Inhaltsverzeichnis
ERSTER TEIL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
ZWEITER TEIL
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
DRITTER TEIL
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
VIERTER TEIL
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
FÜNFTER TEIL
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Danksagung
Copyright
Trudi Canavan wurde 1969 im australischen Melbourne geboren. Sie arbeitete als Grafikerin und Designerin für verschiedene Verlage und begann nebenbei zu schreiben. 1999 gewann sie den Aurealis Award für die beste Fantasy-Kurzgeschichte. Ihr Debütroman, der Auftakt zur Trilogie »Die Gilde der Schwarzen Magier«, erschien 2001 in Australien und wurde weltweit ein riesiger Bestsellererfolg. Nach Beendigung der ersten Trilogie um Sonea wollte Trudi Canavan ein wenig Abstand von den Magiergilden Imardins gewinnen und hat mit »Das Zeitalter der Fünf« eine völlig neue Welt geschaffen. Derzeit schreibt sie an einer neuen Trilogie, die die Geschichte Soneas fortsetzen wird.
Mehr Informationen über die Autorin: www.trudicanavan.com.
ERSTER TEIL
1
Es gab keine schnelle und schmerzlose Methode, eine Amputation durchzuführen, das wusste Tessia. Nicht, wenn man es richtig machte. Für eine saubere Amputation musste man einen Hautlappen schneiden, um damit den Stumpf zu bedecken, und das kostete Zeit.
Während ihr Vater mit geschickten Bewegungen begann, die Haut um den Finger des Jungen herum einzuritzen, beobachtete Tessia das Mienenspiel der Menschen im Raum. Der Vater des Jungen stand mit vor der Brust verkreuzten Armen und durchgedrücktem Rücken da. Sein Stirnrunzeln konnte die Spuren von Sorge nicht ganz verbergen, doch Tessia wusste nicht, ob es Mitgefühl mit seinem Sohn war oder die bange Frage, ob er rechtzeitig mit der Ernte fertig werden würde. Wahrscheinlich ein wenig von beidem.
Die Mutter hielt die andere Hand ihres Sohnes fest umklammert, während sie ihm ins Gesicht starrte. Seine Haut war gerötet, Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Wangen. Der Junge biss die Zähne zusammen, und trotz der Warnung des Heilers sah er aufmerksam zu, wie dieser arbeitete. Er hatte bisher vollkommen reglos dagesessen und weder seine verletzte Hand bewegt noch gezappelt. Kein Laut war über seine Lippen gekommen. Solche Selbstbeherrschung beeindruckte Tessia, vor allem bei einem so jungen Menschen. Landarbeiter galten als ein zähes Völkchen, aber ihrer Erfahrung nach traf das nicht immer zu. Sie fragte sich, ob das Kind in der Lage sein würde, auch weiterhin so tapfer zu sein. Schließlich würde noch Schlimmeres kommen.
Das Gesicht ihres Vaters war angespannt vor Konzentration. Er hatte die Haut des Fingers vorsichtig über das Gelenk des Knöchels zurückgezogen. Auf einen Blick von ihm nahm sie das kleine Gelenkmesser vom Brenner und reichte es ihm. Dann nahm sie ihm den Schäler Nr. 5 ab, wusch ihn und hielt die Klinge sorgfältig über den Brenner, um sie mit Hilfe des Feuers zu reinigen.
Als sie aufblickte, war das Gesicht des Jungen von Falten überzogen. Tessias Vater hatte begonnen, durch das Gelenk zu schneiden. Sie hob den Kopf und bemerkte, dass der Vater des Jungen jetzt eine teigig-graue Gesichtsfarbe angenommen hatte; die der Mutter war schneeweiß.
»Schaut nicht hin«, murmelte Tessia warnend. Die Frau wandte abrupt den Kopf ab.
Die Klinge traf mit einem Klacken auf das Operationsbrett. Nachdem sie ihrem Vater das kleine Gelenkmesser abgenommen hatte, reichte Tessia ihm eine gebogene Nadel, in der bereits ein feiner, aus einer Sehne gefertigter Faden steckte. Die Nadel glitt mühelos durch die Haut des Jungen, und ein Funke von Stolz glomm in Tessia auf; sie hatte sie zur Vorbereitung auf diese Operation sorgfältig geschärft, und der Sehnenzwirn war der feinste, den sie je hergestellt hatte.
Sie betrachtete den amputierten Finger, der am Ende des Operationsbrettes lag: auf der einen Seite eine geschwärzte, eiternde Masse, aber das abgeschnittene Ende zeigte beruhigend gesundes Fleisch. Vor einigen Tagen hatte der Junge sich den Finger bei einem Unfall während der Erntearbeiten böse gequetscht, aber wie die meisten Dorfbewohner und Landarbeiter, die ihr Vater versorgte, hatten weder der Junge noch der Vater Hilfe gesucht, bis die Wunde sich entzündet hatte. Erst bei extremen Schmerzen akzeptierte ein Mensch die Entfernung eines Körperteils.
Wenn man zu lange wartete, konnte eine solche Entzündung das Blut vergiften und zu Fieber und sogar zum Tod führen. Dass eine kleine Wunde sich als tödlich erweisen konnte, faszinierte sie. Und es machte ihr Angst. Sie kannte einen Mann, den ein bloßer verfaulter Zahn in den Wahnsinn und zur Selbstverstümmelung getrieben hatte; normalerweise robuste Frauen verbluteten, nachdem sie ein Kind geboren hatten. Sie wusste auch von gesunden Säuglingen, die ohne erkennbaren Grund zu atmen aufgehört hatten, und von Fieberkrankheiten, die sich im Dorf verbreitet und nur ein oder zwei Menschenleben gefordert hatten, während die übrigen nicht mehr als ein gewisses Unbehagen hatten erdulden müssen.
Bei der Arbeit für ihren Vater hatte sie in ihren sechzehn Jahren mehr Verletzungen, Krankheiten und Todesfälle erlebt als die meisten Frauen in ihrem ganzen Leben. Aber sie hatte auch gesehen, wie Gebrechen geheilt, chronische Krankheiten gelindert und Leben gerettet wurden. Sie kannte jeden Mann, jede Frau und jedes Kind im Dorf und im Lehen und etliche, die jenseits dieser Grenzen lebten. Sie hatte Kenntnis von Dingen, in die nur wenige eingeweiht waren. Im Gegensatz zu den meisten Einheimischen konnte sie lesen und schreiben, logische Schlüsse ziehen und …
Ihr Vater blickte auf und reichte ihr die Nadel und den verbliebenen Faden. Ordentliche Stiche hielten die Hautlasche über dem Fingerstumpf des Jungen zusammen. Da sie wusste, was als Nächstes kam, nahm Tessia ein wenig Watte und Verbandszeug aus der Heilertasche und reichte sie ihm.
»Nimm das hier«, sagte er zu der Mutter.
Die Frau ließ die andere Hand des Jungen los und nahm von Tessias Vater etwas Verbandmull und Watte entgegen. Dann legte der den Fingerstumpf mitten auf die Watte und griff nach der Aderpresse am Arm des Jungen.
»Wenn ich dies hier lockere, wird das Blut in seinem Arm seinen Rhythmus wiederfinden«, erklärte er. »Sein Finger wird anfangen zu bluten. Du musst die Watte fest um den Finger drücken und gedrückt halten, bis das Blut einen neuen Pulspfad findet.«
Die Frau biss sich auf die Unterlippe und nickte. Als Tessias Vater die Aderpresse lockerte, nahmen der Arm und die Hand des Jungen langsam wieder einen gesunden, rosigen Ton an. Blut quoll zwischen den Stichen hervor, und die Mutter schloss hastig ihre Hand um den Stumpf. Der Junge verzog das Gesicht. Sie strich ihm liebevoll übers Haar.
Tessia unterdrückte ein Lächeln. Ihr Vater hatte sie gelehrt, dass es klug war, eine Familie in den Heilungsprozess einzubinden. Es gab ihnen das Gefühl, nicht vollkommen hilflos zu sein, und sie würden den Methoden, die er anwandte, weniger argwöhnisch oder geringschätzig gegenüberstehen, wenn sie daran teilhatten.
Nach einer kurzen Wartezeit überprüfte ihr Vater den Stumpf, dann bandagierte er ihn fest und gab der Familie Anweisungen, wie oft die Verbände zu wechseln wären, dass sie sauber und trocken gehalten werden mussten, wenn der Junge seine Arbeit wieder aufnahm (er war nicht dumm genug, den Eltern zu sagen, sie sollten den Jungen zu Hause behalten), wann sie endgültig abgelegt werden konnten und auf welche Zeichen einer Entzündung sie achten mussten.
Während er die Medikamente und zusätzlichen Verbände auflistete, die sie benötigen würden, nahm Tessia die gewünschten Dinge aus seiner Tasche und legte sie auf die sauberste Stelle des Tisches, die sie finden konnte. Den amputierten Finger wickelte sie ein und schob ihn beiseite. Patienten und ihre Familien zogen es vor, solche Dinge zu vergraben oder zu verbrennen, vielleicht weil sie sich Sorgen machten, was damit geschehen würde, wenn sie sich nicht selbst darum kümmerten. Zweifellos hatten sie die beunruhigenden und lächerlichen Geschichten gehört, die von Zeit zu Zeit die Runde machten: Angeblich experimentierten Heiler in Kyralia heimlich mit amputierten Gliedmaßen, mahlten Knochen zu magischen Tränken oder brachten es irgendwie fertig, sie wiederzubeleben.
Nachdem sie die Nadel gesäubert und über dem Brenner gereinigt hatte, packte sie sie mitsamt den anderen Instrumenten wieder ein. Das Operationsbrett würde später zu Hause gesäubert werden müssen. Sie löschte den Brenner und wartete, während die Familie ihnen dankte.
Auch dies war ein gründlich einstudierter Teil ihrer Arbeit. Ihr Vater hasste es, wenn Patienten ihn mit Dankesbekundungen überschütteten. Es war ihm peinlich. Schließlich bot er seine Dienste nicht kostenlos an. Lord Dakon versorgte ihn und seine Familie im Austausch dafür, dass er sich um die Menschen seines Lehens kümmerte, mit einem Haus und mit einem Einkommen.
Aber indem er ihren Dank bescheiden und geduldig entgegennahm, das wusste ihr Vater, erhielt er sich das Wohlwollen der Einheimischen. Geschenke nahm er jedoch grundsätzlich nicht an. Alle Untertanen Lord Dakons zahlten ihrem Herrn einen Zehnten, was bedeutete, dass sie Tessias Vater bereits für seine Dienste entlohnt hatten.
Tessias Aufgabe bestand darin, auf den richtigen Augenblick zu warten, um sich einzuschalten und ihren Vater daran zu erinnern, dass noch mehr Arbeit auf sie wartete. Die Familie entschuldigte sich dann. Ihr Vater entschuldigte sich. Und schließlich geleitete man sie hinaus.
Aber als der richtige Augenblick näher kam, wurde draußen das Trommeln von Hufschlägen vernehmbar. Alle hielten inne, um zu lauschen. Die Hufschläge brachen ab, an ihre Stelle traten Schritte, dann ein Klopfen an der Tür.
»Veran, der Heiler? Ist Veran der Heiler hier?«
Der Bauer und ihr Vater traten gleichzeitig auf die Tür zu, dann blieb ihr Vater stehen, sodass der Mann die Tür selbst öffnen konnte. Ein gut gekleideter Mann in mittleren Jahren stand davor; seine Stirn war feucht von Schweiß. Tessia kannte ihn: Keron, der Haushofmeister von Lord Dakon.
»Er ist hier«, sagte der Bauer.
Keron spähte in das dunkle Haus. »Deine Dienste werden im Herrenhaus gebraucht, Heiler Veran. Es ist dringend.«
Tessias Vater runzelte die Stirn, dann drehte er sich um und winkte sie zu sich. Sie griff nach seiner Tasche und dem Brenner und eilte hinter ihm her ins Tageslicht hinaus. Einer der älteren Söhne des Bauern wartete neben dem Pferd und dem Karren, die Lord Dakon ihrem Vater für Besuche von Patienten außerhalb des Dorfes zur Verfügung stellte, und der Junge stand hastig auf und zog einen Futtersack vom Kopf der alten Stute. Tessias Vater nickte ihm dankend zu, dann nahm er Tessia die Tasche ab und verstaute sie hinten im Wagen. Als sie auf den Sitz kletterten, galoppierte Keron auch schon an ihnen vorbei in Richtung Dorf. Ihr Vater nahm die Zügel und zog sie kurz an. Die Stute schnaubte, schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung.
Tessia sah ihren Vater an. »Glaubst du...?«, begann sie, brach jedoch gleich wieder ab, weil ihr die Sinnlosigkeit ihrer Frage bewusst wurde.
Glaubst du, es könnte etwas mit dem Sachakaner zu tun haben? hatte sie sagen wollen. Aber solche Fragen waren sinnlos. Sie würden es herausfinden, wenn sie dort ankamen.
Es war schwer, sich nicht das Schlimmste vorzustellen. Seit der Ankunft des Sachakaners hatten die Dorfbewohner nicht aufgehört, über den fremdländischen Magier zu tuscheln, der Lord Dakons Haus besuchte, und es war schwer, sich von ihrer Angst und Ehrfurcht nicht anstecken zu lassen. Obwohl Lord Dakon ebenfalls Magier war, war er doch vertraut und angesehen, und er war Kyralier. Wenn man ihn fürchtete, dann nur wegen der Magie, über die er gebieten konnte, und wegen der Macht, die er über ihrer aller Leben hatte; aber er war kein Landbesitzer, der seine Macht missbrauchte. Sachakanische Magier dagegen hatten Kyralia noch vor wenigen Jahrhunderten regiert und versklavt, und allen Berichten zufolge erinnerten sie die Menschen bei jeder Gelegenheit immer noch gern daran, wie die Dinge gewesen waren, bevor Kyralia seine Unabhängigkeit gewährt worden war.
Denk wie eine Heilerin, mahnte sie sich, während der Karren die Straße entlangholperte. Analysiere die Informationen, die du hast. Vertraue dem Verstand mehr als dem Gefühl.
Weder der Sachakaner noch Lord Dakon konnten krank sein. Beide waren Magier und damit bis auf wenige seltene Ausnahmen gefeit vor allen Krankheiten. Sie waren nicht immun gegen Seuchen, erlagen ihnen jedoch kaum einmal. Lord Dakon hätte ihren Vater herbeigerufen, lange bevor irgendeine Krankheit dringende Aufmerksamkeit erforderte; der Sachakaner allerdings würde möglicherweise eine Krankheit nicht offenbart haben, wenn er sich nicht von einem kyralischen Heiler hätte versorgen lassen wollen.
Magier konnten an Wunden sterben, dass wusste sie. Lord Dakon konnte sich verletzt haben. Dann kam ihr eine noch erschreckendere Möglichkeit in den Sinn. Hatten Lord Dakon und der Sachakaner gegeneinander gekämpft?
Wenn ja, würde das Haus des Lords – und vielleicht auch das ganze Dorf – nur mehr aus schwelenden Ruinen bestehen, sagte sie sich, falls die Geschichten über magische Schlachten der Wahrheit entsprechen. Von der Straße, die vom Haus des Bauern hinabführte, hatte man einen guten Blick auf die Gebäude darunter, die diesseits des Flusses beide Seiten der Hauptstraße säumten. Alles war so ruhig und friedlich wie bei ihrem Aufbruch.
Vielleicht waren der Patient oder die Patienten, die sie behandeln sollten, Dienstboten Lord Dakons. Abgesehen von Keron hielten sechs weitere Haus- und Stalldiener das Anwesen in Ordnung. Sie und ihr Vater hatten sie schon viele Male behandelt. Landarbeiter, die außerhalb des Dorfes lebten, fuhren manchmal zum Herrenhaus, wenn sie krank oder verletzt waren, obwohl sie im Allgemeinen direkt zu ihrem Vater kamen.
Wer ist sonst noch dort? Ah, natürlich. Da wäre noch Jayan, Lord Dakons Meisterschüler, erinnerte sie sich. Aber soweit ich weiß, verfügt er über den gleichen körperlichen Schutz gegen Krankheiten wie ein höherer Magier. Vielleicht hatte er sich in einen Kampf mit dem Sachakaner verwickeln lassen. Für die Sachakaner war ein Mann wie Jayan nicht viel mehr als ein Sklave, und...
»Tessia.«
Sie sah ihren Vater erwartungsvoll an. Hatte er eine Ahnung, wer seiner Dienste bedurfte?
»Ich... deine Mutter will, dass du aufhörst, mir zu helfen.«
Aus freudiger Erwartung wurde Ärger. »Ich weiß.« Sie verzog das Gesicht. »Sie will, dass ich mir einen netten Ehemann suche und anfange, Kinder in die Welt zu setzen.«
Er lächelte nicht, wie er es früher getan hatte, wenn das Thema zur Sprache gekommen war. »Ist das so schlimm? Du kannst keine Heilerin werden, Tessia.«
Als sie den Ernst in seiner Stimme hörte, sah sie ihn überrascht und enttäuscht an. Obwohl ihre Mutter diese Meinung schon viele Male geäußert hatte, hatte ihr Vater ihr nie darin zugestimmt. Sie hatte das Gefühl, als würde etwas in ihr zu Stein, in ihrem Magen, kalt, hart und unnachgiebig. Was natürlich unmöglich war. Menschliche Organe verwandelten sich nicht in Stein.
»Die Dorfbewohner werden dich nicht akzeptieren«, fuhr er fort.
»Das kannst du nicht wissen«, protestierte sie. »Nicht, bevor ich es versucht habe und gescheitert bin. Welchen Grund könnten sie haben, mir zu misstrauen?«
»Keinen. Sie mögen dich durchaus, aber die Vorstellung, eine Frau könnte heilen, ist ihnen genauso fremd wie die, dass einem Reber Flügel wachsen und er fliegen könnte. Es liegt nicht in der Natur einer Frau, einen klugen Kopf zu haben, denken sie.«
»Aber die Geburtsmütter... Ihnen vertrauen sie doch auch. Warum besteht ein Unterschied zwischen ihrem Geschäft und der Heilkunst?«
»Weil das, was die Geburtsmütter tun, sich auf ein kleines, genau festgelegtes Gebiet beschränkt. Vergiss nicht, die Menschen wenden sich an mich um Hilfe, wenn das Wissen einer Geburtsmutter unzureichend ist. Ein Heiler verfügt über Kenntnisse, zu denen keine Geburtsmutter Zugang hat. Die meisten Geburtsmütter können nicht einmal lesen.«
»Und doch vertrauen die Menschen ihnen. Manchmal vertrauen sie ihnen mehr als dir.«
»Das Gebären ist eine ausschließlich weibliche Fähigkeit«, erwiderte er trocken. »Das Heilen ist es nicht.«
Tessia konnte nicht sprechen. Ärger und Enttäuschung stiegen in ihr hoch, aber sie wusste, dass sie ihrer Sache durch Wutausbrüche nicht half. Sie musste überzeugend sein, und ihr Vater war kein einfältiger Dörfler, den man leicht beeinflussen konnte. Er war wahrscheinlich der klügste Mann im Dorf.
Als der Wagen die Hauptstraße erreichte, fluchte sie im Stillen. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr er sich der Meinung ihrer Mutter angenähert hatte. Ich muss seine Meinung wieder ändern, und ich muss vorsichtig dabei zu Werke gehen, überlegte sie. Er verstößt nicht gern gegen Mutters Wünsche. Also muss ich ebenso ihr Vertrauen in ihre Argumente schwächen, wie ich Vaters Zweifel an der Fortsetzung meiner Ausbildung zerstreuen muss. Sie musste alle Argumente erwägen, die für eine Zukunft als Heilerin sprachen, so wie die, die dagegen sprachen. Und dann musste sie ihre Erkenntnisse zu ihrem Nutzen einsetzen. Außerdem musste sie die Pläne ihrer Eltern bis ins Kleinste kennen.
»Was wirst du tun, wenn ich dir nicht mehr helfe?«, fragte sie.
»Ich werde einen Jungen aus dem Dorf zu mir nehmen«, sagte ihr Vater.
»Welchen?«
»Vielleicht den Jüngsten des Müllers. Er macht einen intelligenten Eindruck.«
Er hatte also bereits über diese Frage nachgedacht. Ein Stich der Kränkung durchzuckte sie.
Die gut gewartete Hauptstraße war weniger gefurcht als der Viehweg des Bauern, daher ließ ihr Vater abermals die Zügel schnalzen und drängte die Stute zu einem schnelleren Tempo. Die verstärkte Vibration des Wagens raubte Tessia die Fähigkeit zum Nachdenken. Als sie sich dem Dorf näherten, sah sie Gesichter in den Fenstern auftauchen. Die wenigen Dorfbewohner, die draußen unterwegs waren, blieben stehen und grüßten ihren Vater mit einem Nicken und einem Lächeln.
Als ihr Vater die Zügel anzog, um die Stute durch die Tore des Herrenhauses zu lenken, hielt Tessia sich am Geländer des Wagens fest. In dem fahlen Licht, das im Schatten des Hauses herrschte, konnte sie Stallarbeiter ausmachen, die herbeikamen, um die Zügel zu übernehmen, sobald der Wagen stehen blieb. Ihr Vater sprang von der Sitzbank, und Keron trat vor, um die Tasche ihres Vaters entgegenzunehmen. Sie sprang ebenfalls aus dem Wagen und eilte hinter den beiden Männern her, die im Herrenhaus verschwanden.
Durch die Türen des Flurs, den sie entlanggingen, konnte Tessia flüchtige Blicke in die Küche, die Vorratskammer, das Waschzimmer und andere Arbeitsräume der Dienstboten werfen. Schnelle Schritte hallten durch ein enges Treppenhaus, während sie in den oberen Stock hinaufgingen. Einige Biegungen später gelangten sie in einen Teil des Hauses, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Geschmackvoll geschmückte Wände und kostbare Möbel ließen vermuten, dass es sich um einen Wohnbereich handelte, aber dies waren nicht die Räume, die sie vor einigen Jahren einmal gesehen hatte, als man ihren Vater ins Herrenhaus gerufen hatte, um eine ziemlich fade, reiche junge Frau zu behandeln, die einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Sie konnte einige Schlafzimmer und ein Wohnzimmer erkennen und vermutete, dass diese Räume für Gäste reserviert waren.
Daher überraschte es sie, als Keron eine Tür öffnete und sie in einen kleinen, nur mit einem schlichten Bett und einem schmalen Tisch möblierten Raum führte. Es gab keine Fenster, die Licht eingelassen hätten, nur eine winzige Lampe brannte im Zimmer. Der Raum kam ihr armselig und schäbig vor. Dann blickte sie zum Bett hinüber, und plötzlich waren alle Gedanken an die Einrichtung vergessen.
Ein Mann lag dort. Ein Mann, dessen Gesicht so übel verschrammt und geschwollen war, dass ein Auge sich zu einem blutigen, schmalen Schlitz verengt hatte. Das Weiß des anderen Auges war dunkel. Sie vermutete, dass es bei besserem Licht rot gewirkt hätte. Die Lippen des Mannes bildeten keine gerade Linie, was wahrscheinlich ein Hinweis auf einen gebrochenen Kiefer war. Sein Gesicht schien breit und eigenartig geformt, obwohl dies eine Wirkung der Verletzungen sein konnte.
Außerdem hielt er die rechte Hand an die Brust gedrückt, und sie sah sofort, dass sein Unterarm sich auf eine Weise krümmte, wie er das nicht tun sollte. Auch seine Brust war dunkel von Prellungen. Als Kleidung trug er lediglich eine kurze, zerlumpte Hose, die an vielen Stellen schlecht geflickt war. Die Haut seines schmalen Körpers war von der Sonne dunkel gebräunt, und Erde hatte seine nackten Füße schwarz gefärbt. Ein Knöchel war böse geschwollen, die Wade des anderen Beins etwas schief, als sei sie nach einem Bruch schlecht verheilt.
Im Raum war es still, bis auf die schnellen, gequälten Atemstöße des Mannes. Tessia erkannte das Geräusch, und ein flaues Gefühl stieg in ihr auf. Ihr Vater hatte einmal einen Mann behandelt, dessen Rippen gebrochen waren und die Lungen durchstochen hatten. Dieser Mann war gestorben.
Ihr Vater hatte sich nicht bewegt, seit sie den Raum betreten hatten. Er stand still da, den Rücken leicht gebeugt, während er den geschundenen Mann auf dem Bett betrachtete.
»Vater«, sagte sie leise.
Mit einem Ruck richtete er sich auf und dreht sich zu ihr um. Als sein Blick dem ihren begegnete, wusste sie, dass sie einander verstanden. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf und stellte fest, dass er das Gleiche tat. Dann lächelte sie. In Augenblicken wie diesem, da sie nicht einmal zu sprechen brauchten, um einander zu verstehen, konnte er doch gewiss erkennen, dass sie dazu bestimmt war, in seine Fußstapfen zu treten?
Er runzelte die Stirn und schaute zu Boden, dann drehte er sich wieder zu dem Bett um. Ein jähes Gefühl schmerzlichen Verlustes stieg in ihr auf. Seine Reaktion hätte eine andere sein sollen: Er hätte lächeln oder nicken oder ihr irgendein Zeichen der Beteuerung übermitteln sollen, dass sie auch in Zukunft zusammenarbeiten würden.
Ich muss sein Vertrauen zurückgewinnen, dachte sie. Sie nahm Keron die Tasche ihres Vaters ab, stellte sie auf den schmalen Tisch und öffnete sie. Nachdem sie den Brenner herausgenommen hatte, zündete sie ihn an und stellte die Flamme richtig ein. Draußen im Flur erklangen Schritte.
»Wir brauchen mehr Licht«, murmelte ihr Vater.
Sofort wurde der Raum erfüllt von einem blendend weißen Licht. Tessia duckte sich, als ein leuchtender Ball sich an ihrem Kopf vorbeibewegte. Sie starrte ihm nach und bereute es sofort. Das Licht war zu hell. Als sie den Blick abwandte, trübte ein runder Schatten ihre Sicht.
»Wird das genügen?«, erklang eine Stimme mit einem eigenartigen Akzent.
»Vielen Dank, Herr«, hörte sie ihren Vater respektvoll sagen.
Herr? Tessias Magen krampfte sich zusammen. Im Herrenhaus hielt sich gegenwärtig nur ein Mensch auf, den ihr Vater so anreden würde. Doch mit der Erkenntnis kam ein Gefühl der Rebellion. Ich werde vor diesem Sachakaner keine Furcht zeigen, beschloss sie. Obwohl wahrscheinlich keine Gefahr besteht, beim Anblick irgendeines Menschen zu erzittern, solange ich nicht richtig sehen kann, fügte sie im Geiste hinzu. Dann rieb sie sich die Augen. Der dunkle Fleck trat langsam wieder in den Hintergrund. Sie blinzelte zur Tür hinüber und sah zwei Gestalten dort stehen.
»Wie schätzt du seine Chancen ein, Heiler Veran?«, fragte eine vertrautere Stimme.
Ihr Vater zögerte, bevor er antwortete. »Schlecht, Mylord«, gestand er. »Seine Lungen sind durchstochen. Eine solche Verletzung ist im Allgemeinen tödlich.«
»Tu, was du kannst«, wies Lord Dakon ihn an.
Tessias Sicht war inzwischen so weit wiederhergestellt, dass sie die Gesichter der beiden Magier ausmachen konnte. Lord Dakons Miene war grimmig. Sein Begleiter lächelte. Sie konnte jetzt genug sehen, um seine breiten sachakanischen Züge zu erkennen, die kunstvoll geschmückte Jacke und die Hosen, die er trug. Sie bemerkte auch das juwelenbesetzte Messer in der Scheide an seinem Gürtel, das die Sachakaner trugen zum Zeichen dafür, dass sie Magier waren. Lord Dakon machte eine leise Bemerkung, und die beiden Männer verschwanden. Tessia hörte, wie ihre Schritte sich auf dem Flur entfernten.
Plötzlich erlosch das Licht, und sie standen im Dunkeln. Tessia hörte ihren Vater leise fluchen. Dann wurde der Raum wieder hell, wenn das Licht auch nicht mehr so grell war wie zuvor. Als sie aufblickte, sah sie Keron mit zwei großen Lampen eintreten.
»Ah, danke«, sagte Tessias Vater. »Stell eine hierhin und die andere dorthin.«
»Brauchst du sonst noch irgendetwas?«, fragte der Haushofmeister. »Wasser? Tücher?«
»Im Augenblick brauche ich vor allem eins: Informationen. Wie ist das geschehen?«
»Ich bin... ich bin mir nicht sicher. Ich habe es nicht beobachtet.«
»Hat irgendjemand etwas beobachtet? Bei so vielen Verletzungen ist es leicht, eine zu übersehen. Eine Beschreibung, welche Körperteile die einzelnen Schläge getroffen haben...«
»Niemand hat etwas gesehen«, antwortete der Mann schnell. »Niemand außer Lord Dakon, diesem Sklaven und seinem Herrn.«
Ein Sklave? Tessia schaute auf den verletzten Mann hinab. Natürlich. Die gebräunte Haut und das breite Gesicht waren typisch sachakanische Merkmale. Plötzlich ergab das Interesse des Sachakaners einen Sinn.
Ihr Vater seufzte. »Dann bring uns etwas Wasser, und ich werde eine Liste von Dingen aufschreiben, die du bei meiner Frau abholen musst.«
Der Haushofmeister eilte davon. Tessias Vater sah sie mit grimmiger Miene an. »Das wird eine lange Nacht für dich und mich.« Er lächelte schwach. »Bei Gelegenheiten wie dieser muss ich mich fragen, ob du die Vorstellungen deiner Mutter deine Zukunft betreffend nicht vielleicht doch verlockend findest.«
»Bei Gelegenheiten wie dieser kommen mir solche Überlegungen niemals in den Sinn«, beschied sie ihn. Dann fügte sie leise hinzu: »Diesmal werden wir vielleicht Erfolg haben.«
Seine Augen weiteten sich, dann drückte er die Schultern ein wenig durch.
»In diesem Fall sollten wir gleich anfangen.«
2
Es war niemals einfach und nur selten erfreulich, für einen sachakanischen Magier den Gastgeber zu spielen. Von allen Aufgaben, die in dieser Zeit von den Dienstboten verlangt wurden, verursachte die Ernährung ihres Gastes das größte Ungemach. Wenn man Takado eine Speise servierte, die er schon einmal gegessen hatte, wies er sie zurück, selbst wenn ihm das Gericht gut geschmeckt hatte. Die meisten Speisen mundeten ihm jedoch nicht, und er hatte einen großen Appetit, sodass für jede Mahlzeit erheblich mehr Gänge zubereitet werden mussten, als sie normalerweise für zwei Personen vonnöten gewesen wären.
Der Lohn dafür, dass sie die Ansprüche dieses Gastes ertrugen, war ein großer Überschuss an Essen, das im Anschluss an die Mahlzeiten unter den Mitgliedern des Haushalts aufgeteilt wurde. Wenn Takado noch viele Wochen bleibt, würde es mich nicht überraschen festzustellen, dass meine Diener ein wenig rundlich geworden sind, überlegte Dakon. Trotzdem wäre es Ihnen sicher lieber, wenn der Sachakaner weiterzöge.
Genauso wie ich, fügte er im Geiste hinzu, als sein Gast sich zurücklehnte, auf seinen üppigen Leib klopfte und rülpste. Vorzugsweise zurück in sein Heimatland, was wahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, dass er den größten Teil Kyralias durchreist hat und dies das Herrenhaus ist, das dem Pass am nächsten liegt.
»Ein hervorragendes Mahl«, erklärte Takado. »Habe ich in diesem letzten Gericht eine Spur Glockenwurz bemerkt?«
Dakon nickte. »Einen Vorteil hat es, nahe der Grenze zu leben – gelegentlich kommen sachakanische Händler hier vorbei.«
»Das überrascht mich. Mandryn liegt nicht an der Straße nach Imardin.«
»Nein, aber gelegentlich blockieren Frühjahrshochwasser die Hauptstraße, und dann führt der beste Weg mitten durch unser Dorf.« Er wischte sich mit einem Tuch den Mund ab. »Wollen wir uns ins Wohnzimmer zurückziehen?«
Als Takado nickte, hörte Dakon einen schwachen Seufzer der Erleichterung von Cannia, die heute Abend bei Tisch aufwartete. Zumindest haben die Dienstboten diese Strapazen für heute Abend hinter sich, dachte Dakon müde, während er aufstand. Meine enden nicht, bis der Mann einschläft.
Takado erhob sich und trat vom Tisch weg. Er war einen vollen Kopf größer als Dakon, und seine breiten Schultern und das flächige Gesicht ließen ihn noch massiger erscheinen. Unter einer Schicht weichen Fetts hatte er den Körperbau eines typischen Sachakaners – stark und groß. Dakon wusste, dass er neben Takado jämmerlich dünn und klein wirken musste. Und bleich. Auch wenn die Sachakaner nicht so dunkel waren wie die Lonmars aus dem Norden, war ihre Haut doch von einem gesunden Braun, das mit Farbe zu erzielen kyralische Frauen seit Jahrhunderten versuchten.
Was sie immer noch taten, obwohl die Sachakaner davon abgesehen allgemein verachtet und gefürchtet wurden. Dakon ging seinem Gast voran aus dem Speisezimmer. Sie sollten stolz sein auf ihren Teint, aber nachdem wir darin jahrhundertelang einen Beweis dafür gesehen haben, dass wir eine schwache, barbarische Rasse sind, lässt sich das wohl nicht so leicht ins Gegenteil verkehren.
Gefolgt von Takado betrat er das Wohnzimmer. Der Sachakaner ließ sich in den Sessel fallen, den er für die Dauer seines Aufenthalts als den seinen beschlagnahmt hatte. Der Raum wurde von zwei Lampen erhellt. Obwohl er den Raum mühelos mit einem magischen Licht hätte beleuchten können, zog Dakon den warmen Schein von Lampenlicht vor. Es erinnerte ihn an seine Mutter, die kein magisches Talent besessen und es vorgezogen hatte, die Dinge auf »die altmodische Art« zu tun. Sie hatte das Wohnzimmer auch eingerichtet und möbliert. Nachdem ein anderer sachakanischer Besucher, beeindruckt von der Bibliothek, beschlossen hatte, dass Dakons Vater ihm mehrere wertvolle Bücher schenken würde, hatte sie entschieden, solche Besucher zukünftig in einem Raum zu empfangen, der den Anschein erweckte, voller unbezahlbarer Schätze zu sein, bei denen es sich jedoch in Wirklichkeit um Kopien, Fälschungen oder weniger kostspielige Dinge handelte.
Takado streckte die Beine aus und beobachtete, wie Dakon aus einem Krug, den die Dienstboten für sie bereitgestellt hatten, Wein einschenkte. »Also, Lord Dakon, denkt Ihr, dass Euer Heiler meinen Sklaven retten kann?«
Dakon nahm keine Sorge in der Stimme des Mannes wahr. Er hatte auch keine Sorge um das Wohlergehen des Sklaven erwartet – nur die Art von Anteilnahme, die ein Mann für zerbrochenes Eigentum zeigte, das repariert wurde. »Heiler Veran wird sein Bestes geben.«
»Und wie werdet Ihr ihn bestrafen, sollte er scheitern?« Dakon reichte Takado einen Weinkelch. »Ich werde ihn nicht bestrafen.«
Takado zog die Augenbrauen hoch. »Woher wisst Ihr dann, dass er sein Bestes tun wird?«
»Weil ich ihn kenne und ihm vertraue. Er ist ein Ehrenmann.«
»Er ist Kyralier. Mein Sklave ist wertvoll für mich, und ich bin Sachakaner. Woher soll ich wissen, dass er nicht aus reiner Bosheit mir gegenüber den Tod des Mannes herbeiführen wird?«
Dakon setzte sich und nahm einen Schluck Wein. Es war kein guter Wein. Sein Lehen erfreute sich keines für den Weinbau günstigen Klimas. Aber der Wein war stark und würde den Sachakaner geneigt machen, sich möglichst früh für die Nacht zurückzuziehen. Dakon bezweifelte jedoch, dass der Wein seine Zunge lösen würde. Er hatte es auch an den vorangegangenen Abenden nicht getan.
»Weil er ein Mann von Ehre ist«, wiederholte Dakon.
Der Sachakaner schnaubte. »Ehre! Unter Dienstboten? Ich an Eurer Stelle würde die Tochter nehmen. Sie ist gar nicht so hässlich für eine Kyralierin. Sie wird einige Kniffe der Heilkunst gelernt haben und würde ebenfalls eine nützliche Sklavin abgeben.«
Dakon lächelte. »Es ist Euch während Eurer Reisen gewiss nicht entgangen, dass die Sklaverei in Kyralia verboten ist.«
Takado rümpfte die Nase. »Oh, das konnte mir nicht entgehen. Niemandem würde es entgehen, wie schlecht Eure Dienstboten ihrer Herrschaft aufwarten. Mürrisch. Töricht. Unbeholfen. Es war nicht immer so, und das wisst Ihr. Euer Volk hat die Sklaverei einst willkommen geheißen, als sei es seine eigene Idee gewesen. So könnte es wieder sein. Ihr würdet vielleicht den Wohlstand zurückgewinnen, an dem sich Eure Urgroßväter erfreut haben.« Er leerte den Wein mit wenigen Schlucken und stieß dann einen anerkennenden Seufzer aus.
»Seit dem Verbot der Sklaverei erfreuen wir uns eines größeren Wohlstandes denn je«, erwiderte Dakon, während er sich erhob, um ihrer beider Kelche wieder aufzufüllen. »Die Sklavenhaltung ist nicht einträglich. Wenn man sie schlecht behandelt, sterben sie, bevor sie nützlich werden; oder aber sie rebellieren oder laufen davon. Behandelt man sie gut, kostet es genauso viel, sie zu ernähren und zu beherrschen, wie es bei freien Dienstboten der Fall ist, aber sie hätten keinen Grund, ihre Arbeit gut zu machen.«
»Keinen Grund als Furcht vor Strafe oder Tod.«
»Ein verletzter oder toter Sklave ist für niemanden von Nutzen. Ich kann nicht erkennen, in wieweit es einen Sklaven ermutigen soll, in Zukunft vorsichtiger zu sein, wenn Ihr ihn totschlagt, weil er Euch auf den Fuß getreten ist. Sein Tod wäre nicht einmal ein Exempel für andere, da keine andere Sklaven hier sind, um daraus zu lernen.«
Takado ließ den Wein in seinem Kelch kreisen. Seine Miene war undeutbar. »Ich bin wahrscheinlich ein wenig zu weit gegangen. Nachdem ich monatelang mit ihm auf Reisen war, bin ich seiner Gesellschaft gründlich müde geworden. So würde es Euch ebenfalls ergehen, müsstet Ihr Euch bei dem Besuch in einem fremden Land mit nur einem einzigen Dienstboten begnügen. Welcher König auch immer sich dieses Gesetz ausgedacht hat, ich bin davon überzeugt, dass er die Sachakaner damit nur bestrafen wollte.«
»Zufriedene Diener geben bessere Gefährten ab«, sagte Dakon. »Es ist mir eine Freude, mit meinen Leuten zu sprechen und mit ihnen Umgang zu pflegen, und es scheint ihnen nichts auszumachen, für mich zu arbeiten. Würden sie mich nicht mögen, würden sie mich nicht auf mögliche Probleme im Lehen aufmerksam machen oder mir Wege aufzeigen, um meine Ernteerträge zu mehren.«
»Wenn meine Sklaven mich nicht auf Probleme auf meiner Domäne aufmerksam machen oder das Beste aus meinem Land herausholen würden, würde ich sie töten lassen.«
»Und dann wären ihre Fähigkeiten verloren. Meine Leute leben länger und gewinnen daher an Fertigkeiten in ihrer Arbeit. Sie sind stolz darauf, und es besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, dass sie Einfallsreichtum entwickeln und Neuerungen ersinnen – wie zum Beispiel der Heiler, der sich um Euren Sklaven kümmert.«
»Aber nicht wie seine Tochter«, sagte Takado. »Ihr Talent wird verschwendet werden, nicht wahr? Sie ist eine Frau, und in Kyralia werden Frauen keine Heiler. In meinem Land würden ihre Talente genützt werden.« Er beugte sich zu Dakon vor. »Wenn Ihr mir erlaubt, sie Euch abzukaufen, werde ich dafür sorgen, dass sie Gelegenheit bekommt, ihre Fähigkeiten zu nutzen. Ich vermute, dass ihr eine solche Gelegenheit willkommen wäre.« Er nahm einen Schluck Wein und beobachtete Dakon über den Rand des Kelches hinweg.
Für einen habgierigen, grausamen Mann mit zu viel Macht und zu wenig Selbstbeherrschung kann Takado beunruhigend scharfsinnig sein, überlegte Dakon. »Selbst wenn ich damit kein Gesetz brechen und sie sich mit etwas Derartigem einverstanden erklären würde, glaube ich nicht, dass es ihre Fähigkeiten als Heilerin sind, für die Ihr Euch interessiert.«
Takado lachte und machte es sich in seinem Sessel bequemer. »Ihr habt mich wieder einmal durchschaut, Lord Dakon. Ich nehme an, von dieser Speise habt Ihr nicht gekostet, oder?«
»Natürlich nicht. Sie ist halb so alt wie ich.«
»Was sie nur umso begehrenswerter macht.«
Takado wollte ihn einmal mehr reizen, das wusste Dakon. »Und es würde die Wahrscheinlichkeit vergrößern, dass ich mich mit einer solchen Liaison zum Narren machen würde.«
»Es ist keine Schande, nach ein wenig Unterhaltung zu suchen, während Ihr Ausschau nach einer passenden Ehefrau haltet«, erwiderte Takado. »Es überrascht mich, dass Ihr noch keine gefunden habt. Wahrscheinlich gibt es im Lehen von Aylen keine Frauen, die Eures Ranges würdig sind. Ihr solltet häufiger nach Imardin fahren. Es sieht so aus, als würde alles, woran sich teilzuhaben lohnt, dort geschehen.«
»Mein letzter Besuch liegt tatsächlich zu lange zurück«, pflichtete Dakon ihm bei und nippte an seinem Wein. »Habt Ihr Euren Aufenthalt dort genossen?«
Takado zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob ich das Wort ›genießen‹ benutzen würde. Die Stadt war genauso barbarisch, wie ich es erwartet hatte.«
»Wenn Ihr nicht erwartet habt, Euren Besuch dort zu genießen, warum seid Ihr dann dorthin gereist?«
Die Augen des Sachakaners leuchteten auf, und er streckte Dakon abermals seinen leeren Kelch hin. »Um meine Neugier zu befriedigen.«
Dakon erhob sich wieder, um den Kelch nachzufüllen. Wann immer sie kurz davor waren, den Grund für Takados Reisen durch Kyralia zu erörtern, wurde der Sachakaner schnippisch oder wechselte das Thema. Sein Besuch hatte einige Magier nervös gemacht, vor allem da sie Gerüchte gehört hatten, nach denen sich jüngere sachakanische Magier in Arvice, der Hauptstadt Sachakas, getroffen hatten, um darüber zu diskutieren, ob es möglich wäre, die ehemaligen Kolonien des Reiches zurückzuerobern. Der kyralische König hatte insgeheim Schreiben an alle Landbesitzer geschickt mit der Bitte, falls Takado sie besuchte, den Grund für seine Reise zu ermitteln.
»Und? Ist Eure Neugier befriedigt worden?«, fragte Dakon, während er zu seinem Platz zurückkehrte.
Takado zuckte die Achseln. »Es gibt noch mehr, was ich gern sehen würde, aber ohne einen Sklaven...? Nein.«
»Euer Sklave könnte durchaus überleben.«
»So sehr ich Eure Gastfreundschaft zu schätzen gewusst habe, werde ich doch nicht hierbleiben, nur um festzustellen, ob ein Sklave, dessen ich müde bin, sich erholt. Wahrscheinlich war ich ohnehin bereits eine zu große Belastung für Eure Börse.« Er hielt inne, um zu trinken. »Nein, wenn er überlebt, behaltet ihn. Er wird wahrscheinlich verkrüppelt und nutzlos sein.«
Dakon blinzelte überrascht. »Wenn er also überlebt und ich ihm gestatte hierzubleiben, gewährt Ihr ihm seine Freiheit?«
»Ja. Natürlich.« Takado machte eine abschätzige Handbewegung. »Ich kann doch nicht zulassen, dass Ihr meinetwegen Eure eigenen Gesetze brecht.«
»Ich danke Euch für Eure Rücksichtnahme. Also, wohin werdet Ihr als Nächstes reisen? Nach Hause?«
Der Sachakaner nickte, dann grinste er. »Die Sklaven meiner Domäne sollen doch nicht auf törichte Ideen kommen hinsichtlich der Frage, wer das Sagen hat, oder?«
»Abwesenheit, so heißt es, nagt an den Banden der Zuneigung. »
Takado lachte. »Ihr habe einige seltsame Sprichworte hier in Kyralia. Wie ›Schlaf ist das billigste Stärkungsmittel‹. Er stand auf, und als Dakon seinem Beispiel folgte, reichte er ihm seinen leeren Weinkelch. »Ihr habt Euren ja gar nicht geleert?«, bemerkte er.
»Wie Ihr bereits festgestellt habt, wird ein kleiner Körper schnell betrunken.« Dakon stellte seinen halbvollen Kelch neben dem leeren auf das Tablett. »Solange ein verletzter Mann in meinem Haus liegt, empfinde ich es als meine Pflicht, nüchtern zu bleiben, selbst wenn dieser Mann nur ein niederer sachakanischer Sklave ist.«
Takados Blick schwankte zwischen Leere und Erheiterung. »Ihr Kyralier seid wirklich ein seltsames Völkchen.« Er wandte sich ab. »Ihr braucht mich nicht in mein Zimmer zu begleiten. Ich erinnere mich an den Weg.« Er taumelte leicht. »Zumindest glaube ich, mich daran zu erinnern. Gute Nacht, Lord Dakon, wie ihr seltsamen Kyralier sagt.«
»Gute Nacht, Ashaki Takado«, erwiderte Dakon.
Er sah dem Sachakaner nach, während dieser den Flur entlangschlenderte, lauschte auf die langsam verklingenden Schritte des Mannes. Dann folgte er ihm so lautlos, wie er es vermochte. Nicht um zu überprüfen, ob sein Gast tatsächlich in sein Zimmer ging, sondern weil er feststellen wollte, welche Fortschritte Veran machte. Das Zimmer des Sklaven war natürlich nicht weit von dem seines Herrn entfernt, und Dakon wollte nicht, dass der Sachakaner bemerkte, wohin er ging.
Einige Flure und eine Treppe später sah Dakon, wie Takado an der Tür zu dem Zimmer seines Sklaven vorbeiging, ohne auch nur einen Blick daraufzuwerfen. Dann verschwand er in seinem eigenen Zimmer. Aus dem Zimmer des Sklaven kamen gedämpfte Geräusche. Das Licht, das unter der Tür hindurchdrang, flackerte. Dakon hielt inne und überlegte sich noch einmal, ob er stören sollte.
Der Sklave wird überleben oder auch nicht, sagte er sich, es wird keinen Unterschied machen, ob du ihn besuchst oder nicht. Aber er konnte die kalte Nüchternheit, mit der Takado Untergebene betrachtete, nicht aufbringen. Erinnerungen an den Sklaven, der, an eine Wand gepresst, vor den unbarmherzigen, unsichtbaren Schlägen des Sachakaners zurückzuweichen versuchte, ließ Dakon schaudern. Er konnte noch immer das Knirschen brechender Knochen hören, das Klatschen der Schläge auf verletzbares Fleisch.
Schließlich wandte er sich ab und machte sich auf den Weg zu seinen eigenen Räumen, wobei er versuchte, nicht zu hoffen, dass Veran scheitern würde.
Denn was im Namen höherer Magie sollte er mit einem befreiten sachakanischen Sklaven anfangen?
Frühmorgendliches Licht erhellte das Dorf, als Tessia und ihr Vater aus Lord Dakons Haus traten. Es war ein dünnes, kaltes Licht, aber als sie sich zu ihrem Vater umdrehte, wusste sie, dass das Grau seines Gesichtes nicht nur ein Streich des Lichtes war. Er war erschöpft.
Ihr Haus lag auf der anderen Straßenseite, und sie hatten nur einen Weg von hundert Schritten, und doch schien ihr die Entfernung gewaltig. Es wäre lächerlich gewesen, die Stallarbeiter zu bitten, die Stute für eine so kurze Fahrt vor den Karren zu spannen, aber sie war so müde, dass sie wünschte, jemand hätte es getan. Ihr Vater glitt auf einem Stein aus, und sie legte einen Arm um ihn, um ihn zu stützen. Mit der anderen Hand fasste sie nach dem Griff seiner Tasche. Sie fühlte sich schwerer an als zuvor, obwohl die meisten der Verbände und eine beträchtliche Menge an Medikamenten, die die Tasche normalerweise enthielt, jetzt verschiedene Körperteile des sachakanischen Sklaven bedeckten.
Dieser arme Mann. Ihr Vater hatte ihn aufgeschnitten, um die gebrochene Rippe aus seiner Lunge zu entfernen und das Loch zuzunähen. Eine solch drastische Operation hätte den Mann eigentlich töten sollen, aber irgendwie hatte er weitergeatmet. Ihr Vater hatte gesagt, es sei reines Glück, dass der Einschnitt, den er gemacht hatte, nicht einen der wichtigeren Pulspfade durchtrennt hatte.
Er hatte den Schnitt so klein wie möglich gehalten und sich seinen Weg größtenteils ertastet, die Finger tief im Körper des Mannes. Es war unglaublich gewesen, ihn dabei zu beobachten.
Als sie die Tür ihres Hauses erreichten, trat Tessia vor, um sie zu öffnen. Aber gerade als sie nach der Klinke griff, schwang die Tür nach innen auf. Ihre Mutter stand vor ihnen. Sie zog sie hinein, das Gesicht zerfurcht von Sorge.
»Cannia hat gesagt, du hast einen Sachakaner behandelt. Ich dachte zuerst, sie meinte ihn. Ich dachte bei mir: ›Wie kann ein Magier so schwer verletzt sein?‹, aber sie hat mir erzählt, es handele sich um den Sklaven. Lebt er noch?«
»Ja«, sagte Tessias Vater.
»Wird er am Leben bleiben?«
»Das ist unwahrscheinlich. Allerdings ist er ein zäher Bursche.«
»Er hat fast gar nicht geschrien«, pflichtete Tessia ihm bei. »Obwohl ich den Verdacht habe, dass er deshalb still geblieben ist, weil er Angst hatte, die Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich zu lenken.«
Ihre Mutter drehte sich zu Tessia um. Sie öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder und schüttelte den Kopf.
»Haben sie euch etwas zu essen gegeben?«, fragte sie.
Ihr Vater blickte nachdenklich drein.
»Keron hat uns etwas gebracht«, antwortete Tessia an seiner Stelle. »Aber wir hatten keine Zeit zum Essen.«
»Ich werde ein wenig Suppe wärmen.« Ihre Mutter geleitete sie in die Küche. Tessia und ihr Vater ließen sich auf zwei Stühle neben dem Kochtisch fallen. Ihre Mutter stocherte in den Kohlen im Kamin, überredete etwas frisches Holz, Feuer zu fangen, und setzte einen kleinen Topf auf die Flammen.
»Wir werden regelmäßig nach ihm sehen müssen«, murmelte Tessias Vater, wobei er mehr mit sich selbst sprach als mit ihr oder ihrer Mutter. »Seine Verbände wechseln. Nach Anzeichen von Fieber Ausschau halten,«
»Hat Cannia gesagt, warum er geschlagen wurde?«, fragte Tessia ihre Mutter.
Die Frau schüttelt den Kopf. »Welchen Grund brauchen diese sachakanischen Bestien? Höchstwahrscheinlich hat er es zum Spaß getan, aber ein wenig mehr Gewalt angewandt, als er beabsichtigt hatte.«
»Lord Yerven hat immer gesagt, dass nicht alle Sachakaner grausam seien«, bemerkte ihr Vater.
»Nur die meisten«, stellte Tessia fest. Sie lächelte. Lord Dakons Vater war gestorben, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie hatte ihn als einen freundlichen, geistesabwesenden alten Mann in Erinnerung, der stets Süßigkeiten für die Dorfkinder bei sich trug.
»Nun, dies ist offenkundig einer von den grausamen.« Tessias Mutter sah ihren Mann an, und die Falte zwischen ihren Brauen kehrte zurück. »Ich wünschte, du müsstest nicht noch einmal dorthin gehen.«
Er lächelte grimmig. »Lord Dakon wird nicht zulassen, dass uns etwas zustößt.« Die Frau blickte zwischen ihm und Tessia hin und her. Die Falte auf ihrer Stirn vertiefte sich, und die Sorge in ihren Zügen verwandelte sich in Ärger. Schließlich wandte sie sich wieder dem Feuer zu, prüfte mit einer Fingerspitze die Suppe und nickte vor sich hin. Sie nahm den Topf vom Herd und goss seinen Inhalt in zwei Becher. Tessia nahm beide entgegen und reichte einen ihrem Vater. Die Suppe war warm und köstlich, und sie spürte, dass sie mit jedem Schluck zunehmend schläfriger wurde. Ihrem Vater fielen die Augen zu.
»Und jetzt ab ins Bett, alle beide«, sagte ihre Mutter, sobald sie fertig waren. Keiner von ihnen erhob Einwände, als sie sie nach oben in ihre Zimmer schickte. Tessia vermochte es vor Müdigkeit kaum noch, sich ihr Nachtgewand überzustreifen. Sie schlüpfte unter die Laken und seufzte zufrieden. Aber bevor der Schlaf sie ganz umfing, ließen Stimmen sie wieder hochschrecken.
Sie kamen von der anderen Seite des Flurs. Aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern. Eingedenk ihres Gespräches mit ihrem Vater am vergangenen Tag durchzuckte sie ein Stich der Furcht. Sie richtete sich auf und schwang die Füße auf den Boden.
Ihre Tür gab nur ein dünnes, leises Quietschen von sich, als sie sie öffnete. Es war viele Jahre her, dass sie das letzte Mal ein spätnächtliches Gespräch zwischen ihren Eltern belauscht hatte, und damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt tappte sie leise und lautlos zu ihrer Tür hinüber und drückte ein Ohr an das Holz.
»Du willst sie doch auch«, sagte ihre Mutter.
»Natürlich. Aber ich würde das niemals von Tessia erwarten, wenn sie keine haben will«, erwiderte ihr Vater.
»Doch du wärest enttäuscht.«
»Und erleichtert. Es ist immer ein Risiko. Ich habe zu viele gesunde Frauen im Kindbett sterben sehen.«
»Es ist ein Risiko, das wir alle eingehen müssen. Aus Angst keine Kinder zu bekommen, ist falsch. Ja, es ist ein Risiko, aber der Lohn ist so groß. Sie könnte sich großes Glück verwehren. Und wer wird sich um sie kümmern, wenn sie alt ist?«
Stille folgte.
»Wenn sie einen Sohn hätte, könntest du den Jungen ausbilden«, fügte ihre Mutter hinzu.
»Dafür ist es zu spät. Wenn ich zu alt bin, um zu arbeiten, wäre der Junge noch immer zu jung und zu unerfahren, um die Verantwortung zu übernehmen.«
»Also bildest du stattdessen Tessia aus? Sie kann nicht an deine Stelle treten. Das weißt du.«
»Sie könnte es tun, wenn sie sich die Aufgabe mit einem anderen Heiler teilen würde. Sie könnte... Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll... Sie könnte etwas zwischen einem Heiler und einer Geburtsmutter sein. Oder zumindest eine Gehilfin.«
Tessia hätte ihre Eltern gern unterbrochen, um ihnen zu sagen, dass sie mehr sein konnte als eine halbe Heilerin, aber sie bewahrte Stillschweigen. Wenn sie jetzt in den Raum platzte, nachdem sie offensichtlich gelauscht hatte, würde das wohl kaum dazu beitragen, die Meinung ihrer Mutter zu ändern.
»Du musst einen Jungen aus dem Dorf zu dir nehmen«, sagte ihre Mutter entschieden. »Und du musst aufhören, sie auszubilden. Das hat ihr unmögliche Ideen in den Kopf gesetzt. Solange sie weiter versucht, Heilerin zu werden, wird sie eine Ehe oder eine eigene Familie nicht einmal in Erwägung ziehen.«
»Es wird seine Zeit dauern, bis ich einen neuen Lehrling ausgebildet habe. In der Zwischenzeit werde ich Tessias Hilfe brauchen. Das Dorf wird immer größer, und es wird weiter wachsen. Bis ich diesen Jungen ausgebildet habe, werden wir vielleicht zwei Heiler hier brauchen. Tessia könnte ihre Arbeit fortsetzen – und vielleicht trotzdem heiraten.«
»Ihr Mann würde es nicht erlauben.«
»Das wird er vielleicht doch tun, wenn sie den richtigen Mann auswählte. Einen intelligenten Mann...«
»Einen Mann, der nichts auf Gerede gibt und dem es nichts ausmacht, mit der Tradition zu brechen. Wo, bitteschön, soll sie einen solchen Mann finden?«
Tessias Vater blieb lange still.
»Ich bin müde. Ich brauche Schlaf«, sagte er schließlich.
»Den brauchen wir beide. Ich war fast die ganze Nacht wach und habe mir Sorgen gemacht. Vor allem da Tessia im selben Haus war wie diese sachakanische Bestie.«
»Wir waren nicht in Gefahr. Lord Dakon ist ein guter Mann.«
Die wenigen Worte, die noch folgten, waren gedämpft. Tessia wartete, bis ihr Eltern einige Zeit lang nichts mehr gesagt hatten, dann schlicht sie sich vorsichtig zurück zu ihrem Bett.
Gestern Nacht habe ich ihm meinen Wert bewiesen, dachte sie selbstgefällig. Er kann mich jetzt nicht zurückweisen. Er weiß, dass kein Dorfjunge den Mut oder das Wissen gehabt hätte, um mit den Verletzungen dieses Sklaven fertig zu werden.
Aber ich habe beides.
3
Es klopfte leise an der Tür, und Meisterschüler Jayan lächelte. Er drehte sich um, und mit Hilfe einer kleinen magischen Welle drückte er die Klinke nach unten. Mit einem Klicken schwang die Tür nach innen auf. Dahinter stand eine junge Frau, die sich nach besten Kräften verneigte, soweit es ihr mit dem großen Tablett in Händen möglich war.
»Seid mir gegrüßt, Meisterschüler Jayan«, sagte sie, als sie in den Raum trat. Sie stützte ihre Last auf eine üppige Hüfte und machte sich daran, Schalen, Teller und Tassen auf den Schreibtisch zu stellen.
»Sei mir ebenfalls gegrüßt, Malia«, erwiderte er. »Du wirkst heute besonders fröhlich.«
»Das bin ich auch«, erwiderte sie. »Der Gast des Lords reist heute ab.«
Er richtete sich auf. »Wirklich? Bist du dir sicher?«
»Absolut sicher. Ich schätze, er kommt nicht zurecht ohne einen Sklaven, der ihm jeden Wunsch erfüllt.« Sie bedachte ihn mit einem verschlagenen, nachdenklichen Blick. »Ich frage mich, ob Ihr ohne mich zurechtkommen könntet?«
Jayan ignorierte ihre Frage und die offensichtliche Forderung eines Kompliments. »Warum hat er denn keinen Sklaven? Was ist aus dem Sklaven geworden, mit dem er hier angekommen ist?«
Malias Augen wurden rund. »Natürlich. Ihr könnt das ja nicht wissen. Ihr habt Euch hier im hinteren Teil des Herrenhauses versteckt und sicher nichts gehört. Takado hat seinen Sklaven gestern Nachmittag fast totgeschlagen. Heiler Veran hat sich die ganze Nacht um ihn gekümmert.« Trotz ihres sachlichen Tonfalls verrieten ihre schnellen Gesten ihr Unbehagen. Er vermutete, dass alle Dienstboten durch Takados Grausamkeit seinem Sklaven gegenüber beunruhigt waren. Sie wussten, dass für ihn nur ein geringer Unterschied zwischen einem Sklaven und einem Diener bestand.
Aber Malias Lächeln kehrte schnell zurück, und es war ein hinterhältiges Lächeln. Sie wusste, was die Abreise des Sachakaners für ihn bedeutete. Er sah sie erwartungsvoll an.
»Und?«
Das Lächeln wurde breiter. »Und was?«
»Hat er überlebt, oder ist er gestorben?«
»Oh.« Sie runzelte die Stirn, dann zuckte sie die Achseln. »Ich nehme an, er lebt noch, sonst hätten wir irgendetwas gehört.«
Jayan stand auf und trat ans Fenster. Er wollte zu Dakon gehen und mehr herausfinden, aber sein Herr hatte ihm befohlen, während des Aufenthalts des Sachakaners im Herrenhaus in seinem Zimmer zu bleiben. Als er nun aus dem Fenster schaute, hinab auf die geschlossenen Stalltüren und den verlassenen Hof, kaute er auf seiner Unterlippe.
Wenn ich nicht mehr in Erfahrung bringen kann, wird Malia überaus bereitwillig sein, mir Informationen zu besorgen.
Das Problem war, sie wollte für ihre Gefälligkeiten stets ein wenig mehr als bloßen Dank. Obwohl sie durchaus hübsch war, hatte Dakon ihn vor langer Zeit gewarnt, dass junge, weibliche Dienstboten dazu neigten, eine Vorliebe für junge, männliche Meisterschüler zu entwickeln – oder für ihren Einfluss und ihr Vermögen. Dakon hatte ihm eingeschärft, die jungen Frauen nicht auszunutzen und sich auch selbst nicht von ihnen ausnutzen zu lassen. Obwohl Jayan wusste, dass sein Meister gelegentliche Fehler oder Unbedachtheiten mit Nachsicht betrachtete, hatte er während der vergangenen vier Jahre doch auch gelernt, dass der Magier subtile und unerfreuliche Methoden hatte, inakzeptables Verhalten zu bestrafen. Er glaubte nicht, dass Dakon zu der schlimmsten Strafe greifen würde – einen Meisterschüler zu seiner Familie zurückzuschicken, ohne abgeschlossene Ausbildung und ohne Kenntnisse der höheren Magie, die ihn als unabhängigen Magier kennzeichneten -, aber er fand Malia nicht begehrenswert genug, um diese Überzeugung auf die Probe zu stellen. Oder irgendeine andere junge Frau aus Mandryn, was das betraf.
Das Kunststück bei Malia bestand darin, niemals wirklich um etwas zu bitten. Man brauchte lediglich den Wunsch zu äußern, etwas in Erfahrung zu bringen. Wenn sie ihm etwas gab, worum er gebeten hatte, war sie der Meinung, dass er ihr seinerseits etwas schuldete.
»Ich frage mich, wann der Sachakaner aufbrechen wird«, murmelte er.
»Oh, wahrscheinlich nicht vor Einbruch der Abenddämmerung«, sagte Malia leichthin.
»Abenddämmerung? Warum sollte er bei Nacht reisen?«
Sie lächelte und schob sich das Tablett unter den Arm. »Ich weiß es nicht, aber mir gefällt der Gedanke, dass Ihr noch einen ganzen Tag ganz allein hier festsitzen werdet. Schließlich wollt Ihr doch nicht das Risiko eingehen, dass er eine Vorliebe für Euch fasst und Euch als Ersatz für seinen Sklaven mit nach Hause nimmt, oder? Ich wünsche Euch noch einen schönen Tag.«
Kichernd verließ sie den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Jayan starrte auf die Tür, nicht sicher, ob sie seine List durchschaut hatte oder lediglich die Gelegenheit ergriffen hatte, ihn ein wenig aufzuziehen.
Dann seufzte er, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und begann mit seinem Morgenmahl.
Zuerst hatte Jayan keinen Anstoß an Dakons Entscheidung genommen, dass er in seinem Zimmer bleiben müsse. Er hatte jede Menge Bücher, die er lesen und studieren konnte, und es machte ihm nichts aus, allein zu sein. Er machte sich keine Sorgen darüber, dass der Sachakaner versuchen könnte, ihn zu entführen, wie Malia angedeutet hatte, da die Sachakaner niemanden versklavten, der Zugang zu seinen magischen Fähigkeiten hatte. Sie zogen Sklaven mit mächtigem latentem Talent vor, Menschen, die nicht über Magie gebieten konnten, ihrem Herrn jedoch reichlich magische Kraft boten, die er in sich aufnehmen konnte.
Nein, sollte es zu Spannungen zwischen Takado und Dakon kommen, war es wahrscheinlicher, dass der Sachakaner versuchen würde, Jayan zu töten. Zu den Aufgaben eines Meisterschülers gehörte es, seinen Herrn mit zusätzlicher magischer Kraft zu versorgen. Geradeso wie ein Sklave es tat, nur dass Meisterschüler im Gegenzug magisches Wissen erhielten. Und freie Männer oder Frauen waren.
Doch ein Konflikt zwischen Takado und Dakon war unwahrscheinlich. Etwas Derartiges würde diplomatische Konsequenzen in Sachaka und Kyralia haben, Konsequenzen, denen sich beide Magier nicht würden stellen wollen. Trotzdem war es möglich, dass Takado in irgendeiner unbedeutenden Hinsicht Ärger machen konnte, wohl wissend, dass er kaum mehr als eine Tagesreise von seinem Heimatland entfernt war. Vielleicht würde er lediglich sachakanische Überlegenheit und Macht demonstrieren wollen.
Wie zum Beispiel seinen eigenen Sklaven zu Tode zu prügeln?
Ich schätze, diese Botschaft hat er bereits übermittelt. Er hat uns gezeigt, dass er noch immer Macht über andere Menschenleben hat, aber er hat es getan, ohne irgendein kyralisches Gesetz zu brechen.
Dieser Gedanke erfüllt Jayan eigenartigerweise mit Erleichterung. Jetzt, da der Sachakaner seinen Standpunkt deutlich gemacht hatte, würde er aufbrechen, und schon bald würde Jayan keine Gefahr mehr drohen. Oder irgendeinem anderen Dorfbewohner. Er konnte den Raum verlassen und das Herrenhaus, wenn er wünschte. Es würde wieder Normalität einkehren.
Jayans Stimmung hellte sich auf. Er hatte nie geglaubt, dass er seiner eigenen Gesellschaft oder des Lesens überdrüssig werden würde. Doch es hatte sich herausgestellt, dass er einen Punkt erreichen konnte, an dem er sich nach Sonnenlicht und frischer Luft sehnte. Diesen Punkt hatte er vor einigen Tagen überschritten, und seither war er rastlos gewesen.
Aus der Lektüre von Büchern ließ sich nur ein begrenztes Wissen von Magie ziehen. Um sich eine Fertigkeit anzueignen, bedurfte es der Übung. Seine letzte Lektion von Lord Dakon lag Wochen zurück. Jeder Tag, der verstrich, war eine verzögerte Lektion. Jede verzögerte Lektion bedeutete, dass eine zusätzliche Sitzung vonnöten sein würde, bevor Lord Dakon ihn höhere Magie lehrte und Jayan ein Magier eigenen Rechts wurde.
Dann würde Jayan den Respekt und die Macht genießen, die ihm als höherem Magier zukamen, und er konnte beginnen, ein eigenes Vermögen anzuhäufen. Er würde wie sein älterer Bruder, Lord Velan, einen Titel tragen, auch wenn der Titel »Magier« den Titel »Lord« niemals an Bedeutung würde übertreffen können. Nichts genoss in Kyralia größeres Ansehen als der Besitz von Land, selbst wenn es sich lediglich um eins der prächtigen alten Häuser der Stadt handelte.
Aber der Besitz eines Lehens war höher angesehen als der Besitz eines Hauses, was ironisch war, da Magier, die auf dem Land lebten, als rückständig und hinterwäldlerisch galten. Wenn Jayan sich weiter gut mit seinem Meister stellte und Dakon nicht heiratete und einen magiebegabten Erben zeugte, bestand die Chance, dass Dakon Jayan zu seinem Erben bestimmen würde. Es war durchaus schon vorgekommen, dass ein Magier einen ehemaligen Meisterschüler begünstigte, wenn er keinen rechtmäßigen Erben hatte.
Es war jedoch nicht nur der Gedanke, seinen Bruder in puncto Landbesitz zu übertreffen, der Jayan so gefiel. Auch die Vorstellung, sich eines Tages nach Mandryn zurückzuziehen, hatte ihren Reiz. Er hatte festgestellt, dass ihm diese ruhige Existenz behagte, fernab der gesellschaftlichen Spielchen der Stadt, die er einst mit solchem Genuss beobachtet hatte – und fernab vom Einfluss seines Vaters und seines Bruders.
Aber Dakon ist noch nicht zu alt, um zu heiraten und Kinder zu zeugen, dachte er. Sein Vater hat beides recht spät im Leben getan. Selbst wenn Dakon sich dagegen entscheidet, hat er noch viele Jahre vor sich, sodass ich reichlich Zeit habe, zuerst die Welt zu erkunden. Und je früher ich lerne, was ich brauche, um ein höherer Magier zu werden, umso früher werde ich frei sein zu reisen, wohin ich will.
Das Licht, das durch die Fensterläden von Tessias Zimmer drang, wirkte vollkommen verkehrt. Dann fiel ihr die Arbeit der vergangenen Nacht wieder ein, und dass sie und ihre Eltern erst am Morgen ins Bett gegangen waren. Natürlich wirkte es verkehrt. Es war Mittag.
Für eine Weile blieb sie liegen und erwartete, dass sie wieder einschlafen würde, aber sie tat es nicht. Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte und noch immer eine unangenehme Erschöpfung verspürte, blieb sie wach. Ihr Magen knurrte. Vielleicht war es der Hunger, der sie nicht einschlafen ließ. Sie stieg aus dem Bett, kleidete sich an und richtete sich das Haar. Als sie leise aus ihrem Zimmer trat, sah sie, dass die Tür ihrer Eltern noch immer geschlossen war. Sie konnte leises Schnarchen hören.
Unten an der Treppe ging sie in Richtung Küche. Der Kamin war kalt, das Feuer der frühen Morgenstunden inzwischen verloschen. Sie nahm sich eine Pachi-Frucht aus einer Schale auf dem Tisch. Dann bemerkte sie die Tasche ihres Vaters auf dem Boden.
Der Sklave, dachte sie. Vater hat gesagt, der erste Tag der Pflege nach einer Behandlung sei der wichtigste. Verbände müssen gewechselt und Wunden gereinigt werden. Und die Schmerzmittel werden langsam an Wirkung verlieren.
Tessia blickte zur Decke hinauf, wo das Zimmer ihrer Eltern lag, und überlegte, ob sie ihren Vater wecken sollte. Noch nicht, beschloss sie. In seinem Alter braucht er dringender Schlaf als ich. Also wartete sie. Sie erwog, etwas zu kochen, bezweifelte jedoch, dass sie das tun konnte, ohne Lärm zu machen und ihre Eltern zu wecken. Stattdessen ging sie zu der Tasche ihres Vaters hinüber. Dann stahl sie sich in sein Arbeitszimmer und füllte die Tasche wieder mit Medikamenten, Zwirn und Verbänden auf. Zu guter Letzt machte sie sich daran, all seine Instrumente zu reinigen und zu schärfen.
Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, kroch langsam durch den Raum.
Einige Stunden war sie mit ihrer Arbeit beschäftigt. Als ihr keine neue Aufgabe mehr einfiel, kehrte sie in die Küche zurück und stellte die Tasche ihres Vaters an die Haustür. Dann schlich sie sich die Treppe hinauf, lauschte auf das Schnarchen ihrer Eltern und überlegte.
Wir müssen bald nach dem Sklaven sehen, dachte sie. Ich sollte Vater wecken – was bedeutet, dass Mutter ebenfalls aufwachen wird. Oder ich könnte allein gehen.
Bei dem letzten Gedanken durchflutete sie prickelnde Erregung. Wenn sie den Sklaven allein versorgte – falls die Diener in Lord Dakons Haus sie einließen -, würde das nicht beweisen, dass die Dorfbewohner sehr wohl Vertrauen in sie als Heilerin hatten? Würde es nicht zeigen, dass sie mit der Zeit an die Stelle ihres Vaters treten konnte?
Sie ging die Treppe wieder hinunter und zur Haustür. Als sie einen Blick auf die Tasche ihres Vaters warf, verspürte sie einen Anflug von Zweifel.
Es könnte Vater wütend machen. Aber wenn ich etwas tue, worum er mich nicht gebeten hat, ist das nicht so schlimm wie der Verstoß gegen einen Befehl. Und es geht um nichts Anspruchsvolleres als die einfache Versorgung nach einer Behandlung. Sie lächelte verstohlen. Und wenn ich einen von Lord Dakons Dienern dazu bewegen kann, bei mir zu bleiben, kann ich beweisen, dass ich zumindest Mutters Sorgen um meine Sicherheit berücksichtigt habe.
Also griff sie nach der Tasche, hob sie auf, öffnete so leise wie möglich die Haustür und schlüpfte hinaus.
Es waren mehrere Dorfbewohner unterwegs, wie sie sah. Die beiden Söhne des Bäckers lümmelten sich an die Mauer ihres Hauses und genossen den sonnigen Nachmittag. Sie nickten ihr zu, und sie erwiderte ihr Lächeln. Ob vielleicht einer der beiden auf Mutters Liste zukünftiger Ehemänner steht, fragte sie sich. Keiner der beiden interessierte sie. Obwohl sie jetzt durchaus höflich waren, konnte sie nicht umhin, sich daran zu erinnern, wie lästig sie als Jungen gewesen waren, wenn sie ihr Schimpfnamen zugerufen und sie an den Haaren gezogen hatten.