Machtwirtschaft - nein danke! - Gerhard Schick - E-Book

Machtwirtschaft - nein danke! E-Book

Gerhard Schick

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Beschreibung

Die Märkte korrumpieren die Politik, sagen die einen. Der regulierende Staat erstickt die Wirtschaft, sagen die anderen. Neue Ideen braucht das Land, sagt Gerhard Schick! Er fordert eine undogmatische Politik, die vor allem eines will: die Interessen der Bürger vertreten. Eine, die sich egoistischen Investmentbankern, verantwortungslosen Staatsdienern und »kreativen Steuerzahlern« entgegenstellt und den Lobbyismus in die Schranken verweist. Wo sind die Rettungsmilliarden geblieben? Wie stopft man die Steuerschlupflöcher von Facebook und Co.? Warum dient Politik den Banken? Schick stellt die entscheidenden Fragen und ist bereit für den Angriff auf »big business« und »bad state«.

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Gerhard Schick

Machtwirtschaft – nein danke!

Für eine Wirtschaft, die uns allen dient

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wie wir die Kontrolle über unsere Gesellschaft zurückgewinnen

Die Wirtschaft dominiert die Politik, sagen die einen. Der Staat soll sich raushalten, sagen die anderen. Wir leben nicht in einer Marktwirtschaft, sondern in einer Machtwirtschaft, sagt Gerhard Schick. Denn im Wettstreit der Konzerne geraten die Bedürfnisse der Menschen unter die Räder.

Warum dient die Politik den Banken und nicht den Interessen der Bürger? Wer ist eigentlich marktwirtschaftlich – die politische Linke oder die Konservativen? Der grüne Finanzexperte stellt die entscheidenden Fragen und ist bereit für den Angriff auf Big Business und dessen staatliche Unterstützer.

»Fachkundig bis ins Detail wie kaum ein anderer Parteienvertreter im Bundestag, mit einer klaren Linie für eine bessere Regulierung der Banken, ideologisch aber nicht verbohrt, wäre er eine Idealbesetzung für das Finanzministerium.« Die Welt

Über den Autor

Gerhard Schick, Jahrgang 1972, grüner Politiker, gilt als einer der versiertesten Ökonomen im Bundestag. Der promovierte Volkswirt genießt nicht nur in den eigenen Reihen einen Ruf als Experte. Als Parlamentarier kämpft er leidenschaftlich auf der Seite der Bürger. Schick ist der Grüne der Zukunft.

INHALT

Einleitung

1Da läuft was schief

Produkte, die uns schaden

Wachstum ohne Wohlstand

Scheinvermögen

2Wirtschaft und Macht

Marktmacht

Das Netzwerk der Konzerne

Vorteile der Größe

Wachstumszwang und Renditefixierung

3Die Macht der Finanzmärkte

Instabilität

Größe, Vernetzung und Geschwindigkeit

Starker Einfluss auf die Gesellschaft

Die Umverteilungsmaschine

4Staatliches Versagen

Das Scheitern des Staates als Wirtschaftsakteur und Planer

Das Scheitern des Staates als Aufsicht

Ein linkes Dilemma

5Mutti Staat

Einflussnahme und Privilegiensuche

Eine gefährliche Symbiose

Mutti kümmert sich

Der Staat der anderen

6Eine Wirtschaft, die den Menschen dient

Dezentrale Steuerung und Freiheit

Jenseits der Wachstumsfixierung

Mehr als Rendite

7Wirtschaftliche Macht zurückdrängen

Aktive Wettbewerbspolitik

Märkte auf die Kunden ausrichten

Finanzmärkte: Weniger ist mehr

Schneisen durch die Finanzmärkte

8Kontrolle staatlicher Macht

Kulturwandel im Staat

Kräfteverhältnisse ändern

Transparenz

9Gemeinsam das Gemeinwohl zurückerobern

Eine Herausforderung für unsere Gesellschaft

Aus der Geschichte lernen: Bürgerprotest in den USA

Zeit für eine progressive Politik in Europa!

Die europäische Nicht-Demokratie überwinden

Mitmachen! Ein Schlussappell

Dank

Anmerkungen

Register

EINLEITUNG

Was ist das eigentlich für eine Wirtschaft, in der uns reihenweise Produkte angeboten werden, die uns als Kundinnen und Kunden1 schaden? Warum werden in unseren reichen Gesellschaften so viele schlechte Nahrungsmittel mit viel billigem Zucker und Fett verkauft? Wie sinnvoll ist denn ein Wirtschaftssystem, mit dem wir unsere ökologischen Lebensgrundlagen zerstören, welches uns wiederkehrende Finanzkrisen beschert und unsere Gesellschaften durch wachsende Ungleichheit zerreibt? Und was taugt eigentlich ein Staat, der mit unserem Steuergeld spekuliert und der nicht mal in der Lage ist, einen Flughafen zu bauen?

Diese einzelnen Beispiele, aber auch im Großen die Klima-, Finanz- und Verteilungskrisen zeigen uns in aller Deutlichkeit, dass etwas grundsätzlich schiefläuft. Unsere Wirtschaft ist nicht mehr für die Menschen da. Die Bedürfnisse von uns allen spielen kaum noch eine Rolle. Was zählt, sind Macht und Geld. Ich nenne diese Wirtschaftsordnung, in die wir eingebunden und der wir ausgesetzt sind, deshalb Machtwirtschaft. Unternehmen müssen sich nicht mehr an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten, sondern kontrollieren sie gar, bringen sie dazu, Produkte zu kaufen, die die gewünschten Eigenschaften gar nicht aufweisen. Im machtwirtschaftlichen Wettstreit großer Unternehmen spielt die Leistung im Sinne der Kundinnen und Kunden eine geringere Rolle als Finanzkraft und Marktmacht. Da genau liegt der Unterschied zur Marktwirtschaft, in der die wirtschaftlichen Aktivitäten auf die Bedürfnisse der Menschen hin ausgerichtet sein sollen.

Eigentlich gibt es genau dafür den Staat, um solche Machtstrukturen zu verhindern – als Interessenvertreter des Gemeinwohls, der sich einer Entwicklung zur Machtwirtschaft entgegenzustellen und dafür zu sorgen hat, dass der Wohlstand bei allen ankommt. Doch auch im politischen Raum gibt es eine Verbindung von Macht und Geld. Die Vermachtung unserer Wirtschaft findet hier ihr Gegenstück. Weniger das Wohl der Bürgerinnen und Bürger eines Landes als vielmehr die Verbindung zu den finanzstarken Interessen ist häufig ausschlaggebend im politischen Prozess. Große Unternehmen und Staat stehen häufig eher in einer symbiotischen Beziehung, als dass der Staat die großen Unternehmen kontrollieren würde. Oder der Staat wird zum Getriebenen der Finanzmärkte, statt diesen Regeln zu geben. Deswegen setzen viele Menschen trotz des eklatanten Versagens der losgelassenen Märkte nicht einfach auf den Staat. Sie empfinden die demokratischen Prozesse als vorgeschoben, erfahren sie als nicht relevant, weil die eigentlichen Entscheidungen woanders stattfinden.

Deswegen braucht es neue Konzepte und neue politische Strategien. Die zentrale Auseinandersetzung ist nicht, wie uns häufig eingeredet wird, eine zwischen Staat und Markt. Denn gerade die Manager, die häufig über Marktwirtschaft reden und den Sozialstaat als überzogen hinstellen, beziehen sehr gerne milliardenschwere staatliche Subventionen. Und umgekehrt muss, wer sich für die Interessen der kleinen Leute einsetzen will, oft erst einmal marktwirtschaftliche Strukturen gegen bestehende Oligopole durchsetzen und eine einseitige Parteinahme des Staates zugunsten der wirtschaftlich Starken überwinden.

Es geht auch nicht um Deutschland gegen Griechenland oder Deutschland gegen die Schweiz. Diese Länderspiele überlassen wir besser dem Fußball. Es braucht keine Kavallerie gegen die Schweiz und keinen Euro-Austritt Griechenlands. Was es braucht, ist eine progressive europäische Politik, die wieder die Interessen der breiten Mehrheit der Menschen in den Blick nimmt und deswegen gegen die Steuerhinterzieher sowohl in Deutschland als auch in Griechenland sowie ihre Helfer in den Schweizer Banken vorgeht. Denn beim heutigen System gibt es in jedem Land nur wenige Profiteure. Die Mehrheit in allen Ländern profitiert hingegen jeweils nicht davon. Deswegen sollte man diese Konflikte auch nicht national aufladen.

Die zentrale Auseinandersetzung ist in Wirklichkeit eine ganz andere: Gemeinwohl versus Machtwirtschaft. Und genau dieser Gegensatz ist Thema meines Buches. Aber es geht mir nicht nur darum, diese Auseinandersetzung zu schildern und ein paar Gesetzesvorschläge zu machen, um das Gemeinwohl zu fördern. Das haben wir Grünen schon in vielen Parlamentsanträgen gemacht. Nein, ich schreibe dieses Buch, weil wir diese Auseinandersetzung nicht gewinnen können, wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nicht stärker Teil davon werden. Das ist meine feste Überzeugung nach acht Jahren parlamentarischer Arbeit im Deutschen Bundestag: Sie müssen mitmachen. Und mitmachen können Sie nur, wenn Sie Bescheid wissen über die Strukturen in unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Ich will deshalb mit diesem Buch meinen Teil beitragen zu einer Politik, die nicht über Sie spricht, sondern mit Ihnen gemeinsam dafür sorgt, dass wir die Kontrolle über unser Gemeinwesen wieder zurückerlangen.

Kapitel 1DA LÄUFT WAS SCHIEF

PRODUKTE, DIE UNS SCHADEN

Wir alle kennen es, dass wir uns nach dem Kauf eines Produktes ärgern, dass wir es gekauft haben. Die CD gefällt uns nicht, das Obst ist nicht reif, auf der viel gepriesenen Matratze tut der Rücken am Morgen doch weh. Das sind Einzelfälle, die es immer geben wird. Was ich aber beobachte, ist, dass es ganze Bereiche gibt, in denen – häufig für den Kunden schwer erkennbar – schlechte Produkte sehr zahlreich sind. Und ich frage mich: Ist das die Wirtschaft, die wir wollen? Wo es ganze Produktgruppen gibt, die dem Kunden keinen Nutzen bringen oder ihm sogar schaden?

Fett und Zucker

In dem Discounter gegenüber meiner Wohnung im Mannheimer Stadtteil Neckarstadt besteht grob geschätzt etwa ein Sechstel der Verkaufsfläche aus Junkfood, also aus Knabberzeug und süßen Riegeln und so. Übrigens jeweils taktisch geschickt präsentiert am Eingang, wenn der Wagen noch leer und der Hunger groß ist, und an der Warteschlange vor der Kasse. Ökonomisch überlegt: Wenn so viel Verkaufsfläche dafür bereitgestellt wird, scheint gerade in diesem Teil des Sortiments auch besonders viel Umsatz und Ertrag zu stecken. Und das lässt Rückschlüsse darauf zu, wie sich die Menschen in meiner Umgebung in Mannheim so ernähren.

Doch das Ungesunde steckt nicht nur da. Ungesunde Ernährung hat viel zu tun mit Krankmachern auch in Müsli, Brot, Fruchtjoghurt oder Leberwurst. Besonders industriell verarbeitete Lebensmittel sind längerfristig ungesund, denn darin verstecken sich viel Fett, Zucker, Salz und alle möglichen geschmacksfördernden Zusatzstoffe.1 Und wir alle – der eine mehr, die andere weniger – fahren heute ab auf die praktischen, immerfrischen, leckeren Häppchen, deren gesundheitlicher Wert fraglich ist.

Doch der hemmungslose Konsum von Fett und Zucker ist verantwortlich für die Ausbreitung nicht ansteckender Krankheiten: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Übergewicht – um nur einige zu nennen. Diese Krankheiten verursachen Todesfälle epidemischen Ausmaßes und sind eng mit den Profitinteressen transnationaler Konzerne verwoben. Denn die profitieren von stärkerem Konsum der sogenannten »ungesunden Güter«, die günstig zu produzieren sind. Profite und Pandemien heißt, in deutscher Übersetzung, eine Studie der renommierten Wissenschaftszeitschrift The Lancet von 2013,2 die für einige Furore gesorgt hat. Denn die unabhängigen (!) Autoren beschreiben darin, wie die Nahrungsmittelindustrie ganz ähnliche Strategien fährt wie seinerzeit die Tabaklobby. Studien werden gefälscht oder zugunsten der Industrie stark beeinflusst, politische Entscheidungsträger werden eingespannt, Regulierungsfragen mit viel Geld entschieden, Regierungen wird Hilfe bei der Formulierung der Gesetze angeboten, Konsumenten werden gegen jegliche Regulierung in Stellung gebracht (»Wollen Sie wirklich, dass man Ihnen vorschreibt, was Sie essen dürfen …?«). Weil es eben viel Geld zu verdienen gibt.

Und ist es nicht merkwürdig, dass sich gerade in reichen Gesellschaften die Menschen immer mehr mit Zucker und Fett vollstopfen? Es liegt wohl daran, dass industriell gefertigte Lebensmittel unseren Stoffwechsel austricksen. »Fast Food macht so süchtig wie Heroin«, stellte eine US-Forschergruppe in der seriösen Zeitschrift Nature Neuroscience den Sachverhalt drastisch klar. »Das Hirn spielt Fettleibigen, die den Konsum von kalorienreichem, ungesundem Essen nicht lassen können, den gleichen Streich wie Rauchern, Sex-, Heroin- und Kokainsüchtigen. […] Je mehr sie zulangen, desto mehr Nachschub verlangt das Gehirn, um das gleiche Glücksgefühl wie beim letzten Mal zu erzeugen«, fasst das Handelsblatt die Ergebnisse treffend zusammen.3

Freiheit bei der Auswahl von Gütern ist etwas anderes. Viele kleine Bäckereien und Konditoreien bieten uns auch Süßes und wenig Gesundes an, jede einzelne könnte uns aber aufgrund der kleinteiligen Struktur nie so systematisch beeinflussen. Die Lebensmittelindustrie hingegen versucht, uns auszutricksen. Natürlich gelingt ihr das nicht bei allen Menschen in gleicher Weise. Aber letztlich können selbst gut informierte Verbraucher sich nicht völlig vor dieser Einflussnahme schützen.

Fleisch und Antibiotika

Anderes Beispiel: In der Nähe des Häuschens meiner Schwiegereltern steht ein Geflügelhof. In regelmäßigen Abständen bringt ein Lastwagen Tausende kleiner Küken und holt sie nach einigen Wochen, wenn sie schlachtreif sind, wieder ab. Eine industrielle Fertigung von Fleisch, die sich von der industriellen Fertigung von Weißblechdosen oder Schrankteilen nicht wirklich unterscheidet. Interessant ist, dass die Bauernfamilie für sich und den Verkauf an die Nachbarn und Freunde immer einige Küken zur Seite nimmt und traditionell füttert. Selber essen sie das, was sie für den Markt produzieren, nicht. Das muss einen stutzig machen.

Tatsächlich gibt es gute Gründe, industriell erzeugtes Fleisch nicht zu essen. Mittlerweile tragen aufgrund der hohen Antibiotika-Gaben in der industriellen Fleischproduktion 6,4 Millionen Menschen in Deutschland gegen verschiedene Antibiotika-Gruppen multiresistente Keime in sich. Wenn sie also selbst einmal behandelt werden müssen, wird es gefährlich. Tausende Patienten sterben bereits in Deutschland an eigentlich behandelbaren Krankheiten, weil die Erreger gegen die wirksamen Medikamente resistent sind.4 Hinzu kommt die teilweise hohe Belastung von Lebensmitteln mit Pestiziden und anderen Chemikalien, die in der industriellen Landwirtschaft eingesetzt werden und schädliche Wirkungen auf die Gesundheit derer haben, die diese Lebensmittel verzehren.

Läuft da nicht etwas schief, wenn wir nicht die Lebensmittel bekommen, die uns guttun, sondern uns bei wachsendem gesellschaftlichen Wohlstand inzwischen teilweise eher schlechter ernähren? Und wenn Unternehmen uns an Stellen austricksen können, wo wir es gar nicht merken? Wenn wir durch den Kauf und Konsum von industriell produziertem Fleisch unsere Gesundheit gefährden?

Gutgläubige über den Tisch ziehen mit Zertifikaten

Dieses Phänomen gibt es nicht nur bei Lebensmitteln. Anfang 2006 fiel mir bei der Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften auf, dass seitenweise Werbung für Zertifikate mit den buntesten Namen gemacht wurde. Zertifikate sind rechtlich gesehen Inhaberschuldverschreibungen. Die Ausgeberin des Zertifikats, die Emissionsbank, verpflichtet sich zur Zahlung an den Inhaber. Vorstellen kann man sich das so, dass die Kundin der Bank Geld leiht und die Bank einen Zettel ausgibt, auf den sie schreibt: »Die Bank zahlt Ihnen etwas zurück, wenn …« Und dann wird definiert, wie viel das unter welchen Bedingungen ist. Die Definition ist bei den Zertifikaten allerdings oft hochkomplex, so dass manchmal selbst Experten eigentlich gar nicht mehr verstehen können, in welchem Fall die Kundin wie viel Geld bekommt und welche Risiken sie dabei eingeht. Da sich die Wertentwicklung des Zertifikats von der Wertentwicklung von zugrunde liegenden Basiswerten ableitet (lat. derivare), gehören die Zertifikate zur Kategorie der Retailderivate, also der an Endkunden verkauften Derivate.

Ich hatte so etwas noch nie gekauft. Aber ähnlich wie beim Junkfood dachte ich mir: Die Produkte, die so gut präsentiert werden, für die so viel Werbung gemacht wird, müssen doch irgendwie attraktiv sein für die Anbieter, in diesem Fall die Banken. Und so versuchte ich, diese Produkte zu verstehen. Ich machte ein Kurzpraktikum bei der Münchner HypoVereinsbank und ließ mir auch den Bereich der strukturierten Produkte zeigen. Außerdem versuchte ich, unabhängige Expertise zu diesem Markt zu finden, was sich als gar nicht so einfach herausstellte. Zum Glück kam mir aber der Zufall zu Hilfe. Über einen guten Freund lernte ich in einem Biergarten einen engagierten Finanzmarktexperten kennen, der sich schon länger fragte, wie er eigentlich die Politik dazu bringen könne, die Missstände in diesem Bereich anzugehen. Keine 24 Stunden später saß ich mit dem Laptop auf den Knien in seinem Büro und fraß die Informationen über diesen Markt in mich hinein. Ich lernte, dass das eigentlich gar kein wirklicher Markt ist, weil der Preis sich hier nicht über Angebot und Nachfrage bildet, sondern über eine einseitige Preisstellung der emittierenden Banken. Kosten können sehr schön verschleiert werden, und die Risiken für die Kundinnen und Kunden sind enorm. Gleichzeitig werden Anleger über diese Risiken getäuscht.

An einem Beispiel wurde mir das besonders deutlich. Die Bayerische Landesbank emittierte Zertifikate mit dem Namen »Bayern Relax Express Zertifikate«. In einem Kurzflyer wurde mit dem Slogan geworben: »Produktidee … Entspannt anlegen und bis zu 12,5 Prozent Zinsen kassieren.«5 Dass das alles jedoch rein gar nichts mit einer »relaxten« oder »entspannten« Anlage zu tun hatte, verriet ein Blick in die zugrunde liegenden Bedingungen. Die 12,5 Prozent Zinsen hätten Anleger nämlich nur dann erhalten, falls die zugrunde liegenden Basiswerte keinen Kursverlust von mehr als 50 Prozent aufgewiesen hätten. Und da sich im zugrunde liegenden Korb der Basiswerte auch der Aktienkurs der Pleitebank Hypo Real Estate befand und deren Aktienkurs unter 50 Prozent des in Bezug genommenen Kursniveaus fiel, erlitten Anleger nahezu einen Totalausfall (mehr als 94 Prozent). Offensichtlich wurde Anlegern das Risiko durch eine unzutreffende Zertifikatebezeichnung und das Vorgaukeln von Sicherheit verschleiert.

Die Lehman-Oma aus Hongkong

Vor allem aber können diese intransparenten Produkte auch genutzt werden, um Kundinnen und Kunden Risiken aufzudrücken, die sie nicht überblicken können. Das habe ich bei einer Dienstreise mit dem Finanzausschuss des Bundestages nach Hongkong 2011 kapiert. Als wir für einen Gesprächstermin zur Bankenaufsichtsbehörde kommen, findet dort lautstark mit Megafonen und Trommeln eine Demonstration von geprellten Kleinanlegern statt. Natürlich versichern uns unsere Gastgeber schnell, dass das halt ein paar private Zocker seien, selbst schuld und so. Ja, ja, die Gier. Ich folge der Delegation ins Besprechungszimmer. Geschädigte Kleinanleger in Hongkong, auf ihren Plakaten die Worte Lehman Brothers und Citibank. Das war allerdings spannender als das Treffen mit den Aufsehern. Ich bleibe so lange, wie es die Höflichkeit gebietet, klinke mich dann aus der Besprechung unter einem Vorwand aus und begebe mich auf den Weg zu den Demonstranten. Die freuen sich über das unerwartete deutsche Interesse.

Das Überraschende für mich: Die Gespräche sind die gleichen wie in Deutschland. Unkundigen Anlegern, die in den früheren Jahren Geld immer sehr bieder in einlagengesicherte Papiere angelegt hatten, waren noch kurz vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers von findigen Beratern der Citibank Lehman-Zertifikate angedreht worden. Weil die Bank sonst nirgends mehr Geld bekam, wurden Berater mit hohen Provisionen dazu motiviert, Kleinanleger zu überzeugen, dass sie ihr Geld einer sterbenden Bank anvertrauten. Es gibt die »Lehman-Oma« also auch in China! Mit diesem Begriff jedenfalls werden in Deutschland sinnbildlich die getäuschten Zertifikateanleger bezeichnet. Allerdings nicht von allen. Bei den Beratern hießen sie zynisch »AD-Kunden« – A für alt und D für doof.6 Dahinter stand die Strategie, weltweit nach unkundigen Anlegern Ausschau zu halten, die noch in den aufziehenden Crash hinein einer wackeligen Bank Geld leihen würden.

Genau da zeigt sich, warum diese Produkte so stark beworben werden: Auf den Finanzmärkten werden Risiken gehandelt. Wer sich verpflichtet, Risiken zu übernehmen, der bekommt dafür eine Prämie. Eine Bank verlangt zum Beispiel höhere Kreditzinsen, als sie selbst an ihre Sparerin zahlt. Der Zinsunterschied wird mit den Risiken begründet, die die Bank eingeht – es kann ja sein, dass ihr Kreditnehmer pleitegeht und den Kredit nicht zurückzahlen kann. Zertifikate enthalten viele Risiken. Jedes Mal, wenn eine Kundin ein Zertifikat einer Bank kauft, nimmt sie Risiken an. Die Bank wird dann sofort an den Finanzmärkten exakt die gleichen Risiken eingehen wie die Kundin und dafür eine Risikoprämie erhalten. Wenn diese Risiken aber schlagend werden, verliert die Bank nichts, da sie in diesem Fall die Zertifikatekäuferin nicht auszahlen muss. Da die Bank am Markt aber deutlich mehr für die Risiken erhält, als sie an die Kundin auszahlt, macht sie mit jedem verkauften Zertifikat einen risikolosen Gewinn. Dieses Geschäft zu Lasten der Kundin gelingt, weil kaum jemand einschätzen kann, wie viel Geld man eigentlich für die Risiken erhalten müsste. Und so hat trotz Finanzkrise die Anzahl dieser intransparenten Produkte noch zugenommen. Waren es 2006 noch 100000 verschiedene Produkte, sind es heute über eine Million.7 Eine Million komplexe Finanzprodukte? Das braucht die Welt nicht.

WACHSTUM OHNE WOHLSTAND

Dieses Problem bezieht sich aber nicht nur auf die einzelnen Produkte. Auch in ihrer Gesamtheit stellt sich zunehmend die Frage, ob wir nicht immer mehr eingespannt sind in ein Hamsterrad wirtschaftlicher Entwicklung, das zwar viel produziert, aber unseren Wohlstand nicht vermehrt, uns nicht etwa glücklicher macht, sondern sogar schadet. »Wachstum schafft Wohlstand« – wie oft haben wir das in den letzten Jahrzehnten gehört. Doch geht es uns wirklich immer besser, wenn die Wirtschaft wächst, wenn wir also jedes Jahr mehr Güter konsumieren, mehr Produkte erzeugen und mehr Dienstleistungen erbringen oder in Anspruch nehmen? Ist es nicht im großen Ganzen genau wie im Einzelnen bei den Lebensmitteln oder den Finanzprodukten so, dass das Versprechen, das mit dem Wirtschaftswachstum verbunden ist, gar nicht eingelöst wird? Gilt die Aussage: »Je höher das Bruttoinlandsprodukt, desto besser geht es uns« nicht genauso wenig wie das Versprechen sicherer Geldanlage von der Bankberaterin der Lehman-Oma und genauso wenig wie die Vorstellung, dass uns Junkfood satt und glücklich macht?

Nun, über die genaue Beschaffenheit dieses immer größeren Wohlergehens lässt sich trefflich streiten. Doch das tut unsere Gesellschaft gar nicht mehr, da sie sich voll und ganz auf Wachstum, Wachstum, Wachstum konzentriert und damit ein Mittel zum Zweck erhebt. Unsere Gesellschaft hat sich die Debatte über das »gute Leben«, die so alt ist wie die menschliche Philosophie, abgewöhnt. Diese Debatte schien irgendwann entbehrlich zu sein, weil bei wachsendem Wohlstand jeder auf seine Façon glücklicher werden kann. Der tschechische Ökonom Tomáš Sedláček bringt diese Umkehrung von Subjekt und Objekt auf den Punkt, wenn er schreibt, »dass wir die Ökonomie zum Fetisch erklärt haben, […] süchtig nach künstlichem Wachstum durch Defizite […], ohne die wir glauben zusammenzubrechen«.8 Ähnlich wie das Essen von Junkfood macht uns das Wachstum nicht zufriedener, sondern ruft nach mehr. Obwohl wir viele Ressourcen verbrauchen, werden wir offenbar nicht wirklich glücklicher dadurch.

Sehr überzeugend finde ich die Argumentation des ehemaligen Chefs der britischen Finanzaufsicht Adair Turner.9 Er kommt erstens zu dem Ergebnis, dass es keinen guten Grund gebe, zu glauben, das Wachstum des durchschnittlichen Einkommens bringe uns notwendigerweise und ohne Grenzen zusätzlichen Wohlstand. Zweitens seien die reichen Staaten in einer Situation, in der zusätzlicher Einkommenszuwachs unsicher und auch weniger wichtig wird. Warum ist das so?

Nun, es gibt einfach verschiedene Aspekte, die menschliches Glück ausmachen. Manche sind am Markt verfügbar und können bei steigendem Wohlstand in größerer Menge gekauft werden. Dann nimmt damit auch die subjektive Zufriedenheit zu. Andere hingegen, wie Zusammenhalt in Familie oder Freundeskreis, der Zustand der Umwelt in Bezug auf die Qualität von Luft, Boden und Wasser, die Verfügbarkeit von freier Zeit und ähnliches, stehen in einem weniger klaren Zusammenhang mit dem Wachstum des durchschnittlichen Einkommens. Eine Gesellschaft mit höheren Einkommen kann sich den Erhalt der Umwelt und mehr Freizeit vielleicht leisten, erwirtschaftet die höheren Einkommen aber vielleicht gerade so, dass die Umwelt dabei kaputtgeht und das Arbeitsleben eher mehr Stress produziert. Vor allem aber verändern sich die Bedürfnisse und die Zusammensetzung des Bruttoinlandsprodukts, also die Anteile dessen, mit was Geld verdient wird, sowie die Verteilung der Einkommen.

Tim Jackson, Umweltökonom und Autor des einflussreichen Buches Wohlstand ohne Wachstum, hat das Versprechen, dass Wachstum Wohlstand bringt, mal der Realität gegenübergestellt – mit bemerkenswerten Ergebnissen: Nur bis zu einem bestimmten Einkommensniveau heißt Wachstum auch Wohlstand. Vergleicht man beispielsweise die Kindersterblichkeit, die Lebenserwartung bei der Geburt oder den Zugang zu Bildung mit dem Pro-Kopf-Einkommen, so lässt sich in der Gruppe der ärmeren Länder ein starker Zusammenhang zwischen beiden Faktoren feststellen. Doch ab einem bestimmten Einkommensniveau flachen alle diese Kurven signifikant ab. Irgendwann bedeutet zusätzliches Wachstum nicht mehr eine Verbesserung der Lebenssituation. Diese Grenze liegt bereits bei etwa 15000 US-Dollar Jahreseinkommen, also etwas weniger als die Hälfte der 34603 US-Dollar, die wir heute in Deutschland pro Kopf im Durchschnitt erwirtschaften.10

Ähnliche Zusammenhänge werden aus der sogenannten Glücksforschung gemeldet. Die Anzahl der Menschen, die ihr eigenes Leben als glücklich oder zufriedenstellend bezeichnen, steigt mit höherem Pro-Kopf-Einkommen zunächst von Land zu Land. Doch dann flacht auch diese Kurve auffällig deutlich ab.11 Das ist sowohl zwischen verschiedenen Ländern als auch innerhalb einzelner Länder über die Zeit messbar. Auch in Deutschland sieht es nicht gut aus: Einem zwischen 1973 und 2003 um 60 Prozent gestiegenen Bruttosozialprodukt steht ein um 10 Prozent gesunkenes individuelles Glücksniveau gegenüber.12 Dieses Phänomen wird auch als Glücksparadox bezeichnet: Reicher, aber unglücklicher – wie passt das zusammen?

Liegt es vielleicht nur an der Verteilung?

Nun gibt es natürlich ein Problem: Diese Daten berücksichtigen nicht die Verteilungssituation. Die Frage nach dem Glück wird in einer repräsentativen Stichprobe gestellt und verglichen mit dem Durchschnittseinkommen. Wenn nun die Zuwächse an Einkommen nur einer kleinen Minderheit zugute kommen, während die Mehrheit abnehmende Einkommen hat, ist es ziemlich logisch, dass die Mehrheit in der Stichprobe keinen Zugewinn an Glück erfährt. Zudem gibt es gute Argumente für die These, dass Ungleichheit die Menschen einer Gesellschaft insgesamt unglücklicher macht. Interessant ist, dass das sogar für die Bessergestellten gilt. Richard Wilkinson und Kate Pickett, zwei britische Professoren für Epidemiologie – man könnte sie also »Seuchenforscher« nennen –, arbeiten in ihrem Bestseller Gleichheit ist Glück13 heraus, dass viele gesellschaftlich unerwünschte Phänomene wie etwa hohes Misstrauen, Krankheiten, Fremdenfeindlichkeit und Kriminalität in einem engen Zusammenhang mit dem Ausmaß der Ungleichheit in einem Land stehen. Der Grund: Statusdruck und Stress, sich in der Hierarchie nach oben zu arbeiten, nehmen deutlich zu. Deswegen sind davon gerade auch die oberen Einkommensschichten betroffen. Bei Schwerkriminalität und Mordfällen gibt es ebenfalls eine enge Korrelation zur Ungleichheit.

Statuskonsum macht nicht glücklich

Löst also Umverteilung das Problem? Nicht unbedingt, denn da gibt es noch einen anderen Aspekt. Schon 1974 stellte der US-Ökonom Richard Easterlin die Frage, ob höhere Einkommen für alle – gerecht verteilt – auch das Glück aller mehren. Und beantwortete sie mit Nein. Denn wenn wir alle gleichzeitig reicher werden, verschieben sich auch die Ansprüche in einer Gesellschaft. Unsere persönliche Zufriedenheit hängt stark davon ab, was andere besitzen. Sobald wir unserer Grundbedürfnisse befriedigen können, scheint all das Wachstums-Bohei am Ende in immer größeren Anteilen ein Nullsummenspiel für unsere Zufriedenheit zu werden. Denn dann geht es nicht mehr darum, absolut glücklicher zu werden, sondern sich besser zu stellen als andere. Willkommen im Hamsterrad!

Der Kapitalismus macht uns dazu ein unmissverständliches Angebot: Kauf dich glücklich! Konsum ist in vielen Fällen soziale Kommunikation: Wir definieren uns über die Produkte, die wir zur Schau stellen. Das läuft vielfach subtil, ohne dass es uns selbst auffällt. Wir geben Dingen eine psychologische Bedeutung, vom Mobiltelefon über die Kleidung bis zum Auto gilt dieses Prinzip. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, der Rang in der Hierarchie – vieles wird über Statussymbole und Konsumgüter zum Ausdruck gebracht. Eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Doch am Ende, so zeigt sich, werden wir trotzdem nicht glücklicher. Weil andere auch bessere Telefone und größere Autos haben. Es ist wie in einem Fußballstadion. Wenn alle sitzen, verschaffe ich mir als Einzelner einen großen Sichtvorteil, wenn ich aufstehe. Doch was wird geschehen? Nacheinander werden alle aufstehen, da sehen wir dann wieder genauso viel wie vorher. Doch jetzt tun uns zusätzlich noch die Beine weh. Das ergibt wenig Sinn. Ähnlich wirkt es, wenn technologischer Fortschritt andere quasi zum Mitziehen zwingt, So ist in Zeiten von Online-Buchungen und Internet-Kommunikation, die enorme Effizienzvorteile für die Nutzer bieten, der traditionelle Kommunikationsweg für die anderen teurer geworden.

Wer mehr Einkommen hat, kann mehr kaufen. Aber was tun, wenn er schon alles hat, was er braucht? Dann konsumiert er dennoch munter weiter, weil er denkt, nicht alles zu haben, was er braucht! Schließlich hat er vielleicht noch nicht alles, was die Nachbarin hat. Ein Großteil der materiellen Anschaffungen von Menschen mit höheren Einkommen fällt nämlich nicht in die Kategorie Grundbedürfnisse. Zusätzliches Einkommen führt uns dann alle auf eine höhere Stufe des Konsums, aber nicht zu mehr Zufriedenheit.

Inzwischen ist es sogar so, dass sich der Statuskonsum offenbar in einer erhöhten Überschuldung auch in der Mittelschicht zeigt, weil die Menschen zusätzliche Konsummöglichkeiten über Kreditkarten und Ratenzahlungen erhalten und deshalb dem Bedürfnis nach Konsumgütern nachgeben können, die ihre Nachbarn sich leisten können, sie selbst aber nicht.14 Dann wird der Wunsch, mithalten zu können, schädlich. »Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen« – so das geflügelte Wort, das uns den Spiegel vorhält.

Das gleiche Prinzip gilt für die Superreichen. Robert Frank und Philip Cook beschreiben in ihrem Buch The Winner-Take-All -Society15 das Hamsterrennen der Spitzenverdiener. Die meisten verdienen nicht deshalb so viel, weil sie absolut gut ausgebildet oder tüchtig sind, sondern weil sie besser ausgebildet sind und ein wenig mehr leisten als die Mitbewerber auf den Job. Daher wird immer mehr in zum Teil auch nutzlose Ausbildung investiert und häufig hemmungslos 90 Stunden in der Woche oder mehr gearbeitet.16

Heute werden die negativen Tendenzen dieses einseitigen Strebens nach materiellem Mehr deutlicher denn je – unabhängig von der Einkommensgruppe. Der Begriff der »sozialen Rezession« macht mittlerweile die Runde,17 die wachstumsgetrimmte Gesellschaft wird nicht mehr glücklicher mit einem Zuwachs an Einkommen. Das Hamsterrad der Moderne hält uns gefangen. Dazu kommen Wohlstandskrankheiten – Stress, Burn-out und Depression, Fettleibigkeit und Bluthochdruck. Während wir reicher werden, sind wir uns nicht immer sicher, ob wir nicht eigentlich ärmer werden. Warum machen wir das eigentlich mit?

Mir ist da aber jenseits vom individuellen Gefühl die saubere ökonomische Argumentation wichtig. Deswegen komme ich noch einmal auf Adair Turner zurück: Interessanterweise argumentiert Turner nicht nur mit dem Statuskonsum und der veränderten Verteilung, sondern auch mit einer veränderten Zusammensetzung der Wirtschaftsleistung in Volkswirtschaften mit hohen Einkommen. Zu beobachten sei in diesen Gesellschaften, so Turner, ein wachsender Anteil an umverteilenden Tätigkeiten. Er meint damit zum Beispiel Rechtsberatung, Steuerberatung und Finanzdienstleistungen. Denn in einem Rechtsstreit um Schadenersatz wird ja kein zusätzlicher Wert geschaffen, sondern nur entschieden, wer wem zahlen muss. Im Versuch, Steuern zu sparen, wird gesellschaftlich kein Mehrwert generiert, sondern nur darum gefeilscht, welcher Teil des Einkommens an den Staat geht und für die Finanzierung von öffentlichen Leistungen zur Verfügung steht und welcher bei Bürgerin und Bürger bleibt. Viele Finanzprodukte erlauben zwar die Verlagerung von Vermögen über die Zeit und sind damit von Nutzen. Sie schaffen aber in der Regel zunächst einmal an sich keinen Mehrwert. Besonders deutlich wird das bei Wettgeschäften, bei denen die eine Marktteilnehmerin gewinnt und der andere verliert – ein reines umverteilendes Nullsummenspiel, ähnlich wie beim Roulette. In einer reichen Wirtschaft nimmt der Anteil solcher Aktivitäten zu. Der Zusammenhang zwischen gestiegenem Durchschnittseinkommen und erhöhtem Wohlbefinden werde, so Turner, dadurch immer schwächer.

Deswegen ist die Unterscheidung zwischen reicheren und ärmeren Gesellschaften bei der Wachstumsfrage so wichtig. Der Wirtschaftswunderschlachtruf »Wohlstand für alle« war gleichbedeutend mit »Wachstum für alle« – für Ludwig Erhard und die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft gab es hier keinen nennenswerten Unterschied. Das ist auch nur allzu verständlich, da sie diese Ziele in einer Zeit definierten, in der es um den Wiederaufbau der zerstörten Städte und damit um eine Überwindung der prekären Wohnsituation vieler Millionen Menschen ging. Ein Wachstum der Einkommen bedeutete für viele nach Jahren, in denen eine ausreichende Ernährung nicht selbstverständlich war, wirklich, dass es ihnen besser ging. Doch heute ist die Situation eine andere.

Wenn Turners zweite These stimmt, wonach gerade die reichen Staaten sich in einer Phase befinden, in der Einkommenszuwächse immer schwieriger zu erzielen und von abnehmender Bedeutung sind, dann müssen wir in Deutschland als sehr reiche Gesellschaft genau die beschriebene Vorstellung über Bord werfen, dass es reicht, auf Wachstum zu setzen. Wir brauchen die Selbstverständigung darüber, was uns guttut und wohin die Reise gehen soll, anstatt uns im Hamsterrad des Wachstums zu drehen.

Wachstum bedroht unsere Lebensgrundlagen

Dazu kommt die Klima- und Ressourcenkrise. Während wir in unserer sehr reichen Gesellschaft durch Wachstum nicht glücklicher zu werden scheinen, ist eins sicher: Die Natur wird durch unser Handeln ärmer. Hervé Kempf beschreibt in seinem Buch How the Rich are Destroying the Earth18 den Wettlauf einiger Superreicher um die längste Yacht, in dem es nur noch darum geht, zu zeigen, dass man mehr hat als der andere. In diesem Wettlauf mag es für begrenzte Zeitabschnitte und Disziplinen einzelne Gewinner geben, insgesamt aber kann im Wettlauf um Anerkennung auf immer höherem Konsumniveau niemand langfristig obsiegen. Gleichzeitig gibt es eine klare Verliererin: die Natur, deren knappe Ressourcen hier vergeudet werden. Das gilt allerdings nicht nur für die Superreichen.

Wirtschaftswachstum korreliert stark mit Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung, der steigende CO2-Ausstoß ist nur der bekannteste Faktor. Und dabei muss jedem klar sein, dass es hier schlicht natürliche Grenzen gibt, die wir nicht ignorieren können, eine Biokapazität, die uns von unserem Planeten nun mal gegeben ist. Deshalb sollten wir auch stets die tatsächlichen Auswirkungen menschlichen Wirtschaftens damit abgleichen – das ist die Idee hinter dem viel zitierten »ökologischen Fußabdruck«. Dieser ist ein Nachhaltigkeitsmaß, das zeigt, wie viel biologisch produktive Land- und Wasserflächen eine Bevölkerung pro Jahr benötigt, um bei gegebener Technologie die von ihr konsumierten Güter und Dienstleistungen zu produzieren beziehungsweise die dabei anfallenden Reststoffe (Abfälle, Treibhausgasemissionen et cetera) zu absorbieren.19 Berechnet man dieses Maß, wie das Global Footprint Network es tut, kommt man zu besorgniserregenden Ergebnissen: »Die Menschen verbrauchen innerhalb von acht Monaten die Kapazität der globalen Ressourcen eines ganzen Jahres. Am 20. August war Earth Overshoot Day, der Tag, an dem die Menschheit die natürlichen Ressourcen eines ganzen Jahres erschöpft hat«, wir also über stabile Verhältnisse »hinausgeschossen« sind.20 Das heißt auch, dass die Menschheit heute die Ressourcen von 1,5 Planeten verbraucht – im Durchschnitt. Würde die gesamte Weltbevölkerung wie wir Europäer leben, bräuchten wir drei Erden, wären wir alle Amerikaner, wären es gar fünf. Wir leben also von der Substanz und Vorräten – man könnte auch sagen: auf Pump. Dass das bei natürlichen Grenzen nicht so weitergehen kann, wird jedem schnell einleuchten.

Weiteres Wirtschaftswachstum ist also nur möglich bei einer Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch bzw. Emissionen. Manche meinen, wir müssten nur »grüner« wirtschaften. Wenn es gelinge, die zwei großen Bedürfnisse unserer Zeit, Wachstum und Nachhaltigkeit, zu »nachhaltigem« oder »grünem Wachstum« zu verbinden, sei das Problem schon gelöst.

Wirklich? Bei allem Optimismus über saubere Technologien und ressourcenarme Produktionsweisen dürfen wir uns nichts vormachen: Während relative Entkopplung, also ein Weniger an Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung pro Einheit des Bruttoinlandsprodukts, durch technische Neuerungen tatsächlich stattfindet, sind wir weit davon entfernt, Ressourcenverbrauch und Emissionen absolut zu senken – und darauf kommt es ja letztlich an. Wir produzieren immer ressourcenschonender und klimafreundlicher, aber eben auch immer mehr, so dass unter dem Strich die meisten Effizienzgewinne vom Wachstum aufgefressen werden.

Es ist umstritten, ob rein theoretisch eine absolute Entkopplung von ökologischer Belastung und Wirtschaftswachstum möglich ist. Für den Ökonomen ist das zunächst einmal nicht unvorstellbar. Das Bruttoinlandsprodukt ist schließlich eine monetäre Größe, wir messen damit nur, wie viel die Menschen in einem Jahr für Produkte und Dienstleistungen ausgeben. Insbesondere Letztere können äußerst ressourcen- und verschmutzungsarm sein. Vier Aspekte aber machen skeptisch: Erstens bewegen wir uns schon heute auf einem nicht nachhaltigen Niveau, wie der ökologische Fußabdruck eindrucksvoll zeigt. Zweitens muss jedes zusätzliche Wachstum durch Effizienzgewinne kompensiert werden. Drittens muss das Aufstreben der Schwellen- und Entwicklungsländer ausgeglichen werden. Und viertens sehen wir uns weltweit nach wie vor einem Bevölkerungswachstum gegenüber – die Vereinten Nationen gehen von zwei Milliarden Menschen mehr bis zum Jahre 2050 aus.

Der britische Wirtschaftswissenschaftler Tim Jackson stellt mit diesen Variablen eine einfache Rechnung auf. Berücksichtigt man die vier genannten Aspekte, müssten wir zum Erreichen der CO2-Ziele unsere Kohlenstoffeffizienz bis 2050 um das 130-Fache steigern!21 Das ist Wahnsinn. Zwischen 1990 und 2007 jedenfalls kam es nur zu Effizienzsteigerungen um den Faktor 1,13 bzw. 0,7 Prozent pro Jahr22– meilenweit von dem entfernt also, was nötig wäre. Diese relative Entkopplung konnte noch nicht einmal das Bevölkerungswachstum ausgleichen, geschweige denn Einkommenszuwächse.

Würde man dennoch versuchen, Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum durch technische Fortschritte auszugleichen, müsste das in einer »Effizienzdiktatur« münden – diesen Begriff hat mein ehemaliger Fraktionskollege Reinhard Loske so treffend dafür verwandt.23 Ein bahnbrechender wissenschaftlicher Durchbruch, der diese Berechnungen über den Haufen wirft, ist natürlich nicht auszuschließen. Aber sollten wir wirklich für unser Wohlergehen allein auf solche Wunder der Wissenschaft vertrauen, die weit außergewöhnlicher sind als die Produktivitätsfortschritte, die wir in den letzten Jahrzehnten sehen konnten?

Es wäre wie die Wette mit einem intransparenten Finanzprodukt. Die Gefahr ist, dass wir dabei viel verlieren. Doch diejenigen, die am Verkaufen verdienen, drängen uns zum Kauf. Der Weltklimarat IPCC, ein internationales Netzwerk von Klimaforschern unter dem Dach der Vereinten Nationen, warnt uns, dass ein klimapolitisches Umsteuern, je länger wir es hinauszögern, umso teurer wird.24 Doch unsere Gesellschaft wird von denjenigen Unternehmen, die durch eine konsequente Klimapolitik viel zu verlieren hätten, zu einer kurzfristigen renditeorientierten Politik gedrängt. Jede falsche klimapolitische Entscheidung ist wie der erneute Griff zum Junkfood, das uns gesundheitlich schadet. Dass der Kunde das tut, liegt nicht daran, dass er doof wäre, sondern dass er nicht stark genug ist gegen eine Lebensmittelindustrie, die genau an die Schwächen unserer Entscheidungsfähigkeit anknüpft. Und so ist es auch in unserer Gesellschaft. Wir sind nicht stark genug gegen die Kräfte, die unsere Gesellschaft zu Entscheidungen drängen, die uns langfristig allen schaden.

SCHEINVERMÖGEN

Besonders deutlich wurde das in der Finanzkrise. Darüber ist schon viel geschrieben worden. Ich will deshalb hier gar nicht alles im Einzelnen nachzeichnen. Was mir aber wichtig ist und was in der öffentlichen Debatte häufig untergeht: Das Versprechen, das mit der Deregulierung der Finanzmärkte verbunden war, nämlich zusätzlichen Wohlstand zu schaffen, wurde nicht eingelöst. Es sah nur so aus, als würde es eingelöst. Denn es wurden in großem Umfang keine Vermögen geschaffen, sondern Scheinvermögen. Genauso wie der Riegel nur scheinbar satt macht, genauso hat ein relevanter Teil des Wachstums der letzten Jahre gar nicht wirklich stattgefunden.

Immer wenn Banken über einen längeren Zeitraum hinweg überdurchschnittlich viele Darlehen vergeben, steigt die Wahrscheinlichkeit von Finanzkrisen drastisch an.25 Dabei sind es nicht irgendwelche Kredite, die uns gefährlich werden, sondern spekulative. Es kommt also gesamtgesellschaftlich darauf an, wofür Kredite benutzt werden.26 Es kann eigentlich nur solange gut gehen, wie die Fähigkeit einer Volkswirtschaft, Erträge zu erwirtschaften, in mindestens gleichem Maße steigt wie die Schulden. Das ist meist dann der Fall, wenn neue Schulden aufgenommen werden, um Investitionen zu finanzieren. Denn dann wächst ja genau in dem Maße, wie die Schulden ansteigen, auch die Realwirtschaft, und die notwendigen Zahlungen können erwirtschaftet werden. Dabei kann auch mal die eine oder andere Investition schiefgehen und zu Bankrotten führen. Für die Gesellschaft insgesamt allerdings bleibt die Lage trotzdem stabil. Ganz anders sieht es aus, wenn man einen neuen Kredit aufnimmt, ohne das so geschaffene Geld produktiv zu investieren, also dann, wenn der Kredit für Finanzwetten aufgenommen wird oder für den täglichen Konsum.

Der Kern der Finanzkrise ist deshalb ganz einfach zu erfassen: Es ist eine Schuldenkrise. Die gesamtwirtschaftliche Verschuldung stieg in den Industrieländern von 167 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung im Jahr 1980 auf 314 Prozent im Jahr 2010 – fast eine Verdopplung in 30 Jahren! In einigen Ländern ist die Schuldenlast noch höher gestiegen, in Spanien auf 355 Prozent, in Portugal auf 366 Prozent und in Japan auf unglaubliche 456 Prozent. Deutschland ist von diesen Entwicklungen nicht ausgenommen, die Schuldenquote stieg von 136 auf 241 Prozent.27

Aufgepasst: Diese Größen beziehen sich auf die Gesamtverschuldung eines Landes. Obwohl uns neoliberale und konservative Ökonomen seit Beginn der Krise etwas anderes predigen, ist es nämlich elementar, nicht nur die Staatsschulden im Blick zu haben, sondern auch die Verbindlichkeiten der Privathaushalte und der Unternehmen außerhalb des Finanzsektors! Denn in allen Bereichen muss ja Geld für Zinsen und Tilgung der Kredite erwirtschaftet werden. Da ist es zunächst gleich, ob dieses indirekt über Steuern eingezogen wird, um die Staatsschulden zu bedienen, ob ein Unternehmen Überschüsse erwirtschaftet, um Darlehen zu tilgen, oder ob der Großteil des Gehalts für die Rückzahlung des Immobilienkredits verwendet wird.

Die Schulden der einen sind die Vermögen der anderen

Manche erklären die Finanzkrise auch mit einem Zuviel an Geld. Auch das ist nicht falsch. Denn mit dem Geld ist es so eine Sache. Alle wollen viel haben, aber wenn alle viel davon haben, geht es allen schlecht. Als Deutschland 1923 in der Phase der Hyperinflation sehr viel Geld hatte, war die Wirtschaft ruiniert. Heute ist die Situation jedoch anders. Das Problem sind nicht die vielen Nullen auf den Geldscheinen. Trotzdem haben wir auch jetzt zu viel Geld. In Deutschland summierte sich 1991 das Geldvermögen der Privathaushalte noch auf 1,9 Billionen Euro, 2013 waren es bereits stolze 5,0 Billionen.28 Dabei war dieses Geldvermögen bemerkenswerterweise schneller gewachsen als die Wirtschaftsleistung – es entsprach jetzt nicht mehr 126, sondern 182 Prozent des Bruttoinlandsprodukts!29 Natürlich spiegeln diese Zahlen auch wider, dass wir als Exportweltmeister Auslands(schein)vermögen angehäuft haben. Doch ist das Phänomen auch weltweit zu beobachten. Wir wurden schneller reicher als unsere Wirtschaft – aber geht das überhaupt? Nein, langfristig geht das nicht. Denn der eigentliche wirtschaftliche Reichtum kann nur aus der wirtschaftlichen Leistung, nicht aus dem Geldsystem kommen.

Wie passt dieses Zuviel an Geldvermögen nun zu dem Schuldenaufbau? Und könnte man nicht mit diesem Geld die Schulden des Staates mehr als zweimal zurückzahlen, die sich auf etwa 80 Prozent der Wirtschaftsleistung belaufen? Die Antwort ist so einfach wie bedeutsam: Die Schulden der einen sind die Vermögen der anderen. Die Staatsanleihe ist Vermögen für den Sparer und zugleich eine Schuld des Staates. Dass es zu viele Schulden gibt und zu viel Vermögen, ist also ein und dasselbe Phänomen. Die beiden Positionen stehen sich nicht gegenüber, sie sind nicht zwei verschiedene Dinge, die man gegeneinander aufrechnen kann. Es handelt sich vielmehr um eine Beziehung, die von einer Seite als Schulden, von der anderen Seite als Geldvermögen betrachtet wird. Deswegen heißt es im Finanzjargon auch »Paare von Forderungen (Vermögen) und Verbindlichkeiten (Schulden)«. Beide sind immer zwingend die zwei Seiten der gleichen Medaille. Geldvermögen kann es für den einen also nur geben, wenn ein anderer der Schuldner ist – sei es der Staat, ein Unternehmen oder ein Häuslebauer.

Schulden sind im Kern nichts anderes als das Versprechen auf eine in der Zukunft zu erbringende Leistung. Und die Versprechen von Banken und Zentralbanken nennen wir landläufig Geld. Ein Geldschein ist eine Schuldverschreibung der Zentralbank. Würden alle Schulden beglichen, gäbe es im Umkehrschluss also auch kein Geld und keine Geldvermögen mehr.

Ein Beispiel: Wenn ich einen Kredit bei einer Sparkasse aufnehme, dann bedeutet das für mich eine Schuld. Für die Sparkasse aber ist es eine Forderung an mich, den Kunden. Deswegen rechnet sie es zu ihrem Vermögen. Jeder Finanztitel hat diese doppelte Eigenschaft. Deshalb ist jede Schuldenkrise immer auch eine Vermögenskrise, auch wenn konservative Politiker und Ökonomen diese Bezeichnung gerne vermeiden. Das Verhältnis zwischen den Schulden und Geldvermögen einerseits und der realen wirtschaftlichen Aktivität andererseits ist aus dem Ruder gelaufen – das zeigen die genannten Traumsummen.

Eine Illusion von Reichtum

Wenn nun eine Schuldnerin ihren Kredit nicht mehr zurückzahlen kann, realisiert die Sparkasse einen Verlust. Ihr Vermögen sinkt. Das passiert bei Insolvenzen von einzelnen Unternehmen oder Privatpersonen immer wieder, ohne dass das unser Finanzsystem erschüttern würde. Geschieht es aber in großem Stil, sprechen wir von einer Finanzkrise. Und genauso ist das bei dieser Finanzkrise. Viele Kreditnehmer – Hauseigentümer, Banken, Unternehmen oder Staaten – können ihre Kredite nicht mehr bedienen. Und deshalb ist auch das diesen Krediten entsprechende Geldvermögen nicht mehr so viel wert, wie es auf dem Papier aussieht.

Das Verwirrende ist nun, dass zunächst einmal, in der Phase vor Ausbruch der Krise, alles so aussieht, als würden die Menschen wohlhabender. Die Iren und Spanier fühlten sich am reichsten, als sie am stärksten verschuldet waren. Denn sie hatten ja teilweise zwei oder drei Eigentumswohnungen, deren Wert auf dem Papier immens hoch war. Aber dieser hohe Immobilienwert bedeutete für die Menschen keine reale Kaufkraft, sondern es handelte sich lediglich um einen aufgeblasenen Finanzwert, der kurz danach jäh abstürzte, teilweise zu über 50 Prozent. Ähnlich ging es uns Deutschen. Viele meinten, wertvolle Wertpapiere zu besitzen, fühlten sich reich mit ihren Lehman-Brothers-Zertifikaten, die ihnen der Citibank-Berater untergejubelt hatte, oder mit ihrem Anteil an einem Schiffsfonds, der kurze Zeit später nichts mehr wert war.

Schuldner verfielen dieser Reichtumsillusion genauso wie Gläubiger. Erstere hatten sich auf Pump Aktien, Immobilien oder Finanzprodukte gekauft, die munter gen Himmel stiegen – und fühlten sich reich. Letztere hatten große Kreditportfolios als Vermögenswerte in ihren Bilanzen stehen oder, was häufiger der Fall war, die Engagements längst in der ganzen Welt gewinnbringend weiterverkauft und fühlten sich auch reich. Alle happy! Keiner hatte ein Interesse daran, den Stecker zu ziehen und auf dem Boden der Tatsachen zu landen.

Die Rechnung aber musste irgendwann beglichen werden. So kam es zu einem Kipppunkt, an dem zunächst Zweifel an der Zahlungsfähigkeit einiger Schuldner, bald darauf an der Wirtschaft als Ganzes aufkamen. Als der schöne Schein sich in das auflöste, was er war – nämlich eine Verblendung –, kam es zu großen Verwerfungen. »Rette sich, wer kann« war die Devise, denn hinter jedem Finanzwert konnte plötzlich die Zahlungsunfähigkeit auftauchen. Für die einzelnen Menschen, die tatsächlich zahlungsunfähig wurden, weil sie Immobilien, Wertpapiere oder Konsumprodukte gekauft hatten, die entweder an Wert verloren oder die sie sich eigentlich nicht leisten konnten, ist diese Entwicklung dramatisch. Denn sie bedeutet den finanziellen Ruin. Damit aber ist auch die Gesellschaft insgesamt betroffen, die unter der hohen Gesamtschuldenlast ächzt und jetzt jegliche wirtschaftliche Aktivität wegbrechen sieht. Auf der anderen Seite bedeuten die Bankrotte der Schuldner auch die Zerstörung von Vermögen – dieselbe Medaille, wir erinnern uns!

Bei den vielen Schlussfolgerungen, die jetzt aus der Finanzkrise gezogen werden, fehlt häufig eine ganz entscheidende: Der Blick auf die Geldvermögen und auf die steigenden Preise der Immobilien hat uns geblendet. Wir haben uns einer Illusion über die wirtschaftlichen Verhältnisse hingegeben. Denn das Vermögen, das wir zu haben mein(t)en, war und ist zu großen Teilen ein Scheinvermögen. Der in Zahlen gegossene Wohlstand ist gar nicht in vollem Umfang real. Das Versprechen, dass wir reicher werden durch die Deregulierung der Finanzmärkte, wurde damit nur scheinbar eingelöst. Denn wenn wir genau hinschauen, steht hinter diesen Versprechen eine beängstigende Leere. Und kaum jemand hat den Mumm, auch der deutschen Bevölkerung zu sagen, dass ihre Ansprüche in Lebensversicherungen, ihre hohen Beträge auf dem Sparbuch und die wundersamen Wertsteigerungen ihrer Anlageobjekte – sei es Gold oder die Eigentumswohnung – genauso teilweise Scheinvermögen sind, wie die Betonstädte in Spanien nur teilweise aus nützlichen Wohnungen bestehen, in denen jemand lebt. Denn wenn man das sagen würde, würde deutlich werden, dass Deutschland genauso Teil der Finanzblase war und dass auch hierzulande viele Menschen Verluste realisieren müssen.

Abbau der Scheinvermögen

Bei Ausbruch einer Finanzkrise, wenn Immobilienpreise und Aktienkurse fallen und Bankbilanzen schrumpfen, findet die notwendige Korrektur statt, bei der das Verhältnis von Schulden und Geldvermögen einerseits und realer Wirtschaftskraft wieder korrigiert wird. In Fachkreisen spricht man von Deleveraging – wörtlich »Enthebeln«, also die Rückführung des Schuldenhebels. Diese Korrektur trifft nicht nur die Schuldner in diesen Ländern, sondern auch die Gläubiger, die Menschen mit den Geldvermögen. Dabei fliegt der schöne Schein der Jahre zuvor dann auf, und die Illusion des Wohlstands wird allen schmerzhaft bewusst.