9,99 €
Crew arbeitet für den privaten Sicherheitsdienst von Mr. Jones - dem Milliardär und Besitzer der weltbekannten Restaurant-Kette Magical Fries. Dass Crew nach einer Beförderung nun durch die ganze Welt reisen soll, um Gewürze für Pommes zu sammeln, hinterfragt er bei seinem Gehalt nicht. Aber sein neuer Kollege Lennon, der Sohn von Mr. Jones, macht ihm seinen Job nicht eben leicht.
Als Crew erfährt, dass Jones überzeugt ist, die perfekte Würzmischung würde ihm die göttliche Fähigkeit verleihen, seine verstorbene Frau wiederzubeleben, setzt er die Mission aus Mitgefühl fort. Zumal er und Lennon unerwartet Hilfe von einer mächtigen Göttererbin namens Chae bekommen. Doch keiner der drei ahnt, dass sie bei ihrer Suche auf einen Gegner treffen, der sie nicht nur körperlich an ihre Grenzen bringt, sondern ihr ganzes Weltbild zerrüttet.
Cool, spannend, temporeich: Götter und Göttinnen leben unter uns - und sie bekommen ihre Kräfte durch Essen
Ein vollständig in sich abgeschlossener Band der Urban Fantasy-Reihe FOOD UNIVERSE
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 709
Crew arbeitet für den privaten Sicherheitsdienst von Mr. Jones – dem Milliardär und Besitzer der weltbekannten Restaurant-Kette Magical Fries. Dass Crew nach einer Beförderung nun durch die ganze Welt reisen soll, um Gewürze für Pommes zu sammeln, hinterfragt er bei seinem Gehalt nicht. Aber sein neuer Kollege Lennon, der Sohn von Mr. Jones, macht ihm seinen Job nicht eben leicht. Als Crew erfährt, dass Jones überzeugt ist, die perfekte Würzmischung würde ihm die göttliche Fähigkeit verleihen, seine verstorbene Frau wiederzubeleben, setzt er die Mission aus Mitgefühl fort. Zumal er und Lennon unerwartet Hilfe von einer mächtigen Göttererbin namens Chae bekommen. Doch keiner der drei ahnt, dass sie bei ihrer Suche auf einen Gegner treffen, der sie nicht nur körperlich an ihre Grenzen bringt, sondern ihr ganzes Weltbild zerrüttet. Cool, spannend, temporeich: Götter und Göttinnen leben unter uns – und sie bekommen ihre Kräfte durch Essen Ein vollständig in sich abgeschlossener Band der Urban Fantasy-Reihe FOOD UNIVERSE
Marie Graßhoff, geboren 1990 in Halberstadt im Harz, studierte in Mainz Buchwissenschaft und Linguistik. Anschließend arbeitete sie als Social-Media-Managerin bei einer großen Agentur. Mittlerweile ist sie als Autorin und Grafikdesignerin tätig und lebt in Leipzig. Ihre Bücher wurden für mehrere Preise nominiert, u.a. stand sie zweimal auf der Shortlist des Phantastik-Preises SERAPH. Bereits zweimal gewann sie den LOVELYBOOKS LESERPREIS.
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München
(www.erzaehlperspektive.de).
Copyright © 2024 by Marie Graßhoff
Diese Ausgabe 2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Klaudia Szabo, Leipzig
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock: Aperture75 | -strizh- | Vandathai(2) | Nimaxs | tassita numsri | vitek3ds | Robbiya | K.Decor
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5621-1
luebbe.de
lesejury.de
Für Bashir
Dieses Buch enthält explizite Beschreibungen von physischer und psychischer Gewalt und Folter. Darüber hinaus behandelt es die Themen PTBS, Tod, Trauer, Krieg und Drogen. Einige Charaktere rauchen.
Ihr entscheidet selbst, wie ihr damit umgeht. Sind diese Themen für euch besonders emotional aufgeladen, passt auf euch auf.
NOTANYMORE – Shadient
Closure – Juelz, Ruby Chase
Ascensionism – Sleep Token
BARTA – Lorn, Dolor
Rhinestone 1.7.2 – Flume, Isabella Manfredi
Nothing Less – Knapsack
ILY – R!OT
Say Less – MEMBA
Love is a Miracle – Jinco, SVNAH
Walls Down – MEMBA, EVANGIIA
Glass – Blood Cultures
Dreams – Türküm
Meet Freedom – MEMBA, Levus Alone
Legend – Apashe, SLUMBERJACK, Wasiu
Granite – Sleep Token
First Fires – Bonobo, Grey Reverend
Rusty Nails – Moderat
Run Wild – FRENSHIP
Not Human – elegant slims
Rolling Stones – Young Karin
Floating – Portugal. The Man
Gold – Bondax
Alle sagen immer, ich solle mir selbst verzeihen. Ich weiß nur nicht, wie. Und ich weiß nicht, ob ich überhaupt will. Aber wenigstens funktioniere ich. Das sage ich mir, wenn ich das Gefühl habe, die Welt bricht in tausend Scherben über mir zusammen. Ich kann morgens aus dem Bett aufstehen, meinen Kaffee zubereiten, zur Arbeit gehen und danach mit Kollegen etwas trinken. Ich kann lesen, essen, Hände schütteln und reden. Ich kann allein sein oder in Gesellschaft. Manchmal kann ich sogar schlafen.
Ich funktioniere.
Regen prasselt gegen die Fenster. Nur die leuchtenden Ziffern des Weckers erhellen den finsteren Raum. Jedes Wechseln der Minuten- und Stundenzahlen fühlt sich höhnisch an. Wie ein kleines, stummes Lachen, während ich in die Dunkelheit starre, weil ich nicht schlafen kann. Schon wieder nicht. Noch immer nicht.
Auf dem Bett zu liegen und an die Decke zu schauen, ist wie gefesselt zu sein. Ich muss mich bewegen, um die Schwere zu vertreiben. Aber ich bin so erschöpft.
Ich funktioniere, aber ich bin so müde.
Schwerfällig greife ich nach meinem Handy. Wenn ich schon wach bin, kann ich mir auch Videos anschauen oder Podcasts anhören. Dann ist die Zeit wenigstens nicht ganz verschwendet.
Doch Gänsehaut überfährt mich, als ich eine Nachricht von Mom auf dem Sperr-Screen sehe, noch verschwommen durch meinen müden Blick und das viel zu helle Licht. Das Herz, das sie vor jede Message setzt, blinkt mir hämisch entgegen.
Für einige Sekunden schweben meine Finger über dem Bildschirm, bis ich sie endlich anklicke. Ich habe die Lesebestätigung und die Onlineanzeige deaktiviert, damit sie nicht sieht, wenn ich ihre Nachrichten anschaue. So kann ich zumindest sichergehen, dass es nichts Dringendes ist.
»Guten Abend, Schatz«, schreibt sie. »Dad und ich kommen gerade vom Maryland Wine Festival nach Hause, und ich musste an dich denken. Wir hoffen sehr, dass es dir gut geht, und freuen uns, wenn wir es mal wieder schaffen, zu telefonieren. Wir haben dich sehr lieb. Dad drückt dich auch. Mom.«
Mein Blick hängt etwas zu lange an ihren Worten. Sie ist viel zu nett. Wie immer. Ich ertrage es nicht, also schlucke ich die Beklommenheit in meinem Rachen weg, werfe das Handy aufs Bett und erhebe mich schwerfällig. Meine Glieder sind endlos schwer, als ich mich in Richtung des Badezimmers schleppe. Wenn mitten in der Nacht jede meiner Zellen nach Schlaf schreit, ist die Welt so taub. Eine leere Hülle, in der ich nur noch existiere.
Der Parkettboden unter meinen Füßen ist kühl, obwohl der Rest der Wohnung warm ist. Ich bewege mich blind durch das finstere Apartment, bis meine Sohlen die kalten Fliesen erreichen und ich die Hand nach dem kleinen Schalter am Spiegel ausstrecke. Das warme Licht brennt in meinen Augen. Ich beuge mich über das schwarze Waschbecken und spritze eiskaltes Wasser in mein Gesicht. Das hilft manchmal, das Chaos zu vertreiben. Zumindest für einen Moment. Dann stütze ich mich auf die Seiten des Beckens und mustere meine Reflexion.
Blutunterlaufene Augen. Tiefe Ringe auf der dunklen Haut. In den Träumen, in denen ich mich wie von außen betrachte, sehe ich jünger aus. Naiver. Lebendiger. Dabei ist das alles noch gar nicht so lange her. Ich fahre mit den Fingerkuppen über die von Tattoos gerahmte Narbe an meinem rechten Oberarm, die mich an damals erinnert.
Wird das jemals aufhören?
Werde ich jemals wieder wie früher sein können?
Das schrille Klingeln meines Handys reißt mich aus der Trance. Shit. Ruft Mom jetzt wirklich an? Um diese Uhrzeit?
Nein. Das würde sie nicht tun. Sie weiß, dass ich so spät entweder schlafe oder arbeite. Und sie weiß, dass ich sowieso nicht abhebe.
Oder ist es etwas Dringendes?
Ich reiße mich los, eile zu meinem Bett und klaube das Gerät zwischen den Laken hervor.
Anderson.
Ich atme auf. Sofort löst sich die Spannung in meinem Inneren und ich streiche über meine kurzen Dreadlocks. Warum überrascht es mich nicht, dass mein Vorgesetzter mich jetzt sogar nachts terrorisiert?
Ich betätige den grünen Button und halte das Handy an mein Ohr. »Was gibts?«
»Crew. Ich hab dich auf der Party gesucht. Bist du gar nicht gekommen?« Andersons Stimme klingt so hibbelig wie immer.
Ich fahre an den frisch ausrasierten Seiten meines Undercuts entlang und atme aus, um einen genervten Laut zu unterdrücken. Hat er den Dienstplan wieder nicht richtig abgespeichert? »Ich hab heute keine Schicht.«
»Oh. Oh, Scheiße, tut mir leid! Ich wollte dich nicht …«
»Du hast mich nicht geweckt, alles gut.« Wenn ich ihn nicht unterbreche, entschuldigt er sich noch zehn Minuten lang. »Was ist los?«
Anderson macht eine kleine Pause, dann räuspert er sich unangenehm berührt. »Hab ich … bei was gestört?«
»Nur beim Dokus schauen.« Fast. Er hält mein Privatleben wohl für spannender, als es ist.
»Ihr jungen Leute kennt keinen Tag-Nacht-Rhythmus, was?«
Wäre schön, wenn es nur daran liegen würde, dass ich jung bin. »Gibts denn was Dringendes?«
»Also … ja«, rückt er endlich raus. »Ich hab heute die Info reinbekommen, dass einige Leute in einem Sondereinsatzteam von IRON Security ausgefallen sind. Wir suchen händeringend nach Ersatz.«
Ein Sondereinsatzteam? »Kommt das von Magical Fries oder einem anderen Auftraggeber?« Ich lasse mich auf der Bettkante nieder und streiche mit den Fingerkuppen über meine geschlossenen Lider. »Ich bin die nächsten Tage für die Mittagsschicht bei Jones eingeteilt.«
»Ist ein Magical-Fries-Auftrag, also geht es direkt durch seine Hände. Ich glaube, er hat dich sogar selbst vorgeschlagen.«
Ich ziehe die Stirn in Falten. Jones hat mich für einen Sondereinsatz vorgeschlagen? Was soll das denn für ein Team sein? »Bin ich dafür qualifiziert?«
Ein unterdrücktes Lachen am anderen Ende. »Crew, ich habe gesehen, wie du einen bewaffneten Mann mit der Krawatte deines Anzugs fertiggemacht hast. Du bist für so ziemlich alles qualifiziert, was wir anbieten.«
Vielleicht. Aber eigentlich hatte ich beim Vorstellungsgespräch vor zwei Jahren klargemacht, dass ich nur für Personenschutz eingeteilt werden möchte. Wirklich aussuchen, wo ich eingesetzt werde, kann ich mir zwar nicht, aber bisher wurde mein Wunsch immer von den Vorgesetzten respektiert. »Worum genau gehts denn?«
»Ist ein bisschen kompliziert. Lass uns morgen Mittag treffen, dann erkläre ich dir die groben Eckdaten und bringe das Update des Vertrags mit.«
Ich habe noch gar nicht zugesagt. »Was für ein Update wäre das?«
»Nur ein paar Zusatzklauseln. Kannst du dir in Ruhe ansehen. In Ordnung?«
Seinem Ton nach zu urteilen, bleibt mir nichts anderes übrig, als es mir wenigstens anzuhören. »Ja. Klar, ich schau mal.«
»Ist deutlich besser bezahlt, und du kannst auf Firmenkosten in die ganze Welt reisen, also …«
Reisen. Davon habe ich eigentlich genug, aber das verkneife ich mir. »Gut.«
»Morgen, dreizehn Uhr. Ich mach uns ’nen Tisch klar. Und jetzt erst mal gute Nacht.«
»Ja. Wir sehen uns.«
Irritiert lasse ich das Handy sinken und beende den Anruf.
Was war das denn?
Die grob geschnittenen Pommes in der Steinschüssel vor mir sehen aus wie das Gericht eines Michelin-Restaurants. Sie sind mit Trüffel, Parmesan, Kresse und Petersilie bestreut und verströmen einen Geruch nach rustikalen Gewürzen. Der schmelzende Käse glitzert golden. Obwohl ich wegen letzter Nacht nicht wirklich Hunger habe, esse ich, während Anderson den Vertrag aus seiner Tasche kramt.
Die Filiale in Lower Manhattan wurde erst vor ein paar Wochen eröffnet, weswegen es um uns herum brechend voll ist. Die Gäste – vorrangig Geschäftsleute in der Mittagspause und Food-Blogger, die nicht aufhören können, Fotos zu machen – sammeln sich in den weich gepolsterten Sitzecken. Zwischen den hohen Wänden aus dunklem Holz, den Pflanzen, die von der Decke hängen, und der warmen Beleuchtung verlaufen sich all die Stimmen zu einem unbestimmten Murmeln im Hintergrund. Sie dringen kaum bis in unser leicht abgeschottetes Separee.
Regen prasselt gegen die Fensterwand neben mir. Die Wolkendecke ist den ganzen Tag nicht aufgebrochen, was mein Zeitgefühl noch mehr über den Haufen wirft. Tiefrote Blätter fallen langsam von den Platanen, mischen sich wie Blutstropfen in das Schwarz, Weiß und Grau der Stadt.
Wenn Anderson sich nicht beeilt, muss ich meine Schicht verschieben. Die Kleidung trage ich schon. Schwarze Hose, weißes Hemd, Krawatte und einen unauffälligen Blazer. Meine tätowierten Arme sind unter den Ärmeln des Hemdes verborgen, aber am Hals sieht man sie noch ein wenig. Jones hat sich nie an ihnen oder an den goldenen Ohrringen gestört, die ich für gewöhnlich trage.
»Ah ja!« Er ist also endlich fündig geworden. Anderson ist um die vierzig. Groß, hager, braune Haare, saubere Frisur, wirre Augen. Seine fahrige Art macht mich immer etwas nervös. Alvarez ist zwar missmutig, mir aber lieber. »Du hast es vielleicht am Rande mitbekommen.« Er ordnet die Blätter, reicht mir den Vertrag aber nicht. Er ist noch gar nicht so alt, also verstehe ich nicht, warum er ihn nicht einfach auf sein iPad gezogen hat. Stattdessen stützt er seine Unterarme auf das Papier und mustert mich forschend. »Die Sache mit den Gewürzzutaten, meine ich.«
»Nichts Konkretes.« Ich weiß, dass irgendetwas hinter den Kulissen vor sich geht. Aber das steht so weit unter Verschluss, dass ich nicht mal als Security bei den betreffenden Meetings anwesend sein darf.
Ein überlegener Ausdruck macht sich auf seinem Gesicht breit. Es scheint ihm ganz gut zu gefallen, dass er mehr weiß als ich. An mir prallt das ab. Ich war zwar schon immer neugierig, aber bei der Navy habe ich mir das schnell abgewöhnt. »Die kurze Version ist: Wir suchen seit vier Jahren und elf Monaten Kräuter auf der ganzen Welt. Für ein ganz besonderes Pommesgewürz.«
Ich bemühe mich, eine interessierte Miene aufzusetzen, weil Andersons bedeutungsschwerer Tonfall das irgendwie von mir verlangt. Dabei ist es eigentlich nichts Neues, dass Jones keinen Aufwand scheut, um neue Zutaten für seine Pommes-Gerichte zu suchen. »Warum brauchen wir für so was ein IRON-Sondereinsatzteam?« Das klingt eher nach einer Aufgabe für eine andere Art von Personal.
IRON Security ist Magical Fries’ privater Sicherheitsdienst. Wir sichern die Restaurants und Labore des Unternehmens auf der ganzen Welt. IRON ist so groß, dass wir sogar von anderen Unternehmen oder Privatpersonen gebucht werden können. Aber alles, was mit der Zubereitung und den Gewürzen zu tun hat, fällt eigentlich nicht in unser Tätigkeitsfeld. Zumal in einigen Wochen die Neueröffnung einer weiteren Filiale in Manhattan ansteht und wir genug zu tun haben.
»Es gibt einige besondere Bedingungen bei der Art von Zutaten, die gesammelt werden sollen.«
Kann er aufhören, in Rätseln zu sprechen, oder verstehe ich nur etwas nicht? »Müssen sie in Krisengebieten gesichert werden?« Er weiß genau, dass ich dem nie zustimmen würde.
Sofort hebt er seine Hände. »Nein, nein, ganz und gar nicht.« Er schürzt die Lippen nachdenklich. »Zumindest für gewöhnlich nicht. Aber keine Sorge, das würde dich nicht betreffen.«
»Okay?« Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen und lege den Kopf ein Stück zur Seite. »Ich soll also einfach … besondere Kräuter sammeln?« Ich kann nicht verhindern, mir vorzustellen, wie ich auf einem Feld stehe und zwischen irgendwelchen Gräsern eine bestimmte Pflanze heraussuche. Klingt eigentlich ganz nett, aber warum sollte man jemanden wie mich dafür bezahlen? »Ich hab aber nicht wirklich Ahnung von Botanik.«
»Oh, keine Sorge«, wiederholt er. »Das ist nicht nötig, die sind ganz leicht zu erkennen.« Er legt die Fingerkuppen aneinander. »Wie gesagt, das ist alles etwas … Besonderes.«
Ich verenge die Augen ein wenig. Er hat Spaß daran, sich jede Information aus der Nase ziehen zu lassen, oder? »Inwiefern?«
Er schaut drein, als hätte er tatsächlich darauf gewartet, dass ich diese Frage stelle. »Die Sache sieht wie folgt aus: Wir lassen die Sondereinsatzteams zu den Orten bringen, an denen die Kräuter sich möglicherweise befinden. Wichtig ist die Zeit. Du kommst in einer von uns gestellten Unterkunft unter und brichst auf, sobald du das Startsignal bekommst. Dann musst du innerhalb eines Zeitraums von etwa vier Stunden eine Koordinate in der Umgebung erreichen.«
Ich blinzle einige Male. Hat der Schlafmangel mich schwer von Begriff gemacht? »Was?«
»Wegen des Personalmangels wärst du allein und hättest die Immobilien, in denen du unterkommst, für dich allein. Dir werden Waffen, Fahrzeuge und Ausrüstung zur Verfügung gestellt, je nachdem, wie das Terrain aussieht.«
Waffen? Wozu das denn?
Ich starre ihn nach wie vor irritiert an, weil ich den ersten Teil seiner Rede noch nicht mal verarbeitet habe. »Warte.« Ich hebe die Hände. »Ich muss innerhalb von vier Stunden eine Koordinate erreichen und … da befindet sich dann das Kraut?«
Anderson nickt, als sei es das Natürlichste der Welt. »Ja, es ist im Grunde Geocaching mit Zeitlimit.«
Ich rücke meine Vorstellung zurecht, bin aber endgültig verwirrt. Ich schüttle den Kopf leicht. »Was ist, wenn die vier Stunden abgelaufen sind?«
»Dann wirst du es nicht mehr ernten können.«
»Warum?«
»Weil es dann verschwinden wird.«
Ich verkneife es mir unter Anstrengung, noch einmal einen verwirrten Laut über meine Lippen zu bringen. Er macht einen so ernsten Eindruck, aber ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass er mich verarschen will. »Ist das ’ne Art Spiel oder so?«
Erneut lacht er. »Für Mr Jones und den Rest des Teams ist es bitterer Ernst. Aber für irgendwen ist das vielleicht ein Spiel, wer weiß.«
Für irgendwen? Warum sollten die Pflanzen nur für vier Stunden zu ernten sein? Sind es welche von diesen besonderen Gewächsen, die nur in einem kleinen Zeitfenster blühen? Aber … »Warum setzt ihr nicht direkt an der Koordinate jemanden ab, der die Zutaten erntet?«
»Weil wir den exakten Ort erst kennen, sobald die Pflanze dort auftaucht.«
Auftaucht? Wählt er seine Worte absichtlich so schwammig?
»Es gibt außerdem immer mehrere mögliche Orte auf der ganzen Welt, an der diese Kräuter oder Blumen oder Wurzeln erscheinen können. Es kann also sein, dass du gar nicht losgeschickt wirst und ein anderes Team dran ist. Aber wir müssen so viel Fläche wie möglich abdecken.«
Das klingt zu abgefahren. Das … das hat nichts mit dieser Göttersache zu tun, oder? Vor ein paar Jahren hatten wir mal mit so einem Fall zu tun. Ein Mensch, der übernatürliche Fähigkeiten besaß. Nachdem ich die entsprechende Sicherheitsfreigabe bekommen habe, wurde mir mitgeteilt, dass es Zehntausende solcher Personen und Vorkommnisse gibt.
Ich kann Anderson nicht direkt darauf ansprechen, weil ich keine Ahnung habe, ob er eingeweiht ist. Stattdessen frage ich also etwas ungenauer: »Und was genau ist so besonders an diesen Kräutern?«
Doch er macht nur eine wegwerfende Handbewegung. »Das musst du nicht wissen, oder?«
»Nein.« Aber verdammt, es würde mich schon interessieren. Der Kerl hat es tatsächlich geschafft, meine Neugier zu wecken.
»Was sagst du? Es ist eigentlich ein perfekter Job. Du würdest erst mal allein arbeiten, aber je nachdem, wie viele Leute wir noch rankriegen, könntest du auch Einsatzleiter sein. Mr Jones wäre begeistert, dich in diesem Sondereinsatzteam zu haben. Wie gesagt hat er dich persönlich vorgeschlagen. Er ist ja ein großer Fan von dir.« Ist er das? Der alte Kerl ist eigentlich zu allen freundlich. »Bei deiner Ausbildung bist du doch sicher eh gelangweilt, nur bei Meetings im Hintergrund herumzustehen.« Ich stehe eigentlich ganz gern herum. »Und mit vierundzwanzig Jahren schon die ganze Welt bereisen …« Sein schwelgender Blick heißt wohl, dass er es am liebsten selbst machen würde.
»Ich bin fünfundzwanzig«, korrigiere ich ihn, während ich nachdenke.
»Ach, klar. Sorry. Haben wir deinen Geburtstag verpasst?« Er unterbricht sich selbst und schüttelt den Kopf. »Ach, egal. Machst du es?«
Eigentlich wollte ich mich von solchen Sachen fernhalten. Aber die Neugier kribbelt zu sehr in meinen Gliedern. Und es klingt nicht so, als sei es für jemanden außer mich selbst gefährlich. Also nicke ich schließlich – und endlich schiebt Anderson den Vertrag zu mir rüber.
»Das Wichtigste ist, dass du uns zusicherst, dass die Beschaffung des Krauts über allem steht. Diese ganze Sache ist von entscheidender Bedeutung für Magical Fries.«
Die Eingangstür öffnet sich, als neue Gäste eintreten. Eine frische Brise weht herein, die den Geruch nach Regen in den Raum trägt.
Ich mustere Anderson ernst. »Aber ich bin bei den Aufträgen allein?«
»Voraussichtlich ja.«
Das ist gut. Dann muss ich mir um niemanden sonst Sorgen machen. »Na gut.«
Seine Schultern sinken ein Stück hinab, und deutlich entspannter grinst mein Vorgesetzter. »Dann musst du nur noch den Vertrag und die Verschwiegenheitserklärung unterschreiben, und danach gehts noch heute für dich los nach Bhutan.«
Zuerst will ich zustimmen, aber dann wird mir klar, was er gerade gesagt hat. »Warte, was?«
»Guten Morgen, New York! Es ist Montag, der 29. September, und hier sind für euch Ash und Janey von der NYC Fresh Morningshow. Wie immer mit den freshesten Hits des Tages!«
»Uff, ich bin heute echt kaum aus dem Bett gekommen. Ich vermisse den Sommer jetzt schon. Der ständige Regen schlägt mir echt aufs Gemüt.«
»Hab ich bemerkt, Ash. Deswegen hab ich uns heute Mittag was cooles Neues in Manhattan herausgesucht.«
»Warte … was?«
»Ja, um Körper und Seele ein bisschen zu wärmen. Nach der Übernahme von Happy Meat vor einigen Monaten wurde der Zweig des Unternehmens ja geschlossen. Dafür wurde eine neue Filiale von Magical Fries in Lower Manhattan eröffnet. Ist gar nicht weit von hier.«
»Oh, da haben wir doch im Sommer schon mal drüber gesprochen. Die haben wir jetzt in der Nähe?«
»Ja, das Headquarter der Kette sitzt hier schon länger, aber in den kommenden Wochen sind noch einige weitere Restaurants in der Stadt geplant.«
»Ist ja klasse.«
»An dieser Stelle erst mal eine Entschuldigung an den Besitzer, Mr Hilarious R. Jones, dafür, dass ich sein Restaurant das letzte Mal als Fast-Food-Kette bezeichnet habe.«
»Haha. Na, hoffentlich hört er die Show heute.«
»Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht so viel über die Kette. Nur als Klarstellung für alle, denen es auch so geht wie mir: Magical Fries ist eine Fine-Dining-Restaurant-Kette, die sich auf ein Gericht spezialisiert hat: Pommes. Jedes Restaurant hat seine eigenen hochkarätigen Küchenchefs. Es gibt ein internationales Menü, aber auch regionale Besonderheiten und Signature Dishes. Das Personal wird außerdem dauerhaft weitergebildet und gefördert. Zu Magical Fries gehören nämlich auch eigene Labore zur Forschung und zum Testen.«
»Klingt total krass. Und du hast dich ja echt belesen.«
»Wenn ich dir schon eine Überraschung mache, dann richtig. Und ich glaube, unsere Zuhörer sollte das auch interessieren. Es gibt nämlich auch wirklich außergewöhnliche Kombinationen dort. Frühstücksgerichte, Desserts, einfach alles. Und wegen der Expansion sucht Magical Fries zurzeit nach neuen Küchenchefs, Köchen und Service- und Lieferkräften auf der ganzen Welt. Also schaut gern auf der Website vorbei, falls ihr Interesse habt.«
»Warst du denn schon mal da, Janey?«
»Erst einmal. Aber ich hab einige der Kräuter- und Gewürzmischungen im Onlineshop bestellt, um mich auszuprobieren, da gibts wirklich außergewöhnliche Sachen. Und ich denk auch drüber nach, mir eins von den Kochbüchern zu holen. Dafür hat das Unternehmen wohl sogar einen eigenen Verlag.«
»Abgefahren. Dann freu ich mich jetzt schon auf die Mittagspause.«
»Vielleicht treffen wir euch da.«
»Aber wenn ihr uns ansprecht, rechnet damit, dass wir unsere Mikros rausholen und euch interviewen, haha.«
»Ich leg jetzt ein bisschen gute Musik für uns alle auf, Ash, dann erwachen deine Lebensgeister vielleicht wieder, ja?«
»Ja, klar.«
»Dann erst mal weiter mit den freshesten Hits des Tages! Nur für Ash und euch: Raincoat Eater mit seiner neusten Single Cosmic Terror.«
»Soll ich Ihr Gepäck hochtragen?«
»Nein, danke, das mache ich schon.« Ich steige aus dem klapprigen Wagen, kremple die Ärmel meines Hemdes hoch und lege den Blazer über einen Arm. Die Straße ist trocken und staubig. Der Motor läuft noch, als ich meine Sonnenbrille zurechtrücke und zum Kofferraum trete. »Ist ja nur die Sporttasche.« Lange werde ich nicht hierbleiben, wenn ich das richtig verstanden habe. Nicht, dass es viel Zeit gegeben hätte, Anderson Fragen zu stellen.
Der Mann, der mich Hunderte von Kilometern über die Straßen von Bhutan befördert hat, sieht etwas verloren aus, als ich den Kofferraum schließe. Der frische Duft nach Nadelbäumen vermischt sich mit dem Benzingeruch.
Er bedankt sich so oft für das Trinkgeld, dass ich mich schlecht fühle, weil das natürlich auf Firmenkosten geht. Dann deutet er auf einen schmalen Pfad am Wegesrand, springt wieder in das Auto, und ich trete zur Seite.
Der Motor heult auf, und dunkler Rauch dringt aus dem Auspuff, als er losfährt. Ich schwinge meine Tasche über die Schulter und schaue zu dem Haus hinauf, das direkt am Berghang liegt. Die Siedlungsdichte ist immer geringer geworden, während wir über die schmaler werdenden Wege weiter in den Himalaya gefahren sind. Im Umkreis von mehreren Kilometern befinden sich nur vereinzelte Häuser. Städte und Dörfer habe ich eine Weile nicht mehr gesehen.
Ich bin am Ende der Welt.
Zusammen mit den Berggipfeln zeichnet sich das Haus klar vor dem leuchtend blauen Himmel und den dunkelgrünen Wäldern dahinter ab. Noch kann ich nicht ganz fassen, dass ich hier bin.
Als ich mich in Bewegung setze, um auf den schmalen Pfad hinauf zu dem Gebäude mit den roten Dächern, hohen Fenstern und vielen Balkonen zuzusteuern, breitet sich eine gewisse Ruhe in mir aus. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr so weit weg von der Stadt. So weit weg von Millionen anderen Menschen. Nur ich und dieser seltsame Auftrag. Die Vorstellung ist eigentlich ganz in Ordnung.
Zweiundzwanzig Stunden Flug um die ganze Welt. Direkt danach zehn Stunden Autofahrt. Heute Nacht werde ich vielleicht sogar schlafen können.
Der Wagen ist schon zwischen den Bäumen verschwunden, während ich mich durch das Gestrüpp am Berghang kämpfe. Trotz der Sonne am wolkenlosen Himmel ist die Temperatur angenehm. Der Geruch von Erde und Moos überdeckt langsam den des Apfel-Lufterfrischers, der in meine Kleidung eingedrungen ist. Das Knirschen von trockenem Laub unter meinen Schuhen fühlt sich unnatürlich laut in der Umgebung an, in der sonst nur das Zwitschern der Vögel und das Surren einiger Insekten zu hören ist.
Vielleicht gelingt es mir, mir einzureden, dass das hier ein kleiner Urlaub ist. Aber dieser Auftrag … Wie lange ich auch darüber nachdenke, was es mit diesen Kräutern auf sich haben könnte, ich komme zu keiner Lösung. Vielleicht sind es ganz gewöhnliche Kräuter, die nur zu bestimmten Zeiten blühen, und Anderson hat sich wirr ausgedrückt. Oder es ist wirklich irgendetwas Übernatürliches. Vielleicht führen sie auch eine Art Studie durch, wer weiß.
Weitere Erklärungen sind nicht relevant für meine Arbeit. Es würde mir nicht helfen, mehr zu den Hintergründen zu wissen. Aber es würde die Neugier befriedigen, die tief in meinem Inneren brennt. Sobald ich die Pflanze sehe, bekomme ich vielleicht mehr Klarheit.
Das Haus sieht modern, aber gleichzeitig außergewöhnlich aus. Vor der dunklen Eingangstür angekommen, bediene ich das elektronische Sicherheitsschloss und gebe den Code ein, den Anderson mir geschickt hat. Die Tür klappt ein Stück auf, und vorsichtig trete ich hinein.
Diese Art von Technologie hatte ich in so einer abgelegenen Gegend gar nicht erwartet. Ob die Immobilie Jones, Magical Fries oder IRON Security gehört? Vielleicht schickt der Boss seine Kochchefs hierher in die Ferien. Das würde zumindest zu dem alten Herrn passen.
Das Innere des großen Hauses ist lichtdurchflutet. Die Fensterwand, die zur gegenüberliegenden Veranda führt, eröffnet den Ausblick auf die Berge und Wälder, die das Sichtfeld wie ein Gemälde einnehmen. Die Einrichtung ist modern und unaufdringlich. Kein Staubkorn ist zu sehen, als ich eintrete.
Alles sieht unangerührt aus.
Der Fliesenboden, die dunklen Möbel und die Sitzgarnituren im offenen Wohnzimmer sind so sauber, dass meine bloße Anwesenheit sich wie eine Störung des Friedens anfühlt. Als könnte jede Regung ein Anzeichen meiner Anwesenheit hinterlassen.
Die Tür fällt laut hinter mir ins Schloss, und auf einen Schlag ist es so still, dass ich das Surren des Kühlschranks in der offenen Küche höre.
Es beunruhigt mich, wenn ein Ort zu sauber ist. Es fühlt sich an, als würde ich nicht hierhergehören. Als könnte jede meiner Bewegungen zu viel Aufmerksamkeit darauf lenken, dass ich mich hier befunden habe. Aber darüber habe ich in der Therapie schon lange genug gesprochen, also überwinde ich mich, streife umsichtig meine Schuhe ab und trete durch den kleinen Eingangsbereich direkt ins Wohnzimmer.
Behutsam lege ich meine Tasche neben der Couch ab, hänge meinen Blazer an einen Haken und trete durch die Wohnung. Meine Schritte kommen mir übermäßig laut vor.
Allein zu sein, ist vielleicht gut. Es ist nichts, was ich sonderlich gut kann, aber das Gefühl von Geschäftigkeit an fremden Orten bringt mich oft aus der Ruhe. Andererseits wird es so schwerer werden, der zehrenden Müdigkeit zu widerstehen, bis es Abend ist.
Gibt es hier Kaffee?
Ich werfe einen Blick in die helle Küche, die, nur getrennt von einer Arbeitsplatte, an das Wohnzimmer angrenzt. Es gibt sogar einen Vollautomaten. Vielleicht kann ich mich mit einem Buch in die Sonne setzen und ein wenig dösen. Die Sonne, den blauen Himmel und die grünen Wälder den Herbst von mir abwaschen lassen, der schon ein wenig zu tief in mich eingedrungen ist.
Doch noch bevor ich meine Hände nach der Kaffeemaschine ausstrecken kann, fällt mir eine benutzte Tasse auf, die daneben steht.
Der Schaum am Rand scheint frisch zu sein. Sie verströmt noch den warmen Geruch nach gerösteten Bohnen.
Ich erstarre in meiner Bewegung. Ist hier noch jemand? Es war kein Anzeichen davon zu sehen, dass sich jemand Weiteres im Haus befindet.
Doch sobald mir dieser Gedanke kommt, vernehme ich Schritte hinter mir.
»Scheiße, was machst du hier?«
Ich habe Fotos von ihm gesehen.
Aber ich bin noch zu sehr durch den Wind. Mein Herz rast.
Seine bernsteinfarbenen Augen fesseln meinen Blick, als er langsam um die helle Arbeitsplatte herumtritt, um mich von oben bis unten anzuschauen. Obwohl er ein Stück kleiner ist als ich, scheint er bereit zu sein, mich jeden Moment anzugreifen. »Wer bist du?«, faucht er.
Ich nehme eine entspanntere Haltung ein, um die Situation zu entschärfen, während ich noch immer darum ringe, mich zu beruhigen. »Ich bin Crew. Und du?«
Seine blonden Haare fallen ihm in die Stirn und schillern in der Sonne. Die schwarzen Ohrringe und das schwarze Augenbrauenpiercing geben seinen weichen Gesichtszügen etwas Rebellisches. Der Sidecut ist sauber ausrasiert und die Frisur so frisch gestylt, als sei er direkt aus einem Modekatalog gestiegen. Der dunkle Pullover mit hohem Kragen, der ihm locker über die Schultern fällt, betont seine schmale Figur. Er riecht nach teurem Parfum.
»Ist das dein Vor- oder Nachname?«, spuckt er aus. Die Frage bekomme ich nicht zum ersten Mal gestellt. Normalerweise mache ich Witze darüber, aber dafür ist er mir mit seinen geballten Fäusten noch zu angespannt.
Er muss der Sohn von Mr Jones sein. Der herausfordernde Ausdruck auf seinem Gesicht ist mir zwar neu, aber ich habe einige Fotos von ihm in Jones’ Büro gesehen. Einige meiner Kollegen haben schon Bekanntschaft mit ihm gemacht.
»Vorname.« Ich setze ein entschuldigendes Lächeln auf, während meine angespannten Muskeln sich nach und nach wieder lockern. »Tut mir leid. Ich dachte, ich wäre hier allein.«
»Bist du von IRON Security?« Er entspannt sich kein bisschen. Vielleicht verständlich, hier irgendwo mitten im Nichts.
Eventuell ist es das Beste, wenn ich seine Fragen einfach beantworte. »Ja. Ich bin meist für den Personenschutz von Mr Jones eingeteilt.«
Sein Name ist Lennon, oder? Jones spricht auf den Meetings, zu denen ich ihn begleite, nie über Privates, also bin ich mir nicht ganz sicher.
»Wann bist du auf diesen Einsatz geschickt worden?«
Ich muss kurz nachdenken, weil ich dermaßen lange unterwegs war und auch die Zeitverschiebung dazwischenlag. »Ich bin vorgestern Nachmittag in New York abgereist«, schlussfolgere ich schließlich. »Glaube ich.«
»Ich vorgestern Vormittag.«
Ich lege meine Hand auf den Tresen neben mir. »Dann haben wir uns wohl knapp verpasst.« Gab es ein Problem bei den internen Absprachen, weil die Sache so dringend war?
»Was ist dein Background?«
Es wäre sicher angenehmer, wenn wir uns auf den Balkon setzen und bei einem Kaffee über alles reden würden. Aber so, wie er mich fixiert, würde so ein Vorschlag wohl nichts bringen. »Ich arbeite seit knapp zwei Jahren bei IRON Security. Unter Anderson. Du kannst ihn anrufen, wenn du …«
»Und vorher?«
Was? Warum will er das wissen? Denkt er, er könne mich herumkommandieren, weil er der Sohn vom Boss ist? Oder traut er mir einfach noch nicht? »Ähm …« Ich schlucke. Das ist eigentlich nicht von Relevanz, und ich rede nicht gern darüber, aber ich muss wohl, wenn ich sein Vertrauen gewinnen will. »Ich war von 2017 bis 2023 bei der Navy.« Sobald ich den Satz ausgesprochen habe, zuckt ein Teil seiner Oberlippe angewidert hoch. Na toll. »Im letzten Jahr meiner Laufbahn war ich Führungsoffizier bei den Special Forces und unter anderem auf Einsätzen im Irak und in Syrien. Deswegen wurde ich von IRON diesem Sondereinsatz zugewiesen.«
»Militär«, grollt er und verzieht den Mund, als hätte er dazu viel zu sagen. Er verkneift es sich allerdings.
»Ich bin da ja nicht mehr.« Und ich will auch gar nicht darüber sprechen, also schalte ich den Kaffeeautomaten an.
Lennon regt sich, legt den Kopf ein Stück zur Seite. »Und wie ist hier die Hierarchie? Bist du ein braver Kriegshund und wirst auf mich hören?«
Ein unangenehmer Schauer überfährt mich. Einige meiner Kollegen haben mir gesagt, der Kerl sei ein arroganter Arsch, aber das ist krasser, als ich dachte.
Ich stelle mich wieder aufrechter hin und hebe mein Kinn, um ihm zu bedeuten, dass er eine Grenze überschritten hat. »Ich gehe davon aus, dass wir gleichberechtigt sind, wenn wir zusammenarbeiten sollen«, bringe ich etwas härter hervor. »Was befähigt dich denn, an dieser Mission teilzunehmen?« Er hat Sozialwissenschaften und Menschenrechte studiert, soweit ich weiß. Nicht gerade eine Qualifikation. Ich will nicht auf ihn aufpassen müssen.
Lennon verengt die hellen Augen ein wenig. »Das geht dich ’nen Scheißdreck an.«
Was ist mit ihm los? Ist das echt nur, weil er erschrocken ist, oder hat er ein Problem mit IRON?
»Schon okay.« Ich hebe die Hände und ziehe die Augenbrauen in die Höhe. Dann wende ich mich gänzlich der Kaffeemaschine zu. »Ich will nur meinen Job machen.« Während ich mir eine Tasse aus dem Schrank über mir suche, bewegt er sich allerdings nicht einen Millimeter.
»Du kannst gehen«, sagt er. »Ich komme hier allein klar.«
Himmel. Ich wende mich ihm wieder zu. Er ist wirklich außergewöhnlich gut aussehend. Etwa so alt wie ich, aber er hat diesen arroganten Zug um den Mund.
Doch obwohl er der Sohn vom Boss ist, bin ich ihm nicht unterstellt. Soweit ich weiß, ist er weder ein Mitarbeiter von Magical Fries noch von IRON, also hat er mir nichts zu sagen. »Wenn du deinen Vater anrufen willst, um das zu klären, halte ich dich nicht auf.« Andernfalls rufe ich Anderson an, damit der sich mit ihm herumschlägt, sollte er mich nicht in Ruhe lassen. Ich reise doch nicht dreißig Stunden nach New York zurück, nur weil das irgendeinem verzogenen Arsch lieber wäre.
Er zieht die Stirn kraus. Ist er überrascht, dass ich weiß, wer er ist? »Ihr Arschlöcher seid alle gleich«, murrt er. Dann wendet er sich endlich ab, um vermutlich ins obere Stockwerk zu gehen.
Ich warte, bis seine Schritte nicht mehr zu hören sind, ehe ich ausatme und mich aus meiner angespannten Haltung löse.
Ich schiebe die Glastür zur Veranda auf, noch bevor die Sonne über die Berge geklettert ist. Die kühle Luft umfängt mich. Die leichte Brise trägt den Geruch von Erde und Nadelbäumen heran. Der Himmel ist noch dunkel, aber knapp über den Gipfeln und Wäldern zeichnet sich ein erster heller Schimmer ab.
Ich lasse mich in einen der dick gepolsterten Sitze fallen und lehne mich zurück. Meine Augen sind müde. Aber ich habe deutlich mehr geschlafen als üblich. Und hier vor allen anderen wach zu sein ist zugegebenermaßen besser als irgendwo anders.
Mein Smartphone zeigt an, dass es in New York gerade halb sechs am Abend ist. Der Jetlag wird mir wohl den ganzen Tag in den Knochen sitzen. Aber das wäre ja nichts Neues.
Ich lege mein Handy auf den kleinen Tisch neben mir, zünde eine Zigarette an und lasse den Blick schweifen. Die Vögel zwitschern bereits. Die umliegenden Berge sehen in der Dunkelheit gleichzeitig beeindruckender und bedrohlicher aus als im Sonnenschein. Der Anblick des Horizonts könnte sich nicht mehr von dem unterscheiden, was ich täglich aus dem Fenster meines Apartments sehe. Und doch bleibt das Gefühl, in einem Tal gefangen zu sein. Es ist nur ein etwas schöneres.
Was mache ich hier eigentlich? Es ist surreal, dass ich mich darauf eingelassen habe. Ich wollte doch ein ruhiges Leben führen. Keine Aufregung mehr. Kein Stress. Und eigentlich ist mir das hier schon zu viel. Aber etwas daran fühlt sich richtig an. Vertraut, zumindest.
Wie machen das andere Menschen? Ich wusste schon vor meiner Zeit bei der Navy nicht, wie ich ein zufriedenes Leben führen soll. Jetzt ist es mir noch schleierhafter als zuvor. Es ist nicht so, als wäre ich unfähig, etwas zu tun. Ich kann hinausgehen, meinen Job erledigen, mit Menschen sprechen. Ich habe genügend Geld, um zu essen und gemütlich zu wohnen, aber … etwas fehlt.
Ich lasse den Rauch in meiner Lunge kribbeln und atme die kleine Wolke aus. Sie verpufft vor dem Panorama.
Vielleicht ist das einfach der Kreislauf, in dem ich gefangen bin. Vielleicht gehöre ich genau hierher, auch wenn es nicht das ist, was ich mir wünsche.
Vielleicht ist es meine Bestrafung.
Obwohl … Nein. Das wäre nicht mal halbwegs angemessen.
Überprüfend werfe ich einen Blick hinter mich in das stille Haus. Kein Licht brennt auf einem der beiden Stockwerke. Lennon scheint noch nicht wach zu sein.
Wir waren gestern nur noch eine Handvoll Mal im selben Raum, nachdem er mich in der Küche überrascht hat. Oder ich ihn, je nachdem. Wir haben keinen Satz miteinander gewechselt. Sicherlich hat er seinen Vater angerufen und sich bestätigen lassen, dass ich zurecht auch an diesem Einsatz teilnehme, denn zumindest hat er aufgehört, mich zu beschimpfen. Es hat ihn allerdings nicht davon abgehalten, mir böse Blicke zuzuwerfen.
Klang so, als hätte er ein Problem damit, dass ich beim Militär war. Da wäre er zumindest nicht der Einzige. Aber … irgendwie wirkte es, als hätte er sich auch nicht viel freundlicher verhalten, wenn ich meine Karriere in einem Heim für Hundewelpen verbracht hätte.
Wie kann jemand, der so gut aussieht, so scheiße sein? Oder ist er eigentlich nett und ich hab ihn nur auf dem falschen Fuß erwischt? Und warum interessiert mich das überhaupt? Nach diesem kleinen Ausflug hier werde ich ihn sicherlich eh nie wiedersehen.
Das Vibrieren meines Handys reißt mich aus den Gedanken. Eine Nachricht von Anderson leuchtet auf dem Sperr-Screen. Die kurze Angst, dass es meine Mom ist, verschwindet, und ich klicke in den Chat.
Anderson: Hey!
Ich warte einige Momente, weil der Kerl nie nur eine Nachricht schickt.
Anderson: Ich hab gerade erfahren, dass der Sohn vom Boss auch nach Bhutan geschickt wurde. Da gab es wohl ein Missverständnis, sorry!
Das fällt ihm ja früh auf.
Anderson: Aber Teams sind uns eh lieber. Ich hoffe, ihr vertragt euch gut ;)
Anderson: Lief bisher alles glatt?
Mein Blick hängt einige Sekunden an den Nachrichten. Was soll ich antworten? Ich will nicht kleinlich rüberkommen. Vor allem, wenn es um den Sohn vom Boss geht. Ich hab zwar keine Ahnung von der persönlichen Beziehung zwischen den beiden, aber wenn ich mich negativ über Lennon äußere, fällt das sicher auf mich zurück.
Ich tippe also: Ja, schon bemerkt. Alles gut hier, wir kommen klar!, und sende die Nachricht ab, bevor ich es mir anders überlegen kann.
Anderson beginnt sofort wieder zu schreiben, während ich erneut an meiner Zigarette ziehe.
Anderson: Echt? Mit dem versteht sich sonst niemand!
Also liegt es wirklich nicht an mir. Sollte mich das beruhigen?
Anderson: Aber du hast ja auch die Geduld eines Engels ;)
Ich habe nur keine große Lust zu streiten. Ich will einfach meine Arbeit machen.
Anderson: Hey, wenn du dich so gut mit ihm verstehst, kannst du bitte mal herausfinden, wie es ihm geht?
Was? Shit.
Anderson: Jones macht sich ziemliche Sorgen um ihn und Lennon spricht wohl nicht so viel mit ihm. Würde dem alten Herrn sicher helfen, wenn du ein bisschen mehr über seinen Sohn herausfindest.
Na toll. Das habe ich mir selbst eingebrockt. Wie soll ich denn herausfinden, wie es ihm geht, wenn er mir nicht mal seinen Namen sagen will?
Zumindest weiß ich jetzt, dass er wirklich Lennon heißt. Aber weiter bringt mich das nicht. Meine Finger schweben unsicher über den Buchstaben, doch ich kann mich nicht dazu bringen, eine Zusage zu formulieren.
Anderson: Viel Erfolg euch beiden, auf jeden Fall. Heute oder morgen könnte es losgehen, also haltet euch bereit, Dreamteam.
Ich starre das letzte Wort an und ziehe an der kleiner werdenden Zigarette. Super. Jetzt muss ich entweder versuchen, mit dem Kerl zu reden, oder Jones enttäuschen.
Danke, tippe ich unschlüssig. Ich halte mich bereit.
Ich sitze auf der hellen Couch im Wohnzimmer und gebe vor, in meinem Buch zu lesen, während ich hin und wieder an meinem Kaffee nippe. Die Wanduhr zeigt dreizehn Uhr. Der blaue Himmel wird von keiner Wolke getrübt. Klares Sonnenlicht fällt durch die Fenster und die offenen Türen zur Veranda auf die Möbel.
Mir ist nicht nach Lesen zumute, obwohl mein Blick hin und wieder über die Buchstaben vor mir gleitet. Jede Sekunde könnte es losgehen, also habe ich nicht wirklich die Ruhe, mich auf den Text zu konzentrieren, geschweige denn Podcasts oder dergleichen zu hören.
Meine Einsatzuniform trage ich bereits. Der Motorradhelm, die fingerlosen Handschuhe und die lockere Jacke, die ich über das schwarze Shirt ziehen werde, liegen neben mir bereit. Anderson hat mir eine voll eingerichtete Smartwatch mitgegeben, die Informationen anzeigen soll, sobald es losgeht. Meine schweren Stiefel habe ich auf den niedrigen Tisch gegenüber der Couch gelegt. Ein kleines Handtuch darunter, um nichts schmutzig zu machen, obwohl die Schuhe glänzend sauber sind.
Als mein Handy vibriert, ziehe ich es rasch aus der Tasche meiner taktischen Hose. Vielleicht Anderson, mit weiteren Anweisungen. Doch noch bevor ich mich innerlich für diese Möglichkeit wappnen konnte, leuchtet mir eine Nachricht von Mom entgegen. Das Herz, mit dem sie jede ihrer Messages einleitet, sendet einen unangenehmen Schauer meinen Rücken hinunter. Trotzdem klicke ich angespannt darauf.
Hallo, mein Liebling, schreibt sie. Ich wollte dir nur einen schönen Tag wünschen und hoffe, wir können bald mal wieder telefonieren. Dad und ich vermissen dich. Mom.
Sie lässt wirklich nicht locker. Irgendwann werde ich ihr antworten müssen. Aber … Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich mir ausmale, wie liebevoll sie sein wird. Wie verständnisvoll. Allein die Vorstellung ist unerträglich, also schiebe ich das Handy rasch wieder weg.
Lennon tritt von der anderen Seite in die Küche und steuert direkt auf die Kaffeemaschine zu. Wir sind einander heute schon einige Male über den Weg gelaufen, stets schweigend. Ich weiß noch immer nicht, ob und wie ich für Jones herausfinden soll, wie es ihm geht. Aber bösartig von ihm angesehen zu werden fühlt sich zumindest angenehmer an, als mich jetzt mit dem Gedanken an meine Eltern auseinanderzusetzen.
Lennon trägt die gleiche Uniform wie ich; ein schwarzes, eng anliegendes Shirt mit hohem Kragen, eine lockere taktische Hose mit mehreren Taschen und Stiefel. Die dazugehörige Bikerjacke hat er bereits an. Auch in diesen Klamotten sieht er gut aus.
Warum müssen die gut aussehenden Typen immer solche Arschlöcher sein?
Mitten in meinen Überlegungen ruckt Lennons Kopf herum. »Warum starrst du mich so an? Bist du scharf auf mich oder so?«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und bemühe mich, seinem Blick nicht auszuweichen, um nicht ertappt zu wirken. Woher kommt das denn? »Weiß man schon genauer, wann es losgehen soll?«, frage ich rasch, um davon abzulenken, dass ich ihn wirklich angestarrt habe.
»Nein«, grummelt er über das Geräusch des brodelnden Kaffeevollautomaten hinweg und wendet den Blick ab. »Wenn man das wüsste, würden wir hier nicht voll ausgerüstet sitzen.«
Ein Wunder, dass er überhaupt antwortet und mir nicht wieder sagt, es ginge mich nichts an. Das spornt mich ein wenig an. Ich lehne mich nach vorn und frage: »Weißt du, was genau es mit diesen Gewürzzutaten auf sich hat?« Anderson wollte ja nichts rausrücken, und ihm mehr Fragen zu stellen, wäre unangemessen gewesen. Aber was Lennon von mir hält, kann mir wohl egal sein. Entweder er sagt es mir oder nicht.
»Hat man dir das nicht im Briefing erzählt?«
Ich schüttle den Kopf. »Nur, dass ich es holen soll und dass es seltsame Regeln gibt.«
Er zuckt genervt mit den Schultern. »Eigentlich ist das auch voll egal.«
»Na ja.« Ich schaue zu, wie er sich mir zugewandt auf die Arbeitsplatte setzt, die die Küche vom Wohnzimmer abgrenzt. Wenn er nicht mit mir sprechen wollen würde, könnte er ins obere Stockwerk oder auf die Veranda verschwinden, also habe ich noch eine Chance. »Das klingt alles sehr seltsam«, entscheide ich mich für die Wahrheit. Zu behaupten, dass ich meinen Job besser erledigen könnte, wenn ich mehr über die Hintergründe wüsste, wäre gelogen. Das würde er sofort durchschauen. »Und ich bin neugierig.«
Lennons blonde Haare fallen ihm ins Gesicht, während er mehrere Teelöffel Zucker in seinen Kaffee gibt. »Anderson hat also mal seine Fresse gehalten«, sagt er. »Ein Wunder, das gelingt ihm nicht oft.«
Da hat er sogar recht.
Er nimmt die Tasse zwischen seine Hände und wendet sich wieder mir zu. »Bist du denn generell mit Magical Fries vertraut?«
Ich hebe die Augenbrauen, vor allem aus Überraschung, dass er wirklich bereit scheint, mir ein wenig mehr zu verraten. Hat er sich seit gestern vielleicht doch etwas gefangen? »Ja«, sage ich rasch, bevor er es sich anders überlegen kann. »Ich arbeite für IRON, aber ich war bisher ausschließlich für Jones’ persönliche Security und die Standorte in New York zuständig. Also hab ich ein ziemlich genaues Bild.«
Lennon nippt an seinem Kaffee. Er wirkt noch angespannt, aber deutlich weniger aggressiv als gestern. »Dad lässt nicht nur im Labor nach der perfekten Gewürzkombination für die Pommes suchen. Er lässt auch auf der ganzen Welt Expeditionen durchführen, um Forschungen an seltenen Pflanzen anstellen zu können.«
Das weiß ich. »Aber diese Expeditionen sind ja etwas anderes als das hier, oder?« Obwohl sein Gesicht sich kaum verändert, sieht er ein wenig ertappt aus. Dachte er, das würde mir nicht auffallen? »Ich meine, was hat es mit diesem Zeitlimit auf sich? Mit diesen Suchen, gleichzeitig auf der ganzen Welt, und den Koordinaten und allem?«
Überlegend verzieht Lennon den Mund. Innerlich spanne ich mich an. Unter dem Blick seiner hellen Augen fühle ich mich seltsam bloßgestellt. »Bist du eingeweiht?«, will er wissen.
Ich lasse mein Buch sinken, weil sein ernster Tonfall und der intensive Blick auf etwas Größeres hindeuten. »In was?«
Er zögert einen Moment, als wäge er seine Worte genau ab. Was kommt jetzt? »In die Göttersache.«
Meine Augen weiten sich. Es hat wirklich etwas damit zu tun?
Meine Stimme wird etwas leiser. Ich darf ihn jetzt nicht verärgern, wenn ich mehr darüber herausfinden will. »Ja.«
»Woher?«
Shit. Das wird ihm nicht gefallen. »Das wurde mir mitgeteilt, als ich eine höhere Sicherheitsfreigabe erreicht habe.« Ich habe vor etwa drei Jahren eine Mission geleitet, bei der wir eine Zielperson mit übernatürlichen Kräften sichern und an eine Behörde mit bescheuertem Namen übergeben mussten. Eigentlich darf ich gar nicht darüber sprechen. Aber da er sowieso davon zu wissen scheint …
»Ach, klar.« Lennon nippt an seinem Kaffee und verdreht die Augen. »Hab kurz vergessen, wie wichtig du bist.«
Ich würde vielleicht genervt reagieren, wenn ich nicht so damit beschäftigt wäre, das in meinem Kopf zusammenzubekommen. Ich habe damals erfahren, dass es Menschen mit besonderen Fähigkeiten gibt. Diese Kräfte werden von Generation zu Generation an die Erstgeborenen vererbt. Woher genau sie stammen, weiß angeblich niemand. Man schreibt es den Göttern zu. Aber … »Wie hängt das mit den Kräutern zusammen?« Ich weiß so gut wie nichts über diese übernatürlichen Sachen. Die Geheimhaltung diesbezüglich ist zu hoch. Man hat mir nie mehr gesagt als nötig.
Ich bleibe so regungslos wie möglich sitzen, um ihm keinen Anlass zu bieten, meine Frage nicht zu beantworten.
Lennon zieht seine Beine in einen Schneidersitz und schaut aus dem Fenster, zu den bewaldeten Bergen hinaus. »Ich sage dir das nur, damit es nicht irgendjemand von IRON tut und irgendein Scheiß hinter unserem Rücken erzählt wird.«
Die Chance dafür ist eher gering. Anderson redet zu viel, aber er weiß auch, wann er die Klappe halten muss. Alle anderen, mit denen ich bisher zusammengearbeitet habe, waren überaus professionell. Trotzdem sage ich: »Okay.«
Lennon seufzt so leise, als wolle er es nicht zeigen. »Dad glaubt fest daran, dass er vom hinduistischen Gott Dhanvantari abstammt. Dem Gott der Heilkunst und der Ayurveda.« Sein Blick huscht zu mir zurück, als wolle er meine Reaktion überprüfen. Ich kann meinen skeptischen Ausdruck nicht mehr rechtzeitig verbergen.
Der Gott der Heilkunst? Obwohl Ayurveda schon irgendwie zu dem alten Mann passt, mit den Kräutern und Gewürzen. Aber wie um alles in die Welt kommt er denn auf so eine Idee?
»Er ist fest davon überzeugt, dass er hundert außergewöhnliche Kräuter finden und aus ihnen ein Gewürz herstellen muss. Dann würde er die Fähigkeit erlangen, jemanden von den Toten wiederzuholen.« Noch immer mustert er mich, als wäre er brennend an meiner Reaktion interessiert. »Er wird natürlich ein Pommesgewürz daraus machen.«
Ich blinzle nur irritiert. »W-was?« Etwas anderes bringe ich nicht über die Lippen, weil ich es noch nicht richtig verarbeiten kann.
Etwas Nachdenkliches hat sich in Lennons Blick geschlichen. Er muss es ernst meinen, obwohl zumindest ein Teil von mir befürchtet, dass er mich nur testen will. Ein Test, den ich wohl verloren habe, sollte es einer sein. Aber selbst ich kann nicht mit einem professionellen ›Ach so, verstehe‹ auf solche Offenbarungen reagieren.
Ich schlucke schwer. Das klingt abgefahrener als alles, was ich erwartet habe. Vielleicht wollte mir Anderson deswegen nicht erzählen, worum es hier geht.
Ein Pommesgewürz mischen, um jemanden von den Toten wiederzuholen …
Wie von allein bewegt sich meine Hand zu der Erkennungsmarke, die unter meinem Shirt hängt, als ich einen winzigen Gedanken daran verschwende, wen ich wiederholen würde, wenn ich könnte. Aber davon darf ich mich jetzt nicht ablenken lassen.
Ich setze mich etwas aufrechter hin. »Hältst du das für möglich?«
Lennon hat sich wieder dem Fenster zugewandt, sieht mich aus dem Augenwinkel noch immer überlegend an. Dann hebt er die Schultern. »Die meisten Göttererben bekommen ihre Fähigkeiten durch Essen. Einige auch durch was anderes, aber … die Bedingungen sind für gewöhnlich nicht so kompliziert wie hier.«
Das mit der Auslösung der Kräfte durch Essen hat mir mein Vorgesetzter bei der Navy auch erklärt. Damals ist es mir schwergefallen, ein Lachen zu unterdrücken. Die Ernsthaftigkeit, mit der alle darüber sprechen, die davon wissen, irritiert mich nach wie vor. »Du glaubst ihm nicht?«, frage ich schließlich. Das geht vielleicht zu weit, aber ich kann auch nicht nichts sagen.
»Weiß nicht.« Lennon zieht die Stirn kraus. »Irgendwas muss dahinterstecken, mit dem Auftauchen und Verschwinden der Kräuter.« Er legt den Kopf zur Seite und sieht in seine Kaffeetasse hinab. »Seine Vorfahren haben wohl auch hin und wieder danach gesucht, aber … es hat wohl seit vierhundert Jahren niemand mehr geschafft, alle Kräuter zu bekommen und diese Fähigkeit einzusetzen. Dass sie existiert, ist eigentlich nur so was wie eine Legende.«
Das Ernste, Gedankenverlorene an seinem Ausdruck bilde ich mir nicht ein, oder? Seine ganze Haltung ist entspannter geworden. »Und … trotzdem hilfst du ihm?«
»Geht dich ’nen Scheißdreck an, was ich mache.«
Okay, das war wohl die Grenze. Aber immerhin: Das war fast ein normales Gespräch. Zumindest, was den Tonfall anging, nicht den Inhalt. »Wie genau …«
Ein schrilles Warnsignal, das aus unseren Uhren dringt, lässt uns zusammenfahren. Ohne darüber nachzudenken, nehme ich meine Füße vom Tisch, springe auf und ziehe meine Jacke über. Lennon schiebt sich von der Kücheninsel und stößt dabei die Kaffeetasse um. Er ignoriert es, als er nach seinem Zeug greift und wir zur Tür rennen.
Berge, Täler, Flüsse und Dörfer verschwimmen seit dreieinhalb Stunden am Rande meines Blickfeldes, während ich hinter Lennon auf dem Motorrad durch den Himalaya jage. Die schmalen Wege, die wir hinauffahren, sind so eng und uneben, dass es meine gesamte Konzentration erfordert, bei diesem Tempo auf dem Bike zu bleiben.
Nach über drei Stunden in dieser Umgebung kribbeln meine Hände unangenehm, und meine Füße fühlen sich taub an. Meine Muskeln sind schwer und erschöpft, besonders in Armen, Schultern und Beinen. Jede Bewegung erfordert zusätzliche Anstrengung, nachdem ich so oft den Lenker herumreißen, Hindernissen ausweichen und über unebene Wege steuern musste. Mein Atem sammelt sich heiß hinter meinem Helm auf meinem Gesicht. Der Gegenwind reißt an meiner Jacke.
Wir haben Berggipfel in der Nachmittagssonne leuchten sehen und die tiefen Abhänge gemieden, die zu grünen Tälern hinabführen. Wir haben Flüsse und Bäche überquert, sind durch kahle Landschaften und durch Wälder gefahren, die in allen Farben schimmern. Doch so groß der Wunsch auch ist, innezuhalten und die Ruhe dieser abgelegenen Umgebung in mich aufzunehmen, muss ich den Blick den Großteil der Zeit direkt auf den Pfad vor mir richten. Und weiterfahren. So schnell wie möglich.
Sofern ich es mir erlauben kann, schaue ich auf die Smartwatch, auf der unsere Koordinate inzwischen klar zu sehen ist. Sie liegt noch ein ganzes Stück über uns, und bei den verdammt verwinkelten Wegen weiß ich nicht, ob wir es schaffen. Wir müssen vorsichtig sein, aber Shit. Ich kann nicht den ersten Sonderauftrag, der mir zugeteilt wurde, direkt in den Sand setzen.
Vor etwa dreißig Minuten hat sich das Wetter auf einen Schlag geändert. Der Wind ist nicht stark, aber einige Böen erreichen uns sogar durch die bewaldeten Gebiete. Aus den dunklen Wolken, die sie über den Himmel jagen, fallen hin und wieder Regentropfen. Wenn sich das Wetter weiter verschlechtert, wird das in diesem abgelegenen Terrain ein echtes Problem.
»Werd nicht übereifrig!«, weise ich Lennon über das Headset in meinem Helm an. So abgedreht es auch ist, dass Jones denkt, von einem Gott abzustammen: Bei der Ausrüstung, die er IRON zur Verfügung stellt, scheut er wirklich keine Kosten. »Da vorn kommt unebenes Gelände.«
Er fährt gut, aber zu schnell. Ihm ist genauso klar, dass die Sache verdammt knapp wird, aber wir dürfen nicht unvorsichtig werden. Ich spüre die vom Untergrund verursachten Vibrationen in meinen Händen und Armen. Das Lenken wird jetzt schon schwerer.
»Siehst du nicht, dass wir kaum mehr Zeit haben, Mann?« Er beschleunigt sogar noch ein wenig.
Dieser verdammte Arsch. »Es bringt dir auch nichts, wenn du dir auf dem Weg das Genick brichst.«
»Du verstehst das nicht.«
Nein, vielleicht nicht. Weil sich niemand die Mühe gemacht hat, es mir zu erklären. Ich weiß, dass Jones’ Frau gestorben ist, und vermutlich will er sie mit dieser Fähigkeit zurückholen. Aber ein bisschen mehr Kontext würde sicherlich nicht schaden, wenn er erwartet, dass ich mein Leben für diese Sache riskiere.
Lennon reißt sein Bike herum, um auf einen Trampelpfad in einem Fichtenwald einzubiegen. Ich tue es ihm gleich, obwohl ich mich bei jeder Kurve für eine Notbremsung bereithalte. Seine Fahrweise macht mich nervös.
»Woran erkennen wir das Kraut?«, will ich wissen. Ich muss mich darauf vorbereiten, dass wir es tatsächlich schaffen könnten, rechtzeitig an der Koordinate anzukommen. »Werden wir es suchen müssen?« Das müssen wir auch einberechnen.
»Nein. Ist ziemlich offensichtlich.«
»Okay.« Das meinte Anderson auch. Vielleicht hat es eine besondere Farbe oder so.
Nach einigen Minuten verlassen wir den Wald über den Pfad und erreichen einen Weg, der weiter auf der zerklüfteten Landschaft hinaufführt. Das Dröhnen unserer Bikes hallt von den Hängen wider.
Erneut werfe ich einen Blick auf meinen Tracker. Noch vierundzwanzig Minuten, dann schließt sich unser Zeitfenster. Das ist viel zu knapp, verdammt. Aber das Gelände ist schwer. Unmöglich, schneller dort zu sein.
»Wie genau trianguliert ihr eigentlich die Kräuter?« Ich stelle die Frage vorrangig, um meine Gedanken zu klären. Wenn ich in Panik verfalle, mache ich Fehler.
»Solltest du so was nicht wissen? Ist eine Sondereinheit von IRON, die sich darum kümmert.«
»Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen.«
Obwohl seine Antwortrate seit gestern leicht gestiegen ist, kann ich wohl nicht erwarten, dass er auf alle meine Fragen eingeht.
Der Weg, über den wir rasen, schlängelt sich an einer steilen Klippe entlang, an der nur vereinzelt Bäume und Büsche wachsen. Er ist großteils von Felsen und Geröll bedeckt, denen wir ausweichen müssen.
Wir müssen das Tempo verlangsamen. Mit den Steinen und Abhängen um uns herum ist es einfach zu gefährlich. »Pass auf«, warne ich Lennon. »Da vorn gehts scharf in die Kurve.«
Ich sehe den Felsen auf seinem Weg, bevor er ihn entdeckt. Lennon bremst scharf ab, doch das Bike gerät durch das Geröll unter den Rädern ins Wanken. Er verliert das Gleichgewicht. Ich bremse, als Lennon das Motorrad zur Seite reißt, um dem Abhang nicht zu nahe zu kommen. Doch er stürzt über das Bike und schlittert weiter über die Klippe.
Fuck, nein! »Scheiße!« Meine Hände krampfen sich um den Lenker, als ich mein Bike in letzter Sekunde zum Stehen bekomme. Ich steige ab, lasse es mit einem Krachen zu Boden fallen und eile auf den Abhang zu, an dem sich Lennons behandschuhte Finger mit Müh und Not an einen Felsen klammern.
Ich höre meinen eigenen Atem laut in meinen Ohren, als ich mich über ihn beuge. Das Blut rauscht so schnell durch meine Adern, dass ich alles wie in Zeitlupe wahrnehme.
Unter ihm geht es mindestens fünfzig Meter in die Tiefe, zu einem Tal mit dichtem Gebüsch und Felsen. Eine falsche Bewegung, und er ist tot. Mit Sicherheit.
»Nein, nein, nein!«, keucht er, als ich mich weiter an den Abhang schiebe, um eine gute Position zu finden. »Ich komm schon klar, du musst weiterfahren. Wir haben keine Zeit!«
Was?
Für den Bruchteil einer Sekunde erinnere ich mich daran, was Anderson gesagt hat. Dass die Sicherung des Krauts über allem steht. Aber verdammt. Als ich der Klausel zugestimmt habe, dachte ich auch noch, dass ich mich nur um meine eigene Sicherheit sorgen müsste.
Ich ignoriere Lennons Bitten. Wenn unter ihm wenigstens ein Vorsprung wäre, könnte ich ihn mit einem Seil sichern, um zu verhindern, dass er fällt. Aber so lange kann er sich vielleicht nicht halten, also beuge ich mich hinab und packe seine Unterarme.
Das ist eine beschissene Idee. Das funktioniert eigentlich nur in Filmen. Wenn einer von uns einen Fehler macht, verliere ich selbst die Balance und wir fallen beide. Aber anders geht es nicht.
»Mann, ich brauch deine Hilfe nicht«, faucht Lennon. »Du musst weiter, wir schaffen es sonst nicht rechtzeitig!«
»Halt deine Fresse und hilf mit!«, fahre ich ihn an. Ich bin zu schwach für diesen Scheiß geworden. Während ich Lennon Stück für Stück hochziehe, zittern meine Knie. Und die Muskeln in meinen Armen. Nicht vor Anstrengung, sondern aus Angst. Das wäre mir vor zwei Jahren nicht passiert. Aber da wusste ich auch noch nicht, wie unerträglich es ist, jemanden nicht retten zu können.
Ein kühler Wind kommt auf und reißt an unserer Kleidung. Lennon packt meine Arme und stützt sich, sobald er kann, auf den Abhang, um mitzuhelfen.
Das ist meine Schuld. Wir sind zwar gleichberechtigt, aber ich habe viel mehr Erfahrung als er. Ich hätte schneller reagieren sollen. Wir hätten vorsichtiger fahren sollen.
Als ich ihn endlich ganz hinaufgezogen habe, falle ich ein Stück zurück und nehme den Helm ab, um tief einzuatmen. Der Wind kühlt meine schweißnasse Haut. Ich weiß nicht, ob es an der Panik oder an der Höhe liegt, aber ich bekomme so wenig Luft, dass mir schummrig vor Augen wird.
Verdammt. Das Blut rauscht so aufgebracht durch meinen Körper, dass ich es, neben einem leisen Pfeifen, in meinen Ohren pochen höre. Eine Mischung aus Erleichterung und Wut macht sich in mir breit, als Lennon keuchend neben mir kniet.
Es geht ihm gut. Aber scheiße, das war so verdammt unnötig. Er wäre gerade beinahe draufgegangen.
Lennon rappelt sich schneller auf, als ich vermutet habe. Ich erhebe mich schwerfällig und packe ihn. Meine Knie sind noch weich. Wir stehen einander schwer atmend gegenüber.
Seine schwarze Jacke ist zerrissen und sein Oberarm an der Stelle verletzt, an der er über den Felsen geschlittert ist. »Das muss gereinigt und versorgt werden.«
Grob schiebt Lennon mich von sich. Unter seinem Helm kann ich seinen abschätzigen Blick nur vermuten. »Keine Zeit, Mann!«, ruft er und eilt auf sein zerschrammtes Bike zu. »Verstehst du es nicht? Wir schaffen es nicht mehr!«