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Ein Buch, das unter die Haut geht: Der fesselnde Thriller »Mädchensammler« von Matthias Gereon jetzt als eBook bei dotbooks. Ihr Körper voller Blut, ihre Schreie ungehört … Als die Essener Kripo zu einem Tatort gerufen wird, deutet alles auf einen typischen Einbruch hin – bis auf den toten Wohnungsbesitzer, in dessen Nachlass die Ermittler ein verstörendes Video finden: Es zelebriert die grausame Ermordung eines Mädchens. Kurz darauf taucht eine weitere Leiche auf, ebenfalls ein angesehener städtischer Beamter und bei ihm ein zweites Hinrichtungsvideo. Die Spuren der getöteten Mädchen führen die Kommissare Bergmann und Klein zu international operierenden Schlepperbanden und konfrontieren sie mit den tiefsten menschlichen Abgründen. Bald müssen sie sich die Frage stellen, wer in diesem grausamen Spiel Opfer und Täter ist – und geraten dabei selbst in höchste Gefahr … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der eiskalte Thriller »Mädchensammler« von Erfolgsautor Matthias Gereon – der zweite Fall für das ungleiche Ermittler-Duo Bergmann und Klein. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 488
Über dieses Buch:
Ihr Körper voller Blut, ihre Schreie ungehört …
Als die Essener Kripo zu einem Tatort gerufen wird, deutet alles auf einen typischen Einbruch hin – bis auf den toten Wohnungsbesitzer, in dessen Nachlass die Ermittler ein verstörendes Video finden: Es zelebriert die grausame Ermordung eines Mädchens. Kurz darauf taucht eine weitere Leiche auf, ebenfalls ein angesehener städtischer Beamter und bei ihm ein zweites Hinrichtungsvideo. Die Spuren der getöteten Mädchen führen die Kommissare Bergmann und Klein zu international operierenden Schlepperbanden und konfrontieren sie mit den tiefsten menschlichen Abgründen. Bald müssen sie sich die Frage stellen, wer in diesem grausamen Spiel Opfer und Täter ist – und geraten dabei selbst in höchste Gefahr …
Über den Autor:
Matthias Gereon, Jahrgang 1979, entschloss sich nach Abitur und Zivildienst für ein Studium an der Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung. Er ist als Beamter für das Land Nordrhein-Westfalen tätig.
Der Autor im Internet: www.facebook.com/M.Gereon/
Matthias Gereon veröffentlichte bei dotbooks auch den ersten Fall für die Kommissare Bergmann und Klein: »Die Eisbärin«.
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Originalausgabe Februar 2018
Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildabbildung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/WAYHOME studio
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96148-212-2
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Matthias Gereon
Mädchensammler
Thriller
dotbooks.
Essen, Sommer 1994
Als wollte der Mond das Unheil meiden, versteckte er sich schwerfällig und blass hinter den Wolken. Alexander stieß die Tür der Kneipe auf und trat ins Freie. Die kühle Luft schlug ihm förmlich entgegen und vertrieb langsam den Nebel in seinem Kopf. Er war angespannt, vergrub die Hände in den Taschen und beobachtete den Mann, der schwankend vor ihm ging. Jaroslav war im Laufe des Abends immer stiller geworden, der Ausdruck in seinen Augen härter. Die Mischung aus Gier und kalter Entschlossenheit darin hatte Alexander schon in der aufgeheizten Kneipe frösteln lassen. Er suchte den Blick von Thorsten hinter sich, doch der starrte zu Boden. Wortlos gingen die Männer zum Parkplatz am Ende der Straße. Jaroslav schnippte die Zigarette ins Gebüsch, kramte nach einem Pfefferminzbonbon und stieg hinters Steuer des dunklen Volvos. Es kam nicht häufig vor, dass er angetrunken fuhr, doch heute erhob niemand Widerspruch. Dieser Abend gehorchte anderen Regeln.
Schweigend manövrierte Jaroslav den Wagen durch die Nacht. Was vor Monaten als betrunkene Fantasie, als Gedankenexperiment inmitten erstickender Mittelmäßigkeit und Langeweile begonnen hatte, wurde in diesem Moment lebendig. Alexander überfiel ein Kribbeln, das sich vom Becken über den Nacken bis in die Fingerspitzen ausbreitete. Nur ein Teil von ihm wehrte sich gegen die zunehmende Erregung, gegen die Bilder in seinem Kopf. Wie lange war es her, dass er zuletzt einen solchen Kitzel erlebt hatte? Als er sich zur Rückbank umdrehte, wusste er, dass Thorsten ähnliche Gedanken hegte. Alexander wandte sich wieder nach vorn, und sein Blick streifte den Fahrer. Was in Jaroslavs Kopf vorging, konnte er nur erahnen. Der Mann, der alles in Gang gesetzt hatte, war und blieb ihm ebenso rätselhaft wie die Faszination, die von ihm ausging. Das Licht der Scheinwerfer schien die Umgebung abzutasten wie hungrige Finger. Alexander bekam Gänsehaut, fühlte das Leben, die Gier, die Macht. Heute Nacht sollte sich alles verändern. Sie waren endlich auf der Jagd.
Langsam glitt der Wagen durch die Straßen der sich leerenden Stadt. Regen setzte ein und trieb die letzten Nachtschwärmer eilig zu ihren Autos. In der Ferne flackerte der rötliche Schein des Essener Rotlichtviertels. Nicht einmal eine von denen hat mir einen echten Kick verpasst, dachte Alexander und duckte sich reflexartig. Als könne Melanie sogar seine Gedanken überwachen, drängte sich das keifende Weib hinein. Er sah sie in der gemeinsamen Küche, die Hände in die Hüften gestemmt, pures Gift in den Augen. Wo hast du dich rumgetrieben? Bist du schon wieder besoffen? Wenn das so weitergeht, kannst du dieses Haus bald allein abbezahlen!
Du kannst mich mal, Hexe, dachte er und lächelte. Dich hat keiner gefragt.
Er presste sich in den Sitz. Über dem sonoren Brummen des Motors und dem Geräusch der Reifen auf regennasser Fahrbahn herrschte vollkommene Stille, doch die Anspannung im Wagen dröhnte ihm in den Ohren wie ein Güterzug. Er starrte aus dem Fenster. Reste seines Gewissens bäumten sich unvermittelt auf und schossen wie Pfeile umher. Er grub sich noch tiefer in den Sitz, doch der Kampf war schnell entschieden. Die Zweifel verbrannten im Feuer seiner Erregung und glitten vorbei wie die nächtlichen Schatten. Alexander hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als die Bebauung spärlicher und der Regen stärker wurde. Auf einer einsam gelegenen Straße im Essener Süden schlugen die Instinkte plötzlich an. Die eingeschalteten Blinker des Nachtbusses wirkten surreal, wie eine leuchtende Einladung inmitten des Nichts. Jaroslav überholte den wartenden Bus, und sein beschleunigter Atem verriet Alexander, dass er es auch gesehen hatte. Sie gesehen hatte. Jaroslav stoppte hinter der nächsten Biegung und setzte rückwärts in die Zufahrt eines Sportplatzes. Er fand einen geschützten Bereich zwischen zwei Hecken, löschte das Licht und ließ das Fenster ein Stück herunter. Es herrschte gespenstische Stille, untermalt von den Geräuschen des Regens und des abfahrenden Busses. Jaroslav fuhr das Fenster vollständig herunter und spähte angestrengt durch die Zweige. Unter das Trommeln der Tropfen mischten sich Schritte von der Straße, kaum zehn Meter entfernt.
»Setz dich nach hinten«, raunte Jaroslav, ohne den Blick von der Straße zu lösen. Es waren die ersten Worte seit Verlassen der Kneipe, und der Tonfall ließ keinen Spielraum. Alexander gehorchte. Er stieg aus, hastete über den schlammigen Boden und öffnete die hintere Wagentür. In diesem Augenblick passierte das Mädchen die Hecke. Als habe sie die Gefahr gewittert, wandte die junge Frau den Kopf in Richtung des Fahrzeugs. Nie wieder würde Alexander das Gefühl vergessen, als sich ihre Blicke für eine intensive Sekunde trafen.
»Mach endlich«, durchbrach Jaroslav den Bann. Alexander stieg ein, und der Wagen folgte dem Mädchen. Dort, wo in rund zweihundert Metern die Rücklichter des Busses hinter der nächsten Kurve verschwanden, würde sie bewohntes Gebiet erreichen. Die schlanke Gestalt wurde vom Licht der Scheinwerfer erfasst und warf einen Schatten voraus. Sie hielt den Rücken steif und beschleunigte den Gang.
Alexander war wie besessen vom Anblick des Mädchens, eine Schönheit, nicht älter als 20 Jahre. Sie hatte offenbar nicht mit dem Regen gerechnet. Die dunkelblaue Bluse klebte ebenso auf ihrem Körper wie die Jeans und das pechschwarze, in der Mitte gescheitelte Haar.
Jaroslav war fest entschlossen, kein Zweifel. Das Keuchen verriet seine Anspannung. Eine letzte Sekunde verging, in der es schien, als schüttle das Schicksal die Würfel. Dann trat er aufs Gaspedal. Mit heulendem Motor flog der Volvo an dem Mädchen vorbei, bremste scharf und schnitt ihm den Weg ab.
»Jetzt!«, brüllte Jaroslav, während er holpernd auf den Bürgersteig schoss. Das Jagdfieber flutete Alexanders Hirn mit Adrenalin. Er stieß die Tür auf, sprang hinaus und packte den Arm des Mädchens. Er bekam die vom Regen glitschige Haut nur schwer zu fassen und riss an ihrer Bluse. Die Gegenwehr der jungen Frau war schwach. Die Tränen ihrer Angst hatten sich längst mit dem Regen vermischt, und es kostete Alexander nur den Bruchteil der erwarteten Mühe, sie in den Wagen zu zerren. Ihr halbherziger Schrei ging unter in dem strömenden Regen, der jetzt vom Himmel stürzte. Grob landete sie rücklings auf der Bank und kassierte einen Schlag auf den Kopf. Jaroslav grunzte vor Aufregung wie ein Schwein, doch in Thorstens aufgerissenen Augen stand nicht weniger Panik als in denen des Mädchens. Dafür ist es jetzt zu spät, dachte Alexander und versetzte dem strampelnden Körper einen weiteren Schlag. Dann wendete der Volvo und raste in Richtung Norden davon.
Sekunden später wurde ein abgerissener Blusenknopf vom Regen erfasst und in den Rinnstein gespült. Mit den Wassermassen trieb er die Straße hinab, verschwand im Gully und mit ihm die letzte Spur der jungen Frau.
Rumänien, Spätsommer 1995
Aurelia Radu saß im löchrigen Schatten der Veranda, die Beine locker übereinandergeschlagen. Eine Sandale war zu Boden gefallen. Es störte sie nicht. Der ausgebleichte Schaukelstuhl knarzte müde im Takt ihrer Bewegungen und drückte immer neue Tangenten auf die staubigen Fliesen. Aurelia schirmte die Augen gegen die Sonne ab, die glühend an einem wolkenlosen Himmel hing und die Bergwelt ringsum in gleißendes Licht tauchte. Sie versuchte, etwas zu entdecken, das sie noch nicht kannte – eine ferne Erhebung, einen unbekannten Bachlauf oder wenigstens ein umherstreunendes Tier. Doch genau wie die unzähligen Tage zuvor erstickte der endlose grüne Teppich aus Bäumen alles unter sich, bis er am Horizont schließlich in einem flackernden Inferno mit dem Blau des Himmels verschmolz.
Sie wandte den Kopf zur Seite, doch auch im Osten sah sie nur den ewig gleichen Kampf der Tannen und Fichten um die Vorherrschaft über die letzten Ausläufer der rumänischen Karpaten. Irgendwo weit hinter dem Horizont lag das Meer. Warum nur nannten es die Erwachsenen das »Schwarze Meer«? Sie war noch nie dort gewesen, kannte nur die Legenden aus dem Dorf und die Erzählungen von Emilia. Ihre Freundin war vor einigen Jahren mit der Familie hinauf in die Abgeschiedenheit der Berge gezogen und lebte heute im Nachbardorf wenige Kilometer nördlich. Wann immer sie sich sahen, schwärmte Emilia von ihrer verlassenen Heimat am Wasser und verfluchte die Eltern für das eingetauschte, in Holz und Stein gehauene Leben. Beim nächsten Treffen würde ihr Aurelia den kleinen Gebirgssee zeigen, der so versteckt inmitten unzugänglicher Vegetation lag, dass ihn nur Eingeweihte finden konnten. Der kalte, stille Ort wäre ein schwacher Trost für Emilia, aber es wäre immerhin einer.
Aurelia schloss die Augen und träumte sich an jenen fernen und fremden Strand des Schwarzen Meeres. Einfach nur daliegen, ohne Sorgen, ohne Arbeit, einmal dem engen Alltag entfliehen. Marius!
Das Lächeln des jungen Mannes stand ihr sofort wieder vor Augen. Er hatte sanfte haselnussbraune Augen. Seine kräftigen Arme wirkten immer, als seien sie ihm noch ein bisschen zu groß. Aurelia lächelte, rutschte im Stuhl ein Stück tiefer und stellte sich vor, wie er mit leichtem Schritt vom Meer über den Strand auf sie zulief. Er kniete sich vor ihr in den Sand und beugte seinen Oberkörper über sie. Kühle Tropfen fielen herab. Sie spürte jeden einzelnen davon auf der Haut.
Was würde sie darum geben, jetzt mit Marius zusammen zu sein! Nur einen Tag lang weg sein von hier, einmal die Arbeit, die zankenden Geschwister, den ewigen Staub hinter sich lassen.
Kaum hatte sie diesen Gedanken geformt, beschlichen sie Gewissensbisse. Die Zwillinge waren ihre Familie, und sie liebte die beiden Jungs von Herzen. Sie würde es nie übers Herz bringen, sie im Stich zu lassen. Doch es gab Augenblicke, in denen sie einfach keine Luft mehr bekam, Momente, in denen ein einziger Gedanke übermächtig war: Raus hier. Weg von den Schafen und ihrer widerspenstigen Wolle auf dem Webstuhl. Weg von dem stinkenden Käse und dem ewig gleichen Essen. Weg von der ganzen Alm, raus aus den Bergen, raus aus dem endlosen Wald und hinein ins Leben. Sich nicht mehr bestimmen lassen vom Auf und Ab der Sonne, von der immer wiederkehrenden Diktatur der Jahreszeiten und den Gesetzen ihres Vaters. Aurelia sehnte sich nach Freiheit, nach Abwechslung und einem besseren Leben.
Unwillkürlich wanderte ihr Blick Richtung Westen, wo sie all das vermutete. Dort lag die große Stadt. Der Ort, an dem Tante Vera lebte, mit der sie im letzten Jahr zweimal heimlich telefoniert hatte, unten im großen Dorf, während der Vater mit dem Ausladen der Ware beschäftigt war. Die Schwester ihrer Mutter hatte am Telefon einnehmend und freundlich geklungen und Aurelia vorgeschlagen, nach Bukarest zu kommen, wo sie ihr für die erste Zeit ein Zimmer bereitstellen würde. So lange, bis sie sich selbst versorgen könnte. Mich selbst versorgen – in Gedanken beäugte Aurelia diese drei Worte von allen Seiten. Sie könnte leicht als Küchenhilfe oder Kindermädchen arbeiten. An körperliche Anstrengung war sie ebenso gewohnt wie an Sparsamkeit. Vielleicht würde es eine Weile dauern, doch dann wäre das Geld für die Ausbildung beisammen. Wenn es gut lief – und Talent besaß sie ganz sicher –, sollte sie in wenigen Jahren gelernte Schneiderin sein. Und dann, so träumte Aurelia, stand ihr die Welt offen. Vielleicht führte ihr Weg sie dann gar nach Frankreich oder Italien, wo sich das ganze Leben nur um Mode zu drehen schien, wo die Menschen jeden Tag neue Kleider kaufen konnten, wo Schneiderinnen ein gutes und angesehenes Leben führten.
Aurelia hielt den Blick noch immer gen Westen gerichtet, auf den mächtigen Berg, als wollte sie ihn durchstoßen und den Weg zum Paradies dahinter frei machen. Doch der Berg zeigte sich stoisch. Das karge Massiv blieb genau das, was es immer schon war: eine unüberwindliche Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit.
Langsam kehrten die Gedanken zurück in die Gegenwart, und sie erfasste das Plateau im Nordwesten. Sie konnte die Herde erkennen. Ihr Vater war Besitzer von gut 120 Schafen, und das reichte, um die Familie zu ernähren. Es reichte sogar, um zwei Männer aus dem Dorf als Hirten zu beschäftigen. Der Preis dafür war jedoch, dass der Vater beinahe jede Minute seines Lebens mit den Tieren verbrachte. Jeden Morgen trieb er die Schafe noch vor Sonnenaufgang auf das hochgelegene Weideland. Ein anstrengendes und mühsames Unterfangen, das eine gute Stunde in Anspruch nahm. Dort oben verbrachten die Tiere den Tag grasend auf der Wiese, bis sie am frühen Abend wieder heruntergeführt wurden.
Früher hatte der Vater regelmäßig mit den Tieren auf der Weide übernachtet, aber es hatte immer wieder Zwischenfälle mit den wilden Bewohnern der Wälder gegeben. Das Problem waren nicht die Bären. Die zeigten sich nur äußerst selten, und wenn, töteten sie ein, höchstens zwei Schafe. Gefährlicher waren die Wölfe, die sich im Schutz der Dunkelheit auf Raubzug begaben. Schon ein kleines Rudel war imstande, trotz der fünf Hirtenhunde die ganze Herde zu reißen und somit die Existenz der Familie auf einen Schlag zu vernichten.
Die tägliche Prozedur des Auf- und Abtriebs war also lästig, aber nicht zu vermeiden. Andererseits gab es auch einen Vorteil zu verbuchen, denn auf diese Weise konnte der Vater das ganze Jahr über bei ihnen sein. Andere Familien hatten oft weniger Glück, denn der Weg zwischen ihren Dörfern und den Weideplätzen der Tiere war in der Regel sehr weit und die meisten Daheimgebliebenen bekamen ihre Ehemänner, Söhne und Väter den ganzen Sommer lang nicht zu Gesicht.
Aurelia blinzelte und versuchte, ihren Vater in der flimmernden Entfernung auszumachen, doch es gelang ihr nicht. Wahrscheinlich saß auch er im Schatten der Sennhütte und dachte nach. Vielleicht trank er aber auch einen Schnaps und spielte Karten mit den anderen beiden Männern.
»Aurelia!« Die grelle Stimme ihrer Mutter durchstieß die sengende Hitze, und der Ton ließ erkennen, dass ihre Pause aufgefallen und für beendet erklärt worden war.
Aurelia stand auf und trottete in Richtung der Stallungen. Es hatte seit über drei Wochen nicht geregnet, und die Sonne trocknete nach und nach das ganze Leben im Dorf aus. Die wenigen Menschen, die hier lebten, verkrochen sich in den Hütten, und selbst von den Kindern war nichts zu sehen.
Als Aurelia den Bretterverschlag erreichte, in dem die Tiere gemolken wurden und die kurze Nacht verbrachten, sah sie, dass ihre Mutter noch immer im abgetrennten Teil des Stalls saß, den die Familie als Arbeitsraum nutzte. Hier waren die Schätze ihres überschaubaren Besitzes untergebracht: ein antik anmutendes Spinnrad und ein neuerer, simpel konstruierter Webstuhl. Im hinteren Teil verrottete unter alten Decken begraben ein morscher Pferdekarren, dessen Achse schon länger gebrochen war, als Aurelia denken konnte. Die Mutter warf ihrer Tochter einen Blick zu, in dem die ihr eigene Mischung aus Liebe und Tadel lag. Ohne ein Wort zu sagen, wandte sie sich wieder der Wolle zu, die unter ihren geschickten Händen zu einem kräftigen Faden verschmolz.
Aurelia schob den Holzschemel zurecht und setzte sich an den Webstuhl. Bereits im Mai hatten sie die Schafe geschoren, doch die Arbeit mit der Wolle wurde nicht weniger. Im Gegenteil. Nach den Vorbereitungen mit Waschen, Trocknen und Färben begann nun die Zeit der Verarbeitung. Als zusätzliche Einnahmequelle eignete sich die Wolle jedoch kaum. Stattdessen fertigten sie Kleidung für den Alltag oder Wandteppiche für die kargen Behausungen.
Aurelia nestelte an dem eingespannten Faden herum, während sie aus den Augenwinkeln die zarte Gestalt ihrer Mutter betrachtete. Sie hatte Evelinas Schönheit immer bewundert und war dankbar, dass sich in den letzten Jahren eine immer größere Ähnlichkeit zwischen ihnen entwickelte. Mutter und Tochter besaßen das gleiche dunkle, kräftige Haar, die gleichen lebhaften Augen. Die Eleganz ihrer Bewegungen hatte nichts gemein mit der derben, rauen Art des Vaters. Ein Unterschied war jedoch kaum zu übersehen. Evelina war von kleiner Statur und wirkte zerbrechlich, Aurelia hingegen überragte ihre Mutter schon jetzt um Haupteslänge, was ihrer Erscheinung eine vornehme Erhabenheit verlieh.
Im Alltag war von Evelinas Schönheit allerdings kaum etwas zu erkennen. Wie immer während der Arbeit trug sie auch jetzt das Haar streng zurück, das graue Wollkleid fiel plump an ihr herab und verleugnete jede Weiblichkeit. Der allgegenwärtige Staub lag wie ein Schleier über allem und nahm ihr viel von ihrer natürlichen Lebendigkeit.
Aurelia wandte sich ab und richtete die Aufmerksamkeit auf den Webstuhl und die Arbeit an dem neuen Umhang aus Schafsfell für ihren Vater, der ihn vor dem launigen Bergwetter schützen sollte. Sie beugte den Körper nach vorn und begab sich in die gedankenlose, schweigsame Routine ihrer Arbeit.
»Hast du dich schon entschieden?« Die Frage ihrer Mutter kam völlig überraschend. Der Ton war ein ganz anderer als eben, wärmer, aber Aurelia erkannte noch etwas anderes. Schmerz.
»Ich weiß es nicht, Mama.« Sie unterbrach ihre Arbeit, sah auf und suchte die Zwillinge mit den Augen. Sergiu und Lucian waren gerade neun Jahre alt geworden. Anscheinend hatten es die Brüder in der Hütte nicht länger ausgehalten und kickten sich nun vergnügt eine zerbeulte Blechdose zu, die im aufgewirbelten Staub des Dorfplatzes kaum zu erkennen war. »Ich weiß es nicht«, wiederholte sie und kam sich vor wie eine Verräterin.
»Es wird ihnen das Herz brechen«, sagte die Mutter.
Natürlich würde es schmerzlich sein für die beiden. Aber sie hatten einander und waren die Lieblinge im Dorf. Jeder mochte das stürmische Paar und genoss seine Nähe. Aurelia vermutete, dass ihre Mutter ohnehin mehr einen anderen Menschen gemeint hatte. Den Menschen, der Kilometer entfernt in seiner Hütte saß. Ihren Vater. Zur Antwort nickte sie stumm und wandte den Blick zur Seite, da ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Und was ist mit dir?«, brachte Aurelia hervor, nachdem sie sicher war, den Kloß im Hals kontrollieren zu können, und hörte, wie nun auch Evelina die Arbeit unterbrach. Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten.
»Du bist mein Kind«, sprach die Mutter mit leiser Stimme. »Mein kleines Mädchen. Ich habe schreckliche Angst um dich, aber ich bewundere deinen Mut. Wenn du glücklich bist, bin ich es auch.«
Aurelia spürte, wie die Tränen übermächtig wurden. Sie liefen ihr ungehindert über die Wangen, bahnten kleine Furchen in die schmutzige Haut und tropften lautlos in den Staub.
»Ich mache Abendessen«, presste sie hervor, sprang auf und eilte zurück ins Haus, wo sie sich wimmernd in eine Ecke kauerte und wartete, bis der Druck in der Brust langsam nachließ. Jeden Tag seit dem Abend des letzten Schneefalls Ende April, an dem sie den Eltern ihre Pläne gebeichtet hatte, quälten sie Schuldgefühle. Sie wollte ihre Familie im Stich lassen, nur um eigensüchtigen Fantasien hinterherzujagen.
Aurelia zwang sich, aufzustehen, nahm die Streichhölzer vom Brett und entzündete das Holz, das sie am Morgen aufgeschichtet hatte. Der Zunder auf dem Erdboden fing sofort Feuer, und sie beobachtete die Flammen, die züngelnd und leckend emporkrochen, immer größer und gieriger wurden, bis die trockenen Scheite ihnen am Ende wehrlos zum Opfer fielen. Sie löste ihren Blick und hängte einen Wasserkessel in das Metallgestell über dem Feuer. Rauch stieg auf, sammelte sich unter der Decke und staute sich vor dem Abzugsloch. Geduldig wartete sie, bis sich die ersten Bläschen bildeten, gab dann Salz und Maismehl hinzu und verrührte das Ganze zu einem zähflüssigen Brei.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Im Westen sank die Sonne bereits, schon bald würde sie hinter dem Gipfel verschwunden sein. Auch ihr Vater müsste schon auf dem Rückweg sein und mit Anbruch der Dämmerung eintreffen. So wie jeden Tag.
Aurelia wuchtete den brodelnden Topf vom Feuer und stellte ihn auf die plattgeklopfte Erde. Um ihn warm zu halten, legte sie einen ausrangierten Schafspelz darüber. Eine Methode, die die Familie von der Käseherstellung übernommen hatte und die auch bei der Zubereitung des Maisbreis, den alle Mamaliga nannten, bestens funktionierte.
Aurelia trat vor die Tür und versuchte, den Rauch aus den Lungen zu vertreiben, indem sie mit tiefen Atemzügen die kühler werdende Bergluft einsog. Ich werde nicht nur meine Familie vermissen, dachte sie und ahnte, dass sie nicht mal einen Bruchteil des Lebens außerhalb ihrer Welt abschätzen konnte. Sie schüttelte die Gedanken ab und rief nach Sergiu und Lucian. Es war Samstag und somit höchste Zeit, den Dreck von ihren kleinen Leibern zu waschen.
Der restliche Tag versank im Strudel der Routine. Nach der Rückkehr des Vaters trieben sie die Schafe in den engen Pferch, wo die Tiere gemolken wurden. Selbst in den Eutern hinterließ die trockene Hitze der vergangenen Tage ihre Spuren. Knapper werdendes Trinkwasser und trockenes Weidegras senkten die Menge der abgegebenen Milch ebenso wie die Laune des Vaters. Dennoch kam wie immer das ganze Dorf zusammen, um zu helfen. Die kleine Gemeinde brachte es auf acht Erwachsene, dazu noch die Kinder. Selbst die beiden Holzbauern, die den ganzen Tag in den angrenzenden Wäldern schufteten und es doch nicht schafften, das ewige Grün zu lichten, packten mit an. Nach der Arbeit bereitete Aurelia die Mamaliga zu, die aus dem Topf gestülpt und mit einem Bindfaden in kleine Scheiben geschnitten wurde. Anschließend drückte sie etwas Schafskäse hinein und formte den Brei zu kleinen, mundgerechten Kugeln.
Als alle um den Tisch in der Mitte versammelt waren, reichte die Mutter warmes Maisbrot und ein Glas gesäuerter Schafsmilch, nur der Vater bevorzugte einen Kräuterschnaps. Es war ein übliches abendliches Beisammensein, bei dem viel geflachst und wenig geredet wurde.
Nach dem Essen erledigte Aurelia den Abwasch, während der Vater noch eine Weile mit den Zwillingen herumalberte. Später zogen sich Kinder und Eltern in verschiedene Schlafräume zurück. Ein Luxus, den sich längst nicht alle Familien leisten konnten.
Aurelia betete mit den Zwillingen und legte sich dann selbst ins Bett, fand jedoch keinen Schlaf. Die Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Wie ein lästiges, hungriges Insekt ließen sie sich einfach nicht abschütteln. Auch wenn es die Mutter nicht ausgesprochen hatte, ahnte Aurelia, dass sie es ihr nie verzeihen würde, sollte sie die Familie tatsächlich verlassen. Gleiches galt für den Vater. Sie wusste, dass er seine Kinder liebte, auch wenn es nicht zu seinen Stärken zählte, Gefühle zu zeigen.
Aurelia drehte den Kopf und lauschte in die Stille. Der Wind hatte etwas aufgefrischt. Leise pfiff er durch die Ritzen in der Wand und trug das allgegenwärtige Rauschen der Wälder an ihr Ohr. In der Ferne heulte ein Wolf, und sein schauriges Lied trug Aurelias Gedanken zu Marius. Er wohnte im Nachbardorf, zehn Kilometer nördlich ihrer Hütte. Mit 16 war er ein Jahr älter als sie und genau wie sein Vater ein Schafhirte. Marius’ Familie war arm und besaß keine eigene Herde. Sie waren Angestellte eines Großbesitzers und verbrachten den Sommer auf einer Alm, etwa vier Stunden Fußmarsch westlich, genau auf der anderen Seite des Berges. Um diese Zeit würde er bereits in seiner Hütte liegen und schlafen, umringt von Dunkelheit und Einsamkeit. Und dem Schnapsgeruch der anderen Hirten. Bei ihrem letzten Treffen im Juni hatte er ihr verraten, dass es ihm helfe, an sie zu denken, wenn die Einsamkeit übermächtig wurde. Als ob er auch in diesem Moment an sie dachte, regte sich ein Zittern in Aurelias Brust, und instinktiv spannte sie die Muskeln an. Auf ihrem gebräunten Gesicht lag ein erwartungsvoller Ausdruck. Wie albern, rief sie sich zur Vernunft und zog die Decke hoch bis ins Gesicht. Ein Zipfel kam auf ihrem Kinn zu liegen. Dorthin hatte Marius seine große Hand gelegt und ihr Gesicht sanft zu sich angehoben. Aurelia schmiegte sich in die Decke und rief sich jede Einzelheit dieser Begegnung ins Gedächtnis. Sie waren spazieren gewesen wie schon einige Male zuvor, hatten herumgealbert und gelacht, bis Marius sie plötzlich an der Hand gefasst und in den Schatten einer Tanne gezogen hatte.
Obwohl sie sich die ganze Zeit über gewünscht hatte, ihm noch viel näher zu sein, war sie überrascht. Sie war so erregt, dass ihr Herz in der Brust laut pochte. Sie fürchtete, Marius könnte es hören und sich über sie lustig machen. Doch stattdessen legte er einen Arm um ihre Hüfte, und mit der Hand hob er ihr Kinn an. Seine tiefbraunen Augen und das spitzbübische Lächeln um seine Mundwinkel kamen immer näher, und Aurelia schloss die Augen. Als sie endlich die feuchte Wärme seiner Lippen spürte, versagten ihr beinahe die Knie, doch Marius’ stürmische Selbstsicherheit ließ ihrer Schüchternheit gar keinen Raum. Sie spürte seine forscher werdende Hand auf ihrem Rücken, im Nacken, im Haar. Als er sie schließlich ganz zu sich heranzog, zuckte Aurelia zurück, getrieben von der plötzlichen Angst, der schreckliche Geruch der Tiere könne ihr noch immer anhängen, Marius könne merken, dass sie nach Schafen stank. Doch er presste ihren Körper fest an sich, und als seine Lippen begannen, ihren Hals zu erkunden, gelang es ihr endlich, die Scham beiseitezuschieben und alle Sorgen loszulassen. Die wenigen Sekunden, in denen sie sich küssten, erschienen ihr wie ein ganzes Leben, ihr Innerstes glühte, war frei und lebendig wie niemals zuvor. Später hielt Marius sie einfach im Arm. Ihr Gesicht schien wie dafür geschaffen, sich in die weiche Kuhle seines Halses zu schmiegen.
Von diesem Aufruhr der Schmetterlinge in ihrem Bauch zehrte sie noch immer. Ein Wiedersehen war so dringend nötig wie die Luft zum Atmen. Morgen, dachte Aurelia, wenn Vater auf den Markt fährt, um den Käse zu verkaufen, sollte ich eine Gelegenheit bekommen. Sie spürte noch immer Marius’ weiche Haut auf dem Gesicht, als sie über dem gleichmäßigen Atmen der Zwillinge endlich in einen traumlosen Schlaf fiel.
16 Jahre später
Essen, Freitag, 15. Juli 2011, 22.40 Uhr
Thorsten Bromfort inspizierte das Schiffsdeck und konnte nur ahnen, wie sich die Piloten kurz vor dem Start fühlen mussten.
Dann ließ er eine F/A-18 Super Hornet in Position bringen und bestieg selbst das Cockpit des Kampfjets. Er spürte die Enge von Helm, Anzug und Gurt. Alles in diesem hochmodernen Jäger war perfekt auf ihn abgestimmt, er wurde eins mit der mächtigen Maschine. Die gut 300 Meter Asphalt vor ihm verwandelten sich in ein kurzes, schmales Band, eine winzige Plattform der Zivilisation inmitten der Unendlichkeit des blauen Ozeans.
Seine Sinne schärften sich und richteten sich in höchster Konzentration auf den Augenblick, der jetzt vor ihm lag. Die Instrumente zeigten optimale Werte, und auch die Männer auf dem Deck des Flugzeugträgers signalisierten Startbereitschaft.
Er legte die Hand auf den Hebel und brachte den Schub der beiden Triebwerke auf volle Leistung. Die Turbinen brüllten ihre Kraft heraus, und heftige Vibrationen erfassten die Maschine, die nur noch von den stählernen Ankern am Boden gehalten wurde. Noch gab es ein Zurück. Sein Herz schlug heftig und schnell, seine Lungen gierten nach dem Sauerstoff aus der Atemmaske.
Dann endlich gab der Mann am Boden das Zeichen. Das Katapult entfesselte seine brachiale Gewalt und beschleunigte den Jet mit einer Heftigkeit, die den Piloten unbarmherzig in den Sitz presste. Rasend schnell kam das Ende der Startbahn auf ihn zu, und er glaubte schon, über die Kante zu stürzen und mit seinem tonnen-, ja millionenschweren Stahlsarg wie ein Stein im Meer zu versinken. Tatsächlich sackte die Maschine kurz ab, doch die Geschwindigkeit reichte aus. Nur leicht musste er den Steuerknüppel heranziehen und spürte augenblicklich, wie ihn der Schub des Nachbrenners gen Himmel drückte. Sekunden später schoss er durch die Wolkendecke und genoss den Rundumblick aus seiner Glaskuppel. Er hatte alles unter Kontrolle, Atmung und Puls beruhigten sich.
Er drosselte die Geschwindigkeit und wartete, bis seine beiden Flügelmänner neben ihm auftauchten. In V-Formation jagten sie mit der Sonne im Rücken durch das perfekte, unberührte Blau.
Dann meldete sein Radarsystem das feindliche Flugzeug. Die MIG-29 geriet in die Zielerfassung und näherte sich mit hohem Tempo. Er wählte die SideWinder-Rakete aus dem Arsenal und legte den Finger auf den Abschussknopf. Er wies die Flügelmänner an, nicht einzugreifen. Dieser Feind gehörte ihm ganz allein …
Plötzlich riss ihn ein Geräusch aus seinen Gedanken. Thorsten Bromfort brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sein Blick haftete noch immer am Originalnachbau der U.S.S. Nimitz, der kurz vor der Fertigstellung stand. Er blickte auf und sah sich um, doch der Bastelkeller schien unverändert. Er war sicher, etwas Ungewöhnliches gehört zu haben. Klirrendes Glas. Er trat an die halb geöffnete Kellertür. Ist die Alte schon zurück? Dann hörte er Schritte, sie kamen eindeutig aus dem Raum über ihm. Er löschte das Licht und verfluchte sich im selben Moment dafür. Das Treppenhaus war offen, und womöglich hatte er soeben seine Anwesenheit und Position verraten.
Er sah auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Kurz vor elf. Seine Frau konnte es also nicht sein. Für gewöhnlich kehrte sie von ihrem Freundinnenabend erst gegen Mitternacht zurück. Thorsten Bromfort horchte angestrengt, dann war er sicher: Ein Fremder spazierte durchs Wohnzimmer, direkt über seinem Kopf. Schlagartig schaltete sein Körper in den Überlebensmodus. Herz und Atmung gingen schneller, Adrenalin strömte literweise durch hindurch. Der kaputte Stuhl, schoss es ihm durch den Kopf. Irgendwo unter dem Gerümpel auf der Werkbank lag das massive Stuhlbein, das er schon vor langer Zeit hätte reparieren sollen. Doch in der Dunkelheit danach zu suchen, würde zu viel Lärm verursachen, und das Licht erneut einzuschalten, kam nicht in Frage.
Thorsten Bromfort erwog fieberhaft seine Möglichkeiten. Sollte er sich hier unten in der Dunkelheit versteckt halten und abwarten, bis der Eindringling sein Werk verrichtet hatte? Sollte er Lärm machen und darauf hoffen, den Fremden damit zu vertreiben? Oder sollte er nach oben ins Schlafzimmer schleichen und von dort aus die Polizei rufen? Er dachte an den Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Die Verbindungstür zum Wohnzimmer stand offen, und ein Einbrecher würde dort vermutlich früher oder später nach Wertsachen suchen. Die Zeit drängte. Er löste einen großen Schraubenschlüssel vom Wandbrett neben der Tür und schlich zur Treppe. Er konnte hören, wie der Fremde Schubladen aufzog und deren Inhalt durchsuchte. Doch statt Furcht kochte jetzt ungeheure Wut in ihm hoch. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wer da so ungeniert in seiner Privatsphäre wühlte. Lautlos nahm er die Treppe, lief durch den Flur und spähte ins Wohnzimmer. Er sah das zersplitterte Fenster und spürte den kühlen Luftstrom, der ins Haus zog. Das zuckende Licht einer Taschenlampe zeichnete die Umrisse einer hageren Gestalt. Mit dem Typen kann ich es locker aufnehmen, dachte er, brachte sich lautlos in Position und griff an.
Während er wie ein Gepard all seine Kraft in einen einzigen Versuch legte und auf den Unbekannten zustürmte, fiel ihm plötzlich ein, dass der Mann womöglich nicht allein gekommen war. Bromfort hatte den Einbrecher beinahe erreicht, als ein stechender Schmerz von den Schienbeinen an durch seinen Körper fuhr. In der Dunkelheit hatte er die Schublade mit der Kameraausrüstung nicht gesehen, die der Fremde auf dem Boden deponierte hatte. Er taumelte, ruderte wild mit den Armen, konnte den Sturz aber nicht mehr verhindern.
Der andere drehte sich ruckartig um. Dabei huschte der Lichtkegel seiner Taschenlampe für einen winzigen Augenblick über sein Gesicht. Bromfort blickte in kalte, glasige Augen und wusste, dass er die falsche Entscheidung getroffen hatte. Im Fallen gelang es ihm mit letzter Kraft, den Mann zu verletzen. Mit Wucht krachte der Schraubenschlüssel gegen das Kinn des Eindringlings und hinterließ eine blutige Furche. Der Mann wich ächzend zurück, während er selbst unsanft gegen die Kommode knallte.
Thorsten Bromfort hörte, wie sein Kiefer brach, und schmeckte das Blut, doch er durfte nicht aufgeben. Er rappelte sich auf und sah mit tränenden Augen, dass sich auch der Einbrecher wieder gefangen hatte.
»Verschwinde«, versuchte er zu brüllen, doch die gebrochenen Knochen gehorchten ihm nicht. Jetzt bekam er es doch mit der Angst zu tun. Der Vorteil war kläglich verspielt. In einem letzten Aufbäumen stürzte er sich nach vorn, in der verzweifelten Hoffnung, mit dem Schraubenschlüssel einen Wirkungstreffer zu landen und den Kampf für sich zu entscheiden. Er zielte auf die Schläfe seines Gegners, doch der Angriff ging daneben. Er fegte dem Mann lediglich die Mütze vom Kopf und geriet erneut ins Wanken. Obwohl der Fremde klein und nicht sonderlich kräftig war, reichte ein energisches Schubsen aus, um Bromfort zu erledigen. Er kippte nach hinten wie ein gefällter Baum und fiel mit dem Kopf auf die Glaskante des Wohnzimmertischs. Wieder vernahm er das Bersten von Knochen. Ein greller Blitz zuckte vor seinen Augen. Dann war es dunkel.
Essen, Freitag, 15. Juli 2011, 23.50 Uhr
Der Asiate am Nachbargerät schien ein richtiger Glückspilz zu sein. Er war erst seit einer halben Stunde da, und schon entlockte er dem Automaten den prall gefüllten Jackpot. Günther Klein schielte neidisch hinüber, konnte in dem Gesicht des Mannes jedoch keine nennenswerte Gefühlsregung erkennen. Die meisten Landsleute seines Nachbarn versammelten sich oben um die zahlreichen Roulettetische, wo sie 500-Euro-Jetons auf einfache Chancen setzten, mit Vorliebe an mehreren Tischen gleichzeitig. Offenbar lag diesen Leuten das Glücksspiel. Klein dachte an das Stoffwechselenzym, das für den Alkoholabbau im menschlichen Körper zuständig war und vielen Asiaten fehlte. Vielleicht, dachte er, verfügen sie zum Ausgleich über andere Fähigkeiten, die sie zu erfolgreicheren Spielern machen.
Er warf einen Blick auf seine eigene Anzeige. In knapp drei Stunden seines Feierabends hatte er 57,80 Euro verspielt, 2,20 Euro waren noch übrig. Er nickte dem Asiaten zu, der gerade seinen Gewinn in einer Plastikschüssel abtransportierte, als sein Handy piepte. Erst jetzt wurde ihm das allgegenwärtige Gedudel der Automaten bewusst, und er verspürte den Impuls, das Gespräch einfach wegzudrücken.
Er entschied sich anders. »Klein.«
»Günther, hier ist Klaus.«
»Wer ist da?«
»Klaus!«
»Klaus? Was gibt’s?«
Die Frage war eigentlich überflüssig. Zwar hatte sich zwischen Günther Klein und Klaus Sperber in über 30 gemeinsamen Berufsjahren so etwas wie eine Freundschaft entwickelt, doch das Fundament dieser Beziehung war immer die Arbeit gewesen. Außerhalb des Polizeiapparats gingen der Leiter des Kriminalkommissariats 11 und der Chef der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle beim Essener Präsidium getrennte Wege.
»Ich verstehe dich kaum«, rief Sperber in den Hörer. »Klingt, als wärst du auf einem Autoscooter.« Er stockte kurz. »Du bist doch nicht auf der Kirmes, oder?«
»Wäre das ein Problem für dich?«, bellte Klein und strich sich ungelenk über das schütter werdende Haar.
»Was? Kannst du nicht kurz runter vom Karussell und …«
Klein rutschte entnervt vom Hocker, ging ein paar Schritte weit und fand eine Nische neben der Toilettentür.
»Also, was gibt’s?«, unterbrach er Sperber, der sich noch immer über ihn lustig machte.
»Wir haben eine Leiche, du Spaßbremse.«
Klein hatte nichts anderes erwartet. »Gibt es Probleme?«
»Nein, die Maßnahmen laufen so weit. Ich dachte nur, du möchtest dir den Tatort dennoch lieber selbst ansehen.«
»Was haben wir denn?«
»Zunächst sieht alles nach Einbruch aus. Aber dann muss was schiefgelaufen sein. Der Hausbesitzer hat einen zertrümmerten Schädel davongetragen. Und dann gibt es da noch einen blutigen Schraubenschlüssel, der dem ersten Anschein nach nicht zu den Verletzungen des Opfers passt.«
Klein warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte sich den restlichen Abend gänzlich anders vorgestellt. Wie genau, wusste er nicht, aber eine Leiche war in seiner Planung nicht vorgekommen.
»In Ordnung«, sagte er, ließ sich die Adresse geben und legte auf. Er wollte zurückgehen und sich wenigstens das Restgeld auszahlen lassen, als er sah, dass sein Platz schon wieder besetzt war. Eine junge Frau südosteuropäischer Erscheinung saß an seinem Automaten und spielte mit seinem Geld. Klein ging hinüber und stellte sie zur Rede, doch sie tat, als verstehe sie kein Wort. Er spürte Wut in sich aufsteigen. Am liebsten hätte er sie gepackt, vom Hocker gerissen und das Geld aus ihr herausgeschüttelt, doch er wusste, dass er nichts ausrichten konnte. Schon gar nicht in dem Umfeld, in dem er sich gerade bewegte. Er versuchte es mit abfälligen Blicken, doch die schienen an der Frau abzuperlen wie Wassertropfen an einem frisch polierten Kotflügel.
Klein schluckte seinen Ärger hinunter und ging in Richtung Ausgang. Er zuckte zusammen, als ganz in der Nähe ekstatisches Automatengejaule den nächsten geknackten Jackpot verriet. Er zwang sich, nicht zurückzublicken, und schwor, nie wieder ein Casino zu betreten.
Fünf Minuten später zupfte Klein ungeduldig am Bedienteil der Freisprecheinrichtung in seinem Auto herum. Seine Aufmerksamkeit richtete sich einen Augenblick zu lange auf die offenbar zickige Neuanschaffung. Als er sich wieder auf den Verkehr besann, war die Mittelinsel bereits bedrohlich nah gekommen. Klein riss das Steuer nach rechts, verfehlte um Haaresbreite ein geparktes Fahrzeug und schrappte mit der Felge am Bordstein entlang. Fluchend zog er den Empfänger aus dem Ohr und schmetterte das Gerät mit Anhang in den Fußraum des Beifahrerplatzes. Dann wählte er die Nummer von Jennifer Bergmann. Die 30-Jährige war in den vergangenen zwei Jahren zu seiner engsten Mitarbeiterin geworden und stand ihm bisweilen näher als seine eigene Tochter. Bergmann hatte die uralte Tradition einer rein männlichen Polizistenriege beim KK11 beendet und Kleins anfängliche Skepsis der Neuen gegenüber mit schwungvollem Eifer und sympathischer Intelligenz hinweggefegt. Klein hatte von Beginn an eine Art Mentorenbeziehung zu ihr entwickelt, aus der sie inzwischen jedoch längst herausgewachsen war. Manchmal überkamen ihn bei dem Gedanken fast wehmütige Gefühle, doch im Grunde wusste er, dass der frische Wind, der im Hirn der hübschen Kollegin wehte, seinen festgefahrenen Denkmustern ein ums andere Mal überlegen war. Er konnte sich die Zeit ohne Bergmann kaum mehr vorstellen. Sie war der heimliche Mittelpunkt der Kriminalpolizei, die Sonne, um die die Kollegen kreisten wie kleine Planeten.
Klein erreichte sie im Kino, berichtete ihr von Sperbers Anruf und rang ihr das Versprechen ab, ebenfalls zum Tatort zu kommen. Er wollte auf ihre Meinung nur ungern verzichten, denn der erste Eindruck vom Tatort war bei den meisten Kapitaldelikten ein wesentliches Element der Ermittlung. Es waren die Unberührtheit, die zerbrechliche Friedlichkeit nach der Eruption der Gewalt, die Nähe zum Täter, die oftmals körperlich spürbar waren. Für Günther Klein beherbergte ein Tatort sämtliche Geheimnisse, die für den erfolgreichen Abschluss der Ermittlungen eine Rolle spielten. Die Bereitschaft, die Sprache eines solchen Ortes immer wieder neu zu erlernen, sowie die Gabe, die versteckten Hinweise zu bergen, waren die Anforderungen, denen sich ein guter Ermittler täglich stellen musste. Nur leider wurde die kostbare Jungfräulichkeit allzu oft durch übereifrige Streifenpolizisten, hektische Notärzte oder unbeteiligte Dritte zerstört, noch bevor die Kriminalbeamten einen Fuß über die Schwelle setzen konnten.
Klein steckte das Telefon zurück in die Tasche und trat aufs Gas. Als er kurz nach Mitternacht in den Feldhauskamp einbog, erwartete ihn das übliche Chaos. Streifenwagen, Rettungsfahrzeuge der Feuerwehr und Sperbers zivile Flotte verstopften die Straße. Klein parkte in der Zufahrt eines Nachbargrundstücks und ging hinüber. Das kleine Einfamilienhaus war noch immer umstellt von uniformierten Kollegen. Viele der jungen Gesichter, die im Meer der zuckenden Blaulichter aufleuchteten wie verschreckte Gespenster, hatte Klein nie zuvor gesehen. Offenbar ging es den Streifenpolizisten nicht anders, denn an der Polizistin vor der Haustür kam er nicht vorbei, ohne seinen Dienstausweis zu zeigen. Klein schätzte sie auf Anfang 20 und dachte, dass eine Behörde mit über 2.000 Mitarbeitern wahrlich nicht nur Vorteile hatte.
Er betrat den Flur und musste trotz des ernsten Anlasses schmunzeln, als er seinen Freund bei der Arbeit entdeckte. Klaus Sperber war knapp zwei Meter groß, was der Hersteller der Spurenschutzanzüge offensichtlich nicht auf der Rechnung hatte. Der Kriminaltechniker war gezwungen, seine Straßenkleidung jedes Mal abzulegen, bevor er in den Anzug stieg. Das Material spannte dennoch wie ein aufgeblasener und zu allem Überfluss noch leicht transparenter Luftballon, und Klein fragte sich, wie oft ein sich bückender Sperber seinen Mitarbeitern bereits pikante Details preisgegeben hatte.
Das Team der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle arbeitete auf Hochtouren. Mit UV-Licht, Gelatinefolie und Magnetpulver versuchten sie, die unsichtbaren Botschaften zu entschlüsseln. Klaus Sperber wirbelte durch das Wohnzimmer und brachte mit dem Hinterteil einen gerade aufgestellten Halogenscheinwerfer zum Schwanken. Er passt eher auf ein Wikingerschiff, dachte Klein, während Sperber auf ihn zusteuerte.
»Das ging schnell«, sagte der Hüne durch den Mundschutz, zog mit einem Flatsch seine Handschuhe aus und reichte Klein die mächtige Pranke.
»Der Genuss deiner Gesellschaft ist eben zu verlockend.«
»Apropos. Wo ist Jenny?«
»Unterwegs. Also, was haben wir?«
»Da hinten«, sagte Sperber und deutete auf das bunte Treiben in seinem Rücken. »Thorsten Bromfort, 52 Jahre, Kieferbruch und üble Wunde am Hinterkopf. Vermutlich ist er auf den Glastisch geknallt, das sagen zumindest die Hautreste und das Blut auf der Platte.«
Klein ging Richtung Wohnzimmer und verharrte im Türrahmen. Der Leichnam war bereits abgedeckt und wirkte inmitten des bunten Treibens wie ein leuchtender Fremdkörper.
»Willst du ihn sehen?«, fragte Sperber.
»Nicht nötig«, murmelte Klein und dachte daran, wie viel der Tote noch über sich ergehen lassen musste, ehe er seine Ruhe finden konnte. »Du sagtest am Telefon etwas von einem Einbruch?«
»Ja, der Täter ist durch ein Fenster von der Gartenseite eingedrungen. Der Stein, mit dem er die Scheibe zertrümmert hat, liegt noch im Wohnzimmer. Offenbar ist er vom Hausherrn überrascht worden.«
»Das sagt uns wer?«
»Seine Frau.« Sperber nickte in Richtung einer geschlossenen Tür, hinter der Klein die Küche vermutete. »Sie hat angerufen, nachdem sie von ihrem Frauenabend zurückkam. Hat ordentlich einen über den Durst getrunken und sagt aus, ihr Mann habe sich wahrscheinlich den Abend über im Keller aufgehalten.«
»Im Keller?«
»Ja, das haben wir bereits überprüft. Keine Sauna, keine Bar, kein privater Kinoraum. Bromfort hatte einen Modellbaufimmel. Flugzeuge, Autos, Schiffe. Wenn du mich fragst, ganz klar an der Grenze zum Freak.«
Klein behagte es nicht, wie Sperber von Zeit zu Zeit über die Toten redete. Natürlich musste jeder Polizist zu den Eindrücken seines Berufs auf Abstand gehen, um sich selbst zu schützen, aber manchmal schien Sperbers Gefühl für Anstand ebenso außerhalb der Norm wie der Rest seiner Erscheinung.
»Wie weit seid ihr?«, fragte Klein, um den Riesen auf sein Arbeitsgebiet zurückzulotsen.
»Wir haben schon Einiges. Ein kleines Paradies für Spurensucher.« Er grinste so schief, dass der Mundschutz verrutschte. »Schuheindruckspuren in der Erde vor dem …« Er brach ab, denn einer der Techniker rief seinen Namen und winkte hektisch. Sperber zog ein frisches Paar Handschuhe aus der Kitteltasche und wandte sich zum Gehen. »Wir reden später«, sagte er und tauchte wieder ab in seine bizarre Welt.
Klein kam sich für einen kurzen Augenblick überflüssig vor und dachte an das Gedudel des geknackten Jackpots. Dann machte er kehrt und öffnete die Küchentür.
Claudia Bromfort saß zitternd am Tisch und wischte sich die verlaufene Schminke aus dem Gesicht. In dem Aschenbecher vor ihr qualmten zwei Zigaretten. Klein nickte der Streifenpolizistin zu, die schweigend Beistand leistete, und nahm sich einen Stuhl. Einen Augenblick später waren sie allein.
Nach dem Gespräch war Klein selbst überrascht, wie schnell er Zugang gefunden hatte. Claudia Bromfort hatte offenbar ein großes Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen. Er hatte eine Menge über den Toten im Wohnzimmer nebenan erfahren. Über seinen Job beim Bauamt der Stadt Essen, über seine Bastelleidenschaft und nicht zuletzt auch über seine Qualitäten als Ehemann. Natürlich gehörte Claudia Bromfort zunächst zum Kreis möglicher Verdächtiger, doch je länger Klein ihr an diesem Abend zuhörte, desto weniger glaubte er an eine Tatbeteiligung. Die angetrunkene Frau zeichnete ein offenes und schonungsloses Bild von ihrem Mann, von sich selbst und ihrer Beziehung, die in den 13 Ehejahren immer wieder zwischen inniger Verliebtheit und gegenseitiger Verachtung oszilliert hatte und schließlich in eingespielter Ernüchterung zur Ruhe gekommen war. In regelmäßigen Abständen wurde Claudia Bromfort von Weinkrämpfen geschüttelt, doch es gelang ihr jedes Mal, sich wieder zu fangen. Ärztliche Betreuung lehnte sie ab. Stattdessen wollte sie rauchen, reden und trinken. Klein ließ sie gewähren, stellte nur wenige Fragen und hörte geduldig zu.
Als er gegen Viertel nach eins die Küche verließ, fühlte er sich müde und ausgelaugt. Das Chaos im Haus schien noch größer geworden zu sein. Er wankte hinüber ins Wohnzimmer, wo nur noch das zusammengeknüllte Laken mit den roten Flecken an die einstige Anwesenheit einer Leiche erinnerte.
»Ich denke, ich werde meinen Glastisch in den Sperrmüll geben.«
Klein zuckte zusammen, als er die Stimme neben sich hörte, entspannte sich jedoch wieder, als er den rauen Unterton darin erkannte.
»Wie war die Spätvorstellung?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.
»Schwaches Ende.«
»Tut mir leid, dass ich dich da rausholen musste.«
»Paul wird mir sicher den Rest gern als Gute-Nacht-Geschichte ins Ohr flüstern.«
»Jetzt mal halblang! Junge Mädels wie du sollten nicht zu nachtschlafender Zeit noch zweifelhafte Verabredungen treffen.«
»Das sagt der Richtige. Was machst du überhaupt noch hier? In deinem Alter geht man doch nach der Tagesschau zu Bett.«
Klein drehte sich um und lächelte. »Dir auch ein herzliches Willkommen. Hast du dich schon umgesehen? Was sagt dein Gefühl?«
»Bis jetzt spricht nichts gegen Sperbers Einbruchtheorie. Alles weist darauf hin, dass der Täter nicht mit dem Auftauchen eines Hausbewohners gerechnet hat. Wie schätzt du die Frau ein?«
»Sie hat nichts mit der Sache zu tun. Andernfalls hänge ich meinen Job an den Nagel.« Klein betrachtete das Loch in der Fensterscheibe und den Stein vor der Heizung. »Das muss laut gewesen sein.«
Bergmann nickte. »Meinhoff und Peters von der Kriminalwache sind draußen und leiten die Befragung der Nachbarn. Vielleicht haben wir Glück. Immerhin scheint das nicht die Gegend zu sein, in der es den Leuten egal ist, was in der Nachbarschaft passiert.«
Plötzlich drang Hundegebell durch die Stimmen und Geräusche. Klein zog fragend die Augenbrauen hoch. »Du hast Mantrailer kommen lassen?«
»Ja«, sagte Bergmann. »Ich dachte, das ist ganz in deinem Sinne. Die Landesleitstelle hat uns vom Trainingszentrum in Stukenbrock zwei Hundeführer versprochen.«
»Haben wir denn einen brauchbaren Geruchsspurenträger?«
»Er hat uns seine Mütze dagelassen.« Bergmann grinste, und Klein spürte, dass ihre Freude echt war.
»Ganz mein Mädchen«, sagte er stolz und knuffte sie anerkennend in die Seite.
Die restliche Nacht verlief in erstaunlich geordneten Bahnen. Klaus Sperber leitete die Maßnahmen im Tatobjekt, die Beamten der Kriminalwache kümmerten sich um die Nachbarn, und die Hunde folgten der Fährte des flüchtigen Einbrechers. Bergmann und Klein klingelten die Kollegen des KK11 aus den Betten und setzten für den kommenden Morgen eine Besprechung an.
Die Mordkommission »Mütze« war geboren.
Essen, Samstag, 16. Juli 2011, 10.30 Uhr
Klein trommelte leise mit den Fingern auf die Platte des Besprechungstisches. Die aufgestaute Wärme entwich nur zögerlich durch das offene Fenster. Es roch nach einer Mischung aus Stadtsommer, Schweiß und frischem Kaffee, doch es lag noch etwas anderes in der Luft. Klein spürte die Atmosphäre aus Motivation und Zuversicht, die so oft mit den Anfängen der Ermittlungsarbeit einherging. Jeder im Raum war bis in die Haarspitzen überzeugt, dem Täter durch Fleiß, Beharrlichkeit und Cleverness auf die Spur zu kommen. Dass es am Ende das eigene Puzzleteil sein könnte, das den Ausschlag geben und das Bild komplettieren würde, war nur ein zusätzlicher Ansporn.
Klein ließ in der erwartungsvollen Geschwätzigkeit seinen Blick unauffällig von einem zum anderen schweifen. Manfred Laschinsky war mit 57 Jahren der Älteste im Team. Seine gelassene Souveränität empfand Klein als äußerst wertvoll, nicht nur, wenn die Ermittlungen in Hektik oder Sackgassen zu geraten drohten, wie es so häufig geschah. Neben Laschinsky saß Stefan Lauterbach. Der 39-Jährige war seit sieben Jahren beim KK11. Ein unauffälliger, eher ruhiger Typ, dessen Stärke seine Gründlichkeit und Beharrlichkeit war. Lauterbach war Vater zweier Kinder und stand kurz vor seinem lang verdienten Jahresurlaub, was man seiner Gesichtsfarbe, nicht aber seiner Haltung anmerkte.
Kleins Blick wanderte weiter zu Bernd Hecking. 47 Jahre alt, ehemaliger Profiringer, erinnerte er ihn an Sperber, mit dem Unterschied, dass er beinahe doppelt so breit war wie der weiße Riese. Hecking war ein echtes Juwel, wenn es um Vernehmungen ging. Hinter der einschüchternden Fassade steckte ein wacher Verstand mit einer gehörigen Portion Menschenkenntnis. An seiner Seite saß der schmale Henning Klee. Mit Anfang 40 war er ein ruhiger, aber über die Maße kompetenter Denker. Wenn Klein die beiden zusammen erlebte, musste er regelmäßig an einen Film denken, den er vor vielen Jahren mit seiner Tochter Miriam gesehen hatte. Es ging um ein ungleiches Zwillingspaar mit Arnold Schwarzenegger und Danny DeVito in den Hauptrollen.
Die Letzte im Team war Jennifer Bergmann. Wie immer während der Arbeit trug sie die blonden Haare zu einem Zopf gebunden. Die grünen Augen signalisierten Lebendigkeit und Intelligenz, und Klein wusste nur zu gut, dass dieser Eindruck hielt, was er versprach. Sie trug eine leichte Sommerbluse mit kurzen Ärmeln, und die blonden Härchen auf den gebräunten Armen schimmerten wie Goldstaub. Als sein Blick über ihren schlanken Körper und zurück in ihr Gesicht wanderte, trafen sich ihre Blicke und sie zwinkerte ihm zu. Sofort fühlte sich Klein ertappt, räusperte sich unbeholfen und war froh, als jemand gegen die Tür polterte. Er wusste sofort, wer es war. Klaus Sperber hatte eine sonderbare Vorliebe für glamouröse Auftritte. Klein wunderte sich immer wieder darüber, zumal der Kriminaltechniker ohnehin in jeder Situation von Natur aus im Mittelpunkt stand.
Die Mannschaft war jetzt vollzählig, und Klein eröffnete die erste große Besprechung mit einer Zusammenfassung der Geschehnisse der letzten Nacht.
»Gestern Abend gegen 23.19 Uhr ging auf der Leitstelle ein Notruf ein. Claudia Bromfort teilte mit, ihren Ehemann Thorsten Bromfort leblos aufgefunden zu haben, nachdem sie von ihrem wöchentlichen Frauenabend zurückgekehrt war. Zwei Streifenwagen der Inspektion Mitte fuhren zum Tatort und stellten sicher, dass der Täter nicht mehr im Haus war. Dabei entdeckten sie das Loch in der Fensterscheibe zum Garten, das die Frau zunächst gar nicht bemerkt hatte. Weitere Teams durchkämmten die angrenzenden Büsche, doch vom Täter keine Spur.«
»Das stimmt nicht«, warf Sperber ein, der sich in diesem Fall einer ganzen Reihe von Spuren sicher sein durfte.
»Der Täter war jedenfalls weg.« Klein ließ sich nicht beirren. »Der Notarzt traf noch vor den Kollegen der Kriminalwache ein, konnte jedoch nichts mehr tun. Nach ersten vorsichtigen Schätzungen starb Bromfort an den Folgen einer Schädelfraktur, bedingt durch einen Sturz auf den Glastisch in seinem Wohnzimmer. Es gibt in diesem Zusammenhang einige Besonderheiten, aber zum Spurenkomplex wird Klaus gleich etwas sagen.«
Sperber schnitt eine gruselige Grimasse.
»Was haben die Hunde gebracht, die Jenny angefordert hat?«, wollte Hecking wissen.
»Sie haben uns nicht zum Täter geführt«, nahm Klein das Ergebnis der Mantrailer-Aktion vorweg, »aber sie haben dennoch ausgezeichnete Arbeit geleistet.« Klein war ein glühender Fan der speziell ausgebildeten Spürhunde. Sie waren in der Lage, dem Individualgeruch eines Menschen, der sich aus dem permanenten Zerfall von Körperzellen generiert, kilometerweit zu folgen. Seiner Meinung nach wurde der Wert dieser Tiere im Einsatz noch immer unterschätzt. »Der Täter hat eine Wollmütze verloren, so dass die Hunde eine gute Ausgangsspur hatten. Zielsicher haben sie das gesamte Viertel abgelaufen. Es konnten zwei weitere Einbruchtatorte entdeckt und demselben Täter zugeordnet werden. Im Bereich des Hauptbahnhofs hat sich die Spur dann verloren. Man tippt auf Gleis zwei, will sich aber nicht festlegen. Die Kollegen der Bundespolizei sind informiert und überprüfen in diesen Minuten die Videobänder aus dem Bahnhof und den Zügen, die zur fraglichen Zeit abgefahren sind.«
»Haben wir eine Beschreibung des Täters?« Wieder war es Hecking, der seinen Chef unterbrach.
»Zumindest eine vage«, antwortete Klein. »Ein Nachbar ist durch das Einschlagen der Scheibe aufmerksam geworden. Eine Weile danach war alles ruhig, doch dann hat er eine Person gesehen, die über das Grundstück der Bromforts gerannt ist und sich Hals über Kopf in die Büsche Richtung Parkfriedhof geschlagen hat. Demnach suchen wir eine dunkel gekleidete Person mit kurzen, hellen Haaren, hellen Schuhen und einem Rucksack. Nicht gerade viel, aber vielleicht haben wir Glück mit den Aufzeichnungen aus dem Bahnhof. Warum der Mann nicht sofort die Polizei verständigt hat, weiß Gott allein.«
Klein verstummte und trank einen Schluck Wasser. Die Sonne stand jetzt genau in seinem Rücken, und er öffnete die obersten Knöpfe seines Hemdes. Auch bei den anderen bildeten sich erste Ringe unter den Armen. Er übergab das Wort an Klaus Sperber.
»Guten Morgen, Kollegen«, trällerte dieser in die Runde und zog einen Notizzettel aus der Brusttasche. »Der Tatort Bromfort scheint dem Lehrbuch für Kriminalistik entsprungen zu sein. Lasst mich am besten chronologisch berichten. Es scheint, als habe der Täter das Objekt seiner Begierde gründlich ausbaldowert. Dafür sprechen die zahlreichen Schuhspuren in Erde und Wiese rund ums Haus und die frische Zigarettenkippe, die wir im Garten gefunden haben. Thorsten Bromfort war zur Tatzeit im Keller und bastelte an einem Schiffsmodell. In den oberen Räumen brannte kein Licht, und der Täter konnte davon ausgehen, dass niemand zu Hause war. Zunächst versuchte er, die Terrassentür zu öffnen, was zahlreiche Hebelmarken belegen. Die Bromforts haben jedoch hochwertige Pilzkopfsicherungen verbaut, so dass er hier nicht weiterkam. Also machte er sich an das nebenstehende Fenster, scheiterte jedoch aus demselben Grund. Er muss fette Beute im Haus vermutet haben, denn als er die Scheibe mit einem Stein zertrümmerte, ging er ein hohes Risiko ein, gesehen und gehört zu werden.« Sperber wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Danach griff er durch das Loch, öffnete das Fenster von innen und gelangte ins Wohnzimmer. Hier machte er sich unmittelbar über Schränke und Schubladen her und legte die lohnenden Dinge zum Abtransport bereit. Etwa zu dieser Zeit muss er von Thorsten Bromfort überrascht worden sein, der zu seiner Verteidigung einen 34er Maulschlüssel mitgenommen hat. Was in den folgenden Minuten passierte, wissen wir nicht genau, aber die Spurenlage weist zumindest die Richtung. Es muss zu einem kurzen Kampf gekommen sein. Bromfort hat seinen Widersacher wahrscheinlich mit dem Werkzeug verletzt. Es kleben Blutspuren an dem Metall, die nicht zum Verletzungsmuster des Opfers passen. Aber auch Bromfort hat einiges abbekommen. Der gebrochene Kiefer könnte von der unsanften Bekanntschaft mit einer Kommode rühren, an der ebenfalls Haut- und Blutreste kleben. Darüber hinaus hat der Täter während des Gefechts seine Wollmütze verloren. Und dann geschah schließlich, weshalb wir uns heute in dieser Sauna versammeln. Bromfort muss unglücklich gefallen oder gestoßen worden sein. Er schlug mit dem Hinterkopf genau auf die Kante seines Glastisches. Hierdurch zog er sich eine massive Fraktur des Scheitelbeins zu, die in aller Regel tödlich endet.« Sperber verschränkte die Hände ineinander und gab dann jedem im Raum eine Ahnung davon, wie sich der Moment des Knochenbruchs angehört haben musste. »Wir glauben, der Täter ist anschließend voller Panik geflohen. Die Ehefrau meint, es fehlen keinerlei Wertgegenstände. Außerdem haben wir blutverschmierte Scherben auf der Terrasse gefunden, die von einem überhasteten Ausstieg zeugen könnten. Und wir haben den Nachbarn, der zur Tatzeit jemanden über den Rasen flitzen sah.«
»Das heißt also, wir haben in diesem Fall jede Menge DNA-taugliches Material«, stellte Laschinsky fest.
Sperber grinste sichtlich zufrieden. »Die Blutspuren an Scheibe und Schraubenschlüssel, Speichelspuren an der Zigarettenkippe und frische Haarwurzeln aus der Wollmütze. Besser geht es kaum.«
»Jetzt muss er nur noch in der Datenbank sein. Es wäre nicht das erste Mal, dass uns die DNA nicht weiterhilft.« Mit seiner leisen Stimme erinnerte Henning Klee damit an die unglücklichen Umstände aus der letzten großen Ermittlung. Im vergangenen Winter hatten die Beamten DNA-Spuren einer Täterin sichern können, die jedoch nicht weitergeführt hatten, da die Frau nie zuvor polizeilich in Erscheinung getreten war.
»Da habe ich in diesem Fall keine Bedenken«, beschwichtigte Klein, der ungern an die Ermittlungen in Sachen Sabine Kleiber erinnert wurde. Die tragische Geschichte der jungen Mutter hatte ihn damals schwer mitgenommen. »Denkt an die anderen beiden Tatorte, die die Hunde angezeigt haben. Dieser Kerl ist ein Einbrecher, kein Raubmörder. Und Einbrecher haben in aller Regel eine lange und einschlägige Karriere hinter sich.«
»Jeder fängt mal an«, gab Hecking zu bedenken.
»Ja«, sagte Klein, »mit Kaugummidiebstahl, nicht mit nächtlichen Beutezügen. Sei’s drum, wir müssen zusätzlich alle stadtbekannten Einbrecher überprüfen. Nicht jeder ist in der DNA-Datenbank.«
Die Chancen, einen örtlich bis regional agierenden Täter zu finden, standen gut. Wenn sie es allerdings mit einer dieser osteuropäischen Banden zu tun hatten, deren Mitglieder eigens für Einbrüche ins Bundesgebiet einreisten, in ausgesuchten Gegenden wie eine Heuschreckenplage zuschlugen und dann spurlos wieder verschwanden, bestand kaum Aussicht auf Erfolg. Er wandte sich an Klaus. »Hast du noch was?«
»Die Obduktion wurde vorgezogen und ist für heute Mittag angesetzt. Ich fahre nachher in die Rechtsmedizin und erstatte danach Bericht.«
Klein rief sich die hübsche Ärztin mit indischen Wurzeln ins Gedächtnis und fand, dass sich Sperber auffällig häufig in den Kellergewölben des Instituts herumtrieb. »Bestell Dr. Narayan schöne Grüße«, sagte er nur und erntete ein Grinsen.
Das Klima im Besprechungszimmer wurde von Minute zu Minute unerträglicher, und Klein war bemüht, die Konferenz zu einem schnellen Ende zu dirigieren, als das Faxgerät piepte. Er eilte zu dem Apparat in der Ecke und zerrte ungeduldig an den Blättern, die das Gerät nur widerwillig hergab. Während er die eingegangene Meldung studierte, spürte er die angespannte Stille in seinem Rücken. Intensiv betrachtete er die Aufnahme, deren Qualität stark zu wünschen übrig ließ. Dann wandte er sich an seine Mannschaft.
»Die Kollegen der Bundespolizei haben die Bänder ausgewertet. Sie haben tatsächlich jemanden entdeckt, der auf die Beschreibung des Zeugen passen könnte. Diese Person hat um 23.24 Uhr den Hauptbahnhof betreten, zehn Minuten später den Regionalexpress auf Gleis zwei Richtung Dortmund genommen und wurde dort von den Kameras erfasst, als sie um 00.01 Uhr das Gebäude des Hauptbahnhofs Richtung Innenstadt verließ. Die Bilder sind passabel, aber für eine Nahaufnahme des Gesichts zu unscharf. Bilder aus dem Zug gibt es keine. Nach ersten Schätzungen dürfte er um die einssiebzig groß und schlank bis hager sein.«
Er hielt die stark vergrößerte Aufnahme in die Luft, bevor er den Ausdruck herumgehen ließ.
»Ich kapier das nicht«, wetterte Hecking, der das Foto als Erster in die schweißfeuchten Hände bekam. »Warum investieren die überhaupt Geld in solche Anlagen? Das ist unbrauchbare Kacke, ein Neger im Tunnel, sonst nichts.«
»Lasst uns mit dem arbeiten, was wir haben«, beschwichtigte Klein. »Das ist immerhin mehr als üblich.«
»Die Ehefrau kommt als Komplizin definitiv nicht in Frage?«, hakte Laschinsky nach.