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Gemeinde- und Pastoralreferent:innen sind als pastorale Profis in der klerikal-hierarchischen Männerkirche strukturell zweitrangig. Viele erleben eine Missachtung ihrer Arbeitnehmer:innenrechte, manche erzählen von sexuellen Übergriffen, andere von spirituellem Missbrauch – so die alarmierenden Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage des Gemeindereferent:innen-Bundesverbandes von 2022, die in diesem Buch vorgestellt werden. In einem weiteren Teil kommen Betroffene von Machtmissbrauch im pastoralen Dienst ausführlich zu Wort. Sie sprechen öffentlich aus, was sonst nur im kollegial-vertrauten Kreis erzählt wird. Vertiefende Reflexionen von Fachpersonen aus Personalführung, Organisationsentwicklung, Psychiatrie, Kirchenrecht und Theologie runden den Band ab.
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Seitenzahl: 252
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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlich & weigand, Schwäbisch Hall
Umschlagmotiv: © birdys / photocase
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
ISBN Print 978-3-451-39853-7
ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-83854-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83853-8
Macht ist zwar vordergründig ein soziales Strukturelement, doch eines mit ungeheuren psychischen Implikationen. Denn sie betrifft den Kern der Person: das unendliche Selbstwertdrama des kurzlebigen Menschen. Entgleister Machthunger ist suchtartige, brachiale Selbstaufwertung auf Kosten anderer. Machtsucht kann beschränkt werden, wenn sie nicht auf Unterwerfung, Schmeichelei und Co-Abhängigkeit trifft. Ihre Wurzel aber, der vergängliche Kern, die Befürchtung der eigenen Nichtigkeit, bleibt.
Petra Morsbach
(in: Petra Morsbach, Der Elefant im Zimmer. Über Machtmissbrauch und Widerstand. Essay © 2020 Penguin Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 20)
Vorwort
Kapitel 1: Einführung
1.1 Wozu dieses Buch?
1.2 Entstehung pastoraler Lai*innenberufe in Deutschland
1.3 Gründung des Bundesverbands der Gemeindereferent*innen
1.4 Inhaltliche Schwerpunkte der Verbandsarbeit
a) Strukturelle Zweitrangigkeit
b) Organisationsentwicklung
c) (Macht-)Missbrauch in der katholischen Kirche
Kapitel 2: Erfahrungen mit Machtmissbrauch – Umfrageergebnisse
2.1 Statistische Ergebnisse: Fragen zur Person
2.2 Statistische Ergebnisse: Erfahrungen mit Machtmissbrauch
a) Varianten von Machtmissbrauch
b) Durch wen erfolgten die Übergriffe?
c) Folgen des erlittenen Machtmissbrauchs
d) Weitere Ergebnisse
2.3 Antworten auf offene Fragen zu Erfahrungen mit Machtmissbrauch
2.4 Vorschläge zur Prävention von Machtmissbrauch
Kapitel 3: Betroffene erzählen
Bericht 1: Guten Tag, ich bin Frau „NUR“
Bericht 2: „Wir haben es gehört – wir nehmen es mit“
Bericht 3: War ich Opfer von Narzissten?
Bericht 4: Mir wurde ein Schweigegebot auferlegt.
Bericht 5: „Stellen Sie erst mal Ihre Gefühle in den Kühlschrank!“
Bericht 6: „Jetzt sind wir wieder gut, ja?“
Bericht 7: Der Wolf
Bericht 8: In Krisenzeiten
Kapitel 4: Reflexionen aus Fachperspektiven
4.1 Die Sorge der Personalabteilung
Regina Seneca
4.2 Leadership und Zusammenarbeit auf Augenhöhe wider den Machtmissbrauch
Margherita Onorato-Simonis
4.3 Emanzipation und Resilienz – Nachhaltige Wege aus der Abhängigkeit
Valentin Dessoy
4.4 „Ich bin berufen, euch zu sagen, wo es lang geht“ – Kritische Rekonstruktionen missbräuchlicher Pastoralmacht – fatale Theologie?!
Oliver Wintzek
4.5 Geistliche Berufung als Kompensationsmechanismus – Nährboden missbräuchlicher Handlungsspielräume? – Psychodynamische Anmerkungen eines Psychiaters
Martin Flesch
4.6 Missbrauch von Macht in der Territorialseelsorge – Reflexion der Umfrageergebnisse aus kanonistischer Perspektive
Rosel Oehmen-Vieregge
Anhang
Anmerkungen
Anschreiben und Fragebogen
Kontakt – Vernetzung – Beratung
Autor*innen
Herausgeber
Wer Erzieher*in, Jurist*in, IT-Fachperson oder was auch immer werden möchte, entscheidet sich für eine entsprechende Ausbildung bzw. ein Studium und sucht sich anschließend einen Arbeitsplatz oder macht sich selbstständig. Wer sich für ein Anstellungsverhältnis entscheidet, kann Glück oder Pech haben. Machtmissbrauch und autoritäre, inkompetente oder übergriffige Vorgesetzte kann es in jedem Unternehmen geben; ebenso Angestellte, die für ihre Kolleg*innen oder die Führungskräfte anstrengend sein können.
Was ist anders, wenn es um den Beruf der Gemeindereferent*in (im Folgenden GR) in der katholischen Kirche geht? Wer sich dafür entscheidet, entscheidet sich automatisch für die Kirche als Arbeitgeberin und damit für eine Organisation, die nicht nur Anspruch auf Arbeitsleistung erhebt, sondern auf die gesamte Person. Mitgliedschaft, Loyalität, Zustimmung zur Glaubenslehre und Identifikation mit den Zielen der Kirche sind unabdingbare Voraussetzungen für einen pastoralen Beruf. Allein die etwas schillernde Rede vom „pastoralen Dienst“ impliziert, dass es um mehr geht als um ein Arbeitsverhältnis. Wer sich dafür entscheidet, tut dies in der Regel sehr bewusst. Angehende GR wollen in der Kirche und für die Kirche tätig sein. Sie absolvieren ein Studium, machen Erfahrungen in der Praxis und erwerben so die entsprechenden Kompetenzen. Um tätig werden zu können, braucht es jedoch mehr als einen Bachelorabschluss und eine erfolgreich absolvierte Berufseinführungsphase. Notwendig ist eine Beauftragung durch den jeweiligen Bischof, in der z. B. gesagt wird: „Verkünden und leben Sie das Evangelium in Wort und Tat, sodass Glaube, Hoffnung und Liebe neu geweckt werden.“1 Manche Kolleg*innen sagen: „Ich habe den schönsten Beruf der Welt.“ Sie schätzen die Vielseitigkeit, tun „ihren Dienst“ aus tiefer Glaubensüberzeugung und sind gerne bereit, in der klassischen Seelsorge, in kategorialen Bereichen oder auch in Arbeitsfeldern wie z. B. Bildung, Prozessmanagement und Innovation Verantwortung zu übernehmen.
Andere starten zunächst aus dieser Haltung heraus in den Beruf und nehmen dann mehr oder weniger rasch wahr, dass etwas nicht stimmt und dass sie diese Arbeit ganz anders erleben, als sie es sich erhofft hatten. Es werden immer mehr Kolleg*innen, die signalisieren, dass vieles in ihrem beruflichen Kontext sie sehr anstrengt und bedrückt. Nicht wenige werden krank, zum Teil sogar chronisch krank oder müssen aus Selbstschutz aus dem Beruf aussteigen. Sie erzählen von belastenden Erfahrungen an ihrer konkreten Stelle und oft auch davon, wie sehr sie sich die Frage stellen, ob sie das System der römisch-katholischen Kirche noch unterstützen können und wollen. Viele davon treibt nicht nur um, worunter sie persönlich leiden, sie hinterfragen kritisch manches in der pastoralen Praxis. Ältere hoffen auf die Rente, Jüngere arbeiten an ihrem jeweiligen Plan B. Vor allem im vertrauten Kreis wird erzählt, wie patriarchalisch, inkompetent, respektlos oder auch sexuell und/oder spirituell übergriffig Vorgesetzte erlebt werden und wie wenig Hilfe von den Personalverantwortlichen kommt. Manche Kolleg*innen sprechen von der „70 %-Regel“. Insider verstehen, was damit gemeint ist. Als GR muss man damit rechnen, dass 70 % der schlicht aufgrund ihrer Weihe ihnen gegenüber weisungsbefugten Priester nicht viel von Personalführung verstehen. Sie haben es nicht gelernt, sie wollen diese Funktion möglicherweise gar nicht ausüben. Oder sie wollen unangefochten Chef sein aus der Haltung heraus, dass sie allein schon durch ihre Weihe das Recht haben zu bestimmen.
Viele Kolleg*innen im pastoralen Beruf leiden und dies gilt für Angehörige jeder Berufsgruppe, auch für Priester2 und Diakone. Der Fokus dieser Veröffentlichung liegt auf Gemeinde- und Pastoralreferent*innen (im Folgenden GR und PR) als professionellen Seelsorger*innen ohne Weiheamt. Dazu gehören neben vielen Männern ausnahmslos alle Frauen, die einen pastoralen Beruf ausüben. In diesem Buch kommen sie zu Wort. Wir, die Herausgeber, geben Kolleg*innen die Möglichkeit, über ihre Situation zu berichten. Manche Leser*innen werden eigene Erfahrungen assoziieren, Führungspersonen werden eventuell nachdenklich und entwickeln Ideen für eine Personalarbeit, die Machtmissbrauch verhindert.
Herausgeber dieses Buchs ist der Bundesverband der Gemeindereferent*innen Deutschlands. Im Juni 2022 wurde der Vorstand durch die Delegierten der Diözesanverbände beauftragt, eine Umfrage zu „Erfahrungen mit Machtmissbrauch im pastoralen Dienst“ durchzuführen. Die Umsetzung des Auftrags erfolgte durch uns, Regina Nagel und Hubertus Lürbke. Wir sind im Tandem Verbandsvorsitzende, und abgesehen vom Beruf verbindet uns langjährige Erfahrung in Mitarbeitervertretungsämtern für pastorale Berufsgruppen. Wir sind Teil des Systems und verstehen uns als Sprachrohr der Kolleg*innen, die in diesem Buch anonymisiert von ihren Erfahrungen berichten.
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Das erste Kapitel beantwortet die Frage, wozu dieses Buch veröffentlicht wird, und bietet eine Einführung in die Geschichte der Berufsgruppe und die Schwerpunkte der Verbandsarbeit.
Im zweiten Kapitel werden Ergebnisse der Umfrage dargestellt, an der im Sommer 2022 fast 1.000 GR und PR teilgenommen haben. Der erste Schritt ist dabei ein Einblick in die statistischen Ergebnisse. Der weitere Verlauf des Kapitels bietet einen nach inhaltlichen Schwerpunkten geordneten Einblick in die zahlreichen Einzelantworten. Eine umfassende, wissenschaftlich fundierte Auswertung ist im Rahmen dieses Buchprojekts weder machbar noch darstellbar. Ergänzend zu dem, was im Buch dargelegt werden kann, wird es jedoch weitere Auswertungen geben, die auf der Homepage des GR-Bundesverbands abgerufen werden können (www.gemeindereferentinnen.de).
Der Schwerpunkt des dritten Kapitels sind Betroffenenberichte. Diese sind auf der Grundlage von Interviews verfasst worden, zu denen sich Gemeinde- und Pastoralreferent*innen im Nachgang zur Umfrage bereit erklärt hatten.
Im vierten Kapitel kommen Fachpersonen zu Wort, die wir um Beiträge gebeten haben. Den Anfang machen zwei Frauen, die eine leitende Position im Bereich Personal innehaben. Regina Seneca ist ursprünglich selbst Gemeindereferentin, war Diözesanreferentin für GR und ist inzwischen im Tandem mit einem Priester Hauptabteilungsleiterin für das pastorale Personal in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Sie befasst sich in ihrem Beitrag mit dem Thema „Die Sorge der Personalabteilung“. Ihre Überschrift ist bewusst mehrdeutig gewählt. Sie zeigt verschiedene Aspekte von Führung auf und stellt angesichts der Missstände u. a. die Frage: „Warum halten die Geführten das aus?“ Auch Margherita Onorato-Simonis ist Personalchefin. Sie ist es für das gesamte Personal des Bistums Aachen und erläutert, weshalb Leadership und Zusammenarbeit auf Augenhöhe Mittel gegen Machtmissbrauch sein können. U. a. zeigt sie auf, dass gute Führungskräfte als Pendant kompetente Mitarbeitende brauchen.
Und wenn es nun aber nicht funktioniert, wenn Führungsversagen, Verstrickungen, (Co-)Abhängigkeit oder das System Kirche an sich eine konstruktive Zusammenarbeit verhindern? Zu dieser Frage äußert sich der Dipl.-Psych., Dipl.-Theol. Valentin Dessoy. Er zeigt Resilienzstrategien auf und zieht dabei auch in Betracht, dass möglicherweise eine Exit-Strategie das Mittel der Wahl sein kann.
Zwei weitere Beiträge befassen sich mit dem Begriff der „Berufung“ und benennen Gefahren, die diesbezüglich Aufmerksamkeit verdienen. Oliver Wintzek, Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie in Mainz, reflektiert überhebliche Berufungsideologie theologisch kritisch. Der Psychotherapeut Martin Flesch bietet psychodynamische Anmerkungen zur Rede von geistlicher Berufung als Nährboden missbräuchlicher Handlungsspielräume. Beide Beiträge können dazu anregen, die eigene Haltung zu Berufung zu reflektieren wie auch Erfahrungen mit missbräuchlichem Verhalten auf dieser Folie zu betrachten.
Der abschließende Beitrag in Kapitel 4 stammt von Rosel Oehmen-Vieregge. Sie nimmt als Kanonistin eine kirchenrechtliche Perspektive ein und legt in ihrem Beitrag den Schwerpunkt auf die Prävention von Machtmissbrauch, die einen Kulturwandel in der kirchenrechtlichen Praxis erfordert.
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Wir wünschen uns, dass das Buch beachtet und aus weiteren Perspektiven rezipiert wird, z. B. zur besonderen Situation von Frauen im pastoralen Beruf oder zur Gefahr des spirituellen Missbrauchs in der pastoralen Arbeit an sich und durch „Missionierungsversuche“ traditionalistischer Gruppierungen in den Gemeinden. Uns ist bewusst, dass von Machtmissbrauch betroffene Kolleg*innen durch die Lektüre des Buchs an eigene schlimme Erlebnisse erinnert und eventuell dadurch getriggert werden können. Auf den letzten Seiten finden sich deshalb Hinweise zu Kontakt- und Unterstützungsmöglichkeiten. Auch die Option einer vertieften Vernetzung gegen Machtmissbrauch und für Selbstermächtigung haben wir im Blick und bieten dazu Kontaktaufnahme an.
Wir danken allen Kolleg*innen, die sich an der Umfrage beteiligt haben und darunter vor allem denen, die zu einem Interview bereit waren. Besonders danken wir den acht Personen, die einen Erfahrungsbericht zur Verfügung gestellt haben. Ohne diese breite Unterstützung des Buchprojekts wäre es nicht zustande gekommen. Wir danken ebenfalls allen Autor*innen der Fachbeiträge und Herrn Clemens Carl für die Begleitung des Projekts seitens des Herder-Verlags. Vor allem danken wir Dr. Rosel Oehmen-Vieregge. Sie hat uns viele Monate lang fachkundig, kritisch und bestärkend unterstützt und begleitet.
Widdern/Eutin, 2. März 2023
Regina Nagel und Hubertus Lürbke
„Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche.“ Dieses Zitat von Bischof Heiner Wilmer stammt aus einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger im Dezember 2018. Im März 2019 wurde das Zitat zum Leitthema der Bundesversammlung des Gemeindereferent*innen-Bundesverbands (GRBV). An diesem Wochenende im März kam der Bundesvorstand mit den Delegierten der Bistumsverbände über ihre Einstellung zu ihrem Beruf ins Gespräch. Es ging dabei um folgende Themen: „Was ist uns in unserem Beruf wichtig? Was tun wir gerne? Worunter leiden wir?“ Eine Frage auf einer Stellwand lautete: „Warum arbeite ich eigentlich noch in diesem Beruf bzw. in der Kirche?“ Manche der Teilnehmenden schrieben schlicht: „Weil ich damit meinen Lebensunterhalt verdiene.“ Es war ein ehrlicher Austausch darüber, wie schwer es vielen fällt, systemerhaltend in einer Organisation zu arbeiten, die so viel Schaden anrichtet. Der eine oder die andere sagte, dass mit Renteneintritt ein Kirchenaustritt durchaus zu überlegen sei. Was den „Schaden“ anbelangt, war auf das System hin vor allem die männlich-zölibatär-hierarchische Struktur im Blick sowie das Thema „sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt“ und die damit einhergehende Vertuschung. Darüber hinaus ging es auch darum, was die einzelnen Kolleg*innen selbst an Abwertung, mangelnder Wertschätzung und Übergriffigkeiten im Beruf erleben. Das, was damals im kleinen Kreis beraten wurde, erfuhr in der weiteren Verbandsarbeit eine Vertiefung, führte dann zur bundesweiten Umfrage „Erfahrungen mit Machtmissbrauch im pastoralen Beruf“ und schließlich zu diesem Buch.
Dieses Buch ist nicht die erste Veröffentlichung zum Thema „Machtmissbrauch in der katholischen Kirche.“1 Kritik an Machtmissbrauch im System Kirche insgesamt oder durch einzelne Gruppierungen oder Personen gibt es schon lange. „Kleriker, Psychogramm eines Ideals“ von Eugen Drewermann war 1990 für 30Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Anfang der 1990er-Jahre erschien „Hinter der Schwelle – ein Leben im Opus Dei“ von Maria del Carmen Tapia. Der Journalist Peter Hertel analysierte vor über 20 Jahren in „Glaubenswächter. Katholische Traditionalisten im deutschsprachigen Raum“ vor allem sogenannte „neue geistliche Bewegungen“. Hubertus Czernin beschrieb in „Das Buch Groer“ einen der erschreckendsten Missbrauchs- und Vertuschungsfälle in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Aufgegriffen wurde dieser Fall 2020 von Petra Morsbach in ihrem Buch „Der Elefant im Zimmer – Über Machtmissbrauch und Widerstand“. Sie geht darin der Frage nach, warum Machtmissbrauch vertuscht wird, und ermutigt zum Widerstand. Eine Frau, die durch ihren Mut, ihre Geschichte zu veröffentlichen, sehr viel in Bewegung gebracht hat, ist Doris Reisinger. Ihre ersten Bücher handeln von ihren persönlichen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und geistlichem Missbrauch in der katholischen Gemeinschaft „Das Werk“. In weiteren Veröffentlichungen zeigt sie immer schonungsloser das Machtmissbrauchssystem der römisch-katholischen Kirche auf. Wie wichtig „Erzählen als Widerstand“ist, zeigt sich durch das gleichnamige Buch, 2020 herausgegeben von Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber und Dorothee Sandherr-Klempp. Darin berichten 23 Frauen über ihre Erfahrungen mit Missbrauch im Erwachsenenalter. Ergänzt werden die Berichte durch wissenschaftliche Essays.
Der Fokus „Frauen in der Kirche“, zu dem dieses Buch ebenfalls einen Beitrag leisten will, ist in den letzten Jahren wieder stärker in der Diskussion. Einen wichtigen Anstoß dazu hat das Buch „Weiberaufstand“ von Christiane Florin gegeben (2017), und in Ergänzung zur bisherigen Arbeit der Frauenverbände gelingt es der Bewegung Maria 2.0 seit Mai 2019, öffentlichkeitswirksam Kritik zu äußern und Forderungen zu stellen. 2022 sind weitere Bücher mit unterschiedlichen Ansätzen erschienen: Z. B. erzählt Johanna Beck in „Mach neu, was dich kaputt macht“ von ihren Missbrauchserfahrungen als Kind und Jugendliche in der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE). Mit Wolfgang F. Rothe ist ein Priester mit seinen Missbrauchserfahrungen an die Öffentlichkeit gegangen (Missbrauchte Kirche, 2021). In „Heillose Macht“ erzählen 50 Betroffene aus einem weiten Spektrum von zum Teil beruflich oder auch ehrenamtlich tätigen Katholik*innen über Erfahrungen, die sie als Machtmissbrauch erlebt haben. Herausgegeben wurde dieses Buch von Thomas Hanstein, Hiltrud Schönheit und Peter Schönheit. In „Die Betroffenen“ (2022) zeigt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Martin Flesch, ein Spektrum von Leidensräumen auf und nimmt Täterpersönlichkeiten und Betroffene analytisch in den Blick. Herbert Haslinger beginnt sein Buch „Macht in der Kirche“ mit persönlichen Erfahrungen und erläutert dann sehr detailliert die Zusammenhänge der Machtstrukturen in der Kirche.
Ist nicht längst alles gesagt? Angesichts der Vielzahl der Veröffentlichungen drängt sich die Frage auf, was das Besondere an diesem Buchprojekt ist. Der Unterschied zu den genannten Veröffentlichungen liegt darin, dass die Initiative zu diesem Buch von einem Berufsverband von Beschäftigten ausgeht, die im Kernbereich der katholischen Kirche, in der pastoralen Arbeit, tätig sind. Hinter der Umfrage und dem damit verbundenen Buchprojekt steht der einstimmige Beschluss der Bundesversammlung der Delegierten der Diözesanverbände, in denen Gemeindereferent*innen organisiert sind. Die Realisierung dieses Beschlusses wurde vor allem ermöglicht durch die Beteiligung von über 900 Gemeinde- und Pastoralreferent*innen, die sich auf diese Umfrage eingelassen haben.
Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Kolleg*innen, die zu Wort kommen, bis heute im pastoralen Beruf tätig. Befragt wurden ganz gezielt Hauptberufliche im pastoralen Dienst ohne Weiheamt. Der größte Anteil der Antworten stammt von Gemeinde- und Pastoralreferent*innen. Es gab Anfragen, ob sich auch Diakone beteiligen dürften, da viele von ihnen ebenfalls unter Machtmissbrauch leiden. Der Vorstand des Bundesverbandes ist bei der Entscheidung geblieben, nur Nichtgeweihte zu befragen, obwohl bekannt ist, dass sowohl Diakone als auch Priester sehr belastet sind – persönlich und /oder dadurch, dass sie in besonderer Weise als Vertreter des Systems Kirche wahrgenommen werden.
Im Austausch mit Mitarbeiter*innen in anderen Tätigkeiten im Bereich Kirche zeigt sich ebenfalls, dass es auch unter diesen Personen gibt, die sich schwer damit tun, einen katholisch-kirchlichen Arbeitgeber zu haben. Nicht nur der Fachkräftemangel erschwert die Besetzung von Stellen in unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen. Potenzielle Bewerber*innen überlegen durchaus, ob sie sich auf die Arbeitgeberin Kirche und damit verbundenen Loyalitätspflichten einlassen möchten.
Auch wenn manche Ergebnisse, die in Kapitel 2 und 3 dokumentiert werden, sehr viel Kritik vor allem an Priestern in ihrer Dienstvorgesetztenrolle aufzeigen: Es geht in der Umfrage und ihrer Auswertung nicht um Schwarzweißmalerei im Sinn von: böse Priester – gute Lai*innen. Auch Männer und Frauen ohne Weiheamt können zu Täter*innen werden. Und es gibt Priester, die selbst betroffen sind von Machtmissbrauch und/oder die sich fragen, ob und wie lange sie noch Priester sein können und wollen. Manche davon unterstützen Reformideen, manche glauben nicht mehr an Reformen innerhalb der katholischen Kirche. Völlig unabhängig von Beruf und „Stand“ möchte der Bundesverband der Gemeindereferent*innen solidarisch sein mit allen, die unter Machtmissbrauch leiden und mit denen, die sich dem entgegenstellen.
„Es mag eine Seelsorge geben ohne Seelsorgehilfe, nie aber könnte eine gesunde Seelsorgehilfe bestehen ohne Seelsorge, ohne Unterordnung und Leitung durch die gottgewollten Träger des Lehr-, Priester- und Hirtenamts.“3 So schrieb Pfarrer Wilhelm Wiesen 1926 und zieht damit eine Grenze zwischen Profis in der Seelsorge, die bis heute besteht. Zusammen mit Margarethe Ruckmich spielte er eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Berufs der Gemeindebzw. Seelsorgehelferin. Bereits 1925 erschien im Caritasverlag Freiburg das Buch „Die katholische Gemeindehelferin“, geschrieben von M. Ruckmich unter dem Pseudonym Maura Philippi. Die Notwendigkeit eines caritativ-seelsorglichen Berufs wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts bei Caritastagungen thematisiert. Die ersten Kurse fanden 1919 und 1920 statt und wurden vor allem von Lehrerinnen bzw. arbeitslosen Akademikerinnen absolviert. Eine erste Idee, Männer für diese Tätigkeit zu finden, wurde rasch verworfen. Frauen schienen geeigneter dafür zu sein, in einer Zeit des Umbruchs, beeinflusst von Krieg, Säkularisierung und zunehmendem Großstadtleben, Pfarrer in der Seelsorge zu unterstützen. Die Pionierinnen des Berufs gestalteten die Berufsrolle selbst. Schwerpunkt der Tätigkeit waren Hausbesuche.
Die Frauen lebten meist in einem oft sehr kargen Zimmer im Pfarrhaus und arbeiteten für Taschengeld, Kost und Logis und ohne jegliche Versicherung. Sie erkannten früh, dass Vernetzung dringend erforderlich ist. Bereits 1926 wurde die „Berufsgemeinschaft katholischer Gemeindehelferinnen“ gegründet. Sie verstanden sich als „Schwestern“, es gab ein Berufsgelöbnis, ein Berufskleid und auch eine Brosche. In der damaligen Zeit wurde dies von den meisten als hilfreich betrachtet, waren sie so doch als Seelsorgerinnen erkennbar. Sie gaben sich spirituelle Regeln und unterstützten sich ideell und bei Bedarf auch finanziell. M. Ruckmich informierte Priester über den neuen Beruf, sie bearbeitete entsprechende Anfragen und vermittelte die Absolventinnen.
Bereits in den 1930er Jahren entwickelte die Berufsgemeinschaft einen Musterdienstvertrag für Verhandlungen mit dem Pfarrer. Für ein Ausbildungskonzept und dessen kontinuierliche Weiterentwicklung sorgten Ruckmich und Wiesen. Der erste Ausbildungskurs fand 1928–1930 in Freiburg statt. Margarethe Ruckmich legte von Anfang an großen Wert auf Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein dieser Frauen. Zeitzeuginnen erzählten, dass es bisweilen heftigen Streit zwischen ihr und Wiesengab. Die Unterordnung, die er betonte (vgl. das Zitat oben) war nicht in ihrem Interesse. Sie sprach sich damals schon für eine Diakoninnenweihe aus, und anstelle der Bezeichnung „Seelsorgehelferin“ hätte sie die Bezeichnung „Seelsorgerinnen“ bevorzugt. Der ersten Ausbildungsstätte für Seelsorgehilfe in Freiburg folgten ab 1946 weitere, zunächst in diesem Jahr die Seminare in Paderborn-Elkeringhausen und in Ilbenstadt (Mainz) und wenig später in Magdeburg und anderen Städten. In sozialen Frauenschulen, wie z. B. in Beuron, fanden Ausbildungskurse statt, in anderen Frauenschulen wurden Fachabteilungen für Seelsorgehilfe eingerichtet.
Von dieser Zeit an interessierten sich auch Diözesen zunehmend für den Beruf der Seelsorgehelferin, und es wurden Diözesanreferentinnen als Personalverantwortliche eingesetzt, die sich ab 1964 auch vernetzten. Die Vorarbeit in der Berufsgemeinschaft hatte Einfluss auf die Anstellungsverträge, die es dann nach bistumsweiten Regelungen gab. Infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde die Berufsbezeichnung in Gemeindereferent*in (im Folgenden GR) geändert und ab 1972 gab es neben den Seminaren auch die Möglichkeit, an Fachhochschulen zu studieren. Der Beruf Pastoralreferent*in (im Folgenden PR) entstand ebenfalls infolge des Konzils. Rahmenordnungen für beide Berufsgruppen wurden durch die Kommission IV der Deutschen Bischofskonferenz Ende der 1970er-Jahre erarbeitet.4 Beide Berufe standen nun für Männer und Frauen offen, wobei bis heute ca. 70 % der GR Frauen sind. Bei PR, bei denen zunächst die Gruppe der Männer deutlich stärker vertreten war, ist das Verhältnis der Geschlechter inzwischen ausgewogen. Seit etwa 50 Jahren gibt es somit vier pastorale Berufsgruppen: Priester, Diakone, PR und GR. Die Hierarchieproblematik spielte und spielt dabei immer wieder einmal nicht nur zwischen Ordinierten und „nur“ Beauftragten eine Rolle, sondern bisweilen auch zwischen PR und GR. Auf der einen Seite der theologische Hochschulabschluss, auf der anderen Seite ein eher praxisorientiertes Studium, das häufiger als bei Theologiestudierenden von Personen absolviert wurde und wird, die bereits Erfahrung in einem Erstberuf mitbringen. Während PR eher das Problem hatten oder auch noch haben, vom Pfarrer als mögliche*r Konkurrent*in betrachtet zu werden, litten und leiden GR darunter, wenn ihnen Arbeitsbereiche, für die sie geeignet wären, vorenthalten werden, um PR Wechsel- und Karrierechancen zu ermöglichen. Auch dann, wenn GR einen Master als wissenschaftlichen Hochschulabschluss zusätzlich zum Bachelor in Praktischer Theologie o. ä. vorweisen können, führt das in der Regel nicht zu einer angemessenen Anerkennung desselben. Zum Teil hat sich dies in den letzten Jahren geändert, z. B. durch die gemeinsamen Rahmenstatuten5 für beide Berufsgruppen und durch zunehmend unterschiedliche Zugangswege zu pastoralen Berufen, flexiblere Stellenplanung und -vergabe sowie Entscheidungen zu Verbesserungen, was die Bezahlung von GR anbelangt.
Die Mitgliederzahlen der 1926 gegründeten Berufsgemeinschaft waren in der Zeit bis 1963 von 54 auf 722 gestiegen und danach bis Anfang der 1990er-Jahre sukzessive auf unter 400 gesunken. Das Interesse der neuen Gemeindereferent*innen war nicht nur deshalb gering, weil in der Berufsgemeinschaft nur Frauen Mitglied sein konnten. Auch entsprachen die eher auf Gemeinschaft und Spiritualität ausgerichteten Interessen der Berufsgemeinschaft nicht dem Wunsch nach einem vor allem berufspolitisch aktiven Verband. In den Diözesen wurden nach und nach Berufsverbände für GR gegründet, und es entstand die Idee eines Dachverbands von bestehenden und neu gründeten Verbänden. Die Einbeziehung der bisherigen Berufsgemeinschaft wurde erwogen, aber letztlich nicht umgesetzt. Gegründet wurde 1994 ein Bundesverband aus den GR-Diözesanverbänden und dem Verband Katholischer Religionslehrer/innen und Gemeindereferent/innen im Kirchendienst (VKRG). 1996 wurde er als e. V. neu gegründet, und im Jahr 2002 beschloss der VKRG mit knapper Mehrheit, sich zu trennen. Diese Trennung wurde vom Verband als Chance genutzt, sich ganz auf GR zu konzentrieren.
Ein Schwerpunkt der Arbeit war und ist die Vernetzung nach innen, also zwischen den Diözesanverbänden, und nach außen mit anderen Berufsgruppen (PR und Diakone), die in der Pastoral tätig sind, mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholik*innen (ZdK), mit der Konferenz für berufsbegleitende Fortbildung (KBF) und mit den Ausbildungsleitungen. Zwischen den Verbänden der PR und GR besteht eine enge Zusammenarbeit an Katholikentagen. Verstärkt wurde die Kooperation in den letzten Jahren durch die Vernetzung derjenigen, die von den Verbänden in die Synodalversammlung delegiert waren.
Ein Aushängeschild ist die Verbandszeitschrift „das magazin“, die seit 2002 viermal im Jahr in einer Auflage von ca. 2.000 Stück erscheint und weit über die Berufsgruppe hinaus wahrgenommen wird. Vor allem in den ersten Jahren spielten darin neben Informationen aus den Diözesanverbänden die Themen „Berufsprofil“ und „Zukunft des Berufs GR“ eine wichtige Rolle. Inzwischen geht es sehr viel mehr um Themen, die die Kirche insgesamt betreffen. Darüber hinaus will der Bundesverband der Gemeindereferent*innen Impulsgeber und Diskussionspartner in aktuellen kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen sein. Ergänzend zu Verbandszeitschrift und Homepage ist er auch über die sozialen Medien sichtbar.
Strukturelle Zweitrangigkeit und die damit verbundenen Erfahrungen von mangelnder Wertschätzung und Einengung in Kompetenzen und Engagement ist ein kritisches Thema, seit es die Berufe GR und PR gibt. Bereits in einer der ersten Ausgaben des Magazins im Jahr 2003 berichtet eine Kollegin, Jeanette Kulik, über ihre Diplomarbeit zum Thema „Gemeindereferent*innen in heutiger Zeit“.6 Sie zitiert darinGR, die sie u. a. zu Problemen und Frustration im Berufsalltag befragt hat. Zwei daraus ausgewählte Zitate zeigen, was vor 20 (aber auch bereits vor 40) Jahren typische Klagen von GR waren. Sie sind leider bis heute aktuell.
• GR, Mann, seit 1999 im Beruf: „Das größte Problem liegt für mich in der Zusammenarbeit mit dem Priester. Wenn ich einen kooperativen Vorgesetzten habe, kann ich all das einbringen, was ich auch im Studium gelernt habe. Wenn ich aber auf einen diktatorischen oder monarchischen Führungsstil treffe, werde ich zum Seelsorgehelfer. Bei Auseinandersetzungen (…) ziehen wir in unserem Beruf immer den Kürzeren.“
• GR, Frau, seit 1995 im Beruf: „Mich stört die Hierarchie der Kirche, die begrenzte Einflussnahme auf pastorale Entscheidungen, das Machtgehabe von Ordinierten (…).“
J. Kulik schreibt, dass die durchschnittliche Verweildauer im Beruf bei sieben Jahren liege, viele würden ein Zusatzstudium anschließen und eine andere Tätigkeit aufnehmen, da es im Beruf GR keine Aufstiegs- und kaum Veränderungsmöglichkeiten gibt. In derselben Ausgabe des Magazins beklagt sich ein Gemeindeassistent aus Köln über denabwertenden Umgang, den er durch den vorgesetzten Priester und seine Haushälterin erfährt. Er sieht sich in seinem Gefühl der Bedeutungslosigkeit bestätigt, als er kurz vor seiner Beauftragung die Information bekommt, dass in Köln die Beauftragungsformel geändert worden sei. Zuvor lautete eine Frage folgendermaßen: „Sind Sie bereit, ihre Aufgabe im Dienst Christi und der Kirche unter der Leitung des Bischofs in guter Zusammenarbeit mit den Priestern, den Diakonen und allen Laienmitarbeiterinnen und -mitarbeitern gut zu erfüllen?“ Nun lautete sie: „Sind Sie bereit, ihre Aufgabe im Dienst Christi und der Kirche im Gehorsam gegenüber dem Bischof, als Helfer ihrer Pfarrer und (…) treu zu erfüllen?“ Diese Formulierung wurde nach deutlicher Kritik aus den Berufsgruppen in den folgenden Jahren durch die Verantwortlichen in der Bistumsleitung wieder rückgängig gemacht.
Die Umfrage von 2022 und ihre Auswertung greift dieses Dauerthema der strukturellen Zweitrangigkeit von Profis in der Pastoral ohne Weiheauf. Das Nicht-Geweiht-Sein im klerikal-hierarchischen System verbindet die Berufsgruppen GR und PR und betrifft sie existentiell. Klerus und Laien, das sind in der römisch-katholischen Kirche zwei Existenzen, und trotz allem Bemühen um Synodalität bestätigen Erfahrungen im Berufsalltag, dass letztlich Kleriker bestimmen, wo der Platz von Lai*innen ist und welche Aufgaben sie übernehmen dürfen. Als oft hoch qualifizierte und kompetente Mitarbeiter*innen werden GR und PR seitens des Klerus einerseits als hilfreich, andererseits aber auch als Konkurrenz wahrgenommen. Als ab 2022 in mehreren Bistümern GR und PR eine Taufbeauftragung erhalten haben, gab es vorab vor allem aus Priester- und Diakonenkreisen Bedenken. Dahinter stand u. a. die Sorge: Braucht man Priester und Diakone eigentlich noch? Die Frage wurde auch durch einen Beschluss der Synodalversammlung virulent. Mit 95 zu 94 Stimmen wurde beschlossen, dass darüber beraten werden soll, ob am Priesteramt überhaupt noch festgehalten werden soll. Unter den Synodalen gab es Stimmen, denen zufolge ein paar Bischöfe ausreichen, um das System aufrechtzuerhalten – so man das denn will. Die pastorale Arbeit käme ohne Priester nicht zum Erliegen. In weiten Teilen wird sie aktuell bereits von GR und PR geleistet und auch ganz ohne Priester wären diese Seelsorger*innen in der Lage, weitere Aufgaben zu übernehmen. Die Kompetenzen sind vorhanden, entsprechende Beauftragungen könnten folgen.
Auch die Perspektive der Organisationsentwicklung spielte in der Verbandsarbeit früh eine Rolle. Ein bedeutsamer Schritt war dabei eine Bundesversammlung im Jahr 2007, in der Valentin Dessoy mit den Delegierten zum Thema „Wir sind dann mal weg …“ zu langfristigen Perspektiven pastoraler Tätigkeit gearbeitet hat. Er machte in der Theorie deutlich, was die Teilnehmer*innen aus ihrem Erleben kannten und aufgrund der Erfahrungen im Berufsalltag offensichtlich scheint: GR und PR gehören nicht zur Ursprungsordnung von Kirche. Sein Ansatz war, dies als Freiraum zu sehen und als Chance, Trends wahrzunehmen und alternative Szenarien zu entwickeln. „Die Pfarrei in der tradierten Form ist ein totes Pferd“, so Dessoy. Wer jetzt Pfarrer werde, müsse Chef, Manager, Inspirator und Leader sein. Hauptberufliche in der Pastoral sollten Moderator*innen und Trainer*innen sein, die Entwicklungsprozesse begleiten.
Der zentrale Gedanke, den die Teilnehmer*innen aus dieser Tagung mitnahmen, lautete: „Tue nichts, was der Übernahme von Selbstverantwortung im Wege steht bzw. diese verhindert. Tue alles, damit die Menschen die Verantwortung für Glaube und Seelsorge selbst übernehmen.“ Dieses Thema wurde in die Diözesanverbände hineingetragen und das Verbandsmotto war von da an „Kirche braucht Profis.“ Zehn Jahre später arbeitete der Bundesverband erneut mit Valentin Dessoy, und sein Statement wurde über die Versammlung hinaus breit diskutiert: „Kirche braucht Profis – aber keine Gemeindereferent*innen.“7 Ausgehend von statistischen Berechnungen erläuterte er, dass Tempo und Dimension der Veränderungen in den Gemeinden stark zunehmen. U. a. zeigte er anhand einer Weiterberechnung der statistischen Angaben der Bischofskonferenz auf, dass der offensichtliche Abwärtstrend im Bereich der Teilnahme an Sonntagsgottesdiensten im Jahr 2040 eine Teilnehmendenzahl von 0,6 % der Katholik*innen Deutschlands erwarten lasse.8 Der Verbandsvorstand und die Verbandsmitglieder erkannten dadurch die Notwendigkeit eines Kulturwandels, wenn Kirche nicht völlig irrelevant werden soll.
Die Hoffnung auf Reformierbarkeit der Kirche war zum Zeitpunkt der oben erwähnten Bundesversammlung im Jahr 2017 schon deutlich zurückgegangen. Der aufgrund des Missbrauchsskandals 2010 von den Bischöfen inszenierte Dialogprozess (2011–2015) blieb ohne nennenswerte Folgen: „Erlebnisse statt Ergebnisse“9. Eine konstruktive Aufarbeitung der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle blieb aus. Diese Verhinderungs- und Verweigerungshaltung ist ein Grund dafür, dass die katholische Kirche bis heute mit dem Thema „Missbrauch“ mit seinen vielen verschiedenen Spielarten nicht mehr aus den Schlagzeilen kommt.
Auf der Verbandsebene war das meistgefragte aller Magazine die Ausgabe 4/2018 mit dem Thema „Verbrechen und Vertuschung – Aspekte zu Missbrauch in der Kirche“. Das Interesse war so groß, dass eine größere Anzahl nachgedruckt werden musste. Auch der Hauptausschuss des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) bestellte 40 Exemplare. In einem der zahlreichen Leser*innenbriefe stand: „Was mich beim Lesen beschäftigt hat, ist eine andere Gewalt, die ich selbst als GR mehrfach erfahren habe: Mobbing, Drohung, Kleinmachen, Abwertung, Lügen. Ich habe meine Stelle mehrfach gewechselt, ich habe auf Seiten der Pfarrer viele unreife Persönlichkeiten erlebt, auch Menschen mit Persönlichkeitsstörungen. Trotzdem stand die Leitung hinter ihnen. Ich selbst wurde krank.“10 Die darauffolgende Bundesversammlung war die zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Versammlung im März 2019 mit dem Thema: „Machtmissbrauch steckt in der DNA der Kirche.“
Diese vom Bundesverband initiierte und durchgeführte Umfrage hat zum Ziel, Erfahrungen mit Machtmissbrauch in pastoralen Berufen aus der Perspektive von Betroffenen, aus der Perspektive möglicher Mittäterschaft und als Teil des Systems offenzulegen. Die dokumentierten Daten der Umfrage und ihre Auswertung sollen bereits erhobenes Datenmaterial anderer Untersuchungen ergänzen. Die Herausgeber sind davon überzeugt, dass die Ergebnisse der Umfrage unter den GR und PR dazu geeignet sind, breit diskutiert und fachkundig reflektiert zu werden. Erste Beiträge im vierten Kapitel dieses Buches geben den Auftakt dazu.
J. Beck, Mach neu, was dich kaputt macht. Warum ich in die Kirche zurückkehre und das Schweigen breche, Freiburg 2022.
D. Blank, Verwurzelt in der Caritas. Die Entwicklung der Gemeinschaft katholischer Gemeindereferentinnen zwischen 1926 und 2014, Würzburg 2019.
H. Czernin,