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Die Machtlosigkeit der Angst: Der fesselnde Sammelband »Mädchenopfer« von Matthias Gereon jetzt als eBook bei dotbooks. Sie sind jung. Sie sind schutzlos. Sie sind die perfekten Opfer … Das Grauen lauert da, wo niemand es vermuten würde – das wissen die Kommissare Bergmann und Klein nur zu genau. Aber kann es wirklich sein, dass sich hinter dem freundlichen Lächeln eines Lehrers eine Bestie verbirgt, die den perfekten Weg gefunden hat, unerkannt auf Beutefang zu gehen? Und welche Abgründe lauern in der Seele von Menschen, die sich daran ergötzen, wie junge Frauen langsam und brutal ermordet werden? Für die beiden Ermittler geht es nicht nur darum, zwei hochbrisante Fälle zu lösen – es geht darum, Mädchen aus einer kalten Welt des Grauens zu befreien … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Mädchenopfer« von Matthias Gereon enthält die spannenden Thriller »Die Eisbärin« und »Mädchensammler«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 942
Über dieses Buch:
Sie sind jung. Sie sind schutzlos. Sie sind die perfekten Opfer … Das Grauen lauert da, wo niemand es vermuten würde – das wissen die Kommissare Bergmann und Klein nur zu genau. Aber kann es wirklich sein, dass sich hinter dem freundlichen Lächeln eines Lehrers eine Bestie verbirgt, die den perfekten Weg gefunden hat, unerkannt auf Beutefang zu gehen? Und welche Abgründe lauern in der Seele von Menschen, die sich daran ergötzen, wie junge Frauen langsam und brutal ermordet werden? Für die beiden Ermittler geht es nicht nur darum, zwei hochbrisante Fälle zu lösen – es geht darum, Mädchen aus einer kalten Welt des Grauens zu befreien …
Über den Autor:
Matthias Gereon, Jahrgang 1979, entschloss sich nach Abitur und Zivildienst für ein Studium an der Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung. Er ist als Beamter für das Land Nordrhein-Westfalen tätig.
Bei dotbooks erschienen Matthias Gereons Thriller »Die Eisbärin« und »Mädchensammler«.
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Sammelband-Originalausgabe August 2022
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung eines Motivs von The Protograph / shutterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-98690-097-7
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Matthias Gereon
Mädchenopfer
Zwei Thriller in einem eBook
dotbooks.
Kriminalroman
Es gibt kein Entkommen! Die albtraumhaften Erlebnisse ihrer Kindheit verfolgen Sabine Kleiber noch immer. Als sie an der Supermarktkasse plötzlich ihren einstigen Peiniger vor sich sieht, fühlt sie sich erneut hilflos, ausgeliefert, missbraucht. Sabine kann nicht anders – sie folgt ihm, sie beobachtet ihn und bald ist sie sich sicher: Hinter der Maske des Anstands lebt der ehemalige Lehrer seine grausamen Triebe weiterhin aus. Schwebt jetzt etwa ihre kleine Tochter in schrecklicher Gefahr? Sabine ist fest entschlossen, das Ungeheuer um jeden Preis aufzuhalten – doch mehr und mehr beschleicht sie der schreckliche Verdacht, nur eine Schachfigur in seinem perfiden Spiel zu sein …
Du breitest aus deine eisigen Schwingen und legst sie auf uns nieder,
quälst und erstickst uns mit kaltem, bleichem Gefieder.
Du gierst, raffst hinweg, vernichtest wie ein dämonischer Krieger,
steigst mächtig empor, im ungleichen Kampf der ewige Sieger.
Du hast viele Gesichter, hässlich, erschütternd und kalt,
bist unweigerlich nah, machst vor niemandem halt.
Kommst als Unfall, Krankheit, Feuer und rollende Flut,
benutzt die Menschen, schickst Terror und Kriege, unbändige Wut.
Das Grauen, dir zu begegnen, dich zu erforschen, verstehen,
wie viel Hass, Zerstörung und Leid habe ich schon im Leben gesehen.
Du Geißel der Menschheit, man nennt dich flüsternd den Tod,
doch gehörst du zum Leben wie die Luft und das tägliche Brot.
Dennoch versuchen wir stets zu fliehen, letztlich jeder vergebens,
du wartest und lauerst, besiegelst das Ende des irdischen Lebens.
Du fühlst dich als Herrscher, als kühner, erhabener Held,
doch in Wahrheit bist du nur das Tor in die andere, bessere Welt.
Günther Klein, Oktober 2009
Sie lag wach in ihrem Bett und zog sich die dünne Decke bis unters Kinn. Sie fror. Die gedimmte Lampe auf dem Nachttisch warf nur spärliches Licht in den karg möblierten Raum. Sie horchte ins Halbdunkel hinein und hörte das Bullern der Heizung, die es kaum schaffte, das Zimmer zu erwärmen.
Außer den ruhigen flachen Atemzügen ihrer Freundin, die aus dem Bett nebenan leise zu ihr herüberwehten, war nur das regelmäßige Ticken der Wanduhr zu hören. Sie strengte sich an, um die Zeiger zu erkennen. Es war 20 Minuten vor zehn. Über eine halbe Stunde lag sie also schon da und konnte nicht einschlafen. Wie so oft.
Sie dachte an die schönen, schaurigen und lustigen Geschichten, die ihre Mutter ihr früher vorgelesen hatte, wenn sie nicht schlafen konnte. Ronja Räubertochter, Aschenputtel, Rapunzel und die Brüder Löwenherz. All diese liebenswürdigen Gestalten waren treue Begleiter auf ihrem Weg ins Land der Träume gewesen. Als sie anfing, selber zu lesen, waren es die Geschichten von Hanni … Plötzlich riss sie etwas aus ihren Gedanken. Das Geräusch von Schritten auf dem Linoleumboden des Flurs drang in das Zimmer. Sie erstarrte, während lähmende Angst in ihren kleinen Körper kroch und sich wie ein wucherndes Geschwür ausbreitete.
Sie kannte die Schritte und wusste nur zu gut, was sie erwartete. Wie gelähmt starrte sie auf die Zimmertür. Sie würde das Böse nicht aufhalten können. Panisch sah sie mit an, wie die Klinke sich bewegte, die Tür langsam aufglitt und hinter der eingetretenen Gestalt geräuschlos ins Schloss fiel.
Der Mann verharrte im trüben Schein der Nachttischlampe und durchmaß den Raum mit einem prüfenden Blick. Dann sah er ihr direkt in die Augen. Im selben Moment zogen sich seine Mundwinkel nach oben und verliehen seinem Gesicht einen schauderhaften Ausdruck.
»Wie ich sehe, schläft deine Freundin.«
Der Klang seiner Stimme ließ alles in ihr verkrampfen.
»Wollen wir sie wecken?«
Das Flüstern wurde noch leiser, während er auf sie zukam.
»Nein, heute Abend kümmere ich mich nur um dich.«
Seine Worte drangen wie durch Watte an ihr Ohr und verursachten Übelkeit.
Langsam schritt er bis zum Fußende ihres Bettes, schlug wortlos die Decke beiseite und ließ seine Blicke gierig an ihrem Körper entlanggleiten. Sie sah, wie das widerwärtige Lächeln erneut seine Mundwinkel umspielte, als er sich an dem Reißverschluss seiner Hose zu schaffen machte. Dann packte er sie an den Füßen und zog ihren Körper näher zu sich heran. Er beugte sich vor, griff in den Bund ihres Schlüpfers und zerrte ihn zusammen mit der Schlafanzughose von ihren dünnen Beinen. Der beißende Geruch von Schnaps stieg ihr in die Nase. Unter die quälende Angst und die Übelkeit mischte sich das Gefühl unbeschreiblichen Ekels.
Sie spürte seinen eisernen Griff an ihren Fußgelenken, das grobe Auseinanderdrücken ihrer Beine. Als er kurz darauf mit einem Stöhnen in sie eindrang, explodierte ein flammender, stechender Schmerz in ihrem Körper. Sie durfte nicht schreien, das wusste sie. Wenn sie schrie, würde er ihr noch viel größere Schmerzen zufügen, damit hatte er wieder und wieder gedroht.
Völlig benommen vor Angst und Schmerz und unfähig, ihrem Peiniger ins Gesicht zu schauen, drehte sie den Kopf zur Seite.
Julia hatte sich vollständig unter der Bettdecke vergraben. Sie war also wach.
Selbst in ihrer grenzenlosen Qual hoffte sie, dass er ihre Freundin heute verschonen würde. Sie wollte ihn nicht provozieren, lag einfach nur da und ertrug den Rhythmus seines massigen, schwitzenden Leibs.
Nach und nach legte sich ein Schleier über ihr Bewusstsein. Die Geräusche wurden leiser, der Schmerz wurde dumpfer, die Gefühle verschwammen. Sie wurde leicht. Das alles geschah nicht ihr, stellte sie sich vor. Sie lag gar nicht mehr in diesem Bett. Sie war hochgeflogen und saß wie ein kleiner Vogel in einem sicheren Versteck weit oben im Baum. Von dort schaute sie auf eine völlig Fremde herab.
Ein erneutes Aufwallen des Schmerzes ließ sie zurückkehren und kündigte endlich an, dass das Martyrium für dieses Mal zu Ende war.
»Danke, Kleine«, raunte der Mann spöttisch, nachdem er von ihr abgelassen hatte, und schloss mit zittrigen Fingern den Reißverschluss seiner Hose. Einen kurzen Moment starrte er sie ohne erkennbare Gefühlsregung an. Dann wandte er sich zum Gehen. Mit dem Gesicht zur Tür, die Hand lag bereits auf der Klinke, hielt er inne und flüsterte: »Ihr wisst, was mit euch passiert, wenn ihr jemandem davon erzählt. Denkt an meine Worte.« Dann ließ er sie allein.
Die Stille legte sich wie ein bleierner Schleier über die Sinne der beiden Mädchen.
»Ist er weg?« Julias angstvolle, brüchige Stimme drang kaum durch die Decke.
Das Herz schlug so laut in ihren Ohren, dass sie Julias Worte kaum verstand.
»Ja«, antwortete sie schließlich, »es ist vorbei. Versuch zu schlafen.«
Es dauerte eine Weile, bis sie wieder fähig war, sich zu bewegen. Vorsichtig tastete sie nach ihren Sachen, zog sich die Schlafanzughose an, presste die Knie ganz dicht an die Brust und schmiegte ihren Kopf an das alte Stofftier. Der Eisbär war ein Geschenk ihres Vaters zu ihrer Geburt gewesen, und seit sie denken konnte, hielt sie ihn jede Nacht in ihren Armen.
Sie wünschte sich so sehr zu ihren Eltern, klammerte sich so intensiv an jeden Gedanken, den sie fassen konnte, dass die Eindrücke der gerade erlittenen Grausamkeiten mehr und mehr von ihr abrückten.
Lautlose Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie dalag und in ihren Gedanken nach Nangijala reiste, jenem Ort aus der Geschichte der Brüder Löwenherz, wo alle Menschen, denen es schlecht geht in dieser Welt, stark, gesund und glücklich sind.
Draußen hatte starker Regen eingesetzt, der böige Wind ließ die Tropfen gegen das Fenster prasseln. Es war eine kalte Oktobernacht, wenige Wochen nach ihrem 11. Geburtstag.
Donnerstag, 23. September, 19.40 Uhr
Herbert Lüscher saß in der Küche und betrachtete die Anzeige der brummenden Mikrowelle. Drei – zwei – eins – Pling! Er stand auf, lud die dampfende Pizza auf den Teller und setzte sich auf den einzigen Stuhl in dem kleinen Raum.
Während er kaute, fiel sein Blick auf die trübe verregnete Welt jenseits des Küchenfensters. Sie war ihm zutiefst zuwider.
Seine Gedanken schweiften zu der kleinen Holzhütte, wo er im Frühjahr wieder Station machen und Fische fangen würde. Nur dort, an diesem abgeschiedenen Ort, fühlte er sich wohl. Nur in der menschenleeren Stille war er frei. Doch bis er wieder aus der verhassten Stadt abreisen konnte, musste er noch einige dumpfe Monate hinter sich bringen.
Nachdem er das letzte Stück Pizza verzehrt hatte, stand er auf, stellte den Teller ins Spülbecken und legte den leeren Karton zu den anderen in den Schrank. Vier Stück. Er würde bald wieder einkaufen müssen. Sein Blick wanderte hinüber zu der kleinen Kuckucksuhr. Ärger wallte in ihm auf, als er feststellte, dass er sich mit dem angesammelten Tagesabwasch beeilen musste, wenn er die Sendung um 20.15 Uhr nicht verpassen wollte.
Schließlich galt es, vorher noch einen wichtigen Anruf zu tätigen. Beim Gedanken daran verbesserte sich seine Stimmung augenblicklich.
Freitag, 24. September, 11.00 Uhr
»Verflucht!«, schrie Sabine Kleiber auf und riss ihren Arm hastig zurück. Beim Versuch, einen Teebeutel aus dem Wandschränkchen zu ziehen, war sie zu nah an die Ausgussöffnung des Wasserkochers geraten. Der heiße Dampf hatte ihren rechten Unterarm verbrüht und ließ einen kleinen roten Flecken auf ihrer Haut zurück.
Während sie die Stelle unter das kalte Wasser des Küchenhahns hielt, klingelte das Telefon. Mit tropfendem Arm ging sie hinüber ins Wohnzimmer und erkannte die Nummer auf dem Display des Wandapparates sofort.
Mit einer Mischung aus Überraschung und plötzlicher Besorgnis nahm sie ab.
»Ja, Sabine hier, was ist los?«
»Mami, ich binʼs. Mathe fällt heute aus!« Die Stimme ihrer Tochter klang hell und aufgeregt. »Frau Braun ist krank geworden. Kannst du mich abholen?«
»Ach Liebes, du bist es«, versuchte Sabine, die leichte Irritation in ihrer Stimme plausibel erscheinen zu lassen. »Was ist denn los, warum läufst du nicht?«
»Wegen Nicole. Kannst du sie auch nach Hause bringen? Ihre Mama ist nicht da, und der Papa ist arbeiten.«
»In Ordnung, wartet vor dem Haupteingang, ich bin in fünf Minuten da.«
Als sie auflegte, merkte sie, wie sich ihre Anspannung wieder löste. Markus und sie hatten ihrer Tochter Laura für Notfälle ein Handy geschenkt, auch wenn sie erst acht Jahre alt war. Es war ein Prepaidgerät, und soweit Sabine es überblicken konnte, ging Laura sparsam mit ihrem Guthaben um. So erklärte sie sich die Alarmglocken in ihrem Kopf, die bei jedem der seltenen Anrufe ihrer Tochter sofort schrillten.
Drei Minuten später saß Sabine im Wagen und fuhr Richtung Heisingen, einem Stadtteil von Essen, der wie eine Halbinsel von den Wassern der Ruhr umschlossen war. Hier ging Laura in die dritte Klasse der Georgschule, einer kleinen Grundschule mit ausgezeichnetem Ruf, die weniger als einen Kilometer Fußweg von zu Hause entfernt lag.
Als Sabine in die letzten 200 Meter der Heisinger Straße einfuhr, erkannte sie Laura schon an ihrem langen blonden Zopf, der roten Jacke und dem bunten Tornister. Das Mädchen neben ihr war Nicole Kraus, zurzeit ihre beste Freundin. Laura kannte sie erst seit dem Sommer, als Nicole neu in die Klasse gekommen war, aber die Mädchen verstanden sich blendend. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und übernachteten oft gemeinsam bei ihnen oder Nicoles Eltern.
»Hi, Mami«, rief Laura, als Sabine neben den beiden anhielt. Vergnügt verstaute ihre Tochter die beiden Tornister im Kofferraum des dunkelblauen BMW Kombi. Sie schien über den frühzeitig beendeten Schultag nicht allzu traurig zu sein. Lachend kletterten die Kinder auf die Rückbank und legten die Gurte an.
»Hallo, ihr zwei«, begrüßte Sabine die Mädchen. »Soll ich dich nach Hause fahren, oder möchtest du erst einmal mit zu uns?«, fragte sie Nicole.
»Nö, ich hab einen Schlüssel, und Mama ist bestimmt nur kurz einkaufen.«
»Hast du Bescheid gesagt, falls sie vom Einkaufen direkt hierherfährt?«, erkundigte sich Sabine.
»Hab ich unserer Klassenlehrerin gesagt.«
»Mathe fällt noch die ganze nächste Woche aus«, verkündete Laura fröhlich. »Aber ab Montag haben wir eine Vertretung«, fügte sie mit gespielt ernster Miene hinzu. »So ein Mist.«
Gut gelaunt berichteten die beiden Mädchen während der Fahrt von ihrem Tag, und Sabine ließ sich von der fröhlichen Ausgelassenheit anstecken.
Nachdem sie Nicole kurz nach halb zwölf am Steinhagen im Stadtteil Steele abgesetzt und gewartet hatte, bis das Mädchen mit einem Winken im Haus verschwunden war, wandte sie sich an Laura: »Was möchtest du heute essen, Liebes?«
»Hm«, Laura gab vor, angestrengt nachzudenken, »am liebsten Kartoffelbrei mit Fischstäbchen!«
Sabine schmunzelte, denn natürlich hatte sie die Antwort schon vorher gekannt. »Oje, da muss ich aber erst nachschauen, ob ich das Rezept noch irgendwo finde!« Sie grinste, und beide mussten lachen.
Sabine dachte nach, Kartoffeln und Milch hatte sie noch zu Hause, doch der Vorrat an Fischstäbchen hielt dem scheinbar unstillbaren Verlangen ihrer Tochter nie lange stand. Sie steuerte den nächstgelegenen Supermarkt an, und schon bald hatten Mutter und Tochter alles in den Einkaufswagen geladen, was sie für die nächsten Tage brauchen würden. Auf dem Weg zur Kasse fiel Sabine noch etwas ein.
»Liebes, ich habe meinen Tee vergessen, er müsste dort drüben stehen.« Sie sah ihre Tochter an und zwinkerte verschwörerisch. »Gegenüber von den Süßigkeiten.«
Nach diesem Zauberwort folgte Laura ihrer Mutter mehr als bereitwillig zurück durch die Gänge des Supermarkts. Es dauerte nicht lange, bis Sabine den klassischen schwarzen Darjeeling gefunden hatte. Sie nahm die Packung aus dem Regal und drehte sich zum Einkaufswagen hin. Für den Bruchteil einer Sekunde streifte ihr Blick dabei die Warteschlange vor der Kasse.
Es war ein Blick in den Abgrund der Hölle.
Freitag, 24. September, 12.10 Uhr
»Mach nur den Mund weit auf. Ja, so ist es gut.«
Er richtete die Leuchte aus und fing an, den Mundraum des Jungen mit dem kleinen Handspiegel zu untersuchen. Der Zehnjährige war kurz zuvor mit akuten Zahnschmerzen und seiner besorgten Mutter in die Praxis gekommen und lag nun verängstigt und kleinlaut auf dem großen Untersuchungsstuhl.
Nachdem die Spritze ihre betäubende Wirkung erreicht hatte, rückte Markus Kleiber mit geübten Handgriffen dem kariösen Zahn zu Leibe. Kurze Zeit später konnte er Mutter und Sohn verabschieden und ließ sich für einen kurzen Moment erschöpft auf einen Stuhl sinken. Es war ein stressiger Tag gewesen, und er sehnte sich schon nach dem Dienstschluss am Nachmittag. Er freute sich, nach Hause zu kommen und seine Frau Sabine zu sehen. Ja, er freute sich sogar sehr auf Sabine.
Sie kannten sich bereits zwölf Jahre, von denen sie rund neun Jahre verheiratet waren, und er liebte sie noch wie am ersten Tag. Er hatte Sabine in Münster kennengelernt, auf einer der zahlreichen Studentenpartys im Jahr vor seinem Abschluss. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Gern und oft dachte er an jenen Abend zurück, wo er sie plötzlich in der tanzenden Menge entdeckt und zunächst aus sicherer Entfernung beobachtet hatte. Das hellblaue Sommerkleid, das sich eng um ihre zierliche Gestalt schmiegte, die schulterlangen kastanienbraunen Locken, die ihr bei jeder ihrer anmutigen Bewegungen ins Gesicht fielen, ihre sanften braunen Augen, die Kraft und intensive Wärme ausstrahlten.
Für Sabine hatte er sich so sehr ins Zeug gelegt, so viel Zeit, Anstrengungen und Kreativität investiert wie bei keiner anderen Frau zuvor. Nur wenige Monate später hielt er nach einem romantischen Abendessen um ihre Hand an und wäre vor Glück und Stolz beinahe zersprungen, als sie lächelnd einwilligte. Als fünf Monate nach der Hochzeit ihre Tochter geboren wurde, war er der glücklichste Mensch auf Erden. Er liebte Laura ebenso sehr wie Sabine und hoffte, dass sich seine Familie in Zukunft noch vergrößern würde.
Lächelnd nahm er sich vor, seine Frau am Abend mit einer kleinen Aufmerksamkeit zu überraschen.
Freitag, 24. September, 12.15 Uhr
Es war, als gefröre die Welt um sie herum zu Eis, während in ihrem Inneren ein rasender Sturm tobte. Sabines Herz pochte mit ungeheurer Wucht gegen die Brust und dröhnte hämmernd in ihren Ohren. Eine plötzliche übermächtige Angst kam auf sie zu und schwappte wie eine riesige Brandungswelle über sie hinweg. Blitzbilder schossen durch ihren Kopf. Sie war unfähig, zu denken.
So verharrte sie ein paar Augenblicke, die Augen geschlossen, die Finger krampfhaft um den Griff des Einkaufswagens geklammert, das Gefühl für Raum und Zeit verloren, vor Angst erstarrt.
Eine ferne Stimme schien etwas zu rufen, erst leise, dann immer lauter und fordernder. Aus den undeutlichen Worten glaubte sie ihren Namen herauszuhören. Plötzlich rissen die Laute die Blockade ein und drangen mit solcher Wucht in ihr Bewusstsein, dass es schmerzte.
»Mami, Mami! Was ist mit dir? Ich hab Angst!«
Laura hatte sich fest an Sabine gedrückt und schaute hinauf in das bleiche Gesicht ihrer Mutter.
Sabine betrachtete ihre Tochter und hörte sich selber sagen: »Nichts, Liebes. Mir ist nur plötzlich schwindlig geworden. Ich bekomme wohl Kopfschmerzen.« Sie spürte, dass ihre Tochter noch immer große Angst hatte. »Es geht gleich wieder«, bemühte sie sich, Laura zu beruhigen, »such dir was von den Süßigkeiten aus.«
Irritiert widmete sich das Mädchen der riesigen Auswahl an Schokolade und Weingummi, blieb aber in der Nähe ihrer Mutter.
Es gab keinen Zweifel. Er war es.
Ein kurzer Augenblick hatte gereicht, um sicher zu sein. Sabine sammelte alle Kraft, die sie nach der Panikattacke noch zur Verfügung hatte. Natürlich hatte sie oft daran gedacht, wie es wäre, diesem Mann wieder zu begegnen. Doch die Realität, die sie nun vorwarnungslos eingeholt hatte, war weitaus brutaler, als jede ihrer Vorstellungen es je gewesen war.
Trotz allem musste sie sich der Situation stellen. Glücklicherweise stand sie weit abseits, sodass ihr Verhalten niemandem aufgefallen war. Sabine atmete tief ein und zwang ihren Blick, in Richtung Kasse zu wandern. Dann beobachtete sie den Mann. Er war gerade damit beschäftigt, seine Einkäufe auf das Band zu legen. Dabei stand er seitlich zu ihr, sodass sie sein Profil betrachten konnte.
Die gleiche gedrungene Gestalt, der gleiche deutliche Bauchansatz. Das rundliche, fleischige Gesicht, der nun vollkommen ergraute Haarkranz, die dichten, buschigen Augenbrauen. Die fahrigen, unbeholfenen Bewegungen.
Es gab keinen Zweifel. Er war es.
Der Mann in der Schlange war Herbert Lüscher. Lehrer für Erdkunde und Geschichte am Internat aus Sabines Kindheit.
Freitag, 24. September, 12.30 Uhr
Jürgen Kohlmeyer saß auf seiner Pritsche und warf alle paar Sekunden einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr. Obwohl es ihm lächerlich vorkam, konnte er sich nicht dagegen wehren. Eine innere Unruhe, wie er sie lange Zeit nicht mehr erlebt hatte, ergriff Besitz von ihm.
In wenigen Minuten würde er auf den einzigen Mann treffen, zu dem er einen engeren Kontakt außerhalb der Justizvollzugsanstalt pflegte. Dieser Mann hieß Lothar Nienhaus und war seit vielen Jahren sein Anwalt. Heute wollte er ihm offenbar etwas sehr Wichtiges mitteilen.
Als er sich telefonisch angekündigt hatte, hatte Kohlmeyer sofort gespürt, dass es diesmal nicht um ein gewöhnliches Treffen ging. Allerdings hatte sich der Anwalt strikt geweigert, nähere Einzelheiten am Telefon zu nennen.
»Herr Kohlmeyer, Ihr Besuch ist da.«
Die Stimme von Freddy, einem der Schließer, riss ihn aus seinen Gedanken und beendete die quälende Warterei.
Die Zellentür wurde geöffnet, und Jürgen Kohlmeyer folgte dem Mann über die langen wohlvertrauten Gänge. Dass er dies in bürgerlicher Kleidung und ohne Handfesseln tun konnte, war eines der Zugeständnisse, die er erhalten hatte, als er nach einigen Jahren Haft in diesen Trakt der JVA umgezogen war.
Endlich gelangten sie zu dem kleinen Besucherraum, wo er mit seinem Anwalt allein sein konnte. Durch das Fenster in der Stahltür konnte er vorab einen flüchtigen Blick auf die dicke Gestalt des Mannes werfen, der stets einen hektischen und gestressten Eindruck machte. Auch jetzt wühlten seine Finger in der aufgeklappten Aktentasche. Freddy klopfte kurz an und öffnete. Kohlmeyer trat ein und hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Er wusste, dass der Wärter sie die ganze Zeit über im Auge behalten würde.
Lothar Nienhaus stand auf und schüttelte seinem Mandanten die Hand.
»Schön, Sie zu sehen, Herr Kohlmeyer, wie geht es Ihnen?«, begann er das Gespräch, höflich wie immer.
»Ich muss zugeben, ich hab schon deutlich besser geschlafen hier im Garten Eden.« Kohlmeyer machte aus seinem Misstrauen keinen Hehl. »Ich frage mich, was so schrecklich wichtig ist, dass du alles stehen und liegen lässt, um hierherzukommen. Wenn ich sonst deine Hilfe brauche, dauert es Wochen, bis du aufkreuzt.«
»Herr Kohlmeyer, ich habe Neuigkeiten, die Sie sehr interessieren dürften. Ich weiß, dass es unter Umständen nicht leicht …«
»Verdammt noch mal, jetzt spuckʼs einfach aus!« Kohlmeyer hatte die Geheimnistuerei satt.
»Na schön«, sagte Nienhaus und nestelte an seiner Brille herum, »wie Sie wollen. Es gibt deutliche Anzeichen, dass … nun ja … ich meine, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte sich jüngst mit einer Klage zu beschäftigen, die Ihrem Fall, wie soll ich sagen, durchaus recht ähnlich …«
»Herrgott noch mal, jetzt reichtʼs!«
Jürgen Kohlmeyer war aufgesprungen und funkelte seinen Anwalt böse an. Erschrocken wich dieser einen Schritt zurück, hob abwehrend die Hände und sprach den Grund seines Kommens unverblümt aus:
»Sie kommen frei. Nicht heute, aber Sie kommen frei.«
Kohlmeyer sank zurück auf seinen Stuhl und betrachtete aufmerksam das rundliche Gesicht seines Anwalts, auf dessen Stirn nun Schweißperlen standen.
»Lothar, jetzt hörst du mir mal zu«, sagte er betont langsam, und Zorn sprühte aus seinen Augen. »Wir kennen uns schon verdammt lange, und ich kann dich ganz gut leiden, aber wenn du mich verarschen willst, wenn das hier ein schlechter Witz sein soll … Ich werde schneller an deiner verdammten Gurgel sein, als der gute alte Freddy auch nur die Klinke runterdrücken kann.«
»Nein, Sie verstehen mich falsch.«
Mit diesen Worten kramte Lothar Nienhaus wieder in seiner Aktentasche und hielt seinem Mandanten mit zitternden Fingern die aktuelle Ausgabe der Aachener Rundschau entgegen.
»Hier, das ist für Sie.«
Mit einem verächtlichen Schnauben lehnte Kohlmeyer ab. »Erklärʼs mir lieber, aber tu es nicht in deiner aufgeblasenen Anwaltssprache, in Ordnung?«
Wie immer eingeschüchtert von der schroffen Art seines Mandanten versuchte der Anwalt zunächst, Sicherheit zu gewinnen, indem er eine kleine Zusammenfassung gab.
»Herr Kohlmeyer, Sie sind aufgrund der durch Sie begangenen Straftaten und der anschließenden Beweisführung im Jahre 1981 vom Landgericht Essen verurteilt worden. Das Urteil lautete auf lebenslängliche Freiheitsstrafe. Das war jedoch leider nicht alles. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest und ordnete die anschließende Sicherungsverwahrung an.«
»Ja, ich war dabei, Lothar. Wann wird es endlich interessant?«
»Warten Sie ab, der spannende Teil kommt noch. Mit Ablauf Ihrer 15-jährigen Gefängnisstrafe anno 1996 wurden Sie in einen anderen Gebäudetrakt hier in der JVA verlegt. In dieser Abteilung verbringen Sie seitdem Ihre Zeit in der Sicherungsverwahrung. Wie Sie wissen, war die gesetzliche Höchstfrist für die Verwahrung zunächst auf zehn Jahre beschränkt. Spätestens im Jahre 2006 hätten Sie also auf freien Fuß kommen müssen.«
»Ja, nur leider haben diese Drecksäcke …«
»Ganz recht«, unterbrach ihn Nienhaus, »leider hat im Jahre 1998 die damalige Bundesregierung ein Gesetz erlassen, das die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung ermöglicht. In Ihrem Fall hat man diese neu geschaffene Möglichkeit angewandt und die Dauer der Verwahrung auf unbestimmte Zeit hinaufgesetzt.«
Der Anwalt machte eine kurze Atempause.
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du jetzt langsam zum Punkt kommst«, warf Kohlmeyer mit einer theatralischen Handbewegung ein.
Nienhaus wurde schlagartig bewusst, dass er seinem Mandanten noch nie Sympathie entgegengebracht hatte. In Wahrheit konnte er ihn nicht ausstehen. Und dieses Gefühl der Abneigung hatte nicht in erster Linie mit Jürgen Kohlmeyers Straftaten zu tun, die allesamt bestialisch und abscheulich waren. Vielmehr war es die befremdliche Kälte, die den Mann umgab wie ein unsichtbarer Mantel. Dazu seine stechenden blauen Augen, die in keinem Moment durchschimmern ließen, was dahinter in seinem Kopf vor sich ging.
Er versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, und fuhr fort: »Nun ja, jedenfalls hatte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg unlängst mit einer Klage zu beschäftigen, die sich genau auf die damals beschlossene Möglichkeit zur nachträglichen Verlängerung der Fristen bezog. Vor zwei Wochen ist das Urteil gefällt worden. Das Gericht hat es als Verstoß gegen die Menschenrechte gewertet, dass die 1998 geschaffene Rechtslage rückwirkend angewandt wurde. Gemeint ist also die Anwendung auf jene Straftäter, die ihre Tat vor Inkrafttreten der Neuregelung begangen haben. Diese Entscheidung betrifft zwar einen konkreten Einzelfall, jedoch ist sie selbstverständlich auch für vergleichbare Fälle heranzuziehen. Herr Kohlmeyer, um genau so einen Parallelfall handelt es sich bei Ihnen.«
Jürgen Kohlmeyer war den Ausführungen seines Anwaltes aufmerksam gefolgt. Jedes Wort hatte er aufgenommen und versuchte nun, die Konsequenzen zu ermessen.
»Das heißt, diese Richter haben gesagt, dass ich hier zu Unrecht festgehalten werde, weil es gegen die … gegen die Menschenrechte verstößt?«
Er spürte, wie erneut heftige Unruhe in ihm aufstieg.
»Wenn Sie so wollen, ja, so ist es.«
»Und wenn diese oder andere Richter sich nun wieder alles anders überlegen und neue Gesetze machen?«
»Nein, die Richter machen die Gesetze nicht, sie sprechen lediglich Urteile. Und dieses hier ist unanfechtbar. Es ist absolut bindend, und die Bundesrepublik Deutschland muss danach handeln. Sie werden in absehbarer Zeit in Freiheit leben.«
Jürgen Kohlmeyer begann langsam, die Bedeutung dieser Informationen zu erkennen. Doch anstatt aufzuspringen und seinem Anwalt vor Freude um den Hals zu fallen, saß er still und reglos auf seinem Stuhl, in Gedanken versunken. Seit nunmehr 29 Jahren, was rund der Hälfte seines Lebens entsprach, saß er im Gefängnis.
Was er vorher von diesem Gespräch erwartet oder erhofft hatte, vermochte er nicht mehr zu sagen. Mit der Aussicht auf ein Leben in Freiheit hatte er jedenfalls nicht gerechnet. Nachdem sich die Wogen in seinem Inneren ein wenig geglättet hatten, kristallisierte sich ein Gefühl heraus, das alles andere zu überlagern begann.
Jürgen Kohlmeyer hatte Angst.
Freitag, 24. September, 16.15 Uhr
Während der Fahrt vom Supermarkt nach Hause hatten Sabine und Laura kaum ein Wort miteinander gesprochen. Es tat Sabine weh, ihre Tochter anlügen zu müssen, aber die vorgeschobenen Kopfschmerzen waren die einzige Möglichkeit, die Fassade zu wahren, hinter der sie ihren Schock, ihre Angst verbergen konnte. Laura wusste, dass ihre Mutter bei einem Migräneanfall vor allem Ruhe brauchte.
Nach dem Mittagessen war Nicole zum Spielen gekommen. Sabine war erleichtert, dass die beiden Mädchen beschlossen hatten, im Schwimmbecken zu planschen, das sich im Kellergeschoss ihres Hauses befand. Sie selbst verbrachte die Nachmittagsstunden am Klavier und flüchtete in eine andere Welt, eine angenehme Illusion aus sanfter, melodischer Trance.
Gegen Viertel nach sechs saß Sabine mit einer dampfenden Tasse Tee auf dem Sofa und starrte ins Leere, während ihr Geist unaufhaltsam in die dunkle Vergangenheit reiste. Er kehrte zurück an jenen Ort, der den dramatischen Wendepunkt in ihrem Leben markierte und der seit vielen Jahren tief in ihrem Bewusstsein vergraben und verschüttet lag.
Seit der Begegnung im Supermarkt hatten die schützenden Schichten jedoch Risse bekommen. Risse, die wie Vorboten einer riesigen Explosion immer größer wurden. Das glühende zerstörerische Magma ihrer Erinnerung drang mit aller Macht zurück an die Oberfläche.
Sie war wieder elf, lag in ihrem Internatsbett und spürte vor allem eines. Einsamkeit.
Mama, Papa, warum habt ihr mich allein gelassen? Warum helft ihr mir denn nicht? Jetzt, wo auch noch Oma bei euch da oben ist. Warum könnt ihr mich nicht beschützen? Ihr habt mir doch immer gesagt, dass ihr mich lieb habt, warum könnt ihr nichts tun? Helft mir. Bitte …
Plötzlich waren die Schritte wieder da. Sie war sich sicher, nein, sie irrte sich nicht. Sie hörte tatsächlich die Schritte.
Sabine schrak hoch und stieß einen kurzen schrillen Schrei aus. Der heiße Tee schwappte aus der Tasse und ergoss sich schmerzhaft über ihre rechte Hand und die Hose. Sie ließ die Tasse fallen, sprang auf und rannte in die Küche, um ihre Hand zu kühlen. Im selben Moment ging die Haustür auf, und Markus stand im Flur.
»Hallo, Schatz, ich bin zu Hause«, hörte Sabine ihn rufen.
»Hallo«, antwortete sie, doch ihr ohnehin schwaches Flüstern wurde vom Rauschen des Wassers verschluckt.
»Hey, da bist du ja.«
Markus stand plötzlich hinter ihr. Er lehnte am Rahmen der Küchentür und hatte die Hände hinter dem Rücken versteckt. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf ihre Hand. »Was ist passiert?«
»Ach, ich hab mich verbrüht. Heißer Tee. Der Rest davon klebt im Wohnzimmerteppich.«
»Verbrüht?«, fragte er. »Du solltest umsteigen auf ein weniger lebensgefährliches Getränk, probierʼs doch mal mit Alkohol.« Lächelnd präsentierte er eine Flasche Dom Perignon, ihrem Lieblingschampagner.
Sabine drehte den Kopf in seine Richtung und bemühte sich, ebenfalls zu lächeln: »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
Markus löste sich aus dem Türrahmen und ging ein paar Schritte auf sie zu.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja«, entgegnete Sabine, »ich habe nur wieder Kopfschmerzen.«
»Das tut mir leid«, sagte er, stellte die Flasche auf die Ablage und legte die freie Hand auf ihre Schulter. »Aber vielleicht kann dich das hier ein bisschen aufheitern.«
Er zauberte einen großen Strauß Blumen hervor und gab ihr lächelnd einen Kuss auf die Wange.
Kaum merklich zuckte Sabine zusammen.
»Lieb von dir, aber … hör zu, es tut mir leid. Die Kopfschmerzen sind stark, schlimmer als sonst. Ich lege mich besser hin. Vorher muss ich mich noch um den Teppich …«
»Lass nur«, unterbrach er sie. »Ich mach das schon. Ruh dich aus und sag mir Bescheid, wenn du etwas brauchst.«
»Danke«, sagte sie und lächelte erleichtert. »Sieh später bitte nach Laura, sie ist unten mit Nicole im Becken. Essen steht im Kühlschrank. Bitte sei mir nicht böse.«
Ohne ihrem Mann in die Augen zu sehen, drückte sie sich an ihm vorbei und ging die Treppe hoch zu ihrem Schlafzimmer.
Irritiert sah Markus ihr hinterher. So hatte er sich die Begrüßung nicht vorgestellt. Enttäuscht griff er nach der erstbesten Vase und stellte die Blumen auf den Wohnzimmertisch.
Nachdem er die Teeflecken beseitigt hatte, fand er im Kühlschrank neben den Fischstäbchen noch einen kleinen Vorrat an Bier. Er öffnete eine Flasche und blickte auf die Küchenuhr. 18.30 Uhr.
»Na dann – auf einen schönen Freitagabend«, stieß er mit sich selber an, »und danke für die Blumen.«
Samstag, 09. Oktober, 11.30 Uhr
Jürgen Kohlmeyer saß auf seinem Bett und betrachtete die vorbeiziehenden Wolken durch das vergitterte Zellenfenster. Nun hatte er also Gewissheit. Seine Zeit in der JVA war unwiderruflich abgelaufen.
Die riesige unsichtbare Sanduhr seines Schicksals hatte 10613 Tage durchrieseln lassen, und nun blieben lediglich Körner für 15 weitere Tage übrig. Der Brief des zuständigen Landgerichts lag aufgefaltet vor ihm auf dem Tisch. Der Schlüssel in eine plötzliche unerwartete Freiheit.
Sein Anwalt leistete gute Arbeit und war dafür verantwortlich, dass die Dinge so schnell ins Rollen kamen. Als er am Morgen da gewesen war, hatte Jürgen Kohlmeyer erfahren, dass er zunächst unter ständiger polizeilicher Beobachtung stehen sollte. Staatliche Wachhunde, wie Nienhaus sie nannte, die ihn 24 Stunden am Tag auf Schritt und Tritt verfolgen würden. Im Grunde wusste Kohlmeyer, dass er all das nicht wollte und sein Leben lieber innerhalb der Strafanstalt fortsetzen würde. Aber die Entscheidungen waren gefallen, und er konnte nichts daran ändern. Der Anwalt hatte vorgeschlagen, dass Kohlmeyer sich telefonisch mit seinem Bruder in Verbindung setzen sollte, um zumindest für die ersten Wochen eine feste Bleibe zu haben. Von dort aus könne er dann alle wichtigen Dinge regeln, wie die Suche nach Arbeit und einer eigenen Wohnung.
Doch Kohlmeyer sträubte sich gegen den Gedanken. Als er seinen Bruder das letzte Mal während einer Besuchszeit gesehen hatte, waren sie in einem fürchterlichen Streit auseinandergegangen. Seit diesem Vorfall vor 16 Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu seinem Bruder. Wie hätte er nur den ersten Schritt tun können? Als sein Anwalt sich am Morgen schließlich erboten hatte, selbst diesen ersten Kontakt herzustellen, war ihm ein Stein vom Herzen gefallen.
Die Scheu vor dem Wiedersehen mit dem Bruder war jedoch nicht seine einzige Sorge. Er hatte Angst vor der Welt außerhalb der Mauern, Angst davor, sich nicht mehr zurechtzufinden. Seine Heimat war die JVA, und das schon länger, als er denken konnte.
Samstag, 09. Oktober, 12.05 Uhr
Sabine schob die Auflaufform in den vorgeheizten Backofen und kontrollierte die eingestellte Zeit. Bis zum Mittagessen blieb ihr noch eine knappe Stunde. Sie freute sich darauf, in der Zwischenzeit ein ausgiebiges Bad zu nehmen.
In den vergangenen zwei Wochen hatte sie eine Menge Zeit für sich in Anspruch genommen und viel nachgedacht. Ihrer Familie war dieses Bedürfnis offenbar nicht entgangen, und Markus und Laura räumten ihr die nötigen Freiräume ein, ohne quälende Fragen zu stellen.
In den ersten beiden Tagen nach der schrecklichen Begegnung hatte Sabine mehrfach daran gedacht, sich Markus anzuvertrauen und ihm alles zu erzählen. Es kam ihr vor wie Betrug, mit dieser unausgesprochenen Wahrheit zu leben. Aber die Mauer, die sie um sich herum errichtet hatte, war zu groß. Sollte diese Mauer einstürzen, würde ihre kleine Familie mitgerissen und unter den Trümmern für immer begraben werden, fürchtete sie. Das durfte um keinen Preis der Welt geschehen. Sie zwang sich zu glauben, dass sie auch ein zweites Mal in der Lage sein würde, ihr Schicksal anzunehmen. Sie würde es schaffen, alles wieder unter die Füße zu bekommen. Außerdem gab es Wichtigeres als ihren eigenen inneren Frieden, sagte sie sich. Wenn sie nicht alles verlieren wollte, was ihr wichtig war, dann durfte sie sich nicht offenbaren. Sie durfte ebenso wenig zulassen, dass Rachegedanken in ihr aufstiegen. Dafür war einfach kein Platz, nicht in dem Leben, das sie nun schon seit so vielen Jahren erfolgreich führte und das sie sich nicht nehmen lassen wollte.
Doch tief in ihrem Inneren nagte etwas an ihr, fraß und bohrte sich grausam und unbeirrt in ihre geschwächte und missbrauchte Seele. Sabine konnte es deutlich spüren.
Noch immer in Gedanken stieg sie die Kellertreppe hinab, wo ein sprudelnder Whirlpool auf sie wartete. Sie war jedoch kaum unten angekommen, als sie plötzlich lautes Bellen hörte, gefolgt von einem jaulenden Winseln. Es kam eindeutig von Branca, von draußen aus dem Garten.
Sabine wusste, dass die dreijährige Labradorhündin diese Laute nur dann von sich gab, wenn sie eine vertraute Person begrüßte. Es müssen Laura und Nicole sein, die früher vom Spielen nach Hause kommen, dachte sie. Vielleicht hatte sich eines der Mädchen das Knie aufgeschlagen. Sabine schrieb das Entspannungsbad bereits innerlich ab. Als sie die Terrassentür erreichte, konnte sie die Schreie der Kinder bereits hören. Sie vermischten sich mit Brancas Winseln zu einer leidvoll klingenden Melodie. Sabine stutzte. Das Weinen passte nicht zu einer Schürfwunde. Es lag ein ungleich intensiverer Ausdruck darin. Was sie hörte, war nackte Panik.
Sekunden später tauchten die Mädchen vor dem kleinen Gartentor auf, wo Branca sie bereits erwartete. Ein Blick in das Gesicht ihrer Tochter beseitigte die letzte Hoffnung auf eine Harmlosigkeit. Im Gegenteil, ein grauenvoller Schauer jagte über Sabines Rücken. Sie kannte den Ausdruck auf dem kindlichen Gesicht. Genauso hatte Julia immer ausgesehen, ihre Zimmergenossin aus dem Internat.
»Mama!«
Mutter und Tochter rannten aufeinander zu und fielen sich mitten im Garten in die Arme, umtänzelt von der aufgeregten Branca, die offenbar spürte, dass etwas nicht stimmte.
»Laura, Liebes, was ist passiert?«, presste Sabine hervor und fürchtete sich gleichzeitig so sehr vor der Antwort, dass ihr die Knie wegzusacken drohten.
»Mama, wir haben … gespielt …«, Laura brachte jedes Wort einzeln und schluchzend hervor. »Wir waren allein auf dem Spielplatz. Dann kam … ein Mann. Mit einem Mantel. Dann hat er … den Mantel aufgemacht. Er war fast nackt.« Laura wurde nun von heftigem Beben erfasst. »Sein … Ding. Das stand ganz komisch ab. Er hat gesagt, wir sollen das … anfassen. Dann sind wir losgerannt. Ich hab solche Angst!«
Laura vergrub ihr Gesicht in den Pullover ihrer Mutter und weinte hemmungslos. Sabine nahm ihren Kopf und streichelte ihn mechanisch. Sie winkte Nicole zu sich, die völlig apathisch in einer Ecke des Gartens stand, und nahm auch sie in den Arm. Dann hob Sabine den Kopf, blickte in den Herbsthimmel und stellte fest, dass sie sich selbst nicht mehr spürte. Kein Gedanke, kein Gefühl, nichts als völlige Leere.
Sie registrierte, wie Laura und Nicole in ihren Armen langsam ruhiger wurden, während ihre eigenen Gedanken plötzlich begannen, wild durch ihren Kopf zu jagen. Ihr Geist schien von einem heftigen Wind erfasst zu werden, der alles fortfegte, was sie zu ihrem Schutz so mühsam geordnet hatte. Wenn Laura etwas zustieß, würde Sabines fragiles Leben in sich zusammenfallen. Dann war alles umsonst gewesen. Sabine fühlte sich wieder nackt, ausgeliefert, allein – wie früher. Sie begann, panisch zu zittern. Aber die Kinder, schoss es ihr durch den Kopf, Sabine musste die Kinder trösten, durfte jetzt nicht schwach werden. Sie versuchte, sich den kleinen Vogel vorzustellen, der auf einen Baum flog und der ihr schon so oft geholfen hatte. Der weit oben in einer Baumkrone in Sicherheit war. Das alles ist nicht passiert.
Aber es wollte sich keine Ruhe einstellen. Sabine verstand, dass sie selbst in Gedanken vielleicht noch einmal entfliehen könnte. Aber Laura würde sie dabei schutzlos am Boden zurücklassen.
»Was ist los?«, rief Markus, der inzwischen aus seinem Arbeitszimmer herbeigeeilt war.
»Ich will sofort wissen, was hier los ist!«, schrie Markus noch einmal und schüttelte seine Frau an der Schulter.
Sabine fuhr ruckartig hoch.
»Die Welt ist ein beschissener Ort, Markus. Das ist los.«
Der eisige Ausdruck ihrer Stimme ließ Markus erschaudern. Ein Blick in Lauras vor Schreck noch immer weit aufgerissene Augen genügte, um zu verstehen. Im Moment des Begreifens erfasste ihn maßloses Entsetzen.
»Wer und wo?«, fragte er nun ebenso kalt.
»Spielplatz. Langer Mantel«, flüsterte Sabine, den Blick noch immer auf die lose vorbeiziehenden Wolken geheftet.
Sie hatte sich getäuscht. Es würde niemals vorbei sein.
Markus warf einen letzten Blick auf seine kleine Familie und sprintete los. Im Sprung nahm er das Gartentor und lief Richtung Wald. Er schien nicht zu bemerken, dass Branca es ihm gleichtat.
Als Markus außer Sicht war, spürte Sabine, wie die langsam abschwellende Panik einen einzigen Gedanken freigab. In Sabines Herzen wurde er zu einem Schwur.
Laura wird nicht dasselbe passieren wie mir. Laura ist nicht allein, wie ich es damals war. Sie hat mich. Ich werde sie nicht im Stich lassen.
***
Keuchend erreichte Markus den Spielplatz am Rande des Schellenberger Waldes. Er hatte die eineinhalb Kilometer in fünf Minuten zurückgelegt. Der Hass hatte seine Leistungsfähigkeit gesteigert, doch als er nun den Spielplatz und das angrenzende Gelände menschenleer vorfand, forderte der Sprint seinen Tribut. Von Schwindel ergriffen, schleppte er sich auf wackligen Beinen zur nächstgelegenen Bank und sank völlig erschöpft zusammen. Er dachte an den Mann, der vor wenigen Minuten hier gewesen war und seiner Tochter solche Angst eingejagt hatte. Wie hätte er reagiert, wenn er den Unbekannten noch angetroffen hätte? Er wusste es nicht.
Aufgewühlt betrachtete er Branca, die im Zickzack über den Sand lief, die Schnauze dicht über dem Boden, und aufgeregt mit der Rute wedelte. Natürlich riechst du, dass Laura hier gewesen ist, dachte er. Es wäre ein Leichtes für dich, die Spur des Mannes aufzunehmen, wenn ich dir nur sagen könnte, welcher der vielen Gerüche, die du witterst, der richtige ist.
Niedergeschlagen machte sich Markus auf den Heimweg. Laura leiden zu sehen war fast mehr, als er ertragen konnte.
Samstag, 09. Oktober, 19.30 Uhr
Herbert Lüscher drehte den Wasserhahn zu und stieg aus der Dusche. Nachdem er sich abgetrocknet hatte und die dicken Schwaden warmer Feuchtigkeit abgezogen waren, verweilte sein Blick im großen Badezimmerspiegel. Er inspizierte die wenigen Haare auf seinem Kopf, die ihm geblieben waren und nun in feuchten Strähnen herabhingen. Dass er einmal kahlköpfig sein würde, hatte sich durch deutliche Geheimratsecken schon abgezeichnet, als er 20 Jahre alt gewesen war.
Er betrachtete sein Gesicht, sah die dichten, buschigen Brauen über den tief liegenden Augen, musterte die grob geschnittene Nase, das fleischige Kinn über dem kurzen Hals. Das verlorene Haupthaar, so erschien es ihm, war in Form von Nasen- und Ohrenbewuchs zurückgekehrt. Es war ein Gesicht, das er früher verabscheut hatte. Er wusste, dass es ebenso auf andere Menschen wirkte, auch wenn die meisten sich bemühten, ihre Emotionen zu verbergen. Nie hatte ihn eine Frau angesprochen oder auf anderen Wegen Interesse bekundet. Die wenigen Situationen, in denen er selbst aktiv geworden war, hatten stets in einer enttäuschenden Abfuhr geendet. Im besten Fall waren diese Absagen zumindest behutsam verpackt worden. Schließlich war Lüscher es leid gewesen und hatte beschlossen, sich nie wieder demütigen zu lassen.
Sein Blick im Spiegel wanderte weiter, über seinen stattlichen Bauch hinab zu seinem Geschlecht. Inmitten des dichten Bewuchses war sein Genital nur undeutlich zu erkennen. Die Zeiten, in denen er sich über sein Äußeres geärgert hatte, waren lange vorbei. Er wusste, dass ihn seine Alkoholsucht irgendwann ins Grab bringen würde. Aber er hatte sich damit arrangiert und einen Weg gefunden, seine wenigen Bedürfnisse zu befriedigen.
Während er sich die Zähne putzte, dachte er an die schweren Fehltritte, die er in seinem Leben begangen hatte. Er hatte die Schuld dafür nie bei sich gesucht, sondern immer auf seine Lebenssituation geschoben, die vom Schicksal so negativ geprägt worden war. Je älter er wurde, desto mehr glaubte er jedoch, dass der Schöpfer, vor dem er sich einst würde verantworten müssen, in diesem Punkt gänzlich anderer Auffassung war.
Nachdem er sich angezogen hatte, ging er in die Küche und schenkte sich ein großes Glas Jim Beam ein. Die goldbraune Flüssigkeit breitete eine angenehme Wärme in ihm aus und dämpfte seine Nervosität. Er öffnete eine der Schubladen und holte ein Bündel Geldscheine hervor, insgesamt sechs 50-Euro-Scheine. Er legte das Geld auf den Küchentisch und trank den restlichen Whiskey in einem langen gierigen Schluck. Das leere Glas war kaum abgesetzt, als es läutete. Er ging zur Wohnungstür und betätigte den Summer. Zwei Minuten später klopfte es, und er öffnete die Tür.
Die junge Frau im Hausflur war ihm bereits bekannt, was ihn außerordentlich freudig stimmte.
»Guten Abend, kommen Sie rein«, sagte er und verbeugte sich leicht.
Die Frau nickte knapp und folgte ihm durch die Wohnung.
»Hier hinein, bitte.«
Mit einem kaum merklichen Lächeln auf den Lippen schloss er hinter ihr die Schlafzimmertür.
Aufgrund der besonderen Vorkehrungen, die er getroffen hatte, sollte während der nächsten 30 Minuten nicht ein einziger Laut aus dem Zimmer im fünften Stock dringen.
Sonntag, 09. Oktober, 02.30 Uhr
Sabine lag in ihrem Bett, die Augen geschlossen. Um sie herum nur der schwache Schein der Nachttischlampe und die regelmäßigen leisen Atemzüge des Mädchens neben ihr.
Es war die Zeit, in der das Bewusstsein langsam vom Tag in die Nacht hinübergleitet, vom Wachen zum Schlaf. Bei anderen Mädchen ihres Alters verarbeitete der Geist die Erlebnisse des Tages und ließ bunte kindliche Träume daraus entstehen. Bei ihr war es ein Zustand der nackten Angst.
Plötzlich flog die Zimmertür auf und schlug krachend gegen die Wand. Wie konnte das sein? Kein Hüsteln, keine Schritte, nichts hatte sie gehört, was eine Ankündigung hätte sein können. Panisch zog sie die Bettdecke über den Kopf. Heftiges Zittern erfasste ihren ganzen Körper. Jeden Augenblick rechnete sie mit dem Übergriff, den groben Fingern in ihrem Fleisch, dem stinkenden Atem, den Schmerzen und dem lähmenden Gefühl entsetzlicher Scham. Zäh verstrichen die Sekunden, ohne dass ihre Angst bittere Realität wurde.
Plötzlich erfüllte ein leises Wimmern den Raum. Sie nahm all ihren Mut zusammen, schob die Decke zurück, drehte den Kopf und blinzelte in Julias Richtung. Zunächst konnte sie nur undeutlich und schemenhaft sehen. Nach und nach wurde das grausame Bild deutlicher. Dann erkannte sie Herbert Lüscher, der sich über ihre Freundin beugte und sie gewaltsam bedrängte.
Doch etwas stimmte nicht an dieser grausigen Szenerie, etwas war auf groteske Weise noch beängstigender als sonst. Sabine fokussierte ihren Blick und wusste plötzlich, was es war. Der Peiniger war stark gealtert, es war die Gestalt aus dem Supermarkt. Ihr Herz begann zu rasen. Ihr Blick wanderte zu Julia, die gerade den Kopf zu ihr drehte. Es war, als träfe sie ein vernichtender Donnerschlag. Das Mädchen, das unter ihrem Lehrer grausame Qualen erlitt, war nicht Julia. Es war ihre eigene Tochter.
Der markerschütternde Schrei schien sie innerlich zu zerreißen. Sie war am Ende all ihrer Kraft und gab auf. Sabine ließ alles heraus, alle erlittenen Qualen, gebündelt in einem langen, gellenden Ausbruch ihrer geschändeten Seele.
Plötzlich schien das Bett zu beben. Sie wurde hin- und hergeworfen. Der Abgrund zur Hölle öffnet sich und verschlingt mich, war ihr letzter Gedanke, bevor ihr Bewusstsein in eine andere Ebene wechselte.
»Sabine! Wach auf! Oh Gott, wach doch endlich auf!«
Markus schüttelte seine Frau an der Schulter.
Sabine richtete sich auf, das Nachthemd auf ihrer Haut war schweißverklebt. Das Herz in ihrer Brust drohte zu zerspringen. Panisch und zitternd tasteten ihre Augen das Halbdunkel ab und versuchten, sich zu orientieren.
»Sabine, Liebling. Du hast geträumt. Mein Gott, es muss schrecklich gewesen sein.«
Sanft nahm Markus ihren Arm, doch Sabine zuckte zurück.
»Wo ist Laura?«, brachte sie gepresst hervor.
»Laura? In ihrem Zimmer. Es ist halb drei Uhr nachts. Sie schläft«, antwortete er, das Gesicht von Sorge gezeichnet.
Sabine war bereits im Begriff, aufzuspringen, als beide ein Geräusch vernahmen. Schlaftrunken betrat Laura das Zimmer ihrer Eltern.
»Mami«, hauchte sie mit ängstlicher Stimme, »du hast geschrien.«
»Komm her, Liebes«, flüsterte Sabine, »Mami hat nur schlecht geträumt.«
Der Anblick ihrer ängstlichen Tochter brach ihr beinahe das Herz. Sie spürte eine tiefe Erleichterung, als sie Laura in die Arme schloss. Sie war unversehrt.
»Du darfst heute Nacht hierbleiben.«
Ohne zu zögern, krabbelte Laura ins Bett und kuschelte sich eng an ihre Mutter. Sabine wagte nicht, sich zu bewegen. Sie wusste, dass ihr Nachthemd nicht nur vom Schwitzen nass geworden war. Ihr Albtraum war derart real gewesen, dass sie eingenässt hatte. So wie es früher regelmäßig geschehen war. Sie hoffte inständig, dass weder ihr Mann noch ihre Tochter etwas bemerken würden. Und tatsächlich dauerte es nur wenige Minuten, bis Markus und Laura wieder eingeschlafen waren.
Für Sabine jedoch war an Schlaf nicht mehr zu denken. Der Dämon in ihr war aus seinem Gefängnis entkommen und schlug nun erbittert zu. Mit seinem vergifteten Dolch verwüstete er ungehindert das Gerüst aus Hoffnung und Verdrängung, das sie in all den Jahren so mühsam errichtet hatte. Der Dämon legte das Fundament frei, auf dem die Illusion ihrer heilen Welt gebaut war. Es bestand aus tiefer, verzweifelter Angst.
Freitag, 15. Oktober, 09.50 Uhr
Sabine lenkte den Wagen auf den großräumigen Kaufland-Parkplatz. Ganz in der Nähe des Ein- und Ausgangs fand sie eine Parklücke und setzte den BMW rückwärts hinein. Sie schaltete den Motor aus und spähte durch den Nieselregen zum hell erleuchteten Supermarkt.
Als folge sie einer plötzlichen Eingebung, begann Sabine dann, eilig in ihrer Tasche zu wühlen. Sie zog ihr Handy hervor und wählte Lauras Nummer. Es war die Zeit der großen Schulpause. Nach dem dritten Freizeichen begannen Sabines Hände, feucht zu werden. Warum hob Laura nicht ab? Als die helle Stimme ihrer Tochter schließlich durch den Lautsprecher klang, erschrak Sabine beinahe.
»Laura, Liebes, ist alles in Ordnung?«
»Ja natürlich, Mama, warum rufst du an?«
»Ich … nichts weiter, hast du dein Pausenbrot?«
Als sie kurz später wieder aufgelegt hatte, atmete Sabine tief durch. Es kam in den letzten Tagen häufig vor, dass eine plötzliche Sorge sie dazu trieb, Lauras Nummer zu wählen. Ihre Tochter war jedes Mal überrascht, und Sabine fürchtete, dass ihr Nachspionieren Laura lästig werden könnte. Doch Sabine konnte sich nicht dagegen wehren.
Am Vortag erst hatte sie unter einem Vorwand bei Nicoles Eltern angerufen, als Laura dort zum Spielen gewesen war, nur um ihre Stimme im Hintergrund zu hören und zu wissen, dass alles gut war. Aber jedes einzelne Mal, wenn sie wieder aufgelegt hatte, fühlte sie, dass nichts gut war.
Sabine besann sich auf ihr Vorhaben und nahm den Eingang des Supermarkts wieder in den Blick. Das Wetter kam ihr gelegen, denn die meisten Leute hatten ihre Schirme und Kapuzen zum Schutz tief über die Köpfe gezogen. Die anderen hasteten über den Platz, die Gesichter und Blicke gesenkt. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von ihr. Die Uhr zeigte acht Minuten vor zehn.
Die Klavierstunden für heute hatte sie kurzfristig abgesagt, und Laura würde bis 13.30 Uhr in der Schule sein. So blieben ihr mehr als drei Stunden Zeit, ihr Vorhaben auszuführen. Instinktiv vertraute sie darauf, dass der Mann regelmäßigen Gewohnheiten nachging. Trotzdem hatte das Unterfangen nur äußerst geringe Aussichten auf Erfolg, dessen war sie sich bewusst. Auch gestern war ihr Warten vergeblich geblieben. Alles, was sie tun konnte, war, abzuwarten.
Sabines Gedanken kehrten wieder zu dem Vorfall zurück. Ihr wohlgeordnetes Leben, zusammengestürzt wie ein Kartenhaus. Wie oft hatte sie sich selbst dazu beglückwünscht, dass sie ihre Vergangenheit hinter sich gelassen und ein neues glückliches Leben begonnen hatte. Wie oft hatte sie sich eingeredet, dass alles so bleiben würde, solange sie nur stark war und der Vergangenheit keinen Raum gewährte. Der Anblick Lüschers und vor allem der Blick in die panisch aufgerissenen Augen ihrer Tochter hatten ihr unwiderruflich klargemacht, dass nichts vorbei war.
Eindreiviertel Stunden lang saß Sabine nur da und beobachtete das Kommen und Gehen, ohne dass etwas geschah. Ihre Augen wurden durch das angestrengte Blinzeln bereits müde, sie brannten und schmerzten. Sie dachte daran, aufzugeben, als ihre Geduld plötzlich belohnt wurde.
Der dunkelgrüne Ford Sierra Kombi rollte um 12.02 Uhr auf das Kaufland-Gelände und steuerte auf einen Parkplatz zu, der rund 20 Meter von Sabines Position entfernt lag. Den Fahrer erkannte sie erst, als er sich dem Eingang näherte und einen der Einkaufswagen aus der Schlange löste. Ein kurzes Stöhnen entwich ihrer Kehle, Ausdruck völliger Überraschung angesichts des Erfolges, den sie erhofft, aber nicht erwartet hatte. Ihre Finger klammerten sich um das Lenkrad, während ihr Blick den Mann mit dem dunklen Mantel fixierte wie ein Adler seine ahnungslose Beute. Dann verschwand Herbert Lüscher hinter den Glasschiebetüren des Eingangs.
Sabine stellte fest, dass sich an ihrer Reaktion etwas verändert hatte. Keine Panik, keine lähmende Angst überkam sie. Stattdessen fühlte sie Wut in sich aufkeimen. Eine ungeheure Wut auf den Mann, der sie einfach genommen und so lange missbraucht und gedemütigt hatte, bis sie sich selbst nur noch als wertlosen Abfall betrachten konnte. Er hatte ihr Leben zerstört. Aber das war noch nicht alles. Seit er zurückgekommen war, hatte er auch die Macht, das unbeschwerte Leben ihrer kleinen Tochter zu zerstören. Keine Flucht, kein Umzug, auch keine noch so große Vorsicht ihrerseits konnte daran etwas ändern. Laura war überall in Gefahr. Überall gab es Männer, die sie benutzen, demütigen und quälen konnten. Mit allen Mitteln würde sie dafür sorgen, dass Laura wieder in Sicherheit aufwachsen konnte. Ihr eigenes Leben war zerstört worden, aber Lauras würde der Kerl niemals bekommen.
Es war 12.29 Uhr, als Herbert Lüscher den Supermarkt wieder verließ. Sabine sah zu, wie er die Einkäufe in den Kofferraum des Kombis lud. Kurz darauf setzte sich der Ford langsam in Bewegung. Sie hielt den Atem an, als er auf sie zusteuerte und dicht an ihrem eigenen Wagen vorbeifuhr. Sie riskierte einen flüchtigen Blick. So nah war sie ihm seit 20 Jahren nicht mehr gewesen. In ihrem Kopf explodierte ein stummer Schrei, und sie nahm den widerlichen Geruch des Whiskeyatems wahr. Es war eine Einbildung. Natürlich. Sabine packte ein kaltes Schaudern.
Sie wischte die Gedanken beiseite, startete den Motor und folgte dem grünen Kombi in einigem Abstand.
Der Verkehr erschien ihr dicht genug, um nicht aufzufallen. Dennoch achtete Sabine darauf, mindestens ein Fahrzeug zwischen dem Ford und ihrem eigenen Wagen zu lassen. Als Lüschers Auto eine gelbe Ampel überfuhr, musste sie Gas geben, um den Kontakt nicht zu verlieren.
Nach nur sieben Minuten Fahrt war Herbert Lüscher offensichtlich am Ziel. Er bog rechts von der Straße ab und steuerte auf einen Garagenhof zu, der zu einer wenig ansehnlichen Hochhaussiedlung gehörte. Um nicht aufzufallen, fuhr Sabine weiter geradeaus und hielt etwa 100 Meter entfernt in einer Lücke am Fahrbahnrand. Im rechten Außenspiegel konnte sie erkennen, wie der mit zwei vollen Tüten beladene Mann schwerfällig um die Ecke bog. Er trottete über die Straße und verschwand in einem der Hochhäuser. Sabine zählte sechs Stockwerke. Nun hatte sie also seine Adresse: Von-Ossietzky-Ring 335.
Ein entschlossenes Lächeln spielte um ihren Mund, als sie durch den Regen nach Hause fuhr.
Samstag, 16. Oktober, 14.30 Uhr
Markus drückte auf den Knopf der DeLonghi und sah zu, wie sich der Becher mit dampfendem Kaffee füllte. Er war allein in der Praxis. In den letzten beiden Wochen hatten sich dringende schriftliche Arbeiten angehäuft, und er sah keine andere Möglichkeit, dem Chaos zu entkommen, als an diesem Samstag eine Extraschicht einzulegen. Seine Gedanken jedoch wanderten immer wieder zu seiner Frau.
Seit dem Vorfall mit Laura war alles anders geworden. Sabines Albträume quälten ihn genauso sehr wie sie, aber er versuchte, ihr gegenüber, so gut es ging, Ruhe auszustrahlen. Erst letzte Nacht war sie wieder schreiend und schweißgebadet aufgewacht.
Er nahm an, dass seine Frau in diesen schwierigen Tagen mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchte, und versuchte, sie ihr zu geben. Aber warum spürte er diese Distanz und dieses Abwehrverhalten bei ihr? Warum zuckte sie zusammen, wenn er sie berührte? Warum hielt sie nachts plötzlich körperlichen Abstand, was mehr als untypisch für sie war?
Er zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wählte die Nummer von zu Hause, erreichte aber nur seine eigene Stimme auf der Ansage des Anrufbeantworters.
Wahrscheinlich tue ich ihr unrecht, dachte er. Ich darf sie jetzt nicht unter Druck setzen. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass Sabine in einer für ihn noch nicht greifbaren Weise überreagierte. Natürlich war der Vorfall auf dem Spielplatz furchtbar gewesen. Aber als er noch am selben Abend mit seiner Tochter zur Polizei aufgebrochen war, hatte sich Sabine geweigert, mitzukommen. Ich kann es nicht ertragen, die Geschichte noch einmal mit anzuhören, waren ihre Worte gewesen.
Es war auch für ihn wahrlich nicht leicht gewesen, aber die junge Kriminalbeamtin hatte Laura sehr behutsam befragt und ihnen das Gefühl vermittelt, die Sache äußerst ernst zu nehmen. Markus hatte erfahren, dass derselbe Mann, der Laura und Nicole belästigt hatte, bereits auf verschiedenen Spielplätzen in Essen, Mülheim und Oberhausen gesehen worden war. Zu direkten körperlichen Übergriffen war es bislang glücklicherweise noch nicht gekommen.
Am darauffolgenden Montag hatte ein ausführlicher Artikel im Regionalteil der WAZ dennoch dazu aufgerufen, Kinder vorerst nicht unbeaufsichtigt zu lassen.
Grübelnd saß Markus noch eine Weile in der Küche seiner Praxis. Dann erhob er sich und kippte den kalten Kaffee in den Ausguss.
Samstag, 16. Oktober, 17.15 Uhr
Sabine stand im Hausflur vor dem Garderobenspiegel und knöpfte den langen Mantel zu. Anschließend kramte sie eine ihrer Wollmützen aus der Schublade hervor und setzte sie auf. Die restlichen unbedeckten Locken, die ihr weit über die Schultern fielen, schob sie sorgfältig hinter den hochgestellten Kragen, bis sie von außen nicht mehr zu sehen waren. Eine Weile betrachtete sie ihr Gesicht und erkannte darin feste Entschlossenheit. Laura war mit Nicole im Schwimmbad und wollte anschließend bei ihrer Freundin übernachten. Die Nachricht für Markus lag gut sichtbar auf dem Sekretär neben der Tür.
Ein letztes Mal musterte sie ihr Spiegelbild, ehe sie die Schlüssel nahm und hinaus ins Freie trat. Es war spürbar kühler geworden, und sie zog den Gürtel ihres Mantels ein Stück enger um ihre Taille.
Sabine erreichte die große Doppelgarage, und kurze Zeit später glitt der dunkelblaue BMW in die einsetzende Dämmerung. Sie hatte die Fahrtzeit auf 15 Minuten geschätzt, doch der Verkehr war dichter, als erwartet. Nur langsam kam sie in dem zäh dahinfließenden Strom voran.
Gegen 17.40 Uhr parkte sie den Wagen in der Hochhaussiedlung in Essen Horst, circa 80 Meter vom Hauseingang entfernt, stieg aus und machte sich auf den Weg. Mit jedem Meter verringerte sich ihre anfängliche Entschlossenheit und wich steigendem Unbehagen. Dann war sie am Ziel, Hausnummer 335. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Sie stieg die Stufen zum Eingangsbereich empor und verharrte vor dem großen Klingelschild. Es brauchte nur Sekunden, um den richtigen unter den 30 Namen zu finden. Schon wieder hatte sie Glück, denn in solch einer Gegend war es nicht unbedingt üblich, seinen Namen auf der Schelle zu vermerken. Anders als erwartet ließ sich die Haustür jedoch nicht einfach aufdrücken.
Sabine wollte gerade auf eine beliebige Klingel drücken, als das Flurlicht anging. Hastig drehte sie sich um und stolperte die Stufen hinunter. Sie war kaum auf dem Bürgersteig angelangt, als die Tür aufflog und zwei Kinder lachend an ihr vorbeisausten.
Gerade noch rechtzeitig schlüpfte sie durch die zufallende Tür in den Hausflur. Sofort stieg ihr ein modrig feuchter Geruch in die Nase. Der Boden war schmutzig, und in den Ecken verfingen sich dicke Staubfäden in riesigen Spinnweben. Unleserliche Schmierereien mit Sprühfarbe zierten die Wände.
Sabine nahm die Stufen zum Hochparterre. Jede Etage beherbergte insgesamt fünf Wohnungen. Eine der Treppe gegenüber und je zwei weitere in den links und rechts abgehenden Fluren. Fünf Namen hatten auch jeweils eine Reihe auf dem Klingelschild an der Eingangstür gebildet, erinnerte sie sich. Der Name Lüscher war in der vorletzten Reihe verzeichnet, und so ging sie davon aus, dass der Mann im fünften Stock wohnte.
Sie lief um den Aufzug in der Mitte des Treppenhauses herum und nahm die Treppe. Sie war froh, niemandem zu begegnen, obgleich sie wusste, dass sie ohnehin keinem Menschen aufgefallen wäre. In Häusern wie diesem kannten die Leute oft nicht einmal ihren direkten Nachbarn.
Mit erhöhtem Pulsschlag erreichte sie den fünften Stock. Das Licht wagte sie nicht einzuschalten. Zuerst überprüfte Sabine die Wohnung geradeaus, dann die beiden anderen im linken Arm des Flurs. Gerscher und Özkan. Blieben noch zwei. Die Turnschuhe, die sie mit Bedacht gewählt hatte, erlaubten ihr, sich geräuschlos zu bewegen.
Sie wechselte in den gegenüberliegenden Flur. Zunächst die rechte Wohnung. Promirov. Bliebe noch eine. Sie beugte sich vor, um besser lesen zu können. Volltreffer.
Hier hast du dich also versteckt, dachte sie. In einem dreckigen, dunklen Loch.
Sie konnte das leichte Zittern nicht unterdrücken und kämpfte gegen den aufkommenden Impuls an, einfach fortzulaufen. Verdammt, reiß dich zusammen! Hast du etwa vor, immer wieder das Opfer zu sein? Hast du immer noch Angst vor ihm? Willst du etwa abwarten, bis er Laura holt? Dieser Mann darf keine Macht mehr über dich haben. Ich werde mich nie wieder dafür verfluchen müssen, so unendlich hilflos zu sein. Ich werde nie wieder verfluchen, dass ich lebe.