Madame Beaumarie und der Sommer in der Provence - Ingrid Walther - E-Book

Madame Beaumarie und der Sommer in der Provence E-Book

Ingrid Walther

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Beschreibung

Florence Beaumarie eröffnet in Avignon eine Detektivagentur. Zeit für »La Dolce Vita« mit ihrem Freund Charles Florentin bleibt aber kaum. Denn in der bezaubernden Buchhandlung »Librairie Mistral« wurde eine grässliche Entdeckung gemacht: die ermordete Bestsellerautorin Faye Browne. Bald findet Florence heraus: Die geheimnisvolle Engländerin, aufgewachsen im Buckingham Palast, hatte mehr als nur ihren Liebhaber zu verbergen. Zusammen mit einem sympathisch-exzentrischen Kommissar legt sie jene Fallen aus, die nicht nur einem der Verdächtigen zum Verhängnis werden sollen …

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Ingrid Walther

Madame Beaumarie und der Sommer in der Provence

Kriminalroman

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © emicristea / istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-7862-8

Haftungsausschluss

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig. Von den Schauplätzen des Romans sind einige der Phantasie der Autorin entsprungen, andere sind ganz real. Es bleibt den Lesern und Leserinnen überlassen, den Unterschied herauszufinden.

Zitate

»Großartiger Beginn der Science Fiction Serie einer begabten jungen Autorin. Ganz in der Tradition von Stanislaw Lem und dennoch mit einem ganz eigenen Sound.«

Philipp Hamilton im Guardian im Mai 2008

*

»Science Fiction vom Feinsten. Band 3 der Frauenland-Reihe von Faye Browne stürmt weltweit die Bestsellerlisten und wurde bereits in 20 Sprachen übersetzt.«

Anton Steidle in der ZEIT im August 2010

*

Soeben ist der letzte Band der Science Fiction Serie von Faye Browne erschienen. Es ist kaum zu glauben, dass die von unbekannter Hand ermordete Autorin diesem Werk ihren Segen gegeben hat – beziehungsweise »hätte«. Das Buch erweckt eher den Eindruck, als hätte der Verlag nach Brownes Tod einen talentlosen Ghostwriter beauftragt, mittels »künstlicher Intelligenz« ein Plagiat aus Versatzstücken früherer Bände zu »komponieren«.

Sophie Carton in Le Monde im Juli 2017

Inhalt

Teil 1: Neustart

Teil 2: An die Arbeit

Teil 3: Intermezzo

Teil 4: Der Gerechtigkeit verpflichtet

Teil 5: Epilog … gedacht für alle, die sich von Florence und Charles noch nicht verabschieden wollen!

Teil 1 Neustart

1

»Bist du dir sicher, dass es hier eine große Buchhandlung gibt? Dieser Ort ist doch tiefste Provinz!«

»Absolut sicher, meine Liebe. Du wirst dich noch wundern. Wir sind fast da!«

Charles Florentin saß am Steuer seines dunkelblauen Peugeots und blickte amüsiert und erwartungsvoll auf die neben ihm sitzende Florence. Es bereitete ihm immer ein Vergnügen, sie zu überraschen.

Einer dieser langweiligen Orte hier im Süden, in dem ich um keinen Preis leben möchte, dachte diese gerade. Außer den schlichten alten Steinhäusern mit blau gestrichenen Türen und Fensterläden sah sie hier vor allem moderne Einfamilienhäuser, geparkte Autos und natürlich das übliche Café et Tabac mit einigen wackeligen Tischchen davor. Man konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Ort viel zu bieten hatte. Charles war allerdings gerade dabei, diesen Eindruck zu entkräften. Der Buchhändler aus Avignon, ehemaliger Direktor des Papstpalastes sowie Experte für das Luberon, lenkte den Wagen in eine Straße, in der alles auf einen kleinen Platz zustrebte. Dort waren an diesem schönen Julitag schon überraschend viele Menschen unterwegs. Dem immer aufmerksamen Blick von Florence fielen sofort die braunen Papiertüten mit türkisfarbigem Aufdruck auf, die sie in ihren Händen trugen. Eine Frau saß auf einer steinernen Bank, versunken in die Lektüre eines Buches. Neben ihr war eine Familie mit drei Halbwüchsigen gerade dabei, Bücher aus ihren Tüten zu holen und sich diese gegenseitig zu zeigen.

Charles schien die Gedanken von Florence gelesen zu haben.

»Dieser von dir soeben als langweilig bezeichnete Ort hat wie fast alle provenzalischen Dörfer etwas Eigenes, ja Besonderes vorzuweisen«, dozierte er »et voilà – wir befinden uns direkt vor der allseits bekannten und wunderbaren Librairie Mistral, einer der größten Buchhandlungen von Frankreich.«

Er hatte einen Parkplatz gefunden und deutete mit seiner linken Hand auf ein eindrucksvolles, gelb gestrichenes Gebäude, das mit einem großen, blau gerahmten Eingangsportal und ebenso blau gestrichenen Fensterläden allen anderen Gebäuden den Rang ablief.

»Magnifique!« Florence bedauerte auf der Stelle, dass sie hier eine andere Mission zu erfüllen hatte, als in Büchern zu schwelgen. Neben der Eingangstür ein hoher Turm aus Büchern, offensichtlich aus Holz geschnitzt, darüber, in ebenfalls blauer Farbe und in einem kühnen Schriftzug der Name des Geschäftes direkt auf die gelbe Mauer gemalt.

»Librairie Mistral«, wiederholte sie den Namen der Buchhandlung. »Ein Mistral ist allerdings, wie ich schon oft feststellen durfte, ein doch eher unangenehm stürmisches Wettergeschehen. Aber vielleicht wollte man mit dieser Namensgebung eine Einladung aussprechen, es sich bei Sturm und Regen drinnen mit einem Buch gemütlich zu machen.«

»Kann sein«, antwortete Charles, »der Name dürfte aber eher zu Ehren eines Nobelpreisträgers für Literatur hier prangen. Frédéric Mistral war Provenzale mit Leib und Seele und hat diese Gegend geradezu hymnisch besungen.«

»Und ich habe zwar irgendwann von ihm gehört, aber noch nichts gelesen«, stellte Florence trocken fest. »Na ja, einem Pariser Kind werden offensichtlich andere Literaturgrößen nahegebracht als einem Kind, das in der Provence aufwächst.«

Florence Beaumarie, vor nicht allzu langer Zeit noch eingeschworene Pariserin, war beeindruckt. Allerdings waren es heute ganz andere Gründe als ihr sonst durchaus vorhandenes Interesse an Büchern, die sie hierher geführt hatten. Erst vor Kurzem hatte sie sich dazu durchgerungen, ihre Wohnung in Paris zu vermieten, und war nach Avignon gezogen, in eine etwas kleinere, sehr hübsche Wohnung mitten in der Altstadt und in dem Haus, in dem auch Charles wohnte. Es war ein Glücksfall gewesen. Seine Schwester war im vergangenen Jahr ausgezogen und hatte einen bekannten Pianisten geehelicht, den sie im Übrigen durch Florence kennengelernt hatte. Florence übernahm auch den Großteil der Möbel, welche vom exzellenten Geschmack einer künstlerisch begabten Frau mit einem gewissen Hang zur Exzentrik zeugten. So war ihr die Mühe, eine Wohnung neu einrichten zu müssen, erspart geblieben.

Da weder sie noch Charles den gewohnten unabhängigen Lebensstil ganz aufgeben wollten, hatten sie sich für getrennte Wohnungen entschieden. Ihre Wochenenden würden sie ohnedies so oft wie möglich in Charles’ Landhaus im Luberon verbringen.

Hinter ihnen lag ein Zeitraum von etwas mehr als eineinhalb Jahren, in dem sie abwechselnd für einige Zeit zusammen in Paris und in Avignon gelebt hatten. Es hatte ihnen gefallen, aber Charles hatte feststellen müssen, dass er sein Antiquariat nicht für so lange Zeit vernachlässigen konnte. Noch dazu, wo ihm mit seiner Schwester seine verlässlichste Mitarbeiterin abhandengekommen war.

In Florence war in der Zwischenzeit jener Gedanke gereift, den ihr Charles damals, als sie an einem Neujahrstag im Krankenhaus lag, in den Kopf gesetzt hatte. Sie hatte lange an einem Konzept herumgetüftelt, und jetzt hatte sie in Avignon ihr eigenes Detektivbüro eröffnet. Dort wollte sie sich vor allem solchen Kriminalfällen widmen, bei deren Aufklärung die offiziellen Stellen nicht weitergekommen waren oder die zum Leidwesen der Betroffenen ad acta gelegt worden waren.

Gleich zum Auftakt hatte sie einen etwas kuriosen Fall angenommen. Sie hatte jedoch einer Pensionsbesitzerin, bei der sie einmal übernachtet hatte, die Bitte nicht abschlagen können und sich unverzüglich auf die Suche nach jener Person gemacht, die ihren geliebten Hund auf dem Gewissen hatte. Schon nach drei Tagen hatte Florence einen ehemaligen Schüler von Madame Robert, der sich wegen einer vermeintlichen früheren Ungerechtigkeit an seiner Lehrerin hatte rächen wollen, als Täter entlarvt.

Bald darauf hatte sie ihren nächsten Auftrag bekommen, und das war der Grund dafür, warum sie heute mit Charles schon um 9.30 Uhr am Vormittag hier in Banon, knapp eineinhalb Autostunden von Avignon entfernt, gelandet war.

Erst gestern hatte sie von Alice Picard, der Inhaberin der Buchhandlung Librairie Mistral, einen Anruf erhalten. Dort waren sämtliche Bücher einer englischen Bestsellerautorin von Science Fiction Romanen aus den Regalen verschwunden, und Alice Picard hatte Florence angefleht, sich der Sache anzunehmen. Die Autorin, Faye Browne, war ein Star in der Science Fiction Szene. Seit längerer Zeit lebte sie schon in dieser Gegend, in einem Haus in Simiane-la-Rotonde, ganz in der Nähe von Banon.

Als die Buchhandlung nach dem vergangenen Wochenende geöffnet wurde, war der Bücherdiebstahl entdeckt worden. Ein Mysterium, das der dringenden Aufklärung bedurfte! Die Polizei wollte die Buchhändlerin noch nicht einschalten, und auch vor der Autorin hätte sie diese unangenehme Angelegenheit am liebsten verheimlicht. Faye Browne war nämlich zu diesem Zeitpunkt ohnedies in keiner guten Stimmung. Hatte sie doch eben erst eine Lesereise durch die Normandie vorzeitig abgebrochen, weil aus ihrem Hotelzimmer in Deauville ihr Laptop mit nicht gesicherten Arbeitsdateien gestohlen worden war. Sie hätte es jedoch Madame Picard nie verziehen, wenn sie dahintergekommen wäre, dass diese ihr etwas verheimlicht hatte.

Florence, die fand, dass sie kurz nach der Eröffnung ihres Detektivbüros nicht allzu wählerisch sein durfte, hatte sich der Sache angenommen. Sie hatte der Buchhändlerin für den nächsten Tag ihr Kommen angekündigt, und Charles hatte sich angeboten, sie zu fahren, da sie selbst noch kein Auto besaß.

Mittlerweile hatte Charles sie direkt vor der Buchhandlung abgesetzt und versprochen, dass er in einem Café in der Nähe notfalls so lange auf sie warten würde, bis der Fall gelöst wäre.

Florence sah sich um. Ein großes Plakat an der Tür der Buchhandlung kündigte eine Veranstaltung mit Faye Browne an, die in knapp zwei Wochen stattfinden sollte. Spätestens bis dahin also musste sie eine Erklärung für das Verschwinden der Bücher gefunden haben. Entschlossen drückte sie die Klinke der Eingangstür.

2

»Bonjour! Sie müssen Madame Beaumarie sein, ich habe Sie an einem Foto erkannt, das ich in einem Zeitungsartikel über Sie im Internet gefunden habe.«

Die Frau, die offensichtlich auf Florence gewartet hatte, hatte diese Worte in einem leisen und gleichzeitig erregten Ton gesprochen. Florence nickte.

»Ich bin Alice Picard, die Inhaberin dieses Ladens. Ich habe soeben eine furchtbare Entdeckung gemacht. Bitte kommen Sie!«

Sie deutete ins Innere der Buchhandlung, wartete keine Antwort ab und ging Florence voraus. Der blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen und sich einen ersten Eindruck von ihrer Auftraggeberin zu machen: etwa 50 Jahre alt, genauso groß wie sie selbst, ziemlich kräftig, sehr kurz geschnittenes, gewelltes schwarzes Haar, weiße Bluse, schwarze Hose und eine große knallrote Brille in einem kantigen Gesicht mit hoher Stirn. Eine, die weiß, was sie will und das auch bekommt, war das Erste, das Florence zu ihr einfiel.

Im Augenblick wirkte Madame Picard allerdings verstört. Gerade verschwand sie hinter einem Bücherregal, und als Florence sie eingeholt hatte, deutete sie auf zwei Holzstühle und ließ sich noch vor ihrem Gast auf einen davon niederfallen.

»Pardon, Madame Beaumarie. Bitte nehmen Sie Platz. Ich bin völlig fertig.«

Sie zog einen Schlüssel aus einer Tasche ihrer Hose, beugte sich nach vor und hielt ihn Florence vor die Nase. »Das ist der Schlüssel zu unserem Raum für Veranstaltungen«, verkündete sie mit gesenkter Stimme. »Und Sie werden es nicht glauben, wenn ich Ihnen erzähle, was ich dort soeben entdeckt habe.«

Erwartungsvoll sah sie Florence an und führte ihre andere Hand zur Stirn, wo sie dramatisch verweilte. Ehe Florence antworten konnte, fuhr sie fort.

»Nein, das erraten Sie nie. Ich kann es ja selbst noch nicht glauben. Faye Browne liegt dort auf dem Boden. Tot! Und auf ihr und um sie herum die vermissten Bücher! Ich habe den Raum sofort wieder abgeschlossen und auf Sie gewartet. Ich wusste ja, dass Sie hier in Kürze eintreffen werden. Bitte nehmen Sie den Schlüssel und sehen Sie selbst.«

Blitzschnell sondierte Florence die Lage. Sie war hierhergekommen, um das mysteriöse Verschwinden der Bücher von Faye Browne aufzuklären, und diese waren offensichtlich wieder aufgetaucht. Sollte sich Madame Picard nicht getäuscht haben, dann war ihre Reise hierher hinfällig geworden. Was immer mit Faye Brown geschehen war, dies aufzuklären musste sie der Polizei überlassen.

Der Schlüssel schwebte noch immer vor ihrer Nase in der Luft.

»Sind Sie ganz sicher, dass Faye Browne tot ist?«, fragte Florence.

Madame Picard nickte heftig und ließ endlich die Hand mit dem Schlüssel wieder sinken.

»Dann müssen Sie sofort die Polizei verständigen!«

»Das ist mir klar«, antwortete Madame Picard nun in einem sachlicheren Ton. »Sie ist aber unübersehbar tot, und ich glaube nicht, dass es ein Unfall war. Die Tote wird sich ja nicht selbst mit ihren Büchern zugedeckt haben. Ich würde sagen, ihr Schädel ist eingeschlagen worden, und ich habe eine Menge Blut gesehen. Wenn ich von ihrem Tod nicht überzeugt wäre, hätte ich natürlich sofort einen Arzt verständigt.« Ihr Tonfall war schon wieder schärfer geworden. »Es ist mir durchaus bekannt, was man in so einem Fall macht. Ich lese Kriminalromane! Schließlich habe ich mehr als genug davon hier im Laden. Ich weiß auch, dass niemand den Schauplatz eines Verbrechens betreten kann, wenn einmal die Polizei da ist. Deshalb wollte ich Ihnen Gelegenheit geben, den Tatort selbst in Augenschein zu nehmen. Ich ging davon aus, dass eine Expertin wie Sie daran interessiert wäre. Wer weiß, was unsere Provinzpolizei alles übersieht. Tun Sie mir den Gefallen und schauen Sie sich das an!«

Abrupt erhob sie sich von ihrem Stuhl. »Kommen Sie schnell. Meine Mitarbeiterinnen sind alle beschäftigt. Noch weiß niemand, was hier vorgefallen ist.« Dann ging sie voraus ohne sich noch einmal umzudrehen.

Später einmal gestand Florence sich ein, dass es nicht nur der Befehlston von Madame Picard gewesen war, der sie dazu veranlasst hatte, ihr zu folgen. Die Vorstellung, diesen ungewöhnlichen Tatort noch vor der Polizei in Augenschein nehmen zu können, war einfach zu verführerisch gewesen.

»Dieser Raum wird derzeit nicht benutzt, weil es einen Wasserrohrbruch gegeben hat und alles erst wieder trocknen musste.« Madame Picard überließ Florence den Vortritt. Florence schien keine Wahl zu haben. Nachdem sie gemeinsam den Raum betreten hatten, schloss Madame Picard die Tür sofort wieder hinter sich ab.

In einer Hinsicht hatte sie jedenfalls recht gehabt. Faye Browne, die erfolgreiche Autorin, deren verschwundene Bücher Florence hierher gebracht hatten, war mit Sicherheit tot. Sie lag auf dem Rücken mit dem Kopf zur Tür. Eine große Blutlache hatte sich um ihr weißes Haar ausgebreitet, und dieses sah beinahe wie ein Heiligenschein aus. Neben ihrem Kopf lagen ein umgestürzter Sessel sowie eine Leiter, die halb von der Wand gerutscht und dann irgendwo hängen geblieben war. Auf dem leblosen Körper und um ihn herum waren die Bücher verstreut, einige zerfetzt und aufgeschlagen, die meisten aber geschlossen und unbeschädigt. Die Titelbilder schienen sich zu gleichen. Die erstarrten und weit geöffneten Augen der Toten waren zur Decke gerichtet. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt, und ein unangenehmer Geruch hatte sich in dem recht großen Raum verbreitet. Es war ein schockierender Anblick und auch für Florence eine herausfordernde Situation. In ihren mehr als 40 Jahren Tätigkeit im Polizeidienst hatte sie nur ein einziges Mal einen frischen Tatort gesehen. Als rechte Hand des Leiters ihrer Polizeidienststelle war sie zwar oft genug an der Aufklärung eines Mordfalles beteiligt gewesen, hatte jedoch nie zu einem Einsatzteam gehört.

Madame Picard jedenfalls schien mittlerweile schon wieder erstaunlich gut mit der Situation zurechtzukommen.

»Furchtbar, so eine begabte junge Frau. Tot, mit nicht einmal 40 Jahren«, stellte sie fest und trat einen Schritt näher an die Tote heran.

»Sind das die Bücher, die verschwunden waren?«, hörte sich Florence fragen.

»Danach sieht es aus«, antwortete Madame Picard, »vermutlich alle 40 vermissten Exemplare. Warten sie mal. Das hier sind …«, sie trat näher und begann zu zählen.

»41«, sagte Florence gedankenverloren.

»Na, Sie sind aber schnell«, bemerkte Madame Picard, den Blick noch immer auf die Bücher und die Tote gerichtet. Dann schüttelte sie irritiert den Kopf und zeigte auf ein Buch, das auf der Brust des Mordopfers lag, vermutlich genau über dem Herzen. »Das hier muss ihr neuestes Buch zu sein. Ja, tatsächlich. Der Titel lautet Le Dernier Secret. Ich kenne es nur aus der Ankündigung des Verlages, denn aus dem hat sie diesmal ein besonderes Geheimnis gemacht, das sie sich nur leisten konnte, weil sie eine Bestsellerautorin war.« Schon wollte sie sich danach bücken.

»Vorsicht, nichts berühren«, rief Florence.

»Ja, ich weiß«, antwortete Madame Picard ungeduldig. »Aber schauen Sie! Bei all diesen Büchern hier handelt es sich um Bände aus ihrer erfolgreichen Feuerplanet-Serie und ihrer aktuellen Endzeit-Trilogie. Das neue Buch sollte der letzte Band dieser Trilogie sein. Es war im Katalog nur als spannende Fortsetzung ohne weitere Inhaltsangabe angekündigt, was unüblich ist. Außerdem nur auf einer Viertelseite. Ihre letzten Bücher sind immer ganz groß vorangekündigt worden. Also, jetzt sagen Sie schon etwas, Madame Beaumarie! Dies hier ist doch eindeutig der Schauplatz eines Mordes!«

Florence hatte inzwischen ihre Fassung wiedererlangt. Madame Picard lag natürlich richtig. Hier deutete alles darauf hin, dass ein Mord verübt worden war. Es war höchste Zeit, die Polizei zu rufen. Wieder zögerte sie, ließ die Frage von Madame Picard unbeantwortet und begann stattdessen ihrerseits Fragen zu stellen.

»War der Raum abgesperrte, als Sie die Tote gefunden haben?«

»Ja, das war er. Er war immer abgesperrt, wenn er gerade nicht in Gebrauch war. Damit keine Kunden hineingehen. Es war ja nichts für sie drinnen.«

»Und Sie hatten den Schlüssel?«

»Der lag in einer Lade neben der Kasse. Alle meine Mitarbeiterinnen wussten das, und dort habe auch ich ihn heute heraus geholt.«

»Wie viele Mitarbeiterinnen haben Sie denn?«

»Insgesamt fünfzehn, einige arbeiten in Teilzeit. Gestern waren drei da, und dieselben sind auch heute wieder hier.«

»Hätte Faye Browne wissen können, wo der Schlüssel ist?«

»Ich wüsste nicht, woher. Ein großes Geheimnis haben wir andererseits auch nicht daraus gemacht. Es waren ja auch nie wertvolle Sachen in dem Raum. Derzeit eigentlich nur Reste vom Arbeitsmaterial und den Werkzeugen der Handwerker, die den Rohrbruch repariert und den Raum renoviert haben.«

Sie deutete auf zwei große schwarze Plastikcontainer mit Deckeln, neben denen einige Kupferrohre, ein Hammer und ein Meißel lagen. Ein Kübel mit weißer Farbe direkt daneben war umgekippt, und ein Teil der Farbe war über den Boden verteilt.

»Schauen Sie, Madame. Da haben wir ja auch schon die Tatwerkzeuge. Es sieht doch ganz danach aus, dass sie erschlagen worden ist. Es würde mich nicht wundern, wenn eines dieser Rohre oder sonst ein Werkzeug die Tatwaffe wäre, und wahrscheinlich ist derjenige, der ihre Bücher verschwinden hat lassen, auch ihr Mörder.«

»Das wird die Polizei feststellen, die Sie jetzt schnellstens rufen sollten, Madame Picard.«

Erneut reagierte diese nicht auf die Aufforderung.

»Ich verstehe überhaupt nicht, wie Madame Browne hierhergekommen ist«, bemerkte sie. »Wie Sie sehen, haben wir den Raum fast vollständig ausgeräumt, damit die Handwerker das Problem beheben können. Nur die Sessel haben wir gestapelt drinnen gelassen. Dort hinten unter der Plastikplane. Die zwei, die hier herumstehen, stammen auch von dort. Ich wüsste nicht, wer sie hier aufgestellt hätte. Die Handwerker waren zuletzt vor einer Woche hier und werden erst nächste Woche wiederkommen. Bevor sie ausmalen muss ja noch alles trocknen.«

Sie deutete auf die zwei Stühle, von denen einer neben und einer direkt vor der Toten stand. »Wir brauchen die vielen Sessel hier herinnen für die Lesungen, und genau in drei Wochen sollte hier die Buchpräsentation von Faye Brownes neuem Buch stattfinden. Dann wäre auch der Raum wieder benutzbar gewesen.«

Es war schon erstaunlich, wie Madame Picard mit dieser Situation umging. Von ihrer anfänglichen Aufregung war nur mehr wenig zu bemerken. Vielleicht, überlegte Florence, war dies der Lektüre der in ihrem Haus vorrätigen Kriminalromane zu verdanken. Möglicherweise hatte das in ihr sogar den seltsamen Wunsch hervorgebracht, das, was sich zwischen den Buchdeckeln abspielte, selbst einmal zu erleben. Florence musste plötzlich an jene Feuerwehrleute denken, die einen Brand legen, um endlich einmal zum Löscheinsatz zu kommen.

Da hätten wir ja schon ein erstes Mordmotiv, dachte sie und schalt sich sogleich selbst dafür. Hatte sie denn im Moment nichts Besseres zu tun, als absurde Hypothesen aufzustellen?

Jedenfalls war dies hier der Schauplatz eines Verbrechens und deshalb auch höchste Zeit für sie, diesen wieder zu verlassen. Die Polizei würde ohnedies nicht erfreut darüber sein, dass Florence Beaumarie als Erste den Tatort in Augenschein genommen hatte. Am liebsten wäre sie jetzt einfach wieder verschwunden und hätte so getan, als wäre sie nie hier gewesen.

»Es kann sich immer noch um einen Unfall handeln«, sagte sie, um der Buchhändlerin den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Das glauben Sie doch selbst nicht, Madame Beaumarie.« Jetzt hörte sich Madame Picard beinahe amüsiert an. »Aber wenn Sie wollen, werde ich jetzt nach draußen gehen und die Polizei anrufen. Ob unser Ortsgendarm gerade erreichbar ist, weiß ich nicht. Die nächste größere Station der Police nationalebefindet sich in Manosque, und das kann dauern, bis die hier sind. Sie können sich also Zeit lassen. Schauen Sie sich ruhig hier noch ein wenig um. Ich passe draußen auf, dass niemand hereinkommt.«

Es klang, als würde sie eine Kundin dazu auffordern, es sich in einer Abteilung ihres Ladens gemütlich zu machen.

Schon stand Florence alleine in dem Raum, und obwohl es ja nicht mehr nötig war, prägte sie sich noch einmal die ganze Szene ein. Seltsam war, dass die Füße der Toten nackt und weit und breit keine Schuhe zu sehen waren, und auch, dass die Bücher am Körper oder ganz in der Nähe ihres Körpers lagen und kein Spritzer Blut darauf zu entdecken war. Noch einmal sah sie sich die Lage der Toten genau an. Kopf in Richtung Tür, Füße zur gegenüberliegenden Wand gerichtet. Sie lag nicht mehr als zwei, drei Meter von einem Bücherregel entfernt, das sich an der Wand befand. In großem Bogen ging Florence jetzt um die Tote herum. Dann lehnte sie sich ganz leicht gegen das Regal und stellte fest, dass es wackelte. Dennoch konnte es nicht umfallen, denn auf der einen Seite war die Befestigung zwar gelockert, die andere Seite schien aber bombenfest zu sitzen. Sie drehte sich um und hatte nun eine ganz andere Perspektive auf die Szene. Das Blut am Boden kam eindeutig aus dem Hinterkopf der Toten, an der Vorderseite ihres Körpers entdeckte sie keine Verletzungen. Ihr knielanger karierter Rock war ein Stück nach oben gerutscht und entblößte makellose, bis hin zu den Oberschenkeln schlanke und schön geformte Beine. Diese Dame war nicht nur sehr erfolgreich, sondern auch sehr attraktiv gewesen, und sie dachte an die berühmte englische Schauspielerin Tilda Swinton, die diese tragische Szene wohl genauso dargestellt hätte.

»Es hätte vielleicht doch ein Unfall sein können«, sagte sie noch einmal zu Madame Picard, obwohl sie ebenfalls bereits vom Gegenteil überzeugt war. Die hatte inzwischen ihr Telefongespräch erledigt und lugte zur Tür herein.

»Das glauben Sie doch selbst nicht, Madame Beaumarie! Aber ich sehe, der Fall interessiert Sie natürlich. Wenn Sie wollen, sagen wir der Polizei einfach nicht, dass Sie da waren, und Sie ermitteln im Geheimen weiter. Meinen Auftrag dazu haben Sie bereits in der Tasche!«

Energisch schüttelte Florence den Kopf. Gerne hätte sie sich auf diesen Vorschlag eingelassen, aber natürlich entschied sie sich dafür, auf die Polizei zu warten und den Grund ihrer Anwesenheit zu Protokoll zu geben. Sie konnte eine möglicherweise doch noch notwendige Zusammenarbeit mit den zuständigen Beamten nicht von vorneherein auf eine unmögliche Basis stellen.

»Na gut.« Madame Picard schüttelte resigniert ihren Kopf.

»Ich habe Lucas, unseren Ortsgendarmen, schon erreicht. Es wird mindestens zehn Minuten dauern, bis er hier sein kann. Er wird auch gleich die Police nationale in Manosque informieren. Wenn die nicht spuren, werde ich ohnehin noch zusätzlich jemanden mit der Aufklärung dieser schrecklichen Tat beauftragen. Und ich sage es ein letztes Mal: Am liebsten hätte ich Sie für diese Aufgabe gehabt. Als Bestsellerautorin, die im Nachbarort lebte, war Faye Browne gewissermaßen eines unserer besten Pferde im Stall.«

Damit war alles gesagt, und gemeinsam gingen sie zum Eingang der Buchhandlung in Erwartung der Dinge, die nun auf sie zukamen. Das Sonnenlicht, das sie blendete, machte den Kontrast zu der düsteren Szene im Inneren des Gebäudes noch deutlicher. Bald würde auch hier draußen nichts mehr so wie zuvor sein. Schweigend erwarteten sie den Ortsgendarmen, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

3

Zwei Stunden später waren Florence und Charles wieder im Auto unterwegs in Richtung Avignon. Es war alles so gekommen, wie Florence es erwartet hatte. Erst war der Ortsgendarm in Begleitung des Arztes eingetroffen, eine halbe Stunde später eine ganze Equipe von Polizisten, Tatortspezialistinnen sowie eine Pathologin. Der Gendarm hatte Florence wenig Beachtung geschenkt, der leitende Beamte aus Manosque auch nicht viel mehr. Er war leider ein arroganter Idiot, wie Florence sofort feststellen musste. Er hatte sie mit Herablassung behandelt und so getan, als hätte er ihren Namen noch nie gehört, was lächerlich war. Die zwei spektakulären Kriminalfälle, die in der Provence erst vor Kurzem nur dank ihrer Hilfe aufgeklärt werden konnten, hatten unter Garantie in allen Dienststellen die Runde gemacht. Er hatte sie behandelt, als wäre sie eine wichtigtuerische kleine Privatdetektivin, die keine Ahnung von der Polizeiarbeit hatte, und nach einer sehr kurzen Einvernahme hatte er sie nach Hause geschickt. Madame Picard hatte er zum Vorwurf gemacht, dass sie sich im Fall der verschollenen Bücher nicht an die Polizei, sondern an eine Detektivin gewandt hatte. Er hatte sich sogar zu der Aussage verstiegen, dass Faye Browne noch am Leben sein könnte, wenn die Buchhändlerin diesbezüglich korrekt gehandelt hätte. Die zu diesem Zeitpunkt bereits anwesende Pathologin hatte die ganze Szene mit gerunzelter Stirn beobachtet.

Mit höchst gemischten Gefühlen hatte Florence bald darauf das eindrucksvolle Geschäft verlassen, das nicht nur bis oben hin voll mit Bücherregalen war, sondern nun auch der Schauplatz eines Mordes geworden war. Dass es entweder Mord oder Totschlag war, hatte die Pathologin bereits amtlich bestätigt.

»Du hast das Richtige gemacht«, sagte Florence jetzt aufmunternd zu sich selbst. »Du hättest doch nicht gleich zu Beginn deiner neuen Tätigkeit alle Prinzipien und Regeln, die du deinem Unternehmen gegeben hast, über den Haufen werfen können.«

Sie blickte zu Charles, der am Steuer seines Wagens saß. Ihn durfte sie keinesfalls ein weiteres Mal in die Aufklärung eines Verbrechens mit hineinziehen. Die strenge Trennung von Beruf und Privatleben war ebenfalls etwas, das sie für sich als Regel festgelegt hatte, und sie hatte ihn gebeten, das zu respektieren.

»Es tut mir wirklich leid, dass du heute im Café so lange auf mich warten musstest«, sagte sie jetzt zu ihm. »Es ist doch alles etwas anders gekommen als erwartet.«

»Ich bin schon gespannt, ob es dabei bleibt, Florence. Ich kenne dich doch, der Fall Faye Browne wird dir ab jetzt nicht mehr aus dem Kopf gehen.«

Florence wollte schon protestieren, aber dann besann sie sich. Sie wollte und konnte weder sich selbst noch ihm etwas vormachen.

»Du hast natürlich recht«, sagte sie. »Es ist mir wirklich schwergefallen, Madame Picard eine Absage zu erteilen. Die war auch ziemlich sauer. Ich kann aber nicht gleich am Anfang die Prinzipien meines neu gegründeten Büros über den Haufen werfen. Dazu gehört, wie du weißt, dass ich nur Fälle übernehme, bei denen die Polizei nicht aktiv wird oder die sie als ungelöst ad acta gelegt hat. Die Suche nach dem Mann, der den Hund von Madame Robert vergiftet hat, war so gesehen ein guter Einstieg in meine neue Tätigkeit.«

»Allerdings«, antwortete Charles, »und noch dazu von dem zu erwartenden Erfolg gekrönt. Du bist einfach eine geniale Ermittlerin, Florence.«

»Danke, Charles. Wie lieb von dir, von nun an können wir gerne über alles Mögliche reden, aber bitte nicht mehr über Kriminalfälle.«

»Wie du meinst, Florence. Probieren wir es aus. Es gibt hier in der Nähe ein von mir sehr geschätztes Restaurant. Einige Zeit lang hatte es einen schlechten Pächter, der es heruntergewirtschaftet hat, aber seit einem Jahr wird es wieder ganz ausgezeichnet geführt. Es ist in einer ehemaligen Schule untergebracht, und ich bin hungrig. Sollen wir versuchen, im La Vielle École für Mittag einen Tisch zu bekommen?«

»Aber gerne! Ich habe heute wirklich nichts anderes mehr zu tun, und du hast mich neugierig gemacht. Ich bin schon hungrig!«

»Dann fahren wir jetzt einfach hin und hoffen schon einmal, dass es dort noch ein Plätzchen für uns gibt.«

Gut gelaunt bog er gleich darauf in eine kleine Nebenstraße ein.

»Wir nehmen diese Abkürzung«, sagte er, »dann sind wir vielleicht sogar noch schneller dort.«

Da hatte er sich allerdings geirrt, denn bald darauf tuckerte er ganz langsam einem Agrarfahrzeug hinterher, und es gab weit und breit keine Gelegenheit zum Überholen. Charles schien das jedoch nicht zu stören. Er lächelte versonnen, als trotz des geschlossenen Fensters ein intensiver Duft in ihren Wagen strömte.

»Lavendelernte«, sagte er. »Jetzt wirst du eine Vorstellung davon bekommen, wie unglaublich so eine Wagenladung voll Lavendel duftet.«

Er kurbelte das Fenster herunter, und tatsächlich: Ein Duft von höchster Intensität strömte in den Wagen, und Florence schloss einfach die Augen und gab sich lilafarbenen Träumen hin. Als sie diese wieder öffnete, hatte die Realität ihre Träume eingeholt, denn nun lagen links und rechts von ihrem Weg blühende Lavendelfelder, und vor ihnen erhob sich ein Dorf, dessen Häuser den Eindruck erweckten, als strebten sie auf gekrümmten Wegen alle dem höchsten Punkt eines Kegels zu, der von einer Art Festung gekrönt war.

»Simiane-la-Rotonde«, sagte Charles, »gleich sind wir bei dem Restaurant.«

»Simiane-la-Rotonde?« Die Stimme von Florence kam als fragendes Echo. »Das ist doch der Ort, in dem Faye Browne ihr Haus hatte.«

»Ach ja?« Charles klang überrascht. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir nicht ausgerechnet diesen Ort für unsere Mittagspause vorgeschlagen.«

Florence runzelte die Stirn.

»Aber ich habe dir doch heute Morgen erzählt, dass Faye Browne in Simiane-la-Rotonde ein Haus besitzt. Kann es sein, dass du deswegen mit mir hierher zum Mittagessen gefahren bist?«

»Wo denkst du hin, Florence? Das war mir vollkommen entfallen! Wir sind wegen des Essens hier und außerdem, weil Simiane ein ausgesprochen reizvoller Ort ist. Das ist doch eine herrliche Gegend, oder? Wir sind schon fast da!«

»Wahnsinnig schön, Charles.« Florence war beeindruckt. Dann musste sie lachen. »Wenn du mir von dieser Gegend eine Postkarte geschickt hättest, hätte ich es allerdings ziemlich kitschig gefunden. In der Realität ist es aber nur schön.«

Einer Postkartenidylle glich auch das Restaurant, das am Fuße von Simiane-la-Rotonde lag. Charles fuhr durch das offene breite Eingangsportal und stellte das Auto auf dem gepflasterten Parkplatz ab, der sich neben einem lang gestreckten, eingeschossigen Gebäude befand. Dahinter eine Wiese mit alten Obstbäumen und dem Gastgarten, dessen Tische alle schon besetzt waren. Eine freundliche ältere Frau kam ihnen entgegen, und Charles fragte, ob nicht doch noch ein Tischchen für sie frei wäre.

»Im Freien leider nicht mehr, Monsieur Florentin«, antwortete ihm die Frau, »wir sind hier draußen schon voll, und unter den Frühapfelbaum kann ich derzeit keine Gäste setzen, denn sonst fallen ihnen die Äpfel auf den Kopf. Ich kann Ihnen aber drinnen einen schönen Tisch am offenen Fenster anbieten.«

Charles sah Florence fragend an, und als sie nickte, folgten sie der Frau, die offensichtlich die Chefin war, nach drinnen, wo noch sämtliche Tische frei waren und vieles an den früheren Zweck des Gebäudes erinnerte. Ein hohes Lehrerpult, von dem aus im Stehen unterrichtet worden war, und eine Bank für die Schulkinder waren flankiert von einem Schaukasten, der einst vielleicht ausgestopfte Tiere und andere Lehrmittel beinhaltet hatte, jetzt aber mit Trinkgläsern und Geschirr bestückt war. Über jedem Tisch baumelte an einer langen dünnen Schnur ein bunter Buchstabe, sodass das ganze Alphabet über den Tischen einen kleinen Reigentanz aufführte. Eine lange Theke zog sich über die Rückseite des Raumes, und dahinter war durch eine offene Tür die Küche sichtbar. Eine gemütliche Dorfschule, dachte Florence und musste an ihre Grundschulzeit in Paris denken, in der es überhaupt nicht gemütlich zugegangen war. Wahrscheinlich trügt auch hier der Schein, dachte sie und wandte sich wieder der Gegenwart zu.

Die war soeben in Gestalt des Wirtes in Erscheinung getreten. Er wischte sich seine Hände an einem an die Schürze angeketteten Handtuch ab und begrüßte Charles, der ihm Florence vorstellte. Gleich darauf war er wieder in der Küche verschwunden, wo er jene Speisen aus regionalen Zutaten zubereitete, die Florence bald darauf ins Schwärmen brachten. Seine Frau hatte ihnen einen Fensterplatz zugewiesen, und nach einer hausgemachten Gemüseterrine verspeisten sie beinahe andächtig ein Freilandhuhn mit einer äußerst schmackhaften Fülle und warfen sich anerkennende Blicke zu. Sie bevorzugten es, während des Essens nicht zu sprechen.

Was für ein Prachtexemplar von Mann mir da ganz unerwartet in den Schoß gefallen ist, dachte Florence sich nicht zum ersten Mal und war plötzlich ganz froh darüber, dass sie nicht schon wieder einen Kriminalfall am Hals hatte.

Zum Dessert hatten sich beide für eine einfache Tarte Tatine entschieden, die, wie ihnen die Wirtin mitteilte, mit den Äpfeln jenes Baumes hergestellt worden war, unter dem sie ihre Gäste heute leider nicht platzieren konnte.

Diese war noch nicht ganz verzehrt, als eine kleine Gruppe von Leuten das Lokal betrat und zwei Tische von ihnen entfernt Platz nahm.

»Die Bürgermeisterin von Simiane«, flüsterte Charles Florence zu. »Sie wird manchmal der Buchhandlung in Banon untreu und kommt zu mir nach Avignon, um sich mit alten Büchern von Autorinnen und Autoren aus der Gegend einzudecken. Ich habe ja vieles, was anderswo schon vergriffen ist.«

»Psst«, sagte er bald darauf, »sie sprechen vom Mord an der Autorin.« Als die Wirtin mit den Getränken an den Tisch der Bürgermeisterin trat, blickte diese auf: »Haben Sie schon gehört, dass Faye Browne heute Morgen tot in der Librairie Mistral aufgefunden worden ist? Angeblich ermordet.«

Die Wirtin hatte das noch nicht gewusst. Sie zeigte sich erschüttert, nahm einen Sessel, setzte sich zu der Gruppe an den Tisch und ließ sich erzählen, was die Bürgermeisterin und ihre Bekannten über die Geschichte wussten.

Es war nun unvermeidlich, dass Florence und Charles alles mithörten, und Florence fügte sich den Umständen und lauschte mit gesteigertem Interesse. Schließlich kann ich mir hier nicht die Ohren zuhalten, rechtfertigte sie sich vor sich selbst.

Die Bürgermeisterin war gut informiert. Sie sprach vom Besuch eines jungen Polizisten heute Vormittag in ihrem Büro, der sich danach erkundigt hatte, wo Madame Browne in Simiane genau wohne.

»Ich habe ihm ihre Wohnadresse genannt, und mehr wollte er gar nicht wissen. Ich war überrascht, dass Faye Browne schon wieder von ihrer Vortragsreise im Norden zurück gewesen war. Dann habe ich den Kollegen in Banon angerufen, und der hat mir erzählt, was passiert ist. Ich hatte Faye Browne noch auf ihrer Lesereise in der Normandie vermutet, aber angeblich soll sie schon seit drei Tagen zurück gewesen sein.« Sie wischte sich mit der Hand über die Augen, und nun klang ihre Stimme weinerlich.

»Wenn sie nur nicht immer so eine Geheimniskrämerin gewesen wäre! Ich kann es einfach nicht glauben, dass Faye nie mehr hier mit mir essen wird.«

Die Wirtin legte der Bürgermeisterin den Arm um die Schultern und zog sie tröstend an sich. Als diese sich beruhigt hatte, drehte sie sich um und erblickte Charles. Sie sprang auf, blieb aber an ihrem Platz.

»Oh, Monsieur Florentin«, rief sie. »Sie sind auch hier. Ich hatte Sie noch gar nicht bemerkt. Ich dachte, dass wir die Einzigen hier herinnen sind. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Sie haben ja gehört, was passiert ist. Natürlich ist Ihnen der Name Faye Browne auch ein Begriff.«

»Ja, Madame Delecour, das ist er natürlich.« Auch Charles war aufgestanden, und beide kamen sich in der Mitte entgegen. Die Tischgenossen von Madame Delecour blickten ihr neugierig nach und steckten dann wieder ihre Köpfe zusammen.

»Wollen Sie sich einen Augenblick zu uns setzen?«, fragte Charles. »Ich möchte Ihnen gerne meine Freundin, Florence Beaumarie, vorstellen. Sie ist von Paris zu uns in den Süden gezogen.«

»Gerne.« Schon waren sie zu Florence an den Tisch getreten.

»Enchanté, Madame Beaumarie. Ich muss gestehen, dass Sie keine Unbekannte für mich sind. Als eine, die natürlich alle nur erreichbaren Tageszeitungen liest, ist mir nicht entgangen, was über Ihre Heldentaten in Avignon in den letzten Jahren berichtet worden ist. Sie sind also jetzt endgültig in den Süden gezogen? Ich vermute, dass mein Lieblingsbuchhändler, Monsieur Florentin, daran nicht ganz unschuldig ist.«

»Damit liegen Sie richtig.« Florence deutete auf einen leeren Stuhl an ihrem Tisch. Die Bürgermeisterin nahm das Angebot an, und während sich die beiden Frauen sofort angeregt unterhielten, musste Charles feststellen, dass er nur mehr eine Statistenrolle spielte. Als Florence von ihrem neu eröffneten Detektivbüro berichtete, kam Madame Delecour wieder auf das Thema Faye Browne zurück.

»Da wären Sie eigentlich genau die Richtige, um den grässlichen Mord an meiner Freundin Faye aufzuklären. Es ist so furchtbar, was passiert ist, und ich habe größtes Interesse daran, dass der Mörder baldmöglichst gefunden wird. Am besten von Ihnen.«

»Das wird leider nicht möglich sein.« Florence blieb bei ihren Grundsätzen. »Das ist ein Fall für die Polizei.« Diesen Satz hatte sie heute bestimmt schon fünfmal ausgesprochen.

»Ach, die Polizei«, antwortete Madame Delecour mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wenn Sie damit Commandant Poullain aus Manosque meinen, dann können Sie den gleich wieder vergessen, denn er dürfte für die Ermittlungen zuständig sein, und er ist leider absolut unfähig und hat keinen guten Ruf.«

Florence nahm diese Information, die sie heute schon zum zweiten Mal hörte, zur Kenntnis, fragte aber nicht weiter nach und blieb bei ihrer Feststellung, dass sie für diesen Fall nicht zuständig sei.

»Ich könnte Ihnen aber einiges über Faye erzählen, das sonst niemand weiß.«

Bevor Florence wegen der verschollenen Bücher der Autorin nach Banon gereist war, hatte sie sich noch den Wikipedia-Eintrag zu Faye Browne angeschaut. Der war nicht sehr informativ gewesen. Immerhin hatte sie erfahren, dass die Autorin unverheiratet war und zwei Kinder –Zwillinge – hatte. Einen Link zu einem Interview mit einer Journalistin aus Paris, das vor fünf Jahren erschienen war, hatte sie ebenfalls entdeckt. Bei diesem Gespräch hatte Faye Browne ihre Kinder zwar kurz erwähnt, ansonsten aber konsequent darauf hingewiesen, dass sie vor allem über ihre wissenschaftliche Arbeit sprechen wolle und ihre Science Fiction Bücher nur ein Abfallprodukt dieser Tätigkeit seien. Ihr Privatleben habe niemanden zu interessieren. So hatte Florence also nichts über die Kinder der Autorin, aber einiges über ihre Arbeit erfahren. Faye Browne musste tatsächlich eine äußerst disziplinierte und ehrgeizige Frau gewesen sein, denn das Werk, das sie verfasst hatte, war umfangreich. Ihre wissenschaftlichen Studien waren in so bekannten Zeitschriften wie dem französischen Magazin Futura und dem internationalen Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlicht worden, aber auch in Populärmagazinen gab es zahlreiche Beiträge von ihr. Als Zukunftsforscherin hatte sie sich unter anderem mit dem Klimawandel auseinandergesetzt und stand in Kontakt mit bekannten Protagonistinnen der Umweltbewegung. Das sogenannte »Abfallprodukt«, ihre Science Fiction Romane, waren internationale Bestseller.

»Faye hat versucht, hier in Simiane möglichst zurückgezogen zu leben«, sagte die Bürgermeisterin. »Dennoch haben es immer wieder Journalisten geschafft, sie ausfindig zu machen. Mit ihrem großen Erfolg und ihren kühnen Thesen hat sie sich aber sicher auch Feinde geschaffen. Wenn es um ihre Anliegen ging, hat sie nie ein Blatt vor den Mund genommen.«

Florence hätte genug Fragen an die Bürgermeisterin gehabt, hielt sich aber zurück. Sie erfuhr von Madame Delecour ohnedies auch ungefragt noch einiges über die Ermordete, und bevor sich diese wieder zurück zu ihren Leuten begab, senkte sie ihre Stimme und beugte sich näher an Florence heran.

»Jetzt verrate ich Ihnen etwas, das sonst noch niemand weiß. Faye hat seit einiger Zeit wieder einen Freund gehabt, und der hat eigentlich überhaupt nicht zu ihr gepasst. Ein attraktiver Mann, ohne Zweifel, aber alles andere als ein Intellektueller. Mehr etwas für das Bett als für hochgeistige Gespräche. Ein bisschen wie in Lady Chatterley, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Florence gab dazu keinen Kommentar ab, aber Charles, der alles mitgehört hatte, stieß einen kleinen glucksenden Laut aus und hielt sich gleich darauf die Hand vor den Mund.

Als er Florence später vor ihrer Wohnungstür ablieferte, verabschiedete er sich mit den Worten: »Das mit Lady Chatterley ist schon ein Ding. Ich glaube, dieser Roman ist gerade neu verfilmt worden. Apropos Film, falls du etwas Ablenkung von dieser Geschichte heute brauchst, könnten wir am Abend zusammen ins Kino gehen. Du kennst unser altes Filmtheater noch nicht, und derzeit gibt es lateinamerikanische Wochen und einige sehr schöne Filme.«

»Aber gerne«, hatte ihm Florence geantwortet. »Ich kann im Augenblick jede Ablenkung von einem Mordfall, der mich nichts anzugehen hat, gebrauchen.«

Charles hatte das nicht kommentiert und auch in den folgenden Tagen den Mord nicht wieder erwähnt.

4

»Welcher Teufel hat mich denn geritten, dass ich mir das in meinem Alter antue?«

Zwei Wochen später saß Florence Beaumarie am Schreibtisch ihres neu eingerichteten Büros in Avignon und hatte den Eindruck, am völlig falschen Platz zu sein.

Das Gefühl der inneren Leere, das sie gerade erfasste, kannte sie. Meist stellte es sich ein, wenn ein Kriminalfall ad acta gelegt worden war und die damit verbundene Anspannung von ihr abfiel. Lange Spaziergänge halfen, aber auch Schreiben. Sie dokumentierte ihre Fälle in den grünen und roten Schreibheften der Marke Clairfontaine, rot für die ungelösten, grün für die gelösten Fälle. Was diese Hefte betraf, war sie eigen. Sie ließ sie niemanden lesen, und auch Charles, der sehr neugierig gewesen wäre, war nicht davon ausgenommen. Heute lag der Fall allerdings anders, es gab nämlich weder gelöste noch ungelöste Kriminalfälle in ihrem neu eingerichteten Büro und deshalb auch keinen Grund, etwas zu dokumentieren.

Als sie vor einigen Wochen von Paris nach Avignon gezogen war, war sie in einer angeregten, ja nachgerade euphorischen Stimmung gewesen. Sie hatte noch einmal ein neues Kapitel im Buch ihres Lebens aufgeschlagen. Der Reiz des Neuen hatte seine Wirkung entfaltet. Jetzt hatte sie aber das Gefühl, in einem Roman gelandet zu sein, der nicht nach ihrem Geschmack war. Er handelte von einer Privatdetektivin ohne Aufträge und von der Besitzerin einer wunderbaren Wohnung in Paris, in die eine dreiköpfige Familie mit einem Fünfjahresvertrag eingezogen war.

Am gestrigen Abend, an dem Charles in einem Kreis alter Schulfreunde seinen 65. Geburtstag gefeiert hatte, hatte sich dieses Gefühl noch verstärkt. Die meisten dieser Leute hatten sie nicht interessiert, und sie war von Anfang an an die Falschen geraten! Ein wohlhabender Anwalt hatte sich ihr als Tischnachbar aufgedrängt und ihr zu verstehen gegeben, dass er ihr Detektivbüro hier in der Stadt für eine schlechte Idee hielt. »Das hat Ihnen bestimmt Charles eingeredet, Madame«, hatte er gesagt, »er ist ein alter Romantiker und bezieht seine Ideen gerne aus Romanen.«

Sie hatte es zugelassen, dass ihr Champagnerglas unentwegt nachgefüllt wurde und war am nächsten Morgen erst aufgewacht, als Charles bei ihr anrief. Üblicherweise trafen sie sich jeden Morgen in ihrem Stammcafé und frühstückten gemeinsam. Heute hatte er vergeblich auf sie gewartet. Sie hatte sich auf ihre Kopfschmerzen ausgeredet, sich entschuldigt und rasch wieder aufgelegt. Dann hatte sie eine Schmerztablette genommen, sich eine große Kanne Kaffee gemacht und war direkt in ihr Büro marschiert.

Vor ihr auf dem Schreibtisch lag eine lange To-do-Liste. Eine Ansammlung von Aktivitäten, wie sie gerade dachte, die nur dazu da waren, den Schein zu wahren und vorzutäuschen, dass hier etwas Sinnvolles geschah. Ihre Kopfschmerzen meldeten sich erneut. Sie nahm eine zweite Schmerztablette, trank ein Glas Wasser, und dann war es plötzlich wieder vorbei.

»Florence, du hast genug in Selbstmitleid gebadet«, sagte sie mit halblauter Stimme zu sich selbst. »Fang einfach mit irgendetwas an!«

Ganz oben auf ihrer Liste stand: »Geburtstagsgeschenk für Chantal besorgen«, und das musste ohnedies sein. Chantal war die Tochter von Charles und eine junge Trompeterin mit beachtlicher Karriere. Vor einigen Jahren war Florence mit Chantal im Zug nach Avignon ins Gespräch gekommen, und es war Chantal, die Charles und Florence zusammengebracht hatte. Derzeit war sie noch in Paris, aber in drei Tagen sollte sie hier in Avignon ihr erstes Konzert als Solistin geben. Sie hatte am selben Tag wie ihr Vater Geburtstag, und beide Geburtstage mussten nachgefeiert werden. Schon öfter hatte Chantal davon gesprochen, dass sie gerne einmal Schnorcheln ausprobieren wollte, und deshalb hatte Florence beschlossen, ihr eine Schnorchelbrille und einen Gutschein für einen Schnorchelausflug an die Côté d’Azur zu schenken. In der Auslage eines Geschäftes hatte sie kürzlich einen großen Glasbehälter mit kleinen transparenten und bunten Fischen aus Kunststoff entdeckt. »Wir schwimmen gerne in der Badewanne« war darauf gestanden, und Florence hatte die Vorstellung gefallen, wie Chantal, umspült von diesen Fischen, schon mal in ihrer Badewanne Schnorcheln übte. Sinn für Humor hatte sie ja.

Florence schnappte sich ihre Tasche, verließ das Büro, kam aber nicht weit. Beinahe wäre sie mit einer Frau zusammengestoßen, die direkt vor der Haustür die Türschilder studierte. Mit einem »Pardon« eilte sie an ihr vorbei. Gleich darauf ertönte hinter ihr eine Stimme.

»Madame Beaumarie, Madame Beaumarie! Bitte warten Sie!«

Sie drehte sich um, und erst jetzt erkannte sie die Frau. Es war Madame Picard, die Inhaberin der Buchhandlung von Banon. Im Gegensatz zu ihrer recht strengen Aufmachung neulich im Geschäft war sie an diesem heißen Tag sommerlich luftig gekleidet. Geblümtes, wadenlanges Kleid, Espadrilles, eine Sonnenbrille ins Haar geschoben. Auch jetzt ließ sie ihren Worten sofort Taten folgen. Sie kramte in ihrer großen Strohtasche und streckte Florence in einer triumphierenden Geste ein Buch entgegen.

»Das müssen Sie unbedingt lesen, Madame Beaumarie. Das ist das neue Buch von Faye Browne!«

Florence bat Alice Picard in das Büro.

»Sehr schick hier«, sagte die Buchhändlerin, als sie sich am Schreibtisch des Büros gegenübersaßen. »So ähnlich habe ich mir ein Detektivbüro tatsächlich vorgestellt.« Dann zeigte sie auf die Wand hinter Florence. »Nur eines fehlt noch, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Madame: Die große Pinnwand, auf der die laufenden Fälle mit Bildern und Verbindungslinien dokumentiert werden. Da die Wand hinter ihrem Schreibtisch aber noch vollständig leer ist, darf ich wohl davon ausgehen, dass sie noch freie Kapazitäten für einen neuen Auftrag haben.«

Natürlich war Madame Picard gekommen, um Florence noch einmal um die Übernahme des Falles Faye Browne zu ersuchen, denn der Leiter der Police nationale in Manosque hatte noch keinerlei brauchbare Ergebnisse geliefert.

»Sicher haben Sie mitbekommen, Madame Beaumarie, dass Commandant Poullain den Mord meinem Mitarbeiter Ernest Durant anhängen wollte und noch immer will. Die Zeitungen waren ja voll davon.«

Florence ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Natürlich hatte sie verfolgt, was über den Fall Faye Browne berichtet worden war und auch, dass es sehr rasch eine Verhaftung gegeben hatte. Ausgerechnet Ernest Durant, der jüngste Mitarbeiter der Buchhändlerin und Sohn ihrer besten Freundin, war bereits einen Tag nach der Entdeckung des Mordes von Commandant Poullain festgenommen worden. Er war erst vor kurzer Zeit auf Wunsch von Faye Browne zu ihrem neuen Ansprechpartner in der Buchhandlung auserkoren worden und sollte für sie die Buchpräsentation vorbereiten. Nach ihrer Ermordung waren auf dem einzigen Exemplar ihres noch unveröffentlichten Romans, das man auf ihrer Leiche gefunden hatte, außer ihren eigenen nur die Fingerabdrücke von Ernest Durant gefunden worden, und da er für den Tatzeitpunkt kein Alibi vorzuweisen hatte, hatte Commandant Poullain ihn festgenommen. Als er sich dann beim Verhör auch noch verstockt zeigte, stand für Poullain fest, dass Durant – trotz eines fehlenden Tatmotivs – der Mörder war. Die fetten Schlagzeilen zu diesem raschen Ermittlungserfolg hatten Poullain sehr erfreut. Bereits am nächsten Tag musste er jedoch den Verdächtigen wieder aus der Haft entlassen, denn zwei junge Frauen, mit denen dieser recht vergnügt und weit entfernt vom Tatort die Nacht verbracht hatte, hatten ihm ein Alibi gegeben. Auf die Frage, warum er das nicht selbst getan hat, gab er an, dass er die Damen nicht hatte kompromittieren wollen. Auf diese Weise hatte sich der rasche Erfolg von Poullain schlagartig in Luft aufgelöst.

»Ich habe einige Zeitungsartikel gelesen«, sagte Florence dann. »Danach sieht es so aus, als hätte Commandant Poullain nach dem Flop mit der Verhaftung von Durant kein besonderes Engagement mehr für den Fall Faye Browne gezeigt. Sind Sie denn von der Unschuld Ihres Mitarbeiters überzeugt, Madame?«

»Das bin ich! Absolut! Ich kenne Ernest seit seiner Geburt. Er war von klein an eine Leseratte und hat wohl mehr Zeit in meiner Buchhandlung verbracht als irgendein anderer Mensch. Außer mir natürlich! Dafür, dass er ein hübscher Bursche ist, kann er nichts. Er ist durch und durch ein Intellektueller und in praktischen Dingen etwas tollpatschig. Man könnte ihn auch als Träumer bezeichnen, aber er hat einen glasklaren Verstand und ist ungeheuer belesen. Er studiert Literaturwissenschaften und Philosophie und arbeitet nebenher in Teilzeit in meinem Geschäft.«

»Und wie erklären Sie sich, dass seine Fingerabdrücke auf das Buch gekommen sind, das man neben der Leiche gefunden hat?«

»Ach, Faye Browne war so eigen! Sie hat diesmal aus ihrem Roman ein riesiges Geheimnis gemacht. Viel mehr als bei ihren vorherigen Büchern. Niemand sollte es vorher zu Gesicht bekommen. Auch der Verlag hat es in seiner Vorschau entgegen seiner üblichen Vorgangsweise nur mit dem Titel und ohne weitere Informationen angekündigt. Erst bei der Erstpräsentation, die immerhin hier bei mir in Banon stattfinden sollte, hätte das Geheimnis gelüftet werden sollen. Es hat aber offensichtlich schon einen Vorabdruck gegeben, und Ernest war der Einzige, der ein Exemplar davon bekommen hat. Er sollte Faye Browne bei der Auswahl der Textstellen behilflich sein, und überhaupt wollte sie mit niemand anderem von uns sprechen, nicht einmal mit mir. Er hat sich daran gehalten. Bis ihm kurz vor ihrem Tod dieses Buch gestohlen wurde. Er hat sich nicht getraut, ihr das mitzuteilen, und so hat niemand davon erfahren!«

»Warum brauchte Madame Browne eigentlich jemanden für die Auswahl ihrer Textstellen?«