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Ein Jahrtausend lang lenkte Valhan, der mächtigste aller Magier, die Geschicke der tausend Welten. Doch nun ist er tot, und Chaos greift um sich. Seine natürliche Nachfolgerin ist die junge Magierin Rielle, aber sie sträubt sich, diese Verantwortung zu übernehmen. Ohne ihre Wünsche zu beachten, bekämpfen sich im Hintergrund bereits ihre Unterstützer und ihre Gegner. Und niemand weiß, dass Valhans Pläne über seinen Tod hinaus gehen. Er will wiedergeboren werden, um ein weiteres Jahrtausend die Welten zu beherrschen – und dafür werden er und seine Anhänger jedes Hindernis beseitigen.
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Seitenzahl: 904
Buch
Ein Jahrtausend lang lenkte Valhan, der mächtigste aller Magier, die Geschicke der tausend Welten. Doch nun ist er tot, und Chaos greift um sich. Seine natürliche Nachfolgerin ist die junge Magierin Rielle, aber sie sträubt sich, diese Verantwortung zu übernehmen. Ohne ihre Wünsche zu beachten bekämpfen sich im Hintergrund bereits ihre Unterstützer und ihre Gegner. Und niemand weiß, dass Valhans Pläne über seinen Tod hinausgehen. Er will wiedergeboren werden, um ein weiteres Jahrtausend die Welten zu beherrschen – und dafür werden er und seine Anhänger jedes Hindernis beseitigen.
Autorin
Trudi Canavan wurde 1969 im australischen Melbourne geboren. Sie arbeitete als Grafikerin und Designerin für verschiedene Verlage und begann nebenbei zu schreiben. 1999 gewann sie den Aurealis Award für die beste Fantasy-Kurzgeschichte. Ihr Erstlingswerk, der Auftakt zur Trilogie Die Gilde der Schwarzen Magier, erschien 2001 in Australien und wurde weltweit ein riesiger Erfolg. Seither stürmt sie mit jedem neuen Roman die internationalen Bestsellerlisten. Allein in Deutschland wurden bislang über 2,5 Millionen Bücher von Trudi Canavan verkauft.
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Trudi Canavan
Die MÄCHTIGE
DIE MAGIE DER TAUSEND WELTEN 3
Roman
Deutsch von Michaela Link
ERSTER TEIL
1 Tyen
Das Rumpeln war eher zu fühlen als zu hören, ein tiefes Beben, das von den Füßen aufgenommen durch Mark und Bein ging und in der Brust seine natürliche Resonanz fand. Alle Scheibenmacher blickten gleichzeitig auf, dann ließ das Rumpeln wieder nach, und sie wandten sich zu Tyen um.
Er sah von einem zum anderen, während sich in ihren ängstlichen Mienen ein wachsendes, ungreifbares Grauen widerspiegelte. Alle standen ganz still, daher erregte die kleine Bewegung an der Eingangstür zur Werkstatt sofort seine Aufmerksamkeit. Ein menschenförmiger Schatten nahm Gestalt an, gewann Konturen und wurde schnell dunkler. Eine Frau, den Mund zu einem grimmigen Strich zusammengepresst.
»Sprecherin Fursa«, sagte er, und als die anderen sich zu der Zauberin umwandten, veränderten sich ihre Züge und zeigten jetzt Respekt. Sie legten sich zwei Finger aufs Herz, um die Anführerin ihrer Welt zu grüßen, und Tyen tat es ihnen gleich.
»Tyen Scheibenmacher.« Die Frau trat in die Welt ein. »Der Große Markt ist überfallen worden. Wir brauchen Hilfe.« Sie sah sich um. »Von euch allen.«
Tyen nickte. »Die Angreifer?«
»Verschwunden.« Sie holte tief Luft und stieß den Atem wieder aus, in ihren Augen ein dunkler, gehetzter Ausdruck. »Das halbe Dach ist eingestürzt. Viele sind darunter begraben.«
Die Scheibenmacher wechselten entsetzte Blicke. Tyen griff nach einem Lappen und wischte sich das Öl von den Händen. »Wir kommen sofort.«
Sie nickte, dann verblasste sie und war gleich darauf nicht mehr zu sehen.
»Ich werde euch hinbringen«, erbot sich Tyen. Die anderen Scheibenmacher entfernten sich von den Maschinen, an denen sie gearbeitet hatten, und gesellten sich zu ihm in den einzigen freien Bereich im Raum, die Stelle vor der Eingangstür. Jeder ergriff die Hand eines anderen Arbeiters; Männer und Frauen verbunden durch ihre Berührung.
»Seid ihr bereit?«
Ein zustimmendes Raunen folgte, dann holten alle tief Luft. Tyen zog Magie von einer Stelle weit über ihnen, um das, womit die Stadt für schwächere Zauberer mit einer kürzeren Reichweite angefüllt war, nicht antasten zu müssen. Doum war zwar eine an Magie reiche Welt, und die Lücke, die er hinterließ, würde schon bald wieder ausgefüllt sein durch das, was aus der Umgebung dorthin nachfloss, doch er fände es schrecklich, wenn durch seine Schuld andere Zauberer am Schauplatz der Katastrophe nicht helfen konnten.
Als er sich aus der Welt abstieß, schien die Werkstatt ihre Farben zu verlieren, und alle Geräusche erstarben. Er spürte eine frische Delle im Stoff zwischen den Welten, zweifellos dort, wo Sprecherin Fursa hindurchgetreten war, um zu ihnen zu gelangen, da der Pfad aus der Richtung des Rathauses kam. In dem Bewusstsein, dass er und seine Arbeiter zwischen den Welten nur so lange durchhalten konnten, wie sie ohne Luft zu überleben vermochten, sandte er sie rasch empor und passierte die Decke und das erste Stockwerk hinein in einen blassblauen Himmel. Mit Blick über Alba, der größten und berühmtesten Stadt der Töpfer in Doum, suchte er nach der vertrauten, bogenförmigen Silhouette des Großen Marktes.
Als er sie fand, hielt er erschrocken inne. Fursa hatte bei der Beschreibung des Schadens untertrieben, oder es hatte sich in der Zwischenzeit noch Schlimmeres ereignet. Nur ein Viertel des bemerkenswerten, gewellten Daches, konstruiert durch zusammenzementierte, flache Ziegelsteine, war übrig geblieben.
Er ließ sie darauf zusausen.
Die Halle des Großen Marktes war ein wunderschönes Gebäude gewesen. Darin befanden sich Verkaufsstände, an denen die besten Waren der Stadt feilgeboten wurden und die Tag und Nacht besetzt waren. Warum sollte irgendjemand versuchen, den Markt zu zerstören?, fragte er sich. War der Angriff von einer rivalisierenden Stadt ausgegangen oder von irgendwo außerhalb der Welt? Den Markt anzugreifen hieß, Albas wichtigste Einkommensquelle zu attackieren. Es war außerdem ein Angriff auf den Ort, in den er fünf Zyklen investiert hatte, um sich ein neues Zuhause zu schaffen – ein Ort, den er mehr liebte als seine eigene Heimatwelt –, und Zorn regte sich in ihm.
Zweifellos wussten die von den Werkstattmeistern der Städte Doums gewählten Sprecher mehr. Er könnte nach Informationen suchen, indem er ihre Gedanken las, aber wie bei vielen Völkern der Welten war das Gedankenlesen ohne Erlaubnis hier geächtet. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, dieses Gesetz zu befolgen, nicht zuletzt, weil es nur eines Ausrutschers seinerseits bedurfte, um zu offenbaren, dass er dieses Gesetz gebrochen hatte, und damit wäre die Billigung, nach der er strebte, verloren. Er mochte sich als ein mächtiger Zauberer und der Erfinder der ersten magiebetriebenen Töpferscheiben der Welt ihren Respekt verdient haben, aber als Anderweltler betrachtete man ihn trotzdem mit Argwohn.
Die Stadt unter ihm blitzte verschwommen vorbei. Das zerstörte Gebäude gewann mit zunehmender Annäherung an Größe und Details. Als sie sich den gezackten, eingestürzten Mauern näherten, erblickten sie in den Schatten dazwischen einen großen Schutthaufen. In den Trümmern glitzerten Glassplitter. Ein paar Überreste der Verkaufsstände ragten aus dem Chaos hervor, aber die Waren und die Betreiber der Stände waren vielerorts unter den Trümmern begraben. Einige Menschen waren dabei, Schutt wegzuräumen; andere lagen auf dem Boden inmitten der Verkaufsbereiche, die noch standen, ihre Kleider voller Blut. Manche bewegten sich, andere nicht.
Der Anblick brachte unschöne Erinnerungen an einen einstürzenden Turm mit sich sowie eine Welle von Schuldgefühlen. Er drängte beides beiseite. Seit der Tragödie des Einsturzes der Helmburg waren zehn Zyklen vergangen – wobei Zyklen ein Ersatzmaß für »Jahre« war, das Zauberer und Händler zwischen den Welten benutzten, da keine Welt das exakt gleiche Jahresmaß hatte wie die anderen –, aber er erinnerte sich immer noch deutlich daran. Er war jetzt noch fester entschlossen zu helfen. Diesmal kann ich etwas tun, sagte er sich. Wenn man mich lässt.
Er brachte seine Arbeiter auf der Suche nach einem sicheren Ankunftsort nach unten. Er entschied sich dagegen, sie innerhalb des Gebäudes wieder in die Welt zu bringen, da er sich nicht sicher sein konnte, ob der verbliebene Teil des Daches nicht einstürzen würde. Fursa hat gesagt, wir seien die Zauberer, die am nächsten sind – also sind wohl noch nicht viele andere da. Ich sollte besser alle abschirmen, falls die Mauer nach außen stürzt. Auf dem Platz draußen vor dem Gebäude wimmelte es von Schaulustigen. Helfer eilten aus dem Gebäude, warfen Trümmer auf stetig wachsende Haufen und liefen dann wieder hinein. Weil es dort keine freie Fläche zum Landen gab, wählte er einen Bereich zwanzig Schritt entfernt und wartete darauf, dass die Leute, die dort standen, sie bemerkten und Platz machten.
Es dauerte nicht lange. Als sie die zum Teil durchsichtige Gruppe entdeckten, liefen die Schaulustigen hastig beiseite. Kaum war der Platz frei, brachte Tyen seine Arbeiter zurück in die Welt. Alle sogen hustend die staubige, trockene Luft ein. Manche verbargen das Gesicht in den Händen, als die körperlichen Auswirkungen von Gefühlen, die zwischen den Welten fehlten, plötzlich zurückkehrten. Noch während sie tief durchatmeten, um sich von der Reise zu erholen, strafften sich ihre Schultern, und die Hände, mit denen sie sich an ihren Nachbarn festgehalten hatten, um sich von Tyen mitziehen zu lassen, tätschelten und drückten nun zur Beruhigung und Unterstützung.
»Lasst uns sehen, was wir tun können«, sagte Tyen und ging auf das Gebäude zu.
Als sie eintraten, blickte er zu der verbliebenen Decke empor. Nur eine der fünf hohen Säulen in der Mitte stand noch. Er zog ein wenig Magie in sich hinein und brachte die Luft über seinen Arbeitern zum Stillstand, um einen Schild zu formen – vielleicht ein wenig zu stark, da Kälte die Luft sofort kondensieren ließ.
»Das ist nicht nötig, Tyen Scheibenmacher«, meldete sich ein Mann zu Wort, der irgendwo rechts von Tyen stand. »Wir sorgen dafür, dass das Dach obenbleibt.«
Tyen hielt nach dem Sprecher Ausschau. Ein ihm bekannter alter Mann erschien und schlängelte sich zwischen den Arbeitern hindurch.
»Meisterglaser Rayf.« Tyen stieß den Atem aus. »Was können wir tun?«
»Hat irgendjemand von euch heilende Fähigkeiten?«, fragte Rayf.
Die Arbeiter wechselten Blicke, und die meisten von ihnen schüttelten den Kopf.
»Ich kenne mich ein bisschen aus«, meldete sich einer der jüngeren Männer zu Wort. »Ich verstehe mich nicht auf heilende Magie, aber auf Verbände und das Nähen von Wunden.«
»Ich habe ein wenig Zeit in Faurio verbracht, während der Ausbildung«, sagte Tyen. Bis mich ein ehemaliger Rebell erkannt hat, fügte er im Geiste hinzu, und ich hatte die Wahl, ihn entweder zu töten oder fortzugehen. »Ein paar Grundlagen habe ich mitbekommen.«
Rayfs Blick wanderte zu Tyen, und er zog eine Augenbraue hoch. »Ihr könnt mit Magie heilen?«
Tyen schüttelte den Kopf. »Das können nur die, die nicht altern.«
Bei diesem Informationsfetzen über Tyen schärfte sich der Blick des alten Mannes. Zweifellos hatte er sich schon gefragt, ob der mächtige Anderweltler alterte – oder vielmehr, was es für Doum bedeutete, wenn er das nicht tat. Dann schaute er an Tyens Schulter vorbei und runzelte die Stirn. Er trat ein wenig näher an Tyen heran und lud ihn mit leiser Stimme ein: »Blickt in meinen Geist.«
Tyen tat es und sah dort Bestürzung und ein Bild von den Ständen in seinem Rücken. Hinter einer Reihe von Trümmer wegschaffenden Leuten befand sich zwischen Töpferware, die in einem noch intakten Marktstand aufgestapelt war, ein dunklerer Schatten. Daraus blitzte ein Paar Augen hervor, das auf den großen Schutthaufen gerichtet war.
Dann sah Rayf wieder Tyen an. »Ich kann seine Gedanken nicht lesen. Wer ist das?«, zischte er.
Tyen sandte seine Sinne hinter sich und suchte nach dem Besitzer der Augen. Angesichts der Gedanken, auf die er dort traf, runzelte er die Stirn.
Das wird noch Stunden dauern. Je länger ich hierbleibe, desto größer ist die Gefahr, dass mich jemand entdeckt. Warum sollte ich es riskieren, gefangen genommen zu werden, obwohl nicht ich derjenige war, der den Auftrag gegeben hat, den Markt zu überfallen? Und wenn tatsächlich ein Sprecher gestorben ist, wird der Kaiser keine Verhandlungen führen, um mich zurückzubekommen. Er wird mich im Stich …
»Sein Name ist Axavar«, murmelte Tyen. »Er stammt von Murai. Ein Zauberer der dortigen Schule.«
»War er bei denen, die das hier getan haben?«
Tyen nickte. »Er ist hier postiert worden, um Wache zu halten und sicherzustellen, dass er und die anderen Angreifer keine Sprecher getötet haben. Der Kaiser wird nur gegen die vorgehen, die den Angriff in Auftrag gegeben haben, wenn einer unserer Anführer gestorben ist.«
Rayfs Augen wurden schmal. »Und wer hat das getan?«
»Er hat die Händler von Murai in Verdacht.«
Der alte Mann stieß ein Zischen aus. »Zweifellos bestraft man uns dafür, dass wir einen Mindestpreis festgesetzt haben. Was für Händler?«
»Er denkt an niemand Bestimmten. Er ist nur ein Handlanger. Noch zu jung, als dass man ihm viel Autorität übertragen hätte.«
Und er störte sich nicht im Mindesten an dem, was er und seine Leute hier angerichtet hatten. Tyen schüttelte den Kopf. Es war unglaublich grausam, Menschen zu töten, nur weil sie sich weigerten, ihre Waren zu einem zu niedrigen Preis zu verkaufen, um noch davon leben zu können. Wenn Axavars Gedanken zutreffend waren, dann hatten die Händler von Murai sich überlegt, dass ihr eigenes Überleben davon abhing, die Waren Doums mit einem ordentlichen Profit weiterverkaufen zu können, obwohl Tyen den Verdacht hatte, dass »Überleben« nicht bedeutete, dass sie dem Hungertod entgegensahen – sie befürchteten lediglich eine Verringerung ihres gewaltigen Reichtums.
»Was erwartet Ihr von mir?«, fragte Tyen.
Rayf zögerte, sein Gesichtsausdruck unentschlossen, doch als eine Frau seinen Namen rief, hellte sich seine Miene ein wenig auf. Sie drehten sich beide um und sahen mehrere in rote Gewänder gekleidete Männer und Frauen in das Gebäude kommen. Eine Frau ging direkt auf Rayf zu, während die Übrigen zu den Verletzten eilten.
»Ah, gut. Die Heiler von Payr sind hier.« Der alte Mann wandte sich wieder Tyen zu. »Folgt ihm, wenn er geht. Findet heraus, wer sonst noch verantwortlich ist und ob der Kaiser dahintersteckt.«
Tyen nickte. Er holte tief Luft, dann stieß er sich aus der Welt ab und hielt an, als er kaum noch seine eigene Position im Raum ausmachen konnte. Man hätte glauben können, er sei verschwunden, wenn man nicht ganz genau hinschaute. In einem weiten Bogen näherte er sich dem Muraianer von hinten.
Im letzten Moment drehte der Mann sich um und entdeckte Tyen. Und floh, schoss in das Dazwischen und raste davon.
Tyen jagte ihm nach.
Der zerstörte Große Markt verblasste, während Tyen dem Mann folgte. Der Stoff zwischen den Welten wallte zu beiden Seiten von Axavars frischem Pfad auf. Als Tyen langsam auf den Mann aufholte, beschleunigte dieser sein Tempo. Tyen hätte zu ihm aufschließen können, aber er hielt sich zurück und ließ den Mann den Abstand zwischen ihnen vergrößern. Es war besser, Axavar glauben zu machen, er habe Tyen abgeschüttelt, sodass er direkt zu seinem eigentlichen Ziel flog.
Höchstwahrscheinlich handelte es sich dabei um die anderen Zauberer, die den Markt angegriffen hatten. Tyen würde sich ihnen vorsichtig nähern, und zwar so, dass sie es nicht bemerkten. Es war unwahrscheinlich, dass ein einzelner muraianischer Zauberer stark genug war, um eine Bedrohung für Tyen darzustellen, aber er konnte nicht ermitteln, wie mächtig sie zusammen sein mochten. Und wenn sie dachten, er sei die Vorhut eines Gegenangriffs von Doum, würden einige von ihnen vielleicht nach Alba zurückkehren und erneut angreifen.
Als er endlich den Punkt genau zwischen den Welten, wo überhaupt nichts sichtbar war, passiert hatte, tauchten langsam Schatten aus dem Weiß auf. Eine Stadt lag unter ihnen, die schnell Gestalt annahm. Sie befand sich am Fuß einer Felswand, über die sich ein großer Wasserfall ergoss, der die Stadt unablässig in einen Nebel aus Gischt hüllte. Der Fluss unterhalb der Felswand teilte die Stadt, aber eine Reihe anmutiger Brücken verband die beiden Hälften.
Dies war Glaemar, die Hauptstadt des mächtigsten Landes auf Murai und die Heimat des Kaisers, der hier über alle bis auf einige wenige ferne Länder herrschte, die zu arm waren, um zu einer Eroberung zu verlocken. Tyen war ungefähr zu der Zeit schon einmal hier gewesen, als er sich in Doum niedergelassen hatte, neugierig auf den wohlhabenden und mächtigen Nachbarn und Hauptkunden der Welt der Töpfer. Während Glaemars Klima kühler war als das von Alba, war die Atmosphäre kultivierter – aber unfreundlicher. Wohlstand und Macht wurden hier weitervererbt und die Armen in ewiger Knechtschaft gehalten. Magische Fähigkeiten boten nur begrenzte Freiheit von starren Klassenschranken.
Es erinnerte ihn zu sehr daran, woher er kam, aus dem erhabenen leratianischen Reich, das den größten Teil seiner Welt erobert und kolonialisiert hatte – auch wenn es in der Stadt Beltonia mit ihrem fortschrittlichen Kanalisationssystem erheblich weniger stank, als es Glaemars notdürftig abgedeckte Gräben taten.
Axavar stürmte auf seine Heimatwelt zu und verminderte erst im letzten Moment das Tempo, um seine Position zu verändern. Tyen ließ sich zurückfallen. Er wusste, dass die geringeren magischen Fähigkeiten des Mannes bedeuteten, dass er größere Schwierigkeiten hatte, andere zwischen den Welten zu sehen. Schließlich machte Axavar einen Satz auf ein großes Gebäude mit einem viereckigen Innenhof zu.
Tyen blieb hoch genug über der Stadt, sodass er für die Leute unter ihm nur als Punkt zu erkennen war. Trotzdem erzeugte er eine Kugel aus zum Stillstand gebrachter Luft um sich herum, die ihn sowohl trug als auch abschirmte, als er in der Welt auftauchte. Er beobachtete Axavar, indem er in dessen Geist las.
Der muraianische Zauberer war in der Schule der Zauberer von Murai angekommen. Aus allen Richtungen näherten sich Schritte, als andere Zauberer auf seinen Ruf reagierten. Gesichter ließen sich sehen, Männer und Frauen spähten von Balkonen herab. Weitere kamen mit langen Schritten aus den Bogengängen darunter. Alle starrten Axavar an, als er seine Erklärung stammelte.
Ein Zauberer habe ihn gesehen. Sei ihm gefolgt. Er würde vielleicht jeden Moment hier ankommen.
Axavar nahm dunkle Strahlen wahr, die um die Zauberer herum aufflammten, als sie Magie in sich hineinzogen, in Vorbereitung auf einen möglichen Eindringling.
Aber Tyen hatte nicht die Absicht, ihnen entgegenzutreten. Stattdessen durchsuchte er ihren Geist. Er erfuhr, dass Meister Rayf recht gehabt hatte. Als die Sprecher von Doum Mindestpreise für ihre Waren festgesetzt hatten, hatten die muraianischen Händler beschlossen, sie zu bestrafen, und fünf Angehörige der Schule der Zauberei von Glaemar angeheuert, damit sie nach Alba reisten und den Markt zerstörten.
Sie wussten, dass der Kaiser sie nicht bestrafen würde, solange keine Anführer Doums dabei starben. Muraianer hielten den Tod von Männern, Frauen und Kindern, die in den Marktständen arbeiteten, nicht für wichtig, weil Ladenbesitzer in ihrer Kultur einen niederen Rang bekleideten. Aber in Doum wurde der Handel von den Familien der Töpferwarenhersteller, Ziegelbrenner, Fliesenhersteller und anderer Produzenten kontrolliert – darunter Verwandte der Sprecher. Familienmitglieder, die kein künstlerisches Talent besaßen, aber Geschick im Umgang mit Zahlen und für Verhandlungen, wurden genauso geschätzt wie die Schöpferischen, da sie den Kunsthandwerkern ermöglichten, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
Axavars Kollegen sahen die Leiterin der Schule an, eine Frau namens Oerith. Sie bezweifelte, dass ein einzelner doumianischer Zauberer es wagen würde, die Schule zu attackieren. Doch er würde auf Informationen aus sein, und sobald heraus war, warum der Große Markt angegriffen worden war, würden sich die Doumianer vielleicht die Händler vornehmen oder sogar den Kaiser selbst. Der Schule würde man zum Vorwurf machen, dass Axavar sich hatte erwischen lassen. Es sei denn, sie handelten schnell und warnten alle. Die Namen der Händler hatte man der Schule nie offenbart, und ihre Verhandlungen waren stets durch einen Mittelsmann abgewickelt worden, aber der Kaiser kannte sie wahrscheinlich oder würde es zumindest bald, wenn die Nachricht ihn erst erreichte. Sie gab Anweisungen, dass die Schule einen Wachposten aufstellen und sich bereithalten sollte, sich zu verteidigen, dann stieß sie sich aus der Welt ab, und ihr Geist verstummte.
Was soll ich tun?, überlegte Tyen. Für einen Moment erwartete er, zur Antwort Pergamas Stimme zu hören, aber er hatte sie gut versteckt in seinem Haus zurückgelassen.
Rayf wollte die Namen der Händler. Tyen konnte unten nach ihrem Geist suchen, aber die Stadt war groß, das würde seine Zeit dauern. Oerith glaubte, dass der Kaiser sie kannte.
Tyen richtete seine Aufmerksamkeit auf ein großes, weitläufiges Gebäude am Fuß der Felswand. Es stand neben dem Wasserfall, und seine Bewohner hatten wahrscheinlich Zugang zu dem saubersten Wasser. Er suchte Geister im Inneren des Gebäudes. Es dauerte nicht lange, bis er Oerith fand. Da so viele Leute dazu angestellt waren, dem Kaiser zu gefallen, war es nicht schwer, diesen ebenfalls auszumachen. Oerith befand sich bereits bei ihm im Audienzsaal. Als sie damit fertig war, vor dem Zauberer zu warnen, der Axavar gefolgt war, drehte sie sich um und sah die fünf Männer an, die in der Nähe knieten.
Die Händler, vermutete sie. Tyen schaute in deren Geist und fand es bestätigt. Er hatte ihre Namen. Er konnte verschwinden.
Aber dann hörte Tyen mit ihren Ohren, wie der Kaiser in Gelächter ausbrach.
Als Tyen einen suchenden Blick in den Geist des Herrschers warf, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Der Mann zeigte sich belustigt. Er hatte nicht die Absicht, die Händler zu bestrafen. Stattdessen überlegte er, wie schwierig eine richtige Invasion Doums sein würde.
Hitze verjagte die Kälte, als Tyens Ärger von vorhin an die Oberfläche zurückkehrte, aber er hielt still.
Wenn ich mich einmische, könnte ich die Situation noch verschlimmern.
Doch wenn er nichts tat, würde der Ort, an dem er sich so mühevoll ein Zuhause geschaffen hatte, der Ort, den er mehr zu lieben gelernt hatte als seine eigene Welt, zerstört werden.
Aber er hatte keine Ahnung, wie viele Zauberer der Kaiser zu seinem Schutz um sich scharte oder wie mächtig sie waren. Jedenfalls dürfte es sich nicht um geringe Kräfte handeln.
Tyen sah in den Geist der Männer und Frauen, die dem Kaiser am nächsten standen, um festzustellen, wie viele davon Zauberer waren. Mit der Anzahl, auf die er kam, war er zuvor schon fertig geworden. Aber wie stark waren sie? Viele von ihnen wogen ab, welche Chancen sie gegen Doum haben würden, wenn es zu einem großen Konflikt kommen sollte. Sie hielten sich unter diesen Umständen zwar für überlegen, aber keiner von ihnen hatte Erfahrung mit Kämpfen zwischen den Welten, und die meisten schienen sich ziemlich zu überschätzen.
Es würde also ein Risiko sein, den Kaiser zur Rede zu stellen, aber eins, das Tyen für seine neue Heimat einzugehen bereit war.
Mit einem tiefen Atemzug stieß er sich ab in das Dazwischen und flog dann nach unten.
Er stürzte sich jedoch nicht durch das Dach des Audienzsaals. Das wäre zu bedrohlich gewesen. Er wollte, dass der Kaiser es sich noch einmal genau überlegte, ob er sich Doum zum Feind machte, und ihn nicht wirklich herausfordern. Also landete er ein gutes Stück entfernt von dem Saal und näherte sich dann einem Wachposten.
Der Mann – ein Hauptmann – zuckte zusammen, da er Tyens Ankunft gar nicht bemerkt hatte.
»Ich möchte mit dem Kaiser über das Volk von Doum sprechen.«
Der Hauptmann sah Tyen mit zusammengekniffenen Augen an, denn er bezweifelte, dass irgendjemand von Wichtigkeit einen so schmutzigen Gesandten schicken würde. »Und Ihr seid?«
»Tyen, der Scheibenmacher. Aus Alba.« Tyen schnaubte. »Und ich hätte mir die Zeit genommen, mich dem Anlass entsprechend zu kleiden, wenn es nicht vordringlicher gewesen wäre, einen Krieg zwischen unseren Welten abzuwenden.« Er stieß sich aus der Welt ab und flog an dem Mann vorbei. Dann tauchte er hinter ihm wieder auf und schaute hochmütig über seine Schulter. »Wäre es Euch lieber, ich suche selbst nach dem Kaiser?«
Der Hauptmann richtete sich auf. »Nein. Ich werde Euch zu ihm bringen.« Er bedeutete Tyen mitzukommen, dann machte er sich auf den Weg durch den Palast.
Bei seinem letzten Besuch in Glaemar hatte Tyen den Palast nur von außen gesehen, aber nie einen offiziellen Grund gehabt, ihn zu betreten, und deshalb auch keine Gelegenheit, ihn sich von innen anzusehen. Er hatte ihn sich anders vorgestellt. Statt der gewohnten Überfülle kostbarer Gegenstände und Verzierungen, die sich in einer Zurschaustellung von Wohlstand und Pracht zusammendrängten, war der Palast innen offen gestaltet und bar jeden Schmucks. Keine massiven Wände unterteilten das Gebäude in Zimmer, lediglich Säulenreihen. Bögen öffneten sich in Atrien, die Sonne und Feuchtigkeit zu kunstvoll angeordneten Pflanzen in riesigen Töpfen hereinließen. In manchen der Innenhöfe gab es Pergolen. Die Wirkung war, dass innen und außen ineinander übergingen. Es bedeutete auch, dass der Nebel vom Wasserfall, den ein sanfter Wind überall hintrug, die Luft feucht und kühl hielt.
Doch im Palast fehlte es nicht gänzlich an Kunstwerken. Hier und da stand zwischen den Säulen eine anmutige Skulptur, die Töpfe der Pflanzen stammten aus einer der besten Töpfereien von Doum, und die Böden waren mit Mosaiken bedeckt, die genauso beeindruckend waren wie jene, die den Haupteingang schmückten. Wenn der gesamte Gebäudekomplex, den er von oben gesehen hatte, mit Mosaiken ausgelegt war, mussten sie eine Fläche so groß wie ein Dorf, vielleicht sogar wie eine kleine Stadt bedecken.
Zweifellos schmückten viele der wohlhabenderen Häuser in Glaemar und anderen muraianischen Städten ihre Häuser ebenfalls auf diese Weise. Alles, was als gut genug für die Herrscher eines Landes oder einer Welt galt, war auch für diejenigen mit Ehrgeiz und dem Verlangen, reich und mächtig zu erscheinen, erstrebenswert. Als er genauer hinschaute, stellte er fest, dass die Mosaikteilchen alle glasiert waren. Also Keramik, nicht Stein.
Kein Wunder, wenn die Händler etwas empfindlich darauf reagieren, dass die Sprecher die Preise kontrollieren. Es muss für dieses spezielle Produkt einen blühenden Markt geben, zusätzlich zu dem der Töpferwaren und der Rohre, die sie in Doum kaufen.
Er passierte Diplomaten und Höflinge, Bürokraten und Diener. Letztere waren alle jung und hübsch, bemerkte er, obwohl sie allesamt schlichte Kleidung aus dem gleichen Tuch trugen. Ich schätze, an einem so öffentlichen Ort kann man die Diener nicht verstecken, daher sorgt der Kaiser dafür, dass sie einen angenehmen Anblick bieten.
Mehrere Personen in einer anderen, aufwendigeren Uniform hielten in ihrem Gespräch inne und starrten ihn an. Einige folgten ihm, andere eilten davon. Zauberer, las er in ihrem Geist, hier aufgestellt, um alle Besucher des Kaisers in Augenschein zu nehmen. Es gefiel ihnen nicht, was sie von ihm zu sehen bekamen – nämlich einen Anderweltler in doumianischer Tracht, dessen Geist sie nicht lesen konnten.
Doch niemand stellte sich ihm in den Weg, und er wusste aus den Geistern, die er las, dass er sich tatsächlich dem Audienzsaal näherte. Schließlich kamen sie an Innenmauern. Eine riesige Doppeltür stand zwischen ihm und dem Kaiser. Eine der sechs Wachen davor riss einen Türflügel auf. Der Hauptmann verlangsamte überrascht seine Schritte, dann zuckte er die Achseln und führte Tyen in den Raum. Er trat beiseite und bedeutete Tyen, dass er vor ihm hergehen solle.
Im ersten Moment verblüffte es Tyen, was für eine Dunkelheit in dem Saal herrschte. Er war vollkommen in sich abgeschlossen, im Gegensatz zum übrigen Palast, und die einzige Beleuchtung kam vom Schein der Lampenschalen in den Wandnischen.
Ein Mann mittleren Alters stand in der Mitte des Raums. Er trug ein gerade geschnittenes Gewand aus goldenem Stoff, über das eine Weste aus glasierten Perlen drapiert war. Das bescheidene Aussehen dieser Perlen überraschte Tyen zuerst, bis er sich ins Gedächtnis rief, dass die Welt Murai kaum Tonvorkommen hatte. Was du nicht hast, begehrst du, überlegte er, und das war für Doum ein Vorteil gewesen … bis jetzt.
Zwei der Zauberer, die ihm gefolgt waren, standen links und rechts neben ihm, und von ihnen erfuhr Tyen, dass die Männer und Frauen, die an der hinteren Wand aufgereiht standen, ebenfalls Zauberer waren. Man hatte den Kaiser über ihr Unvermögen informiert, Tyens Gedanken zu lesen. Gegen ihren Rat hatte er beschlossen, den Boten von Doum kennenzulernen.
Eine Bewegung lenkte Tyens Aufmerksamkeit auf fünf Männer, die in der Nähe hockten, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Sie waren alle gut gekleidet und unterschiedlichen Alters, einer ein wenig jünger als der Kaiser, bis hin zu einem, der doppelt so alt war. Die Händler. Die Leiterin der Schule für Zauberei stand hinter ihnen.
Als Tyen sich wieder zu dem Kaiser umdrehte, zog dieser die Augenbrauen hoch und reckte das Kinn vor, verstimmt über den Mangel an Respekt des Boten. Getreu seinem Vorsatz, nicht noch mehr Gewalt zu verursachen, nahm Tyen die gleiche Haltung ein wie die Händler.
»Wer ist das?«, fragte der Kaiser auf Muraianisch. Seine Worte hallten im Raum wider.
»Tyen, der Scheibenmacher«, antwortete der Hauptmann irgendwo hinter Tyen.
Die Stimme des Kaisers erfüllte zweifelnd den Raum. »Die Sprecher haben einen Diener geschickt, der für sie die Verhandlungen führen soll?«
»Nein, Kaiser Izetala-Moraza«, antwortete Tyen. Da er aus dem Geist des Mannes wusste, dass der Herrscher die Sprache der Fahrenden sprach, fuhr er dann in dieser Sprache fort. »Sie haben mich ausgeschickt, um zu erfahren, wer kürzlich den Großen Markt in Alba angegriffen hat. Und warum. Ich bin einem der Zauberer gefolgt, einem Mann, den man zurückgelassen hatte, damit er herausfindet, ob ein Sprecher unter den Toten ist …«
»Und war einer dabei?«, fragte der Kaiser, indem er in die Sprache der Fahrenden wechselte.
»Ich weiß es nicht, Kaiser.«
»Nun, du hast die Schuldigen gefunden. Du kannst sie nach dem Zweck ihres Tuns fragen.«
»Diese Information habe ich bereits, Kaiser.«
»Warum bist du dann hier?«
Tyen blickte dem Mann in die Augen und deutete auf die Händler. »Diese Männer haben soeben Doum angegriffen, Kaiser«, sagte er und ließ einen scharfen Unterton in seine Stimme einfließen. »Das könnte man als einen kriegerischen Akt deuten.« Tyen hielt inne, dann erhob er sich auf die Füße. »Jetzt will ich Folgendes wissen: Was werdet Ihr unternehmen, Kaiser Izetala-Moraza? Habt Ihr Einwände gegen ihr Handeln?« Der Herrscher reckte wieder das Kinn vor, sprach aber nicht und hielt inne, um über seine Antwort nachzudenken. Während Tyen die Gedanken des Mannes las, wurde ihm mulmig zumute.
»Allerdings«, sagte der Kaiser. »Sie haben ein großes Risiko auf sich genommen und hätten mich um Erlaubnis fragen sollen.«
Der Herrscher bedachte die Händler mit einem strengen Blick, und die Männer wanden sich und fragten sich, ob sie ihn falsch eingeschätzt hatten. »Aber sie haben das Recht, gegen die Weigerung der Sprecher, mit ihnen zu verhandeln, einzuschreiten.«
»Also werdet Ihr sie nicht bestrafen?«
Der Kaiser schaute jäh wieder zu Tyen hinüber. »Nur wenn dabei Sprecher geschädigt wurden.« Ich muss wohl zumindest so tun als ob, dachte der Mann unwillig. Diese Sprecher sind jämmerliche Herrscher. Sie sind nur Künstlerdiener, die den ungebärdigen, hochmütigen Mob, den sie ihre »Bürger« nennen, vorübergehend lenken. »Ruft ihnen ins Gedächtnis, dass sie sich dies selbst zuzuschreiben haben«, fuhr der Kaiser fort. »Sie haben sich geweigert, sich an Abmachungen zu halten. Haben muraianische Bestellungen an andere Welten verkauft. Das dulde ich nicht.«
Tyen runzelte die Stirn. »Wenn Ihr nicht den angemessenen Preis für ihre Zeit und ihre Fähigkeiten bezahlen wollt, warum sollten sie sich dann nicht Kunden suchen, die dazu bereit sind?«
»Sie haben uns schon immer beliefert«, erwiderte der Kaiser. »Es handelt sich um ein uraltes Abkommen, unterstützt vom Raen.«
»Der Raen ist tot.«
Die Miene des Kaisers versteinerte, und er presste verstimmt die Lippen aufeinander. Ein unangenehmes, zorniges Schweigen folgte. Tyen hatte ein Tabu gebrochen, indem er die Wahrheit ausgesprochen hatte. Ein ziemlich junges Tabu im Maßstab der Geschichte.
Wer ist dieser Emporkömmling?, dachte der Kaiser. Jemand mit Macht. Jemand, der stark genug ist, um mich oder meine Zauberer nicht zu fürchten. Doch sein Akzent ist mir unbekannt, und obwohl er den Leuten aus Alba ähnlich sieht, hat er etwas Fremdartiges an sich. Könnte er ein Anderweltler sein? Ja, ich denke, das ist er wohl.
»Warum schert Euch das?«, fragte er. »Ihr stammt nicht aus ihrer Welt.«
Tyen verschränkte die Arme vor der Brust. »Doum ist mein Zuhause, und seine Bewohner sind meine Familie. Ich werde tun, was ich tun muss, um es zu verteidigen.«
»Dann verteidigt es. Überzeugt die Sprecher davon, diese Torheit um die Preise fallen zu lassen.«
»Ich wäre niemals so hochmütig, ihnen zu sagen, wie sie ihr Leben leben und ihre Geschäfte führen sollen«, entgegnete Tyen. »Aber ich begreife, dass es nicht leicht sein wird, Euch ebenfalls davon zu überzeugen. Es sei denn vielleicht, indem ich alle Magie aus dieser Welt abziehe, sodass Ihr für einige Hundert Zyklen isoliert seid. Ich stelle mir vor, dass das schlecht für den Handel wäre.«
Der Kaiser starrte Tyen an. Oerith machte einen kleinen Schritt auf ihren Herrscher zu. Der Kaiser bedeutete ihr zu bleiben, wo sie war.
»Nur der Raen war so mächtig«, wandte er ein.
»Nicht nur er.«
»Er hätte Euch getötet, wenn er Euch gefunden hätte.«
Tyen zuckte die Achseln. »Wie Ihr seht, hat er das nicht. Und ich bin mir sicher, Ihr wisst, dass dies eine kleine Welt ist. Ich kenne mindestens zwei Personen mit genug Reichweite, um ihr alle Magie zu entziehen, und es würde mich nicht überraschen, wenn es noch mehr gäbe. Selbst wenn es meine Fähigkeiten überschreiten sollte, die gesamte Magie auf einmal wegzunehmen, könnte ich trotzdem dafür sorgen, dass Glaemar in ein Vakuum gerät, das groß genug ist, um viele Zyklen anzudauern, bis es wieder verschwindet. Und da ihr vielleicht Zweifel daran habt, dass ich die Wahrheit sage …« Tyen sandte seinen Geist und seine Sinne aus, bis er schätzte, dass er die ganze Stadt umfasst hatte, und zog dann die Hälfte der Magie in Strahlenbändern heraus. Was übrig blieb, würde sich schnell verteilen, um die Leere wieder zu füllen und dafür zu sorgen, dass kein Zauberer, der mit etwas Wichtigem, wie etwa dem Heben eines schweren Gegenstands, beschäftigt war, aller Macht beraubt sein würde.
Ein Aufkeuchen ging durch den Raum, als die Zauberer darin spürten, was er getan hatte. Dann, bevor irgendjemand in Panik geraten und Tyen angreifen konnte, ließ er die Magie wieder fließen. Sie strömte hinaus und machte den Palast vorübergehend ungeheuer reich an Magie. Schreck verwandelte sich in Erstaunen. Furcht in Erleichterung.
»Ich werde Euch jetzt allein lassen, damit Ihr Eure Position überdenken und Euch fragen könnt, ob diese Männer« – Tyen blickte zu den Händlern hinüber – »eine Strafe dafür verdienen, dass sie die Familien von Doums Handwerkern und Sprechern getötet haben.« Zu seiner Befriedigung sah Tyen, dass der Kaiser, trotz seines Zorns über die Drohung, widerstrebend genau das tat. »Danke, dass Ihr mich angehört habt, Kaiser. Ich wünsche Euch Gesundheit und Glück.«
Ohne auf eine Antwort oder seine Entlassung zu warten, nahm Tyen etwas von dem Überschuss an Magie im Palast in sich auf und stieß sich aus der Welt ab.
Kaum dass er tief ins Dazwischen gelangte, verflüchtigte sich seine Zufriedenheit wieder und machte Sorge Platz. Wie würden die Sprecher darauf reagieren, dass er sich aus eigenem Antrieb und ohne sich zuvor mit ihnen zu beraten, dem muraianischen Kaiser um ihretwillen genähert und ihn bedroht hatte?
Werden sie wütend oder dankbar sein? Habe ich die Situation nun besser gemacht oder schlechter?
Er wünschte, er hätte mit Pergama darüber sprechen können. Bei den Gedanken an sie, versteckt in seinem Haus, wurde ihm klar, dass er sich mit seiner Drohung gegen den Kaiser von Murai möglicherweise selbst zur Zielscheibe gemacht hatte. Obwohl er einigermaßen zuversichtlich war, dass er sich verteidigen konnte, würde der Kaiser vielleicht Rache suchen, indem er Tyens Haus verwüstete.
Nach dem heutigen Tag würde er sie wieder ständig bei sich tragen.
Er fand seinen und Axavars Pfad von Doum nach Murai und folgte ihm in umgekehrter Richtung. Der Verkaufsstand innerhalb dessen, was vom Großen Markt übrig war, tauchte um ihn herum auf.
Und dann spürte er einen Schatten. Irgendjemand folgte ihm.
Erschrocken flog er über die Welt hinweg, sodass er und sein Verfolger sich wieder von den Ruinen entfernten. Zu seiner Erleichterung blieb dieser ihm auf den Fersen. Er lockte ihn aus der Stadt und suchte nach einem unbewohnten Ort, an dem er ihn zur Rede stellen konnte, ohne zu riskieren, dass andere dabei zu Schaden kamen. In einem ausgetrockneten See tauchte er in der Welt auf und rang nach Luft, während sein nach Sauerstoff gierender Körper den Preis dafür zahlte, so lange durch Bereiche zu reisen, wo er nicht atmen konnte.
Eine kaum auszumachende menschliche Silhouette nahm einige Schritte entfernt von ihm Gestalt an. Eine weibliche Figur, angetan mit einem langen fließenden Kleid. Oerith? Kam hier eine der Zauberinnen des Kaisers, um ihn zum Kampf herauszufordern? Oder hatte er sie ausgeschickt, um ihm eine Nachricht zu übermitteln? Vielleicht eine Gegendrohung?
Doch ihr Gesicht wirkte nicht sehr muraianisch. Sie hatte dunklere Haut und glattes schwarzes Haar. Und dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz, als er sie erkannte.
Sie atmete ein, um zu sprechen, als sie ankam, aber sie rang nicht nach Luft, ein sicheres Zeichen für eine alterslose Zauberin.
»Tyen, nicht wahr?«, sagte die Frau, die sich geweigert hatte, den Raen wiederauferstehen zu lassen. »Erinnert Ihr Euch an mich? Aber vielleicht habe ich Euch ja auch nie meinen Namen genannt. Ich bin Rielle.«
2 Tyen
Ich habe von den Palastdienern erfahren, dass etwas nicht stimmte«, erklärte Rielle, »und es hat nicht lange gedauert, bis ich Euch mit den Augen der anderen gesehen habe.«
Sie wirkte verändert, fiel ihm auf. Älter, doch das war ja zu erwarten. Größer, als er sie in Erinnerung hatte, aber vielleicht nur deshalb, weil sein erster Eindruck von ihr der einer verzweifelten und verletzlichen jungen Frau gewesen war. Sie war immer noch so schön, wie er sie im Gedächtnis gehabt hatte, und als sie lächelte, senkte er den Blick, um sie nicht anzustarren.
»Und Ihr seid mir gefolgt«, bemerkte er, teils als Feststellung, teils als Frage.
»Ich dachte, Ihr wüsstet vielleicht gern, dass der Kaiser gleich nach Eurem Aufbruch begonnen hat, Pläne für Eure Ermordung zu schmieden.«
»Ah.« Tyen seufzte. »Natürlich.«
»Seine Zauberer versuchen, es ihm auszureden. Mehr aus Gründen des Selbstschutzes, als weil sie anderer Meinung wären als er.«
Er blickte auf. »Glaubt Ihr, sie werden Erfolg haben?«
Sie schürzte die Lippen. »Meiner Meinung nach sind die Chancen gleich verteilt. Der Kaiser schätzt es nicht, wenn man ihm droht, aber er konnte nicht umhin zu bemerken, wie mächtig Ihr seid. Er könnte stattdessen versuchen, Euch auf andere Weise zu bestrafen. Ihr solltet sicherstellen, dass Ihr und alle, die Euch etwas bedeuten, gut geschützt oder versteckt sind.«
Er nickte, und seine Gedanken wanderten sofort zu seinen Arbeitern. Obwohl er sie ebenso als Freunde wie als Angestellte betrachtete und es schrecklich fände, wenn ihnen etwas zustieße, würde er sich auch schlecht fühlen, wenn irgendein anderer Bürger Doums seinetwegen litte. Und dann gab es da noch Pergama. Doch von Pergama konnte der Kaiser unmöglich wissen.
Aber Rielle konnte es jetzt. Ihr Geist war für ihn verborgen, was bedeutete, dass sie mächtiger war als er und seine Gedanken lesen konnte, wenn sie wollte. Das war beunruhigend. Die einzige andere Person mit mehr Macht als er, die er je kennengelernt hatte, war der Raen gewesen. Ihn hatte er für sehr viel mächtiger gehalten als sich selbst. Obwohl Tyen fast nie in den Geist der Leute in Doum geschaut hatte, hatte er doch immer die Gedanken aller anderen gelesen, und es war sehr lange her, dass er dazu einmal nicht in der Lage gewesen wäre.
Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, was Rielle im Palast von Murai zu suchen hatte. Es war aber typisch, dass bei der einzigen Gelegenheit, da er je seine Kraft eingesetzt hatte, um jemanden zu beeindrucken, dieser Jemand zufällig einen stärkeren Zauberer zur Hand hatte. Auch wenn sie, falls sie für den Kaiser arbeitete, gewiss nicht hier wäre, um ihn zu warnen, dass der Herrscher plante, ihn ermorden zu lassen.
Jemand, der dir etwas Böses wünscht, warnt dich nicht vor einem Anschlag auf dein Leben. Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, habe ich ihr geholfen. Soweit ich weiß, hat sie keinen Grund, mich zu hassen.
Im Gegensatz zu den meisten Menschen in den Welten. Die ihn hassen würden, wenn sie die Wahrheit über ihn wüssten.
Er lenkte seinen Geist von diesem Thema ab, bevor er zu viel offenbaren konnte, und sah sich Rielle eingehend an. Sie lächelte, was sie gewiss nicht getan hätte, hätte sie einen Blick auf sein Geheimnis erhascht, es sei denn, sie verstand sich auf die Kunst der Verstellung. Er wünschte, er hätte sich sicher sein können.
»Ich glaube, ich habe mich gar nicht dafür bedankt, dass Ihr mir geholfen habt, Dahli zu entkommen«, sagte sie.
»Nicht nötig.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe Euch nur geholfen, das Richtige zu tun. Hat der Junge sich erholt?«
»Ja.« Sie runzelte die Stirn. »Auch wenn er so gut wie keine Erinnerungen mehr an seine Zeit vor jenem Tag hat.«
»Ist er … Ich hoffe, er ist gut versteckt.« Es war sicher besser, wenn Tyen nicht wusste, wo sich der Junge aufhielt. Für den Fall, dass er noch mehr Zauberer traf, die vielleicht stärker waren als er selbst und in seinen Geist sehen konnten.
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war voller Dankbarkeit. »Ja. Er ist an einem sicheren Ort bei guten Menschen und lebt weit weg von mir.« Sie seufzte. »Ich hatte befürchtet, dass ich ihn, wenn ich ihn bei mir behalte, in weitere Zwistigkeiten hineinziehen würde, aber es ist mir gelungen, mich fünf Zyklen lang von Schwierigkeiten fernzuhalten, also hätte ich mir vielleicht gar keine Sorgen zu machen brauchen.«
»Und während all dieser Zeit haben wir in direkt benachbarten Welten gelebt.«
Sie hob anmutig und in einer wegwerfenden Geste die Hand. »Oh, ich bin erst seit ein paar Monaten in Murai.« Rielle schaute in Richtung Stadtrand von Alba. »Ich arbeite für eine Gruppe von Mosaikmachern. Der Kaiser hat verschiedene Werke bei ihnen in Auftrag gegeben. Das Klima in Glaemar bekommt ihnen, daher haben sie seine Einladung angenommen, in den Palast zu ziehen, während sie die Arbeit vollenden.«
»Ihr steht also in Diensten des Kaisers.« Tyen zog eine Augenbraue hoch. Machte sie das zu Feinden?
Sie drehte sich wieder zu ihm um und sah ihn an. »Ich arbeite für Leute, die für ihn arbeiten. Auch wenn die Mosaikmacher anständige Leute sind, bin ich nicht wirklich eine von ihnen. Ich bin eine Außenseiterin mit einer nützlichen Fertigkeit.«
Tyen nickte. »Ich weiß, wie sich das anfühlt. Obwohl ich hart gearbeitet habe, um mir in Doum ein Zuhause zu schaffen, behandeln sie mich manchmal immer noch wie einen Anderweltler.«
»Selbst nach fünf Zyklen?«
»Selbst nach fünf Zyklen.«
Sie schien bekümmert. »Ich habe mich gefragt, wie lange es dauern würde. Ich kann nie mehr nach Hause. Ich will nicht für immer eine Außenseiterin bleiben.«
»Auch ich kann nicht in meine Welt zurück.« Er zog die Brauen zusammen. »Habt Ihr auch erfahren, warum ich den Palast aufgesucht habe?«
»Die Händler haben eine Markthalle hier angegriffen. Sie waren außer sich wegen der Preise, die die Sprecher für ihre Waren festgesetzt haben.« Sie hielt inne. »Und zweifellos habt Ihr in ihren Gedanken gelesen, was sie zu tun erwägen, wenn sie ihren Willen nicht bekommen.«
»Ich werde ihnen nicht erlauben, in Doum einzufallen«, erwiderte er. Dann seufzte er. »Wenn die Sprecher es mir gestatten, sie daran zu hindern. Sie sind so empfindlich, wenn es darum geht, dass ich irgendetwas anderes tue, als Töpferscheiben herzustellen, dass ich mich fragen muss, ob es ihnen lieber wäre, Murai würde sie erobern, als dass ich zu ihren Gunsten etwas unternehme.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Aber es mag auch Vorteile haben, ein Anderweltler zu sein. Ich vermute, dass der Kaiser eher bereit wäre, Kompromisse zu schließen, wenn er es nicht unter ihren Augen tun müsste. Würdet Ihr in ihrem Namen verhandeln, wenn die Sprecher es Euch erlaubten?«
Tyen überlegte. »Ja. Ja, das würde ich, obwohl ich, wenn der Kaiser nicht gern bedroht wird, gerade eben vielleicht dafür gesorgt habe, dass er nicht auf mich hören wird …«
»Nein, es ist wohl eher das Gegenteil der Fall. Er mag Euch dafür hassen, dass Ihr ihm trotzt, aber er wird Euch dafür respektieren, dass Ihr die Stärke und die Kühnheit dazu besitzt.«
Er verzog das Gesicht. »Ich bin mir nicht sicher, ob mir die Idee gefällt, mit ihm zu verhandeln. Vielleicht braucht auch Murai einen Vertreter. Nicht dass ich irgendwelche Muraianer kenne, die ich bevorzugen würde.« Sein Herz setzte einen Schlag aus, als ihm klar wurde, mit wem er am liebsten zusammenarbeiten würde. »Könntet Ihr den Kaiser überreden, Euch zu erlauben, die Verhandlungen in seinem Namen zu führen?«
Sie legte die Stirn in Falten. »Ich weiß es nicht.« Ihr Tonfall war voller Widerstreben. »Es ist nicht so, dass ich es nicht tun wollte, aber ich habe keinerlei Erfahrung oder Ausbildung für diese Art von Arbeit.«
»Die habe ich auch nicht«, antwortete Tyen. »Doch wenn wir nichts tun …«
»… dann werden diese Welten einander vielleicht den Krieg erklären«, beendete sie seinen Satz. »Also schön. Ich werde es vorschlagen.«
Er lächelte. »Vielen Dank. Ich muss zurück nach Alba, um zu erzählen, was ich weiß, und um auf dem Großen Markt zu helfen.«
»Und ich sollte zu den Mosaikmachern zurückkehren. Ich habe sie mitten in einer Zusammenkunft verlassen, in der sie über Motive beraten haben. Soll ich in Alba nach Euch Ausschau halten?«
»Ja. Fragt einfach nach Tyen Scheibenmacher. Fast jeder weiß, wo meine Werkstatt zu finden ist.«
Sie neigte den Kopf. »Bis dahin, Tyen Scheibenmacher, ich wünsche Euch alles Gute.«
Er wartete, während sie aus seinem Blickfeld verschwand, weil er sich nicht direkt nach ihr von der Welt abstoßen wollte, selbst wenn er dann in eine andere Richtung reisen würde. Als sie ganz verschwunden war, begab er sich ins Dazwischen und begann auf die Stadt zuzufliegen. Als er auf dem Marktplatz landete, fing sein Herz schneller an zu schlagen, aber nicht etwa aus Furcht oder banger Erwartung.
Rielle! Ausgerechnet sie lebte in der Nachbarwelt!
Dann wurde er wieder nüchtern. Wenn Dahli wüsste, wo sie war, würde er überaus erfreut sein. Aber der treueste ehemalige Diener des Raen würde sie schlimmstenfalls dafür bestrafen wollen, dass sie sich geweigert hatte, Valhan wiederauferstehen zu lassen. Bestenfalls würde er versuchen, sie dazu zu zwingen, ihm zu verraten, wo der Junge war, damit er die Wiederherstellung des Raen vollenden konnte.
Baluka, der Anführer der Rebellen – Wiederhersteller nannten sie sich inzwischen –, würde sicher gern wissen, dass seine ehemalige Verlobte lebte und wohlauf war. Er würde jedoch wahrscheinlich nicht ihren Aufenthaltsort erfahren wollen, denn er war kein mächtiger Zauberer, und wenn andere diese Information in seinem Geist lasen, würde sie irgendwann vielleicht auch Dahli erreichen.
Ihr Geheimnis war bei Tyen sicher, und es war ein Geheimnis, das er mit Freuden hüten würde. Er war immer neugierig gewesen, was sie betraf. Er wusste, dass sie vor dem Tod des Raen in seinem Palast gelebt hatte und dass Dahli sie gelehrt hatte, wie man Magie einsetzte und wie man nicht mehr alterte. Das erste Mal, als Tyen ihr begegnet war, war Rielle im Begriff gewesen, den Raen wiederauferstehen zu lassen, aber als sie entdeckt hatte, dass sie dazu den Geist eines unschuldigen Knaben opfern sollte, hatte sie den Jungen gerettet – zu einem nicht geringen Risiko für ihr eigenes Leben. Er war ihr gefolgt und hatte ihr geholfen, Dahli zu entkommen.
Tyen bewunderte sie für diese Entscheidung. Sie wies deutlich darauf hin, dass sie klare Moralvorstellungen hatte und außerdem den Mut, sich daran zu halten, selbst wenn sie dadurch zur Verräterin wurde. Vielleicht würde sie auch die Entscheidungen verstehen, die er in seinem Leben getroffen hatte.
In Tagträumen hatte er sich manchmal ausgemalt, dass sie sich wiedersahen und Verbündete wurden, Freunde, und, wenn er seiner Fantasie freien Lauf ließ, vielleicht noch mehr.
Der erste Teil davon ist eingetroffen.
Er lächelte, doch als er unter dem Marktstand hervortrat, verflog seine gute Stimmung. Seit seinem Weggang waren nur wenige Fortschritte erzielt worden, aber schließlich war er nicht allzu lange weg gewesen. Zauberer räumten jetzt Schutt von dem riesigen Haufen und hoben vorsichtig Stück für Stück mit Magie an, um den unter den Trümmern gefangenen Personen keinen Schaden zuzufügen. Von ihnen erfuhr er, dass man unter dem Schutt keine Gedanken wahrgenommen hatte, aber alle hofften, dass einige der verschütteten Marktarbeiter vielleicht noch lebten und nur bewusstlos waren. Die bisher geborgenen Verletzten und Toten hatte man weggebracht. Er suchte nach Meister Rayf und fand den alten Mann im Gespräch mit Sprecherin Fursa am Eingang.
Rayf sah Tyen als Erster, seine Lippen bewegten sich, und Fursa drehte sich stirnrunzelnd zu ihm um.
»Tyen Scheibenmacher«, begrüßte ihn Rayf. »Konntet Ihr dem Muraianer folgen?«
»Ja.« Tyen berichtete alles, was sich ereignet hatte.
Sprecherin Fursas Stirnfalten vertieften sich, als sie von Tyens Drohung hörte, die Welt ihrer Magie zu berauben. »Das ist eine gefährliche, leere Drohung.«
»Es war keine leere Drohung«, erwiderte Tyen und hielt ihrem Blick stand. Ihre Augen wurden schmal, und er brauchte nicht erst ihre Gedanken zu lesen, um zu wissen, dass sie ihm nicht glaubte.
»Nur der Raen könnte so etwas tun«, höhnte sie.
»Das ist es, was er die Welten glauben machen wollte«, entgegnete Tyen.
»Ich habe gehört, er hätte jeden getötet, dessen Stärke seiner nahekam«, sagte Rayf, »solange die betreffenden Personen noch zu unerfahren waren, um ihn herauszufordern.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Tyen und schien ihn plötzlich neu einzuschätzen.
»Es sei denn, er hat sie rekrutiert und zu seinen Dienern ausgebildet«, fügte Fursa mit zusammengekniffenen Augen hinzu.
»Während der zwanzig Zyklen, in denen der Raen verschwunden war, sind viele mächtige Zauberer geboren worden«, erklärte ihr Tyen. »Ich bin nicht der Einzige, den auszuschalten er keine Gelegenheit bekommen hat.« Dann zuckte er die Achseln. »Murai ist kleiner als die meisten Welten. Ein Zauberer braucht nicht in der Lage zu sein, die gesamte Magie abzuziehen, um großen Einfluss auf die Macht der Welt zu haben. Ich könnte dem Kaiser das Leben sehr schwer machen, wenn ich wollte.«
Fursa schaute weg und presste die Lippen fest zusammen. »Trotzdem«, sagte sie. »Ihr hättet ihm nicht ohne unsere Zustimmung drohen sollen.«
Tyen nickte. »Ich habe mich nur deshalb dazu entschlossen, weil er erwogen hat, noch viel Schlimmeres als das zu tun.« Er deutete auf ihre Umgebung. »Aber ich versichere Euch, ich werde nicht noch einmal handeln, ohne Euch zu fragen.« Er erzählte den beiden von Rielles Besuch, von ihrem Rat und ihrem Angebot, doch sprach er von ihr nur als von einer anderweltlichen Zauberin, der er in der Vergangenheit einmal begegnet war und die als Mosaikmacherin arbeitete. »Sie ist ein Mensch mit moralischen Grundsätzen.«
»Und sie hat die Sache ganz richtig erfasst.« Rayf nickte. »Es ist unwahrscheinlich, dass der Kaiser einlenkt, wenn er direkt mit uns spricht, da man es in Murai als ein Zeichen der Schwäche ansehen würde. Aber wenn ein Vermittler in seinem und in unserem Namen verhandelt, kann er selbst sich von der Entscheidung distanzieren.« Er lächelte Fursa an. »Und der Rat kann das auch.«
Fursa verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, aber der Rat muss entscheiden, wer uns vertreten soll. Es gibt vielleicht geeignetere Kandidaten für diese Aufgabe.«
Mit einem unterdrückten Seufzen schaute Tyen wieder zu den Zauberern, die im Schutt gruben. »Ich kann im Moment nicht mehr tun, als meine Hilfe anzubieten. Wie immer Ihr Euch entscheidet, gebt mir Bescheid. Ihr wisst, wo ich zu finden bin.« Er sah Rayf an. »Kann ich hier noch irgendetwas tun?«
Der alte Mann schaute sich im Gebäude um. »Nein, wir haben alles gut im Griff.«
Das war nicht die Antwort, die Tyen erwartet hatte, aber als er sich das Treiben in dem Gebäude näher besah, wurde ihm klar, dass eine weitere große Gruppe von Zauberern erschienen war, während sie sich unterhalten hatten, und jetzt bewegte sich die gesamte Oberfläche des riesigen Schutthaufens, während vorsichtig die Steine entfernt wurden. Heiler standen in der Nähe bereit für den Fall, dass ein lebendes Opfer geborgen wurde, aber sie taten es in der grimmigen Gewissheit, dass ihre Dienste nicht benötigt werden würden.
Tyen nickte. »In der Tat, das habt Ihr. Dann sollte ich Euch hier besser nicht im Weg herumstehen.«
Er blickte Fursa an, zwei Finger aufs Herz gelegt, nickte Rayf zu und stieß sich von der Welt ab. Als er von oben die vertrauten Umrisse seines Hauses sah, hielt er darauf zu. Er ließ sich durch die Decke fallen, hielt aber im oberen Stockwerk an der Treppe an, statt in die Werkstatt mit ihren noch nicht fertiggestellten Scheiben zurückzukehren. Sobald ihn wieder Sauerstoff umgab, durchsuchte er die Geister um sich herum. Die Werkstatt war verlassen, weil seine Angestellten immer noch auf dem Großen Markt halfen. Seine Nachbarn waren auf ihre Aufgaben konzentriert, auf die Hausarbeit, den Handel oder den Austausch von Berichten über den Angriff. Er wurde nicht von Spionen beobachtet. Niemand schenkte ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
Die einzige Person, die mich beobachten könnte, ohne dass ich es merke, ist Rielle.
Er wollte den Gedanken beiseiteschieben, doch dann zögerte er. Es wäre nicht schwer für sie, dieses Haus zu finden. Er war berühmt genug für seine durch Magie betriebenen Töpferscheiben, dass man ihn leicht ausfindig machen konnte, wenn man nur den Leuten auf der Straße ein paar Fragen stellte.
Doch warum sollte sie ihn beobachten?
Könnte sie ihn vor der Absicht des muraianischen Kaisers, ihn ermorden zu lassen, nur deshalb gewarnt haben, um sein Vertrauen zu gewinnen? Hatte sie, als sie ihm geraten hatte, an die Sicherheit der Menschen zu denken, die ihm am Herzen lagen, es getan haben, um aus seinen Gedanken zu lesen, wer diese Menschen waren? Ihm wurde ganz anders, als ihm einfiel, an wen er in diesem Moment gedacht hatte.
Pergama.
Er hatte jedoch nicht an Pergamas Versteck gedacht. Trotzdem eilte er zum Abort und trat hinein. Die Toilette bestand aus einer hölzernen Kiste mit einem Loch im Deckel, an der ein großer Trichter angebracht war. Der Trichter mündete in eins der Keramikrohre, die muraianische Händler bis vor kurzem in Doum gekauft und in anderen Welten weiterverkauft hatten. Er hob die Kiste und den Trichter vorsichtig von dem Rohr und griff von unten hinein. Der Gestank nach Urin und Fäkalien, der stets trotz regelmäßigen Putzens in der Luft hing, wurde ein wenig stärker, und er achtete darauf, nicht das Unterteil des Trichters zu berühren. Es gab keine Toiletten in den Welten, deren Abfluss so gut war wie in seiner Heimatwelt und seiner Stadt.
Er tastete im hölzernen Fuß herum. Als seine Finger auf ein vertrautes Bündel stießen, atmete er erleichtert auf. Er machte es los, klemmte es sich unter den Arm und stellte die Toilette zurück. Dann ließ er sich auf den Toilettensitz sinken. Ein Beutel kam zum Vorschein, als er die Hülle abnahm, und darin befand sich ein fester, aber etwas biegsamer Gegenstand. Durch Löcher im Stoff erblickte er das vertraute Leder von Pergamas Einband.
Als er sich seinerzeit in Doum niedergelassen hatte, hatte er mindestens einmal am Tag mit Pergama gesprochen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie sicher versteckt zu halten, und dem Verlangen, mit jemand Vertrautem zu reden. Außerdem wollte er sie nicht ständig in dem bewusstseinslosen Zustand lassen, in dem sie sich befand, wenn sie nicht von einem Menschen berührt wurde.
Aber als er sich angewöhnt hatte, sich wie die Einheimischen zu kleiden, um sich besser einzufügen, war es zu einem Problem geworden, Pergama ständig bei sich zu tragen. Da das Klima hier mild war, waren doumianische Stoffe dünn und zeigten die Umrisse von Gegenständen, die darunterlagen. Als die Leute zu fragen begannen, was er da unter seinem Hemd trug, hatte er ein anderes Versteck für sie suchen müssen.
Je besser sein Unternehmen sich entwickelt hatte, desto weniger Zeit war ihm geblieben, mit ihr zu reden. Statt eines täglichen Plauderstündchens, unterhielt er sich nur noch jeden zweiten Tag mit ihr, dann wurden es Abstände von drei oder vier Tagen, und dann waren die Pausen langsam noch länger geworden. Doch wenn er zu lange wartete, lag er nachts wach und fragte sich besorgt, ob sie noch da war. Also waren ihre Plaudereien zu unregelmäßigen, mitternächtlichen Ereignissen geworden.
Wie immer war sie etwas warm, als er sie aus dem Beutel holte. Zuneigung und leichte Gewissensbisse stiegen in ihm auf. Obwohl er seine Angestellten als Freunde betrachtete, stand ihm doch keiner von ihnen so nah wie Pergama. Er wünschte, er hätte mehr Zeit erübrigt, um mit ihr zu reden. Er dachte an sein Versprechen, einen Weg zu finden, ihr die menschliche Gestalt zurückzugeben – eine Idee, mit der er sich nicht viel beschäftigt hatte, weil sich die meisten Wissensquellen jetzt in den Händen von Personen befanden, die Tyen als Spion und Verräter ansahen.
Da sie bei der ersten Berührung seiner Haut seine Gedanken lesen würde, brauchte er ihr nicht erst alles zu erklären, was sich seit ihrem letzten Gespräch ereignet hatte. Er klappte sie auf und betrachtete die vertrauten leeren Seiten. Worte erschienen darauf.
Hallo Tyen. Ich sehe, heute war ein Tag voller schlechter Neuigkeiten.
Ja, auch wenn nicht alle Neuigkeiten schlecht waren.
Nein. Doch du fragst dich, ob du Rielle auch vertrauen sollst.
Es gibt eigentlich nichts Bestimmtes, was mir verdächtig vorkommt. Ich habe nur das Gefühl, dass ich nichts für selbstverständlich halten sollte. Ich bin ihr bisher nur ein einziges Mal begegnet. Alles, was ich über sie weiß, kommt von Dahli und Baluka – das, was sie mir erzählt haben, aber mehr noch das, was ich im Geist der beiden gelesen habe. Wenn ich für Doum verhandeln darf und der Kaiser sie als seine Vertreterin schickt, sollte ich sie behandeln, wie ich jede andere Person in dieser Position behandeln würde.
Das ist klug.
Sie hat sich geweigert, einen jungen Mann zu vernichten, um den Raen wiederauferstehen zu lassen, also hat sie feste Moralvorstellungen, aber sie hatte sich vorher dazu entschieden, sich dem Raen anzuschließen. Ich verstehe nicht, wie jemand Letzteres tun kann, ohne einige moralische Kompromisse einzugehen.
Dahli konnte ihre Gedanken nicht lesen. Vielleicht hat sie nur so getan, als sei sie eine willige Anhängerin.
Der Raen hätte es in ihren Gedanken gelesen, wenn es so wäre.
Hätte er das wirklich? Du hast doch aus Dahlis Gedanken gelesen, dass Valhan gesagt hat, er sei nicht immer in der Lage, ihre Gedanken zu lesen.
Doch das bedeutet, dass er ihre Gedanken manchmal durchaus lesen konnte. Es ist nicht leicht, die Dinge, die man andere nicht sehen lassen will, aus dem eigenen Geist zu verbannen. Es fällt mir schwer zu glauben, sie hätte illoyale Gedanken verbergen können.
Vielleicht war sie ihm einst treu ergeben und hat dann später ihre Meinung in Bezug auf ihn geändert.
Vielleicht war es ihm gleichgültig, solange sie tat, was er wollte. Er biss sich auf die Lippen. Ich wüsste gern, ob sie es mir erzählen würde, wenn ich sie danach fragte. Er runzelte die Stirn. Auch wenn es unhöflich wäre, so in sie zu dringen. Ich will sie nicht verärgern, ganz gleich, ob wir am Ende Verhandlungen für unsere Welten miteinander führen oder nicht.
Wenn du mehr wissen willst, könnte Baluka dir vielleicht weitere Einblicke in ihr Wesen geben.
Das würde bedeuten, ich müsste ihm sagen, dass ich sie kürzlich getroffen habe, was ihr vielleicht nicht gefallen würde.
Du brauchst Baluka nichts von eurer Begegnung zu erzählen. Du musst ihn nur dazu bringen, über sie zu sprechen.
Er nickte. Das wird nicht schwierig. Er schwelgt gern in Erinnerungen. Er trommelte mit den Fingern auf den Einband. Also schön, ein Besuch bei Baluka. Er blickte auf und sandte seine Sinne durch die Aborttür, während sein Plan langsam Gestalt annahm. Um ein Treffen mit Baluka zu arrangieren, musste er an einem von mehreren festgelegten Orten in anderen Welten eine Nachricht hinterlassen. Er würde etwas anziehen müssen, das nicht so offensichtlich aus Doum stammte, falls jemand die Sachen erkannte und vermutete, dass er hier lebte. Er schaute wieder auf das Buch. Und am besten nahm er Pergama mit für den Fall, dass der muraianische Kaiser oder die Händler jemanden schickten, der sein Haus plünderte, beschädigte oder zerstörte.
Er klappte Pergama zu, schob sie zurück in den Beutel und hängte sich den Riemen dann um den Hals. Aus dem Abort ging er in sein Schlafzimmer und öffnete die Kleidertruhe. Unter den Hemden und Hosen, die er regelmäßig trug, lagen Kleidungsstücke, die er anzog, wann immer er durch die Welten reiste. Sie waren bewusst unauffällig, dazu geschaffen, in ihnen in einer Menschenmenge unterzugehen. In einer Menge aus gewöhnlichen Leuten natürlich – es war unmöglich vorherzusagen, welche Gewandung wohl gerade unter den Reichen und Mächtigen in Mode war.
Aus dem, was er zur Auswahl hatte, entschied er sich für ein langärmliges Hemd, eine robuste Hose, warme Socken, Lederstiefel und eine lange Wolljacke. Sobald er angezogen war, überprüfte er die versteckten Taschen der Jacke. In einer fand er einige Edelsteine, immer noch die verlässlichste Währung in den Welten – umso mehr, seit die Bündnisse und der Friede, den der Raen gesichert hatte, zerbrochen waren.