 144 Prima Combi IPS. Die Kuh kaute etwas Heu und verhielt sich ruhig.

»Hallo, Brownie«, sagte Krempel. »Ein Frühstück der besonderen Art, nicht?«

»Auf dieses Frühstück könnte ich sogar verzichten«, merkte Braunwalder trocken an.

»Was kannst du schon sagen, Uwe?«

»Nebst Perforation des Kehlkopfes durch die Gabelzinke auch noch Schlag seitlich auf den Kopf, Schädelfraktur rechts, wenn das noch nicht gereicht hat, dann wahrscheinlich an Blut in der Lunge erstickt. Die Körpertemperatur ergibt einen Todeszeitpunkt vielleicht vor zwei maximal drei Stunden.«

»Da ging wohl jemand auf Nummer sicher oder hat in starkem Affekt gehandelt.«

»Ja, so sehe ich das auch. Obduktionsbericht, auch was seinen Schwanz angeht, also quasi from Nose to Tail, spätestens in 24 Stunden, auf ausdrücklichen Wunsch und gegen ein schönes Nachtessen bei dir auch etwas früher möglich.«

Braunwalder trat zu Anna Lischer von der Spurensicherung.

»Guten Morgen, Anna. Na, deine Nacht war offenbar kurz.«

»Ja, Timo, kaum im Bett, musste ich wieder raus. Ein Red Bull habe ich mir immerhin auf der Fahrt hierher reingezogen. Eine Anzahlung an das Schlafmanko. Kann dir noch nichts sagen. Spuren außendraußen sowieso Fehlanzeige. Der Schnee hat uns immerhin etwas Arbeit abgenommen, denn für das Schneeschaufeln sind wir nicht zuständig.«

»Ja klar, Anna. Ich höre von dir, wenn du etwas hast. Danke.«

Braunwalder kauerte sich nochmals neben die Leiche. Alles glich einer Exekution. Der junge Zemp war athletisch gebaut und musste wohl überrascht worden sein. Der Dreitagebart gab ihm ein sehr männliches Aussehen. Warum war sein Schwanz entblößt? Die Arme waren unnatürlich abgespreizt. Hatte der Täter die Leiche noch drapiert, hergerichtet?

Die Tiere waren wegen des Betriebs im Stall etwas unruhig geworden. Oder war es wegen des fehlenden Fressens, oder mussten sie ganz einfach gemolken werden?

Braunwalder stand auf und blickte nochmal von oben auf die Leiche. Dieses Bild würde ihn wohl nun für immer begleiten, genau wie einige Bilder anderer Tatorte. Noch gab es keine Methode, die ein Vergessen ermöglichte. Wie sensibel durfte ein Polizist sein? Diese Frage beschäftigte ihn immer wieder. Er griff sich in seinen Schnurrbart und trat dann vor den Stall ins Schneetreiben.

Braunwalder hatte die Plastiküberzüge an den Schuhen abgestreift, angeklopft und war vorsichtig ins Bauernhaus getreten.

»Hallo, hier Kommissar Braunwalder«, rief er im Flur.

Aus einer Tür, die offenbar zur Küche führte, trat eine junge Frau auf ihn zu.

»Alexandra Fuhrimann, Care-Team«, stellte sie sich vor.

»Wie geht’s der Mutter und dem Angestellten? Kann ich ein paar Fragen stellen?«

»Kommen Sie, wir werden sehen.«

Braunwalder trat in die Küche. Er nahm vom Herd den Geruch von etwas zu stark gebratenen Kartoffeln wahr. Dazu bemerkte er gleich den Eierkarton, der neben einer Pfanne mit Butter stand. Einen leichten Speichelfluss konnte er nicht unterdrücken. Am Tisch, mit dem Rücken zum Herd, saß eine etwas füllige Frau mit rundem Gesicht und hellen Haaren, die sie zu einem Knoten hochgesteckt hatte. Vornübergebeugt hob sie den Blick, ohne die Hand vom Henkel einer Teetasse mit Katzenmuster zu nehmen. Ihre Augen wirkten eingesunken und leer. Neben ihr auf der Bank saß ein kräftiger Mann mit einem rechteckig kantigen Gesicht, unrasiert, kurzen Haaren mit Geheimratsecken. Seine schwieligen Hände hatte er auf dem Tisch gefaltet und starrte auf einen leeren Teller. Das musste wohl der polnische Angestellte sein, kombinierte Braunwalder. An der Wand hinter ihm hing ein Kreuz, darunter das Foto eines Mannes, der dem Opfer offensichtlich glich. Eine Katze schleckte Milch aus einer Schale neben einem Regal, das Pfannen und Küchengeräte enthielt. Allein das Geräusch der schleckenden Katze war zu hören.

»Frau Zemp, das ist Kommissar Braunwalder von der Luzerner Polizei«, ergriff die Psychologin das Wort. »Können Sie mit ihm kurz sprechen?«

Die Frau nickte verzögert, ohne aufzuschauen. Die Psychologin deutete auf den Stuhl, auf dem sie wohl vorher gesessen hatte. Braunwalder setzte sich.

»Herzliches Beileid, Frau Zemp«, sagte er und hielt dann wieder inne. Schon oft hatte er solche Situationen erlebt, aber eine Routine wollte sich nicht einstellen. Wenn Angehörige noch keine Kenntnis von einem Ereignis hatten und er zum Überbringer der Hiobsbotschaft wurde, war es noch schlimmer. Einmal war ein Vater auf ihn losgegangen, hatte ihn zu würgen versucht, als er die Todesnachricht der Tochter überbringen musste.

»Sagen Sie, dass das nicht wahr ist«, hatte dieser geschrien. Dann war er zusammengebrochen.

Mit leiser Stimme sagte Frau Zemp: »Danke.«

Die Katze miaute und sprang zum Mann auf die Bank. Er begann, sie zu streicheln. Die Katze schnurrte.

»Wann haben sie Ihren Sohn gestern zum letzten Mal gesehen?«

»Er ging nach der Stallarbeit und dem Nachtessen so gegen 20 Uhr nach Kriens an den Maskenball.«

»War er verabredet?«

»Er wird wohl mit Rosa Scamullo, seiner Freundin, hingegangen sein.«

»Wissen Sie, wo Frau Scamullo wohnt?«

»In Kriens.«

»Haben Sie gehört, wann Ihr Sohn nach Hause gekommen ist?«

»Nein.«

»Und Sie, Herr …«,

»Grabowski«, ergänzte die Psychologin im Stehen.

»Auch nicht. Habe tief geschlafen. Immer sehr müde«, sagte der Mann mit dem markanten Gesicht am Tisch.

»Die Kollegen von der Streife haben mir gesagt, dass Sie Aurel Zemp im Stall gefunden hätten. Wie war das genau?«

Grabowski schluckte sichtbar, bevor er mit der Antwort begann:

»Bin wie immer im Winter um 6 Uhr in die Melkkammer. Habe alles für Melken und Füttern bereit gemacht. Gesehen, dass Overall und Stiefel des Bauern nicht da. Gedacht, vielleicht im Stall, und Aurora wird kalben. Dann in Stall gegangen und Aurel gesehen.«

»Haben Sie etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört?«, fragte Braunwalder nach.

Grabowski schüttelte den Kopf.

»Hatte Ihr Sohn Feinde oder Neider, Frau Zemp?«

Die Katze wollte auf den Tisch, was Grabowski verhinderte, indem er sie nahm und an seine Brust drückte. Dabei kraulte er sie hinter den Ohren, was sich diese gern gefallen ließ.

»Ich weiß nicht recht, aber in letzter Zeit waren Tierschützer immer wieder aufsässig. Unser Stall genüge den Anforderungen nicht mehr. Aurel hat das genervt, da er ja investieren wollte.

Auch bei andern Bauern in der Gegend sind sie vorstellig geworden.«

»Wurden er oder Sie bedroht?«

»Glaube, nicht direkt. Im Internet haben sie unseren Hof offenbar schlechtgemacht. Kenne mich da aber nicht aus.«

»Ist das Ihr Mann?«, fragte Braunwalder und deutete auf das Foto unter dem Kreuz an der Wand.

Frau Zemp nickte. »Ja, das war Alfons, mein Mann. Er ist mit dem Auto vor zwei Jahren oberhalb vom Hergiswald in einer Kurve tödlich verunglückt.«

Ihr Gesicht verlor bei diesen Worten etwas von der Weichheit, wurde, so schien es Braunwalder, eine Spur verhärmt.

»Haben Sie sonst noch Kinder?«

Frau Zemp nickte wiederum. »Ja, Ignaz, Sophie und Pia. Aurel war der Jüngste.«

»Wissen die Geschwister von Aurel schon Bescheid?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn Sie wollen, Frau Zemp, können wir vom Care-Team Ihre Kinder informieren«, brachte sich die Psychologin ein.

Frau Zemp hob leicht den Blick, nickte kurz, legte dann den Kopf auf ihre Hände auf dem Tisch und weinte leise. Die Katze wand sich in den Armen von Grabowski, befreite sich, sprang auf den Tisch neben den Kopf der Frau und begann, deren Haar zu lecken.

Die Psychologin fixierte Braunwalder, und er verstand, dass es jetzt wohl Zeit sei zu gehen. Er verabschiedete sich diskret, ging am Herd mit den Kartoffeln und den Eiern vorbei aus der Küche und trat ins Freie.

5

Der Streifenwagen mit Enzo am Steuer, Braunwalder auf dem Beifahrersitz und Carmen auf dem Rücksitz, fuhr auf der schneebedeckten Straße talwärts. Es war so gegen 10 Uhr, das Licht leicht fahl, und ein zügiger Nordwind wehte Schnee vom Hang über die Fahrbahn. Braunwalder blickte ins Tal, spürte ein leichtes Hungergefühl, dachte nach.

Warum war der Penis von Aurel Zemp entblößt? Gerade eben ging durch die Boulevardpresse die Geschichte eines jungen Bauern, der es regelmäßig mit seinen Tieren getrieben hatte. Nicht einmal die Hofhündin soll vor ihm sicher gewesen sein. Publik wurde alles, als der Bauer notfallmäßig ins Spital eingeliefert wurde, nachdem er sich selbst von einem jungen Stier penetrieren lassen wollte. Wie verbreitet war wohl Sodomie? Aurel Zemp, ein Tierschänder? War er beim Besteigen der Kuh vom Täter überrascht worden? Lagen darum die Futtersäcke neben der Kuh, quasi als Steighilfe? Braunwalder wusste aus seiner Tätigkeit, dass man von Vornherein nichts ausschließen durfte. Er musste dem Gerichtsmediziner noch sagen, dass er auch Aurora untersuchen solle!

Er griff zum Smartphone und wählte Uwes Nummer. Krempel ging relativ rasch ran.

»Was willst du, Brownie?«

»Uwe, hast du an die Kuh gedacht?«

»Wie meinst du das?«

»Untersuche doch die Scham der Kuh.«

»Oh, la, la, jetzt fällt auch bei mir der Groschen! Werde ich machen. Hat es in der Bauernstube ein zweites Frühstück gegeben?«

»Nein, Uwe! Ja, ich denke häufig ans Essen, aber nicht immer! Danke und Tschüss.«

Enzo grinste, während Carmen scheinbar unbeteiligt auf dem Rücksitz ihr Smartphone checkte.

Nach ungefähr zehn Minuten Fahrt erreichten sie den Gartenlaubenweg. Der Streifenwagen hielt auf dem Vorplatz des Hauses von Rosa Scamullo.

»Carmen, ich wäre froh, wenn du mich begleitest. Enzo, kannst du mir ein Schinkensandwich und einen Kaffee besorgen? Das wäre großartig. Schau doch, dass es Gurke oder Tomate oder ein Blatt Salat drin hat. Dann habe ich heute schon Gemüse gegessen.«

Braunwalder drückte dem Polizisten einen Zehner in die Hand.

»Hoffe, das reicht.«

Wieder einmal Laufbursche respektive Caterer, dachte Enzo.

»Und du, Carmen? Cappuccino, Espresso, Latte macchiato, Brioche, Schokoladegipfel, Berliner oder Haselnussschnecke?«

Carmen winkte ab. »Schon gut. Ich halt’s noch aus.«

Braunwalder und die Polizistin stiegen aus. In den umliegenden Häusern wurden einzelne Gesichter hinter den Fensterscheiben sichtbar. Ein Polizeiauto erregte immer Aufsehen. Deshalb war Braunwalder lieber mit Zivilfahrzeugen unterwegs. Wenn man ihn sah, dachte man wegen seiner Postur nicht gleich an einen Polizisten. Im Kontext mit dem Streifenwagen schon.

Braunwalder suchte die Klingel von Rosa Scamullo und drückte auf den Knopf. Als nichts geschah, klingelte er nochmals.

»Bist du es, Aurel?« Eine Frauenstimme meldete sich.

Braunwalder beugte sich zur Türsprechanlage vor.

»Hier Braunwalder von der Luzerner Polizei. Frau Scamullo?«

»Ähm, ja.«

»Würden Sie uns bitte reinlassen.«

Nach einem Summton ließ sich die Tür öffnen. Sie stiegen durch das Treppenhaus in den zweiten Stock, wo Rosa Scamullo wohnte.

Sie stand mit zerzausten, wilden Haaren, nur mit einem Nachthemd bekleidet an der Tür. Obwohl noch verschlafen und ungeschminkt, eine äußerst attraktive Frau, wahrscheinlich so um die 30, mit lebhaften Augen. Sie blickte ihren Morgenbesuch an und fuhr sich mit der rechten Hand verlegen durch die Haare, um diese zu ordnen. Sie wirkte auf Braunwalder etwas fahrig und nervös, was verständlich war, wenn man wohl aus dem Bett geklingelt wurde und die Polizei vor der Tür stand.

»Braunwalder, und das ist Frau Bieri«, sagte der Kommissar. »Dürfen wir reinkommen?«

Rosa kniff die Augen leicht zusammen, wirkte besorgt und trat unbeholfen zur Seite.

»Bitte, hier in der Stube haben wir Platz.« Mit einer Handbewegung zeigte sie den Weg.

»Ich ziehe mir noch etwas über.«

Der Kommissar und die Polizistin setzten sich je in einen Ikea-Sessel. Durch das Gewicht von Braunwalder kippte dieser gefährlich nach hinten, und Carmen Bieri hörte besorgt ein Ächzen und Knacken des Möbels. Um den Sessel zu entlasten, beugte sich der Kommissar unmittelbar nach vorn. Jetzt ein Möbelkollaps würde wieder unnötigen Schreibkram mit sich bringen. Vorbeugen im doppelten Sinne war allemal besser. An den Wänden hing moderne Kunst, flüchtig skizzierte Körper beiderlei Geschlechts. Der Tisch war mit zwei Computern und allerlei Papier und Zeitschriften belegt. Auch am Boden lagen Papierstapel. Hier wurde offenbar nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet. Die gut sichtbare Hausbar war ordentlich bestückt. Eine Flasche mit Baileys erinnerte Braunwalder an einen Absturz vor Jahren in einer Luzerner Bar.

Nach ein paar Minuten kam Rosa Scamullo mit einem Caffe Latte in der Hand und bekleidet mit einem weiten Wollpullover und Leggings zurück. Sie setzte sich ihnen gegenüber auf das Sofa.

»Frau Scamullo, Sie haben Aurel Zemp erwartet?«, ergriff Braunwalder das Wort.

Rosa nickte.

»Ist etwas mit ihm?« Ihre Augen weiteten sich erschrocken.

»Frau Scamullo, ich muss ihnen leider sagen, dass er tot ist.«

Braunwalder redete schon lange nicht mehr um schreckliche Tatsachen herum. Seine Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass es besser war, das Unvermeidliche rasch anzusprechen. Die Boten hatten Hiob auch zügig unterrichtet. Das He­rauszögern, das Hinhalten glich einer Art Folter.

Rosa erstarrte.

»Wie? Warum? Ein Unfall mit dem Auto?«

»Er wurde umgebracht, ein Gewaltdelikt.«

»Was, das kann doch nicht sein. Er war ja gerade noch bei mir. Aurel tot? Nein, unmöglich!«

Rosa stellte den Kaffeebecher auf den Sofatisch und starrte auf die gegenüberliegende Wand. So vergingen ein paar Sekunden, dann vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.

Braunwalder hatte bewusst Carmen Bieri zur Begleitung ausgewählt. Er hoffte, dass die Präsenz einer Frau alles für Rosa Scamullo erträglicher machen würde.

Carmen Bieri zog eine Packung Papiertaschentücher aus ihrer Jacke und reichte eines Frau Scamullo über den Tisch. Diese nahm es, wischte sich über die Augen und schnäuzte anschließend.

Braunwalder wartete und gab den Gefühlen von Frau Scamullo Raum. Er war selber aufs Alter emotionaler geworden. Das hatte auch mit seiner Lebensgeschichte zu tun, mit seinem privaten Scheitern, seiner in die Brüche gegangenen Ehe.

»Wie ist es passiert?«, fragte Rosa nach einiger Zeit und wischte sich mit dem Papiertaschentuch nochmals über das Gesicht.

»Er wurde im Stall erschlagen.« Das mit der Heugabel ließ der Kommissar für den Moment weg.

»Warum Aurel? Warum gerade er?«, sagte Rosa wohl mehr zu sich als zum Kommissar.

»Wann haben Sie Aurel Zemp zum letzten Mal gesehen?«, fragte Braunwalder nach einer kurzen Pause.

»Wir waren gestern am Maskenball im Pilatussaal und sind dann zu mir gegangen.«

»Wann haben Sie den Ball verlassen?«

»Ich denke, so gegen 3 Uhr vielleicht.«

»Ist Herr Zemp bei Ihnen geblieben?«

Rosa nickte.

»Sind Sie ein Paar?«

»Ja, seit letzten Herbst.«

»Haben Sie bemerkt, dass Ihr Freund irgendeinmal weggegangen ist?«

Rosa schüttelte den Kopf.

»Als ich erwachte, war er nicht mehr da. Er hat mir gesagt, dass er noch in den Stall müsse, da Aurora vielleicht kalben würde. Als ich den Caffe Latte holte, habe ich in der Küche einen Zettel von ihm gefunden.«

»Können wir den bitte sehen?«

Rosa nickte, stand auf und ging langsam aus der Stube. Braunwalder nutzte die Gelegenheit, um Carmen zuzunicken und danke zu sagen.

Rosa brachte einen gelben Post-it-Zettel.

Braunwalder las: »Hoffe, du hast gut geschlafen. Wenn alles gut läuft, bin ich spätestens zum Frühstück zurück. Dein Pirat.

P.S.: War gestern noch bei der Bank wegen der Finanzierung des Umbaus.«

Der Kommissar legte den Zettel auf den Sofatisch.

»Frau Scamullo, hatte Herr Zemp Ihres Wissens Feinde?«

Rosa zuckte mit der Schulter.

»Aurel war überall gern gesehen. Er war ein umgänglicher Typ. In unserer Clique hatten wir es immer gut. Mir fällt gerade niemand ein.«

»Und gestern beim Maskenball? Keine Auffälligkeiten? Auseinandersetzungen? Rivalitäten?«

»Natürlich wird man als Frau manchmal angemacht, aber es war klar, dass ich mit Aurel da war.«

»Wie war Ihr Verhältnis zur Familie Zemp?«

»Ich habe Theres, die Mutter, und seine Geschwister erst einmal an einem Familienfest gesehen.«

»Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Freund in letzter Zeit verändert war, oder dass ihn irgendetwas bedrückt hat?«

»Kann ich nicht sagen, er war in der Regel froh und lebenslustig. Sorgte in unserer Clique auch immer für Stimmung.«

»Danke, Frau Scamullo. Das war es für den Moment. Wir werden uns wieder melden. Haben Sie jemanden, an den Sie sich wenden können, der Ihnen beisteht? Oder sollen wir Ihnen jemanden vom Care-Team schicken?«

Rosa schüttelte den Kopf.

»Ich schaue, ob ich meine Freundin Mirjam erreiche, und sonst meine Schwester.«

Der Kommissar stand auf, reichte Rosa die Hand, sagte: »Ich wünsche Ihnen viel Kraft«, drehte sich gemächlich um und verließ, gefolgt von der Polizistin, die Wohnung.

Enzo wartete im Auto mit einem Schinkensandwich und Kaffee.

6

Nach und nach waren alle Geschwister auf dem Hof Oberlehn eingetroffen. Jetzt saßen sie mit der Mutter am Küchentisch. Auf einem Brett lagen Käse und Trockenfleisch, daneben in einem Körbchen geschnittenes Brot. Essen mochte kaum jemand. Ignaz, der am Schluss gekommen war, hatte gerade noch gesehen, wie die Leiche in einem grauen Kunststoffsarg weggebracht wurde. Noch immer stand der Kastenwagen der Polizei auf dem Hofplatz.

Sophie und Pia saßen mit hängenden Köpfen auf der Bank, zwischen ihnen die Katze.

Ignaz hatte sich an der Seite der Mutter niedergelassen. Diese hatte ihm aus einer Thermoskanne Kaffee in eine Tasse eingeschenkt. Er stand auf und holte die Schnapsflasche aus dem Regal.

»Was weiß man?«, fragte Ignaz.

»Er wurde erschlagen«, sagten die beiden Schwestern fast synchron.

»Wann genau?«

Die Mutter zuckte mit den Schultern. »Er war am Maskenball in Kriens und dürfte gegen Morgen nach Hause gekommen sein.«

»Wo ist Bogdan?«

»Im Stall. Er kann erst jetzt zum Rechten schauen und die Tiere versorgen«, sagte die Mutter, die mit beiden Händen ihre Kaffeetasse umklammert hielt.

»Wie soll das jetzt bloß weitergehen? Du und Bogdan könnt unmöglich hier weitermachen«, merkte Ignaz an.

Pia hob den Kopf und fixierte den Bruder.

»Ich vermisse Betroffenheit bei dir! Das alles kommt dir nicht ungelegen, Bruderherz. Du hattest ja immer schon andere Pläne und Interessen.«

»Bitte Pia, nicht jetzt«, flehte Sophie. »Kaum ist Aurel nicht mehr, geht alles wieder los.«

»Ja, ihr kennt meine Ansichten. Landwirtschaft in dieser Form hat keine Zukunft.«

Ignaz schlürfte Kaffee und hielt dem Blick von Pia stand.

»Aurel hatte Pläne«, sagte Pia, »ich war so gespannt, wie er alles umsetzen wollte. Einfach furchtbar.«

»Ich werde den Bauernverband kontaktieren und um einen Betriebshelfer nachsuchen, bis wir untereinander alles geklärt haben. Bogdan und Mutter schaffen die Arbeit nicht allein, und wir sind alle in Beruf und Familie eingebunden«, sagte Ignaz bestimmt.

»Von Trauer merke ich nichts, zupackend wie in seinem Bauunternehmen, beinahe Business as usual, so scheint es mir«, fauchte Pia.

»Bitte«, hauchte Sophie und begann zu weinen. »Was würde Vater dazu sagen?«

»Ich bin froh, wenn du das machst«, brachte sich die Mutter ein. »Esst etwas. Wollt ihr noch Suppe? Es ist noch welche von gestern da.«

»Ich muss, wenn möglich, um 14 Uhr zu Hause sein, Heiri hat Dienst im Asylzentrum, und die Kinder haben ja Ferien«, sagte Sophie.

»Ich nehme gerne einen Teller«, sagte Ignaz, »dann gehe ich ins Büro und organisiere alles. Zudem habe ich noch eine Bauabrechnung fertigzustellen. Komme dann gegen Abend nochmals vorbei. Über die Beerdigung müssen wir auch bald sprechen. Aber gerne noch etwas Suppe, Mutter.«

»Ich bleibe bei dir.« Pia rückte näher zur Mutter und nahm ihre Hand. »Nach dem Vater jetzt noch Aurel, alles etwas viel.«

Theres Zemp löste sich von ihrer Tochter, stand auf und wandte sich zum Herd. Sophie verabschiedete sich, umarmte ihre Mutter und ging. Pia und Ignaz blieben am Tisch sitzen.

»Was würdest du sagen, wenn ich den Hof fortführen möchte?«, fragte Pia etwas provokativ.

Ignaz schaute seine Schwester mit großen Augen an, begann dann zu lächeln und sagte:

»Du als Pflegefachfrau, träum weiter! Die Kühe brauchen keine Windeln, sondern Stroh und etwas mehr Futter als deine Patienten.«

»Du denkst nur ans Geld. Dass der Hof eine Tradition hat, ist dir egal. Aurel hatte gute Ideen. Wenn wir uns einig wären und zusammenstünden, ließe sich alles organisieren, dass Mutter bleiben könnte und der Hof zu halten wäre.«

»Daran habe ich kein Interesse. Das ist verlorene Liebesmüh. Sei realistisch, Pia.«

Die Mutter brachte zwei Teller mit Suppe. Bogdan kam in die Küche und setzte sich zu den anderen an den Tisch.

»Bogdan, schaffst du es, bis ich einen Betriebshelfer organisiert habe?«, fragte Ignaz.

»Wie lange bin ich allein?«

»Ich hoffe, in zwei, drei Tagen haben wir jemanden.«

Bogdan nickte und begann, auch von der Suppe zu essen.

So gegen 13 Uhr löste sich die Tischgesellschaft auf. Theres Zemp blieb allein mit der Katze und einer Tasse Kaffee am Tisch sitzen und führte ein stilles Zwiegespräch mit ihrem verstorbenen Mann.

7

Braunwalder saß in seinem Büro vor dem Computer. Das schwache Nachmittagslicht dämpfte seine Energie. Zudem spürte er latent ein Hungergefühl. Nach dem Sandwich, welches er auf der Rückfahrt von Kriens gegessen hatte, fand er keine Zeit für das Mittagessen. Er musste die Staatsanwältin orientieren und der Pressestelle ein paar Angaben für ein Communiqué machen.

Dann musste er mit Kommissar Schenk von der Kripo Köln per Skype sprechen. Dieser Schenk glich irritierenderweise nicht dem Tatort-Kommissar, und sein Kollege hieß auch nicht Ballauf, sondern Wenzel. Es ging um den Raubüberfall am Schwanenplatz. In Köln hatte sich ein ähnliches Verbrechen ereignet. Im gestohlenen Fluchtfahrzeug hatte man DNA-Spuren sichergestellt, die nicht von der Halterin stammten. Bis jetzt ließen sie sich noch keiner Person zuordnen. Der Abgleich der Bilder der Überwachungskameras in Köln und Luzern zeigten große Ähnlichkeiten. Bei beiden Überfällen waren es zwei Täter gewesen. Die Staturen der beiden waren vergleichbar, obwohl sie andere Kleider trugen. Alles hatte sich auch ähnlich zugetragen. Einer hielt die Angestellten mit einer Waffe in Schach, während der andere Schmuckstücke und Uhren in einen Rucksack beförderte. Nach etwa einer Minute war alles vorüber, und die Männer verließen das Geschäft. Die Luzerner Polizei wollte mit der Kripo Köln in Kontakt bleiben und Ergebnisse der Untersuchungen austauschen.

Jetzt recherchierte Braunwalder das Umfeld der Tat auf dem Hof Oberlehn. So hatte er auf der Webseite der Tierschutzorganisation RTA (Respect the Animals) eine Liste von Bauernhöfen aus dem Kanton Luzern gefunden, deren Zustände kritisiert wurden. Aufgeführt war auch der Hof Oberlehn. Die engen Platzverhältnisse im Stall seien ein Skandal und nicht zeitgemäß. Die Tiere würden häufig im eigenen Kot liegen. Auch gebe es keine Kuhbürste und zu wenig Auslauf. Federführend bei der Tierschutzorganisation war ein gewisser Ernst Münger.

Braunwalder stieß auf einen Leserbrief, der in der Luzerner Zeitung erschienen war.

Tierschutzgesetz nützt nichts

Kaum ein Land hat auf dem Papier ein so fortschrittliches Tierschutzgesetz wie die Schweiz. Und dennoch: Das beste Gesetz nützt nichts, wenn dessen Einhaltung nicht durchgesetzt werden kann. Der Zweck des Schweizer Tierschutzgesetzes ist es, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen. Der Gesetzgeber macht jedoch deutlich, dass es durchaus erlaubt ist, die Würde eines Tieres zu missachten, wenn dies durch »überwiegende Interessen gerechtfertigt werden kann«. Da Nutztiere nur aus wirtschaftlichen Gründen gezüchtet, gehalten, genutzt und getötet werden, gelten wirtschaftliche Interessen als übergeordnet. Demnach sind auch die Tiere nur solange nützlich, wie ein finanzieller Ertrag aus ihnen erwirtschaftet werden kann. Ihrem Dasein als Lebewesen kommt in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zu, womit sie auf reine buchhalterische Faktoren reduziert werden. Das System der Tierhaltung bringt es demnach mit sich, dass Nutztiere mit Einschränkungen leben müssen, weil wirtschaftliche Interessen dies bedingen. So werden Kälber in der Regel direkt nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt und in eine separate Kälberbox gesperrt; männliche Küken sind für die Eierproduktion unbrauchbar und werden deshalb allesamt entsorgt; Ferkeln werden die Schwänze kupiert, um zu verhindern, dass sie aus lauter Langweile ihre Artgenossen anknabbern und so weiter.

Jesus hat Tieropfer abgeschafft und durch Wein und Brot ersetzt. Im Buch der Sprichwörter steht: »Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig.«

So werden im Kanton Luzern und auch schweizweit Tiere unter unwürdigen Zuständen gehalten. Es wäre an der Zeit, dass die zuständigen Stellen endlich handeln und das Gesetz umsetzen würden.

Ernst Münger, RTA (Respect the Animals)

Als Braunwalder den Namen Ernst Münger googelte, kam er auf die Webseite der Organisation RTA. Hier fand er Bilder einer Mahnwache vor dem Schlachthof Sursee. Da die Tiere jeweils am Morgen in aller Frühe angeliefert werden, hatten die Tierschützer in der Dunkelheit Stellung bezogen. Sie wollten auf die Schlachtung aufmerksam machen und die Menschen darüber informieren, dass das Fleisch auf den Tellern und in den Läden ein Gesicht und ein Leben gehabt hatte. Dies sagte ein Mann mit langem Bart und Zipfelmütze, der sich als Ernst Münger und Organisator des Protestes zu erkennen gab.

»Eins, zwei, Polizei«, das Smartphone meldete sich. Es war Anita von der Pressestelle.

»Brownie, schau dir mal Blick online an.«

Braunwalder öffnete ein neues Fenster im Browser. Was er las, ließ ihn zusammenzucken.

»Bauer, ledig, aufgegabelt!«,stand da in fetten Lettern.

»Verdammt, Anita! Woher haben die das? In unserem Communiqué war bloß von einem Gewaltverbrechen die Rede.«

»Ja, ich weiß. Das Bild zum Artikel, das unsere Fahrzeuge auf dem Hofplatz zeigt, ist von einem Leserreporter. Das mit der Heugabel muss irgendwie durchgesickert sein. Wir müssen wohl morgen eine Pressekonferenz ansetzen und uns überlegen, was wir preisgeben.«

»Das sehe ich auch so. Bitte morgen nicht zu früh, ich möchte Eva dabeihaben, und vorher muss ich sie noch auf den aktuellen Ermittlungsstand bringen. Auch muss ich mich noch beim Polizeipräsidenten rückversichern. Schönen Abend dir. Gehst du noch raus zum Abschluss der Fasnacht, an den Monstercorso mit den Guggenmusiken?«

»Nein, Brownie, das Monster, mit dem wir es hier zu tun haben, reicht mir. Tschüss.«

8

Ihr Sohn Ado war müde vom Kinderumzug, hatte sich zu Hause noch Hot Dog gewünscht und spielte nun mit seiner Spielkonsole. Am Nachmittag hatte es leicht geschneit, als sie durch die Altstadt gezogen waren. Mütter und Väter mit ihren Kindern, die Kleinsten sogar teilweise in Leiterwagen. Viele tolle Kostüme waren im Vorfeld der Fasnacht entstanden. Häufig zu sehen waren Sujets mit Zwergen oder Jungtieren, wobei die Eltern dann als Schneewittchen oder als irgendein ausgewachsenes Tier daherkamen. Ado war ein Ritter und sie ein Burgfräulein gewesen.

Eva Bilic Kerner räumte die Küche auf und trank einen Sanbitter mit Eis. Drago, ihr Mann, war an einem Meeting in Genf und würde erst morgen Abend zurückkommen. Morgen hütete die Schwiegermutter den Sechsjährigen. Sie musste wieder zur Arbeit. Ohne Tagesbetreuung und die Großeltern ihres Mannes könnte sie nie in einem 80-Prozent-Pensum arbeiten. Einen Tag konnte ihr Mann zu Hause sein, da er durch Homeoffice etwas Flexibilität hatte.

Kurz nach 20 Uhr schlief Ado. Die Kommissarin startete den Computer und loggte sich im Polizeiserver ein. Auf ihrem Account fand sie nebst dem üblichen Betriebsspam eine Nachricht von Braunwalder.

Hallo Eva,

der Tag war turbulent. Ein Mord am Sonnenberg wird uns beschäftigen. Schau mal beim Blick rein, dann ahnst du, was auf uns zukommt. Hoffe, dein Fasnachtstag war gut. Bis morgen.

Timo

Die Kommissarin begann, an den Fingernägeln zu kauen. Für jemanden, der sie beobachtete, ein klares Zeichen von Stress, Nervosität oder Anspannung. Sie war sich dieser Gewohnheit nicht immer bewusst. Nägelkauen funktionierte auch, um sich zu konzentrieren, die Hände waren immer verfügbar, die Finger schnell am Mund. Seit ihrer Kindheit hatte sie schon alles ausprobiert, um damit aufzuhören. Kürzlich hatte sie gelesen, dass auch Britney Spears, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Herzogin Meghan das gleiche Laster hätten. Also war sie immerhin in prominenter Gesellschaft.

Die Kommissarin wirkte mit ihrem schlanken, ja beinahe anorektischen Körperbau und den fahrigen Bewegungen ohnehin etwas nervös. Ein Sidecut-Haarschnitt gab ihr aber etwas Toughes und Sportliches. Braunwalder und sie hatten als Ermittlerduo den Spitznamen »Dick und Dünn«. Der Body-Mass-Index des Kommissars lag jenseits von Gut und Böse und ihr eigener an der untersten Grenze des Normalen.