Die Magie der tausend Welten - Der Wanderer - Trudi Canavan - E-Book

Die Magie der tausend Welten - Der Wanderer E-Book

Trudi Canavan

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Beschreibung

Um sie zu retten, verrät er seine Gefährten

Der junge Magier Tyen hat seine Heimat verlassen und durchstreift die tausend Welten auf der Suche nach einer Möglichkeit, das magische Buch Pergama zurück in einen Menschen zu verwandeln. Er bittet Valhan, den mächtigsten Magier, den er finden kann, um Hilfe. Doch dieser verlangt eine Gegenleistung: Tyen soll eine Rebellengruppe ausspionieren, die Valhans Herrschaft bekämpft. Dann gelingt es den Widerständlern, Valhan zu töten. Tyen kann nicht glauben, dass all seine Anstrengungen umsonst gewesen sein sollen – und als er einen Hinweis entdeckt, dass Valhan noch lebt, nimmt er dessen Fährte auf …

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Seitenzahl: 998

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Trudi Canavan

Der WANDERER

DIE MAGIE DER TAUSEND WELTEN 2

Roman

Deutsch von Michaela Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»Millenium’s Rule 02: Angel of Storms« bei Orbit, an imprint of Little, Brown Book Group, an Hachette Livre UK company, London.
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Trudi CanavanCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Penhaligon Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, InkcraftUmschlagillustration: © Melanie Miklitza, InkcraftSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15895-8V004
www.penhaligon.de

ERSTERTEIL

1 Rielle

Als Betzi – angeblich mit Kopfschmerzen – früher als alle anderen zu Bett ging, wusste Rielle, dass sie etwas im Schilde führte. Etwas sehr Gefährliches. Und Rielle bezweifelte, dass sie es ihrer Freundin würde ausreden können.

Also sagte sie nichts. Aber bevor sie sich zur Nachtruhe zurückzog, schlüpfte sie in die Werkstatt, nahm zwei Webkämme und hängte sie an den alten Wandteppich, der als Tür für den Raum diente, den sie sich miteinander teilten. Als das Klirren von Metall sie weckte und Betzi laut fluchte, setzte sie sich schnell auf.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich allein gehen lasse«, murmelte sie.

Betzi drehte sich mit raschelnden Röcken um. Und auch in dem Punkt hatte ich recht, dachte Rielle. Sie ist in ihren Kleidern zu Bett gegangen, damit ich nicht aufwache, wenn sie sich anzieht.

»Du kannst mich nicht daran hindern zu gehen«, erwiderte Betzi und entfernte die Kämme.

»Betzi, es ist zu gefährlich für …«

Aber das Mädchen beachtete sie nicht weiter und verschwand hinter dem Wandteppich. Rielle erhob sich und folgte ihr rasch. Das schwache Licht der frühen Morgendämmerung, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, erhellte kaum die staubige Luft. Die jüngere Frau hielt auf der obersten Sprosse der Leiter zum nächsten Stockwerk inne, als sie sah, dass Rielle ihr folgte.

»Warum bist du angezogen?«

»Weil ich dich nicht allein gehen lasse.«

Die Falte zwischen den Brauen des Mädchens verschwand. »Du kommst mit?«

»Wie du schon sagtest, ich kann dich nicht daran hindern zu gehen.«

Die Falten auf ihrer Stirn waren wieder da. »Meister Grasch hat dir das aufgetragen, nicht wahr?«

»Er mag blind sein, aber er ist nicht dumm.«

Betzi zuckte die Achseln und kletterte dann die Leiter hinunter. Ihre Schuhe verursachten keinerlei Geräusch – weil sie sie an den Schnürsenkeln zusammengebunden und sich über die Schulter geworfen hatte. Rielle hatte nicht daran gedacht. Es war ziemlich unbequem gewesen, in ihren Stiefeln zu schlafen.

Sie folgte Betzi hinunter ins Wohnzimmer. Die Weberwerkstatt erstreckte sich über drei Stockwerke: Der Hauptarbeitsraum lag auf Straßenhöhe, das Wohnzimmer darüber und die Schlafzimmer ganz oben. »Wohnzimmer« war eine passende Beschreibung, da dort alles außer Schlafen und Arbeiten stattfand. Privatsphäre und genügend Platz waren ein seltenes Gut in schpetanischen Häusern. Nur die Haustür und die Tür zur Toilette waren massiv, alles andere waren Wandteppiche oder Ähnliches – die vor der Werkstatt waren so ausgeblichen, dass niemand mehr das ursprüngliche Bild darauf erkennen konnte.

Sie setzten sich auf die Bank am Ofen, und die jüngere Frau schnürte sich ihre Stiefel zu. Nicht zum ersten Mal beneidete Rielle ihre Freundin um deren zierliche Füße. Betzi kam mit ihrer Figur dem Idealbild einer Schpetanerin sehr nahe. Nicht besonders groß, wohlgeformt, mit kleinen Händen und Füßen und einem blassen, herzförmigen Gesicht, das von einer Fülle blonder Locken eingerahmt wurde, erregte sie überall Bewunderung. Neben ihr fühlte sich Rielle groß, schlaksig und dunkel, während sie unter ihren eigenen Leuten lediglich »reizlos« gewesen war, auch wenn Izare sie »ansprechend« und »interessant« gefunden hatte.

Izare. Sie hatte lange nicht mehr an ihren ehemaligen Liebsten gedacht. Der Schmerz, der ihren schrecklichen Abschied damals begleitet hatte, war abgeklungen, und die Schuldgefühle wegen all dem, was er ihretwegen durchgemacht hatte, waren in den Hintergrund getreten, obwohl es sie manchmal immer noch quälte, wenn sie nachts wach lag und über die Vergangenheit nachsann.

Nach fünf Jahren denkt er wahrscheinlich ebenso wenig an mich wie ich an ihn – und zweifellos würde er es vorziehen, überhaupt nicht an mich zu denken.

Gelegentlich fragte sie sich, was er jetzt wohl machte. Wohnte er immer noch in Fyre? Verdiente er sich seinen Lebensunterhalt immer noch mit Malen, oder hatte sie seinen Ruf ruiniert, weil man ihn mit ihr in Verbindung brachte? In fünf Jahren kann sich viel verändern. Vielleicht ist er verheiratet und hat Kinder, die er sich doch so sehr gewünscht hat. Ich hoffe es für ihn. Auch wenn ich mich nicht mehr nach ihm verzehre, wünsche ich ihm dennoch kein Unglück.

Betzi stand auf und ging zu dem kleinen Raum zwischen dem Wohnzimmer und der Weberwerkstatt, in dem Meister Grasch Besucher empfing. Hinter einem der kleinen Musterwandteppiche zog sie ein kleines Bündel hervor, an dem eine Schnur befestigt war, und band es sich an den Gürtel. Dann ging sie zur Haustür und schob vorsichtig den schweren Riegel zurück. Ohne innezuhalten und noch einmal darüber nachzudenken, wohin sie ging, oder zu kontrollieren, ob die Straße frei war, trat sie hinaus. Rielle folgte ihr und sah zu ihrer Erleichterung, dass sonst niemand unterwegs war. Sie nahm die Kette, die am Ende des Riegels befestigt war, fädelte sie durch ein Loch neben dem Türrahmen und zog, als die Tür geschlossen war, daran, sodass der Riegel wieder vorgeschoben wurde.

Es war unmöglich, das lautlos zu tun, und Betzi zischte sie angesichts des Lärms böse an.

»Wir können sie doch nicht schutzlos zurücklassen«, erklärte Rielle.

»Ich weiß, Rel, aber kannst du das nicht leise machen?«

»Wenn du das für möglich hältst, hättest du es selbst tun sollen«, erwiderte Rielle. Sie führte die Kette zurück durch das Loch. Innen schlug sie klirrend gegen die Wand. Irgendwo im Haus fing ein Baby an zu weinen. Betzi fasste sie am Arm und zog sie über die Straße und in den Schatten einer kleinen Gasse. Dann hielt sie inne, um sich davon zu überzeugen, dass sie allein waren, bevor sie Rielle losließ und sich wieder in Bewegung setzte.

Ihr Schritt war voller Selbstbewusstsein. Wenn Rielle es nicht besser gewusst hätte, hätte sie angenommen, dass er der naiven Arroganz einer verwöhnten, hübschen jungen Frau geschuldet war, die zu leicht bekam, was sie wollte. Tatsächlich hatte sie Betzi zu Anfang so eingeschätzt. Ihre Kühnheit war jedoch kein Zeichen von Schwäche und Unwissenheit; sie beruhte vielmehr auf Stärke und Entschlossenheit. Betzis kurzes Leben war schwierig gewesen, aber jeder Rückschlag hatte in ihr nur den Wunsch geweckt, jeden Glücksmoment, der sich ihr bot, umso fester zu ergreifen.

Selbst wenn das bedeutete, sich auf die Straßen einer verzweifelten Stadt zu wagen, die schon zu lange belagert wurde.

»Komm weiter, Rel«, sagte Betzi und schritt schneller aus. »Wenn die Kämpfe wieder anfangen, wird man uns nicht einmal in die Nähe der Mauer lassen.«

Rielle wandte sich um und raffte ihre Röcke hoch genug, dass sie ihre Schritte beschleunigen und ihre Freundin einholen konnte. Betzi zog die Augenbrauen nach oben, sagte jedoch nichts, da sonst niemand in der Nähe war, der es sehen würde. Die junge Frau war im Vorteil, da sie von klein auf die vielen Kleiderschichten getragen hatte, die die Schpetaner als schickliche Gewandung betrachteten. Rielle hatte es nie geschafft, sich so schnell darin zu bewegen wie die einheimischen Frauen. Leichter war es ihr gefallen, sich an die schpetanische Sitte zu gewöhnen, das Haar in der Öffentlichkeit unbedeckt zu lassen; es hatte ihr immer widerstrebt, ein Kopftuch zu tragen, obwohl es bedeutete, dass ihr dunkles, glattes Haar sie als Fremdländerin auswies.

Als ein Soldat in die Straße einbog, blieben beide Frauen reglos stehen. Der Mann humpelte und schwankte, und er sah nicht auf, als er näher kam. War er betrunken? Angeblich gab es keinen Alkohol mehr in der Stadt. Hatte man ein geheimes Lager entdeckt?

Als er vorbeiging, hörte sie, dass er jedes Mal die Luft anhielt, wenn er sein rechtes Bein belastete. Sie drehte sich nach ihm um und sah einen glänzenden dunklen Fleck hinten auf seiner Hose.

»Er ist verletzt«, flüsterte sie.

»Er kann noch laufen«, entgegnete Betzi.

Sie wechselten einen grimmigen Blick, dann eilten sie weiter.

Nicht lange nach dem Eintreffen des Königs und seiner Armee waren Berichte über Misshandlungen der Stadtbewohner bekannt geworden. Zu Anfang hatte es in Doum von Soldaten nur so gewimmelt. Als sich die Belagerung hinzog, stellten sich Hunger und Langeweile ein, und das vertraute Labyrinth der Straßen verwandelte sich langsam in ein Schlachtfeld ganz anderer Art. Nahrungsmangel machte verzweifelte Menschen zu Dieben. Kampferprobte Männer, die fürchteten, am Ende ihres Lebens angelangt zu sein, suchten nach letzten erreichbaren Vergnügungen.

Am sichersten war es, im Haus zu bleiben. Glücklicherweise erinnerten sich die alten Weberinnen noch an die Erzählungen ihrer Großmütter, die die letzte Belagerung überlebt hatten, indem sie auf dem Dach Getreide und Ähnliches angebaut hatten. Sie schickten die jüngeren Weberinnen mit den Strünken von Wurzelgemüse und kostbaren Saatkörnern nach oben.

Wir haben fast alle gedacht, die Belagerung würde nicht so lange andauern, dass in der Zwischenzeit irgendetwas wachsen kann, erinnerte sie sich. Wir haben es nur getan, um sie zu beruhigen. Und das war unser Glück.

Die Belagerung währte nun schon über drei Halbmondzeiten – oder Vierergruppen, wie die Einheimischen die Tage zählten. Fünfzig Tage. Die armseligen kleinen Pflanzen, die in Töpfen und Ritzen wuchsen, waren jetzt ihre einzige Nahrung, abgesehen von den kleinen Tieren, die normalerweise als Ungeziefer galten und jetzt von den Kindern gefangen wurden.

Die meisten Weberinnen ertrugen es, eingesperrt zu sein. Aber Betzi mit ihrem rastlosen Temperament hatte angefangen, sich aus dem Haus zu schleichen. Begonnen hatte sie damit, nachdem ein paar Hauptleute der Armee, die sich nach einer langen, kampflosen Phase ihre Langeweile vertreiben wollten, in die Weberei gekommen waren, um die Schöpfer der berühmten Wandteppiche von Doum zu sehen. Später erzählte Betzi Rielle, dass sie sich schon in Hauptmann Kolz verliebt habe, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war – ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte.

Als Rielle die beiden zusammen sah, hatte sie keinen Zweifel daran, dass ihre Zuneigung echt war. Und weil auch sie einst genauso von Leidenschaft überwältigt worden war, verstand sie, warum Betzi solche Gefahren auf sich nahm, um ihn zu treffen.

Wenigstens hat sie eine Freundin, die sie beschützt.

Sie näherten sich jetzt der Mauer, und Betzi beschleunigte ihre Schritte. Schließlich bogen sie um eine Ecke und kamen in eine Straße, die von drei Soldaten bewacht wurde. Im Gegensatz zu dem verwundeten Soldaten, den sie zuvor gesehen hatten, bemerkten die Männer sie sofort. Weil sie Betzi zuerst sahen, strafften sie sich ein wenig, aber als ihre Blicke auf Rielle fielen, trat eine Falte zwischen ihre Brauen. Sie war Stirnrunzeln gewohnt. Ihr war klar, dass meistens keine Feindseligkeit dahintersteckte, sondern nur Verwirrung. Die Schpetaner wussten nicht, was sie von ihr halten sollten. Sie war keine Einheimische, doch sie stammte offensichtlich auch nicht aus einem Land, das den Schpetanern bekannt war oder das sie hassten. Aus genau dem Grund hatte sie ja ein Land gewählt, das von ihrem eigenen so weit entfernt war: um ein neues Leben anzufangen, wo niemand von den Verbrechen wusste, die sie begangen hatte.

Der Bürgerkrieg war dabei nicht eingeplant gewesen.

Betzi war stehen geblieben, aber jetzt ging sie auf die Soldaten zu. »Weiß einer von euch tapferen Männern, wo Hauptmann Kolz ist?«

Die Männer wechselten Blicke. »Nein«, antwortete der erste.

»Hab ihn nicht gesehen«, sagte der zweite und drehte sich zu ihr um.

»Ich glaube, er ist tot«, fügte der dritte hinzu.

»Er ist nicht tot.« Betzi reckte das Kinn. »Wenn er es wäre, wüsste ich es.«

Die Männer wirkten belustigt. »Ach? Wie das?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wüsste es einfach. Würde jetzt einer von Euch uns bitte zu ihm führen? Ich muss ihm etwas von großer Wichtigkeit übergeben.«

Rielle unterdrückte ein Stöhnen.

»Und was wäre das?«, fragte der kleinste der Männer und schlenderte mit den Daumen in den Taschen auf Betzi zu.

»Das geht nur ihn etwas an, nicht Euch.«

Oh, Betzi, dachte Rielle und fasste nach dem Arm des Mädchens. Du verlässt dich zu sehr auf Kolz’ Namen, um dich aus Schwierigkeiten zu retten. Nicht alle Soldaten mochten den Hauptmann, der seit seiner ersten Begegnung mit Betzi eher geneigt war, ihre Angriffe auf Stadtbürger zu bestrafen.

»Lass uns gehen«, flüsterte sie.

Betzi trat einen Schritt zurück, als der Mann sich ihnen weiter näherte. »Nun, wenn Ihr nicht …«

Er machte einen Satz nach vorn und packte ihre Arme, die sie instinktiv erhoben hatte, um ihn abzuwehren. »Was für ein kleines Geschenk hast du denn für den hübschen Hauptmann mitgebracht?«, fragte er. Als er das an ihrem Gürtel befestigte Bündel bemerkte, ließ er eins ihrer Handgelenke los und griff danach. »Ist es das?« Die Außenhülle des Bündels zerriss, als er versuchte, es von ihrem Gürtel zu zerren, und heraus fiel der Schal, bei dessen Fertigung Rielle Betzi zugesehen hatte – viele Stunden lang hatte das Mädchen Wolle gesponnen, die sie aus ihrem eigenen Kissen stahl. Dann hatte sie sie mit einer Technik, die Rielle nie gemeistert hatte, geschickt zu Tuch gewebt.

»Gebt das zurück!«, verlangte Betzi, als er den Schal aufhob. Sie versuchte, ihn sich wiederzuholen, doch Rielle hielt sie am Gürtel fest.

»Lass ihm den Schal«, riet ihr Rielle. »Du kannst einen neuen aus meinem Kissen machen«, fügte sie hinzu, während die anderen Soldaten näher kamen.

Betzi ignorierte sie. »Hauptmann Kolz wird nicht glücklich sein, wenn er erfährt – autsch, Rel!« Doch sie wehrte sich nicht, als Rielle sie zurückzog. Der kleine Mann hatte sie losgelassen, um den Schal zu untersuchen, und zu Rielles Erleichterung nutzte Betzi die Gelegenheit, den Rückzug anzutreten. Ihr Gesichtsausdruck wechselte von trotzig und zornig zu ängstlich, als sie Rielle ansah. Dann weiteten sich ihre Augen, und sie mussten beide jäh stehen bleiben. Rielle sah, dass der Mann noch immer die Kordel hielt, die an Betzis Gürtel befestigt war.

Und die anderen Soldaten kamen auf sie zu, um sie zu umzingeln.

»Rielle!«, stieß Betzi hervor, während sie versuchte, die Hände des kleinen Mannes wegzuschlagen. »Jetzt wäre so ein Zeitpunkt!«

Rielle drehte sich der Magen um. Betzi hatte recht. Wenn die Drohung, dass sie sie dem Hauptmann melden würden, den Soldaten keine Angst machte, dann war Kolz entweder tot, sie unterstanden jemandem, der mehr Macht hatte als Kolz, oder sie hatten die Absicht, dafür zu sorgen, dass nie eine Meldung gemacht werden konnte.

»Engel verzeiht mir«, flüsterte sie. Sie hakte Betzi unter und wandte sich dem nächststehenden der beiden Männer zu, der jetzt die Hand nach ihr ausstreckte. Sie zog ein wenig Magie in sich hinein, griff nach seiner Hand und dachte: Hitze!, in der Hoffnung, dass sie sich noch immer an den Trick erinnern konnte, den ihre Freundin ihr beigebracht hatte.

Der Mann prallte zurück und jaulte vor Schmerz auf. Als sie sich zu dem zweiten Mann umdrehte, ertönte hinter ihr ein Fluch. Betzi zerrte Rielle plötzlich vorwärts, in die Richtung, wo die Männer ursprünglich gestanden hatten. Rielle vertraute darauf, dass ihre Freundin wusste, was sie tat, und rannte Seite an Seite mit ihr los.

Keine Schritte waren hinter ihnen zu hören. Als sie das Ende der Straße erreichten, drehte Rielle sich um: Die drei standen beisammen und funkelten sie zornig an. Ihre Sinne nahmen zwei Streifen Schwärze auf, Dunkelheit, wo sie oder Betzi der Welt Magie entzogen hatte.

Magie, die den Engeln gehörte. Rielle schauderte. Hier in Schpeta glaubte man, dass die Engel nichts dagegen hatten, wenn Magie in Notsituationen eingesetzt wurde, um das eigene Leben zu schützen. Der Engel, dem sie im Bergtempel begegnet war, hatte Rielle gegenüber etwas in der Art gesagt, bevor er sie in die Welt geschickt hatte, um ein neues Leben zu beginnen: »Ich gebe dir die Erlaubnis dazu, sollte dein Leben in Gefahr sein und solltest du keine andere Wahl haben.«

Die Worte waren ihr schon häufiger durch den Kopf gegangen, seit die Belagerung begonnen hatte.

Wir können natürlich nicht sicher sein, dass sie vorhatten, uns zu töten, überlegte Rielle besorgt. Doch ich werde nicht warten, bis mir jemand mit dem Messer die Kehle aufschlitzt, um Gewissheit zu haben. Zu viele Frauen hatte man schon missbraucht und getötet auf den Straßen von Doum gefunden, als dass sie das Risiko eingegangen wäre. Außerdem ist meine Seele bereits verdammt, wenn die Engel so unversöhnlich sind, wie es die Priester meines Heimatlandes glauben. Ich habe es nicht besonders eilig herauszufinden, wer recht hat.

Sie kamen an eine breitere Straße, die die Häuser der Stadt von der Stadtmauer trennte. Das jüngere Mädchen, das Rielle immer noch untergehakt hatte, blieb kurz stehen und ging dann auf eine Steintreppe zu, die zu den Zinnen hinaufführte. Die verbliebenen Soldaten der königlichen Armee, die gesund genug waren, um zu kämpfen, standen entweder auf der Stadtmauer oder ruhten sich an ihrem Fuß aus, spielten Spiele, unterhielten sich und kümmerten sich um Waffen, ihre Rüstung oder Verletzte. Ihre Reihen hatten sich seit Rielles letztem Besuch hier ziemlich gelichtet, und fast alle Männer trugen irgendeinen Verband.

Sie sehen müde aus, überlegte sie. Verängstigt. Zornig. Oder alles zusammen.

Betzi blieb abrupt stehen. »Da ist er«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Hauptmann Kolz!«

Rielle folgte Betzis Blick und sah einen erschöpft wirkenden jungen Mann auf der mit Zinnen versehenen Brüstung eines Turms der Stadtmauer stehen. Ihre Freundin zog Rielle hastig weiter, weil sie es eilig hatte, zu ihrem Geliebten zu kommen. Etwas in ihrer Hand wehte hin und her. Rielle lachte, als sie sah, dass es der Schal war: Betzi hatte ihn ebenso gerettet wie sich selbst.

Der Hauptmann schaute auf die Straße hinunter, und Rielle war nicht überrascht, dass er sie bemerkt hatte; sie fielen auf, weil sie die Einzigen waren, die sich mit einem gewissen Maß an Lebhaftigkeit bewegten. Bei dem Lächeln, das sein Gesicht erstrahlen ließ, wurde ihr leichter ums Herz und dann wieder ein wenig schwerer. Es war zwar möglich, dass die Anziehung, die ihn mit Betzi verband, nicht von Dauer sein würde, sobald die gegenwärtigen düsteren Umstände sich änderten – und falls sie sie überlebten –, aber sie konnte sich des sicheren Gefühls nicht erwehren, dass sie ihre einzige Freundin irgendwann an ihn verlieren würde.

Betzi ließ Rielles Arm los, sauste in den Turm und erklomm leichtfüßig die Treppe darin. Rielle folgte ihr gemesseneren Schrittes, und als sie oben ankam, waren ihre Freundin und der Hauptmann bereits vollkommen ineinander verschlungen, und mehrere belustigte Soldaten taten so, als bemerkten sie es nicht. Der Schal, stellte sie fest, lag bereits um seinen Hals.

»… hat gesagt, du seist tot! Ich habe ihm nicht geglaubt«, rief Betzi und grinste, als Rielle sich zu ihnen gesellte. »Wir …«

Ihre Worte gingen unter, weil plötzlich laut ins Horn geblasen wurde, auch links und rechts auf der Mauer neben ihnen. Darauf ertönte ein Läuten von außerhalb der Stadt, gefolgt von einem Geräusch, das sie eigentlich nur von Festen kannte – das einmütige Rufen vieler, vieler Menschen. Das Lächeln des Hauptmanns verschwand, und er und die anderen Kämpfer eilten an den äußeren Rand der Mauer, um aufmerksam durch die Lücken zwischen den Zinnen zu spähen.

»Sie greifen an.« Er blickte wieder zu den beiden jungen Frauen hinüber. »Geht nach Hause.«

Aber Betzi, die sich von den Öffnungen fernhielt, trat näher, und Rielle folgte ihrem Beispiel.

»Während der Kämpfe bin ich hier sicherer als auf der Straße«, erklärte Betzi, deren Stimme ungewöhnlich ernst klang.

Kolz dachte kurz darüber nach. »Dann geht nach unten in den Turm und bleibt dort, bis ich euch nach Hause bringen lassen kann.«

Sie nickte, winkte Rielle und eilte zur Treppe. Als sie gerade nach unten gehen wollten, ertönte dicht über ihnen in der Luft ein Pfeifen. Sie zogen die Köpfe ein und blieben stehen, um hochzuschauen. Über ihnen jagten mehrere dunkle Striche über den Himmel. Von der Straße hörte man Schreie, gedämpft von den Mauern des Turms.

Aber die Schreie gingen schon bald im Gebrüll der herannahenden Armee unter. Soldaten drängelten sich an ihnen vorbei, während Rielle und Betzi die Treppe hinunterliefen. Beide Mädchen zwängten sich in eine Ecke des höchstgelegenen Turmzimmers. Nur ein Bogenschütze blieb mit ihnen auf demselben Stockwerk und bewegte sich von einem schmalen Fenster zum nächsten, den Bogen gespannt und schussbereit.

Draußen vermischten sich die Rufe der Belagerten mit dem Gebrüll der Angreifer, dem Schmettern von Hörnern und dem Klirren und Donnern von Waffen, als der Feind die Mauer erreichte. Der Bogenschütze schoss Pfeil um Pfeil ab, und als ihm die Munition ausging, eilte er davon und ließ sie allein. Betzi drehte sich mit aufgerissenen Augen zu Rielle um, die ihren Blick erwiderte und begriff, dass sie vor Entsetzen erstarrt gewesen war. Als ihre Freundin zu dem Fenster ging, von dem aus man die Schlacht verfolgen konnte, entkrampfte sich ihr Körper. Mit wild klopfendem Herzen näherte sie sich dem Fenster von der anderen Seite.

»Pass auf, dass du nicht erschossen wirst«, sagte sie zu Betzi, obwohl sie selbst gerade einen Blick nach draußen riskierte.

Rielle spähte durch die Öffnung. Dahinter bot sich ihr die vertraute Aussicht dar. Gezackte Felsgipfel ragten aus sanften Hügeln. Damals, bei ihrem ersten Blick auf die Landschaft, hatte sie gedacht, dass sie aussah wie schwarze Zähne in einem grünen Kiefer – und tatsächlich bedeutete der schpetanische Name für die Gipfel »Zähne der Engel«.

Die Hügel waren jetzt nicht mehr so grün, da die meisten Felder zu Schlamm zertrampelt oder abgeerntet worden waren, um die Kämpfer des Thronräubers zu ernähren. Das feindliche Lager war nur einige Hundert Schritte entfernt. Zwischen ihnen und der Stadtmauer waren mehrere gerade Wälle aufgeworfen worden.

Rielle erweiterte ihre Sinne und war erleichtert, keine Schwärze zu finden. Obwohl der Bürgerkrieg grausam und unversöhnlich gewesen war, hatten weder der König noch der Thronräuber den Zorn der Engel riskiert, indem sie den Einsatz von Magie anordneten. Alle hatten darüber spekuliert, ob die eine oder andere Seite irgendwann so tief sinken würde, aber Rielle bezweifelte, dass das möglich war. Nur Priester hatten die Freiheit, hohe Meisterschaft in der Magie zu entwickeln, und sie glaubte nicht, dass der König oder der Thronräuber einen Priester finden würde, der bereit war, seine Magie für den Krieg einzusetzen.

Eine weitere Hornfanfare ertönte von irgendwo jenseits der Mauer, aber es klang jetzt anders als zuvor. Der Lärm draußen vor dem Turm ließ für einen Augenblick nach, dann veränderte sich sein Ton. Ein Ruf erschallte, der immer wieder aufgegriffen wurde, sowohl dicht beim Turm als auch in der Ferne. Soldaten eilten die Treppe hinauf und hinunter und zwangen Rielle und Betzi erneut, sich in die Ecken zu drücken.

»Sie ziehen sich zurück«, brüllte jemand oben auf dem Turm. Rielle erkannte Kolz’ Stimme. Der besorgte Ausdruck verschwand aus Betzis Zügen.

»Ist das eine List?«, erklang eine schwächere Stimme von irgendwo auf der Straße unter ihnen.

»Könnte sein. Hat irgendeiner der Eingedrungenen überlebt?«

»Ich sehe mal nach.«

Betzi und Rielle traten wieder ans Fenster, von wo aus sie beobachteten, wie sich die Truppen des Thronräubers zurückzogen und die Soldaten hinter den Wällen verschwanden, bevor sie auf der anderen Seite wieder ins Blickfeld marschierten. Eines der spitzen Zelte des feindlichen Lagers brach plötzlich in sich zusammen, dann ein weiteres.

»Brechen sie ihr Lager ab?«, überlegte Rielle laut.

»Wer ist das, der da die Straße langkommt?«, fragte Betzi.

Rielle hielt blinzelnd nach den Leuten Ausschau, die Betzi gesehen hatte. »Wo denn?«

»Drei Männer, einer in einem goldenen Mantel, zwei in seltsamer Gewandung. Vielleicht Fremdländer.«

»Deine Augen sind viel besser als meine«, entgegnete Rielle. »Wenn sie näher kommen, kann …« Ihr stockte der Atem, als sie die Dreiergruppe sah.

»Der Mann, der Gold trägt, könnte der Thronräuber sein«, hörte sie Betzi sagen. »Die anderen …«

Rielle öffnete den Mund, aber sie hatte nicht genug Luft, um zu sprechen.

»Sie sehen ein wenig wie Priester aus«, fuhr Betzi fort. »Hast du nicht gesagt, dass sie im Norden dunkelblau gekleidet sind? Rel?«

Rielles Lunge begann zu protestieren. Als der Krampf in ihrer Kehle sich löste, konnte sie wieder atmen.

»Was ist los, Rel?«

Rielle schüttelte den Kopf, konnte den Blick aber nicht von der Dreiergruppe abwenden, die sich der Stadt näherte. Hoffnung und Furcht rangen in ihrem Herzen miteinander. Wenn dies … wenn sie …

»Bringt diese beiden Frauen von den Zinnen zu ihrem Haus«, ertönte eine Stimme von der Treppe über ihnen.

»Aber Hauptmann …«, hob Betzi zu sprechen an.

»Geh nach Hause, Bet«, fiel Kolz ihr ins Wort. »Verschließ die Tür. Ich werde dir eine Nachricht schicken, wenn wir wissen, womit wir es zu tun haben.«

Jemand legte Rielle eine Hand auf den Arm und zog sie vom Fenster weg. Eine Erinnerung, die sie energisch in der Vergangenheit verschlossen hatte, brach sich Bahn, und sie verspürte einen Nachhall von Entsetzen, hatte das Bild eines verzweifelten Mannes vor Augen, der mit einem Messer herumfuchtelte. Sie machte die Augen zu und schloss die Erinnerung wieder weg. Als sie die Augen öffnete, war es Betzis Gesicht, das sie sah.

»Komm, Rel.« Betzi hakte Rielle abermals unter und führte sie die Treppe hinab. Der Turm erinnerte Rielle jetzt an einen anderen. Ein Berggefängnis. Ein junger, lüsterner Priester. Ein Priester mit vernarbtem Gesicht. Ein Engel, schöner, als es ein Sterblicher je sein könnte …

Helles Sonnenlicht ließ sie zusammenzucken und brachte sie zurück in die Gegenwart. Betzi blieb stehen. Der junge Bogenschütze war nur einen Schritt entfernt, und sein Gesicht verfinsterte sich, als er Rielle jetzt zum ersten Mal richtig ansah. Rielle holte tief Luft und schob den Drang beiseite, zurück zum Turmfenster zu laufen und sich davon zu überzeugen, dass sie sich geirrt hatte.

Denn sie musste sich irren.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Rel?«, fragte Betzi.

»Ja.«

Betzi wandte sich an den Bogenschützen. »Geht voran«, sagte sie munter, und sie machten sich auf den Weg durch die Straßen von Doum.

2 Rielle

Rielle stand vor dem Webstuhl, betrachtete den halbfertigen Wandteppich und ließ ihre Erinnerungen den Entwurf überlagern.

Die Spulen, die noch immer an dem Wandteppich herabhingen, waren mit Staub überzogen. Sie hatte seit über einem Jahr nicht mehr daran gearbeitet. Es war ihr Übungsstück gewesen, an dem sie die Techniken, die man sie gelehrt hatte, ausprobieren und verfeinern sollte. Inzwischen hätte sie den Wandteppich fertiggestellt und vom Webstuhl genommen haben sollen, aber das alte Holzgestell war ohnehin zu verzogen, um es für einen wertvollen Wandteppich zu nutzen, und der einzige Lehrling, den Grasch angenommen hatte, seit Rielle mit ihrer Ausbildung fertig war, hatte noch nicht einmal das erste Jahr hinter sich. Das Mädchen lernte erst, Garn zu spinnen und zu färben.

Das Gewebe zeugte von der Unbeholfenheit und den Fehlern einer Anfängerin, aber nicht deshalb hatte sie sich davon abgewandt. Die Werkstatt war bis zu der Belagerung sehr gefragt gewesen, und alle Weberinnen hatten stets zu tun gehabt, aber auch das war nicht der Grund, weshalb sie sich nicht die wenigen Stunden Zeit genommen hatte, um ihr Gesellenwerk fertigzustellen. Betzi und manches der anderen Mädchen hatten Rielle so oft gedrängt, sich an den Webstuhl zu setzen, aber sie hatten keinen Erfolg gehabt.

Denn die Ausführung des letzten Teils war mit einem großen Risiko behaftet. Der Karton – so nannte man die Zeichnung, die als Vorlage hinter einem Wandteppich hing – zeigte in dem unvollendeten Bereich nur vage Gestalten, weil Rielle es nicht wagte, die Einzelheiten hinzuzufügen, die das Motiv des Wandteppichs offenbaren würden. Viele Male hatte sie sich gefragt, warum sie dieses Motiv überhaupt gewählt hatte, vor allem, da sie doch versprochen hatte, über diese Begegnung Stillschweigen zu bewahren. Aber ihre Hände hatten den Karton gezeichnet, beinahe so, als hätte jemand anders ihre Finger gelenkt.

Vielleicht war es ja auch so gewesen. Die Möglichkeit, dass ein Engel sie geleitet hatte, war der einzige Grund, warum sie das unvollendete Stück nicht heruntergeschnitten und verbrannt hatte.

»Der erste Wandteppich einer Weberin sagt häufig mehr über sie aus, als sie glaubt«, hatte Grasch erklärt, als die anderen Weberinnen begonnen hatten, über den Grund zu spekulieren, warum sie mit der Arbeit aufgehört hatte.

»Oder über jemand anders«, hatte Betzi hinzugefügt. »Wer immer dieser Mann ist. Ein früherer Geliebter vielleicht?«

»Er ist ein Priester«, hatte Tertz bemerkt.

»Na und? Nicht alle Länder verlangen von ihren Priestern, in Keuschheit zu leben.«

Rielle lächelte bei der Erinnerung an dieses Gespräch. Das war zu einer Zeit, als Betzi mich noch gehasst hat. Und ich sie. Das Mädchen war der Liebling in der Wandteppichwerkstatt gewesen, obwohl Grasch behauptete, keine Lieblinge zu haben. Rielle hatte sich so sehr danach gesehnt, dem Meisterweber ihren Wert zu beweisen; schließlich hatte der Meistermaler der Stadt sie nach einer Probe ihrer Fähigkeiten voller Hohn und Geringschätzung zurückgewiesen.

Als Grasch ihr künstlerisches Talent geprüft hatte, hatten ihre Hände so heftig gezittert, dass sie kaum in der Lage gewesen war, überhaupt zu malen, und die Weberinnen hatten Blicke gewechselt und Worte gesprochen, die sie zwar nicht verstehen konnte, die ihr aber deren Zweifel deutlich kundgetan hatten. Obwohl man ihr etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen gegeben hatte, hatte sie gedacht, sie müsse versagt haben, denn der Meisterweber hatte ihr die einfachsten und niedersten Aufgaben zugewiesen. Es waren einige Monate vergangen, bevor sie genug von der Sprache verstand, um zu begreifen, dass das Spinnen von Garn und das Erlernen der Kunst, es zu färben, die erste Etappe in ihrer Ausbildung war, und dass das Kochen, Putzen und Bedienen der Weberinnen Pflichten waren, die alle neuen Lehrlinge übernehmen mussten.

Es war kein einzelnes Ereignis, das die Abneigung zwischen ihr und Betzi in Freundschaft verwandelt hatte, nur unwichtige Situationen, in denen sie den Respekt der jeweils anderen gewonnen hatten. Obwohl sie in ihrer Persönlichkeit sehr verschieden waren, dachte Rielle gern, dass sie verwandte Seelen seien. Bevor sie in die Werkstatt eingetreten waren, hatte das Leben sie hart gemacht. Beide Frauen respektierten den Wunsch der anderen, diese Vergangenheit geheim zu halten.

Ein Geräusch hinter ihr ließ Rielle zusammenzucken.

»Ist es also an der Zeit?« Es war ein altersschwaches Flüstern.

Rielle blinzelte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie hatte den Webstuhl zu dem einzigen Fenster hinübergetragen, dessen Läden nicht zugenagelt worden waren, um Eindringlinge abzuhalten. Da ihre Augen an das hellere Licht gewöhnt waren, brauchte sie eine Weile, um den alten Mann zu erkennen, der in der dunklen Ecke der Werkstatt saß.

»Meisterweber«, begrüßte sie ihn. »Ich dachte, Ihr wärt oben. Wenn ich Euch störe …«

»Ganz und gar nicht«, unterbrach er sie. »Ich freue mich, dich endlich wieder weben zu hören. Ich wäre enttäuscht, wenn du aufhören würdest.«

Sie schaute auf die Spulen, die sie auf den Ablagekästen aufgereiht hatte. »Dann muss ich es wohl tun.« Seltsamerweise klang ihre Stimme sicherer, als sie sich fühlte.

»In der Tat.« Er seufzte. »Ich spüre, wie die Welt sich dreht.«

Ein Schaudern überlief sie. Sie hörte die Wahrheit in dem Sprichwort, die Anerkennung der großen Veränderung der Welt, aber sie wollte nicht darüber nachdenken. Und doch erfüllte es sie mit einem Gefühl der Dringlichkeit. Weben war eine Arbeit, für die man Zeit brauchte. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie hatte.

Sie trug einen Hocker zum Webstuhl hinüber, setzte sich, blies Staub von den Fäden und Spulen und dachte über ihre Farben nach. Die einzelnen Farbtöne leuchteten immer noch. Eine einheimische Beere ergab eine Farbe, die fast so kraftvoll war wie das Blau-Juwelpigment, das für die Spirituale ihres Heimatlandes benutzt wurde. Sie hatte versucht, daraus Farbstoff zu machen, aber das Ergebnis war dumpf und enttäuschend gewesen. Was ein gutes Färbemittel ergab, ergab nicht immer gute Malfarbe – und umgekehrt.

Schwarz bekam man mit einer Mischung aus Dung und dem einheimischen Lehm. Rottöne extrahierten sie aus Gemüseschalen und rostigem Metall, Gelbtöne aus einer Wiesenblume. Alles Dinge, die leicht zu beschaffen waren, was bedeutete, dass es reichlich Garn für die Hauttöne gab, die sie brauchte. Da die Schpetaner fast so blass waren wie ihr Motiv, kam ihr das sehr entgegen.

Sie griff nach einer Spule und begann mit deren Spitze jeden zweiten Kettfaden aufzunehmen, zog dann dort die Spule ganz durch, wo der Farbton sich ihrer Meinung nach verändern musste, bevor sie den Faden wieder zurückführte. Mit ein paar geübten Bewegungen schob sie das neue Garn geschickt auf das alte. Nach und nach füllte sie die Lücke zwischen Kragen und Kinn, hielt sich dabei eher an die Linienführung in ihrer Erinnerung statt an die des Kartons. Zusätzliche Stiche hier und da mischten sich mit dem nächsten Farbton und schufen die Illusion von Schatten.

Jetzt, da sie begonnen hatte, fanden ihre Hände schnell in den gewohnten Rhythmus. Während sich das Gesicht herausbildete, arbeitete sie mit wachsender Geschwindigkeit. Sie hatte sich entschieden, und jetzt wollte sie nur dafür sorgen, dass sie den Wandteppich fertig hatte, bevor … vielleicht nur, bevor die anderen Weberinnen herausfanden, was sie da tat. Also wählte sie die Farben mit Bedacht. Fehler würden sie nur Zeit kosten. Während sie arbeitete, öffnete sich in ihr die Tür zur Vergangenheit, und sie wappnete sich.

Aber der Schmerz, von dem sie einst geglaubt hatte, er würde immer zu lebendig sein, um ihn ertragen zu können, blieb aus. Sie spürte nur Traurigkeit und ein leichtes Schuldgefühl. Wäre ihre Liebe zu Izare genauso schnell verblasst, wenn sie zusammengeblieben wären? Ihr Bedauern darüber, ihrem Geliebten das Herz gebrochen und den Ruf ihrer Familie ruiniert zu haben, sollte doch wohl länger anhalten als nur fünf Jahre? Die kunstfertigsten Wandteppiche brauchten Jahrhunderte, um zu verblassen; im Vergleich dazu war die Zeit, die sie jetzt schon im Exil lebte, gar nichts.

Doch die Ursache all dieses Leids, ihre Benutzung von Magie, war ihr von niemand Geringerem als einem Engel vergeben worden. Dann sollte sie sich doch wohl auch selbst vergeben können? Und sie hatte weitaus Schlimmeres getan als das. Sie hatte mit Magie einen Priester getötet.

Bei der Erinnerung daran lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sa-Gest war ein abscheulicher, manipulativer Mann gewesen, der andere Frauen durch Erpressung in sein Bett gezwungen hatte. Aber bei ihr hatte er keinen Erfolg gehabt, und jeder verdiente die Chance, sich zu verteidigen, bevor er verurteilt wurde. Doch ihr graute mehr bei dem Gedanken, dass sie jemanden getötet hatte und wie einfach es gewesen war, als bei der Vorstellung, dass sie ihn getötet hatte.

In einem Augenblick war er da und im nächsten fort. Sie hatte ihn von der abschüssigen Straße das Kliff hinuntergestoßen – und dafür einem großen Teil des Tals die Magie entzogen.

Wenn sie seinen Leichnam gesehen hätte, würde die Erinnerung daran sie bestimmt selbst jetzt noch verfolgen. Stattdessen war es das Bild eines Mannes mit unvorstellbar blasser Haut – dem Farbton, den sie jetzt wob –, das sie in ihren Träumen sah, im Wachen wie im Schlafen.

»Dir ist vergeben, Rielle Lazuli. Und ich biete dir Folgendes an: Wenn du schwörst, nie wieder Magie zu benutzen, es sei denn aus Notwehr, werde ich dir ein zweites Leben schenken. Du darfst nicht in deine Heimat zurückkehren. Du darfst keinen Kontakt zu jenen aufnehmen, die du verlassen hast. Du musst in ein fernes Land ziehen, wo du eine Fremde und Außenstehende sein wirst.«

Seine Lippen waren … welche Farbe hatten sie gehabt? Sie geriet ins Stocken, und ihre Hände bewegten sich nicht mehr, während sie nachdachte. Wenn seine Lippenfarbe damals nicht besonders bemerkenswert gewesen war, musste sie sich gut in sein Gesicht eingefügt haben. Also waren seine Lippen wahrscheinlich rosiger als seine Haut, aber nicht so dunkel, dass sie so gewirkt hätten, als seien sie angemalt gewesen.

Ihre Form war voller gewesen als die dünnen Lippen eines typischen Schpetaners, näher der Mundform ihres eigenen Volkes. Sie webte langsam weiter, bis das Ergebnis richtig zu sein schien. Dann trat sie einige Schritte zurück und stellte verblüfft fest, dass der Mund beinahe den Eindruck erweckte, als würde er lächeln. Sie konnte sich nicht erinnern, ob der Engel gelächelt hatte, doch wahrscheinlich hatte er es zu irgendeinem Zeitpunkt getan. Vielleicht nur, weil er so versöhnlich und gütig gewesen war und weil sie in ihrer Kindheit und Jugend gelernt hatte, so etwas nicht von einem Engel zu erwarten, wenn er zu einem Befleckten sprach – das waren die, die Magie gestohlen und benutzt hatten. Magie, die den Engeln gehörte.

Das war nicht die einzige Erwartung, die sich an jenem Tag als falsch erwiesen hatte.

»Ich gebe dir die Erlaubnis, Magie zu benutzen, sollte dein Leben in Gefahr sein und solltest du keine andere Wahl haben.«

Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an die Magie, die sie und Betzi benutzt hatten, um die Soldaten abzuwehren. Wenn man sein ganzes Leben lang vorsichtig gewesen war, ließ sich das nicht so leicht abschütteln. Auch damals, als sie nicht lange nach Beginn ihrer Lehrzeit von einem der Sänftenträger des Palastes bedrängt und betatscht worden war, hatte Rielle keine Magie benutzt und war nur entkommen, weil ein Hustenanfall den Griff des Mannes gelockert hatte. Damals war sie mit Betzi noch nicht befreundet gewesen, und sie war überrascht gewesen, als das Mädchen erraten hatte, was geschehen war, und ihr ein Mitgefühl geschenkt hatte, das ausnahmsweise einmal frei von Spott gewesen war.

»Kennst du irgendeinen Kniff, die Dunkelheit zu weben?«, hatte das Mädchen sie gefragt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rielle genug Schpetanisch gelernt, um zu wissen, wonach Betzi fragte. Außerdem hatte sie inzwischen herausgefunden, dass die Schpetaner dazu neigten, gelegentliche kleine Verstöße zu ignorieren. »Wenn ja, kann ich dir den einen oder anderen Kniff beibringen, um Männer wie ihn abzuwehren«, hatte sie angeboten. »Du solltest auch nicht damit warten, bis dich wieder einer bedrängt. Wie alles im Leben bedarf es der Übung.«

Erst als die Belagerung begonnen hatte, hatte Rielle dieses Angebot angenommen. Auch wenn der Engel ihr die Erlaubnis gegeben hatte, Magie zu benutzen, konnte sie das nicht beweisen. Er mochte sich um die Priester im Bergtempel gekümmert haben, die früher befleckte Frauen dazu benutzt hatten, um stärkere Priester hervorzubringen, aber vor dem Eingreifen des Engels hatte es dort jahrelang großes Leid gegeben. Sie wollte nicht herausfinden, wie dieses Volk die Befleckten bestrafte, oder sich auf die Rettung durch die Engel verlassen, es sei denn, sie hatte keine andere Wahl.

Betzi hatte Rielle beigebracht, eine winzige Flamme zu erzeugen, indem sie die Luft vibrieren ließ, bis sie heiß wurde, und sie dann zu verhärten und in Bewegung zu versetzen, um etwas wegzustoßen. Das Mädchen hatte ihr geraten, den Trick zu üben, und argumentiert, dass, wenn die Engel die Magie für sich behalten wollten, ihre Benutzung zur Selbstverteidigung aber auch anderen erlaubten, es sicherlich am besten war, diese Magie so wirkungsvoll wie nur möglich einzusetzen.

Trotzdem hatte die Benutzung von Magie Rielle Albträume beschert, in denen sie noch einmal in Lumpen die Hauptstraßen von Fyre entlanggegangen war und die Menge sie mit Dreck beworfen hatte. Wann immer die schpetanischen Priester in der Nähe waren, wurde ihr übel vor Angst.

Und jetzt war der Engel hier, wenn die Gerüchte, die nach ihrer Rückkehr in der Werkstatt zu hören gewesen waren, tatsächlich bestätigten, was sie an der Mauer gesehen hatte. War er gekommen, um sie zu bestrafen? Sie schauderte, als sie sich die Missbilligung in den ewig jungen Augen des Engels vorstellte – Augen, die so dunkel gewesen waren, dass sie Mühe gehabt hatte, die Grenze zwischen Iris und Pupille zu erkennen. Wie soll ich das darstellen? Vielleicht mit einer Kombination aus einem warmen und einem kühlen Schwarz. Und möglicherweise das Gleiche für sein Haar?

Sie hielt inne, um mit einer Hand ihr Haar zu berühren. Es war seit ihrer Ankunft in Doum so lang geworden, dass es ihr bis auf die Schultern fiel. Sie hatte die Einheimischen glauben lassen, dass fyrianische Frauen ihr Haar immer kurz trugen und dass sie es dann hatte wachsen lassen, weil ihr die hiesige Sitte gefiel. Glänzend und schwarz, wie es war, faszinierte es Betzi, die es gern flocht.

Das Haar des Engels war schwarz mit blauen Reflexen, wo sich Licht darauf spiegelte. Als sie mit dem Weben der Stirn fertig war, besah sie sich den Ablagekasten mit den Spulen und den Blautönen, die sie ausgewählt hatte. Eine unmögliche Farbe, aber eine, die sie am Morgen am Fuß der Stadtmauer wiedererkannt hatte – und zwar nicht nur an den Gewändern der Priester.

Sie runzelte die Stirn. Vielleicht war er es gar nicht. Es könnte ein gewöhnlicher Priester mit einer eng anliegenden, dunkelblauen Mütze gewesen sein. Doch der Gang der Gestalt hatte etwas an sich gehabt, das ihre Haut kribbeln ließ. Unfug. Ich habe ihn im Bergtempel nicht einmal aufstehen sehen. Wie sollte ich da seinen Gang wiedererkennen?

Hinter ihr seufzte Grasch. Plötzlich nahm sie den Raum wieder wahr, und jedes Geräusch, das sie machte, wirkte schärfer und lauter als gewöhnlich. Ihr fehlte beim Arbeiten das Stimmengewirr der anderen um sich herum. An einem Wandteppich konnten so viele Weberinnen Seite an Seite arbeiten, wie am Webstuhl Platz hatten, und wenn Fertigstellungstermine nahten, drängten sie sich manchmal dicht zusammen. Die Weberinnen mit guten Stimmen sangen dann, und die übrigen summten mit.

Aber mit jedem weiteren Tag der Belagerung war es in der Werkstatt stiller geworden. Sie hatten zwar noch Aufträge abzuarbeiten, aber wenn ihnen irgendwann ein wichtiger Farbton beim Garn ausging und sie kein Färbemittel mehr hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Arbeit an einem Wandteppich einzustellen. Inzwischen waren sämtliche Aum, die die Wolle lieferten, getötet und verzehrt worden. Als sie erfuhren, dass die Brennstoffe ausgingen, befürchteten die Weber, dass die Menschen kommen und das Holz der Webstühle verlangen würden, um es zu verbrennen, oder dass sie selbst gezwungen sein würden, es zu verbrennen. Ein Grund mehr, ihren Wandteppich fertigzustellen. Einen so armseligen, schlecht gemachten Webstuhl würde man eher opfern als einen guten.

Endlich war auch der Kopf der Figur fertig. Rielle webte weiter in Richtung Teppichrand und arbeitete jetzt an den von der Gestalt ausstrahlenden Linien. Es waren schwarze Linien statt der gewohnten weißen. Sie hatte den Verdacht, dass dies mehr noch als ihre unkonventionelle Weise, einen Engel darzustellen, ihre gefährlichste Entscheidung war. Aber sie konnte einfach nicht leugnen, was ihre Augen und ihre Sinne wahrgenommen hatten. Sie wusste, dass die weißen Linien auf den Tempelgemälden eine Illusion waren, geschaffen von der Schwärze, die ein Engel ausstrahlte, wenn er Magie in sich hineinzog. Aber es würde vielleicht als Blasphemie betrachtet werden, wenn sie andeutete, dass ein Engel bei der Benutzung von Magie Schwärze erzeugte.

Als der letzte Faden an die richtige Stelle gezupft, das letzte Ende abgeschnitten und die letzte Spule in den Korb zurückgelegt worden war, fiel ihr eine alte Last von den Schultern, und eine neue trat an ihre Stelle.

Hier ist es also. Mein Geheimnis ist offenbart. Es stellt sich nur noch die Frage, wie gut ich meine Sache gemacht habe. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und ging zu Grasch hinüber. Der alte Mann schlummerte leise schnarchend, aber er hatte einen leichten Schlaf, und das Geräusch ihrer Schritte weckte ihn. Sie schaute zu dem Engel auf, der sie vom Webstuhl aus anblickte. Ihr Herz machte einen Satz.

Das ist er. Vielleicht hat die Zeit meine Erinnerungen übertrieben, aber die Essenz ist da. Überirdisch. Ewig jung. Gütig.

»Du bist fertig«, vermutete Grasch. »Ist es so geworden, wie du es beabsichtigt hast?«

Rielle holte tief Luft. »Ja«, antwortete sie leise und atmete aus.

»Wer ist es denn?«

»Valhan.«

Grasch runzelte die Stirn, denn er kannte den Namen nicht.

»Der Engel der Stürme.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Das ist nicht der Name, unter dem wir ihn kennen.« Er blickte zum Wandteppich hinüber. »Ich wünschte, ich könnte ihn sehen.«

»Es tut mir leid. Ich habe zu lange gewartet.«

Er lächelte. »Es braucht dir nicht leidzutun. Ich verstehe, dass manche Dinge nicht überstürzt werden dürfen.«

»Wollt Ihr, dass ich ihn Euch beschreibe?«

»Nein.« Er lächelte, als könnte er ihre Überraschung sehen. »Du würdest mir von dem Bild in deinem Kopf erzählen. Andere werden mir von dem Wandteppich erzählen, den du gemacht hast. Es sei denn, du bist nicht bereit, ihn zu zeigen?«

Sie unterdrückte ein Aufblitzen von Furcht. »Ich bin so bereit, wie ich es nur je sein werde.«

»Dann ruf sie herein.«

Sie drehte sich um, ging zur Tür und schob den Wandteppich davor beiseite. Licht, das von der offenen Haustür hereinfiel, erfüllte den Flur und beleuchtete mehrere Personen, die dort standen.

»Rielle!« Betzi sprang hinter der Gruppe hervor. »Da bist du ja! Hier ist jemand, der … Oh! Du hast es fertig!« Sie bedeutete Rielle, in den Werkraum zurückzugehen, dann trat sie auf die Schwelle und hielt den Wandteppich zur Seite, während sie das Bild des Engels anstarrte.

»Ich …«, hob Rielle an.

»Heilige Engel der Barmherzigkeit und des Gerichts«, ertönte eine laute Männerstimme.

Rielles Herz machte einen Satz, als ein Mann Betzi sanft beiseiteschob und den Raum betrat. Sein schpetanisches Priestergewand streifte Rielle, als er um sie herumging. Eine weitere Gestalt folgte ihm, und als das Licht vom Fenster das Rielle viel vertrautere Dunkelblau seines Gewandes und die Narbe, die quer über sein Gesicht verlief, beleuchtete, verwandelte sich ihre Angst in Ungläubigkeit, dann in Hoffnung und schließlich in Freude.

»Sa-Mica«, rief sie.

»Er ist es!«, sagte der schpetanische Priester. Sie hörte, wie er sich dem Wandteppich näherte, und sie wappnete sich gegen Tadel. Stattdessen klang der Mann erstaunt. »Das ist unglaublich. Sie kennt ihn wirklich!«

Sa-Mica wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht ab. »Den Engeln sei Dank, Ihr lebt und seid wohlauf, Rielle Lazuli«, sagte er auf Fyrianisch. »Wir haben einen sehr, sehr weiten Weg zurückgelegt, um Euch zu finden.«

3 Rielle

Das habt Ihr in der Tat«, erwiderte Rielle. »Vergesst nicht, dass auch ich diese Reise gemacht habe.« Sie lächelte. »Wie geht es Euch, Sa-Mica?«

»Gut.« Seine Miene sprach für einen Moment eine andere Sprache, und das weckte ihr sofortiges Unbehagen. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn so selten hatte lächeln sehen, und wenn, dann nur kurz. Er hatte nie von seinen Jugendjahren im Bergtempel gesprochen, aber sie vermutete, dass er viele schlimme Erinnerungen daran hatte und an vieles, was er furchtbar bereute. Doch die Unsicherheit, mit der er sie betrachtete, war neu für sie. Vielleicht war es ihre Furcht vor dem, was andere denken würden, wenn sie das Motiv ihres Wandteppichs sahen, das sie zu dieser Deutung seines Gesichtsausdrucks führte. Sie drehte sich zu dem einheimischen Priester um, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Nach dem Schnitt seines Gewandes zu urteilen war er kein gewöhnlicher Priester, sondern stand hoch oben in der Hierarchie.

Sa-Mica kann sich für mich verbürgen, sagte sie sich. Er kann ihnen bestätigen, dass der Engel tatsächlich so ausgesehen hat.

Doch Sa-Mica war auch zugegen gewesen, als sie versprochen hatte, niemandem etwas von dem Engel zu erzählen. Als er sich jetzt umdrehte, um festzustellen, was den anderen Priester in solche Erregung versetzte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und die Erkenntnis der Torheit dessen, was sie getan hatte, brach über sie herein. Wie sollte sie erklären, dass irgendetwas sie dazu getrieben hatte, den Wandteppich fertigzustellen? Diese Ausrede erschien ihr jetzt töricht.

»Ich hatte damit gerechnet, Euch in der Werkstatt der Künstler zu finden«, sagte er ohne einen Hauch von Missbilligung. »Aber ich sehe, dass Ihr ein anderes Medium gefunden habt, das Eurer Talente würdig ist.«

»Wird der Engel zornig sein?«, fragte sie, erleichtert, dass der schpetanische Priester kein Fyrianisch verstand.

»Deshalb? Ich wüsste nicht, warum. Es wird seinem Bild schmeichelhaft gerecht.« Sa-Mica wirkte belustigt, und als er ihre Furcht bemerkte, runzelte er die Stirn. »Aber Ihr macht Euch über etwas anderes Sorgen.«

»Ich habe gelobt, nicht von ihm zu sprechen«, gab sie mit schwacher Stimme zu. Als Sa-Mica die Augenbrauen hochzog, breitete sie die Arme aus. »Ich wollte den Wandteppich nicht vollenden, aber heute hat etwas … hat mich etwas dazu gezwungen.«

Er nickte. »Hauptmann Kolz hat gesagt, Ihr hättet uns kommen sehen.«

In dem Moment fiel ihr Betzi wieder ein. Die junge Frau schaute zwischen dem einheimischen Priester, Rielle, dem fremdländischen Priester und dem Wandteppich hin und her, mit großen Augen und vor Verwirrung und Aufregung geöffnetem Mund.

»Ich war mir nicht sicher, ob Ihr es wart«, gestand Rielle Sa-Mica. »Und trotzdem … das ist keine Entschuldigung. Ich hatte es versprochen.«

Sa-Mica tat ihre Ängste mit einer knappen Handbewegung ab. »Das wird bald keine Rolle mehr spielen, nehme ich an.« Da war er wieder, dieser bekümmerte Gesichtsausdruck. Einen Moment später sah er den anderen Priester an und deutete auf die Tür. »Wir sollten lieber zurückgehen.«

Der Gesichtsausdruck des hiesigen Priesters zeigte keinerlei Verständnis, und Rielle begriff, dass beide Priester die Sprache des jeweils anderen nicht beherrschten. Und doch nickte der schpetanische Priester, denn er deutete den Ton und die Geste, auch wenn er die Worte nicht verstand. Der Mann zeigte zur Tür und sah Rielle erwartungsvoll an. »Der Engel hat darum gebeten, dass Ihr Euch im Palast mit ihm trefft«, sagte er auf Schpetanisch.

Der Engel. Valhan. Rielle hatte das Gefühl, als sei ihr Magen plötzlich schwerelos geworden. Er war hier, und er wollte sie wiedersehen. Sie schluckte und sah Sa-Mica an.

»Ihr seid tatsächlich hergekommen, um nach mir zu suchen?«

»Er hat das tatsächlich getan«, antwortete er.

Sie lächelte Betzi im Vorbeigehen nervös zu, dann sah sie wieder Sa-Mica an. »Warum?«

Erneut dieser besorgte Blick. »Ich weiß es nicht – aber nichts, was er gesagt oder getan hat, hat in mir den Verdacht geweckt, dass er zornig auf Euch ist.«

Sein Ton hatte etwas Entschuldigendes. Vielleicht war es dieser Mangel an Wissen, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. Er musste sich fragen, ob der Engel ihm nicht vertraute oder ob sein Geheimnis gefährlich war. Bei der letzten Möglichkeit krampfte sich ihr der Magen zusammen, aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln, als sie in den Flur trat, in dem die anderen Weberinnen voller Neugier warteten. Während des kurzen Weges zur Haustür beantwortete sie dreimal ihre Fragen mit einem »Ich weiß es nicht«, dann war sie draußen, umringt von einer kleinen Schar Künstler aus der Nachbarschaft, die gekommen waren, um den fremdländischen Priester zu sehen. Sa-Mica schloss sich ihr an, und dann war auch der schpetanische Priester da und bedeutete ihnen mit einer knappen, respektvollen Verbeugung, ihm zu folgen.

Zu ihrer Überraschung war der Abend hereingebrochen, obwohl die Beschaffenheit des Lichts die Vermutung nahelegte, dass die Sonne noch immer irgendwo hinter den dicken Wolken dicht über dem Horizont stand. Der Priester schuf eine kleine Flamme und ließ sie vorausschweben, um den Pfad zu beleuchten. Der gewundene Weg zum Palast führte überwiegend bergauf. Rielle war daran gewöhnt, und Sa-Mica war es seinerseits gewohnt zu reisen, deshalb war es der schpetanische Priester, der keuchend das Tempo bestimmte und immer wieder stehen blieb, um Atem zu holen. Er mischte sich offensichtlich gewöhnlich nicht unter die Menschen, die im bescheideneren Teil seiner Heimatstadt lebten. Vielleicht kamen sie sonst aber auch immer zu ihm.

Als sie die Hauptstraße erreichten, war diese gesäumt von neugierigen Zuschauern, sodass sie gezwungen waren, in der Mitte zu gehen, was Rielle auf unangenehme Weise an ihre Verstoßung aus Fyre erinnerte. Sie sind mir nicht feindlich gesinnt, sagte sie sich, obwohl sie sich dabei ertappte, dass sie nach verfaultem Obst und Gemüse in ihren Händen Ausschau hielt. Aber natürlich war hier sämtliches Gemüse, verfault oder frisch, schon vor einiger Zeit entweder weggeworfen oder verzehrt worden.

Rielle war im vergangenen Jahr vier Mal im Palast gewesen, aber davor noch nie. Sie hatte Grasch begleitet, als er dem König und anderen mächtigen Schpetanern Wandteppiche geliefert hatte. Er nahm immer ein paar von den Weberinnen mit, die an dem Stück gearbeitet hatten, und unterwies sie in der Etikette, die festlegte, wie die Schöpfer der Wandteppiche sich ihren reichen Kunden nähern sollten.

Vor der kunstvoll gestalteten Fassade des Gebäudes erstreckte sich ein Platz. Es war die größte freie Fläche innerhalb der Burgmauern, und heute drängte sich dort allerlei Volk. Soldaten und Stadtbürger betrachteten eindringlich einen Karren, der vor den Palasttüren stand – oder vielmehr die Gruppe von Männern bei dem Karren. Einige von ihnen stießen wütende Rufe aus und fuchtelten mit den Armen, als wollten sie die Menschen vom Palast wegscheuchen. Als Rielle genauer hinsah, bemerkte sie leere Schwertscheiden und Risse in den Mänteln der Männer, wo vielleicht einst Rangabzeichen aufgenäht gewesen waren. Die Soldaten gehörten zum Heer des Thronräubers.

Was tun sie hier?

Ein Priester stand vor der Palasttür, die Arme in einer autoritären und gleichzeitig beschwichtigenden Geste ausgebreitet. Er und die Soldaten lenkten die Zuschauer so sehr ab, dass Rielle und Sa-Mica erst bemerkt wurden, als sie schon ganz nah bei der Gruppe waren. Ein Ruf erschallte aus der Menge, und die Menschen wandten sich dem fremden Priester im blauen Gewand zu. Das Getöse verebbte sofort zu einem gedämpften Murmeln. Die Soldaten, die sich umdrehten, um zu sehen, was die Veränderung bewirkt hatte, starrten Sa-Mica an. In ihren Gesichtern zeichnete sich erst Staunen, dann Wiedererkennen ab.

»Wir wollen nur dem Engel dienen«, erklärte einer der feindlichen Soldaten laut und machte sich so die plötzliche Stille zunutze.

Der Priester an der Palasttür nickte. »Genau wie wir alle. Ich habe mit dem Engel gesprochen. Er dankt Euch für Euer Geschenk und bittet Euch, Eure Gaben unter den Bewohnern Doums zu verteilen. Ich werde hierbleiben, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.«

Die Soldaten verbeugten sich und kehrten zu dem Karren zurück. Als Sa-Mica und Rielle vorbeigingen, waren sie dabei, die Abdeckung abzunehmen. Rielle erhaschte einen Blick auf Getreidesäcke, Fässer mit Wein und Öl und sogar Kisten voller Früchte. Als Letztes sah sie, wie die Menschen herbeieilten, um sich ihren Anteil zu sichern.

Sie betraten einen langen Flur, der bis auf in regelmäßigen Abständen postierte Wachen menschenleer war.

»Der Mann, den ihr in die Stadt gebracht habt«, sagte Rielle und blickte Sa-Mica an. »War das der Thronräuber?«

Sa-Mica nickte.

»Und sein Heer?«

»Abgezogen. Bis auf diese tapferen Seelen da hinten, die unbedingt Valhan folgen wollen.« Er seufzte. »Das ist überall geschehen, wo wir durchgekommen sind. Valhan hat ihnen stets befohlen, nach Hause zurückzukehren und ihr altes Leben wieder aufzunehmen. Hätte er das nicht getan, wären wir vermutlich mit einem eigenen Heer gekommen.«

»Wäre das denn so schlecht gewesen?«

Er sah sie an und verzog das Gesicht. »Ein Heer muss ernährt und organisiert werden. Es zieht jene an, die daraus Profit schlagen und es ausnutzen würden.«

»Und es ist schließlich nicht so, als würde er Schutz brauchen«, ergänzte sie. Was also hatte ihn hergeführt? Die Suche nach ihr war doch sicher nicht der einzige Grund seines Kommens.

Ich werde es bald herausfinden. Es sei denn, er lässt mich ebenso im Dunkeln tappen wie Sa-Mica. Als sie sich dem Ende des Flurs näherten, fing Rielles Magen an zu flattern. Sie war nervöser als bei ihrer ersten Begegnung mit ihm, aber sie hatte damals ja auch keine Ahnung gehabt, auf wen oder was sie treffen würde. Empfand Sa-Mica das Gleiche, wann immer er in der Nähe des Engels war, oder hatte er sich daran gewöhnt?

Als sie den Flur verließen und durch einen Türbogen in einen Saal traten, der um ein Vielfaches größer war als die gesamten Räumlichkeiten der Weber, läutete ein Wachposten am Eingang eine Glocke. Der Saal war voller Menschen: Männer und Frauen, alt und jung, alle geeint durch ihre kostbare Kleidung. Und sie alle drehten sich zu den Neuankömmlingen um, ein neugieriges Leuchten in den Augen. Das Stimmengewirr verebbte, und das leise Trappeln leichter Schuhe auf poliertem Holz erklang, als sie beiseitetraten und den Weg zum Podest des Königs freigaben. Rielles Herz schlug wie wild, und sie atmete tief durch.

Aber das Podest war leer. Stattdessen stand der König am Rand der Menschenmenge. Er kam lächelnd und mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

»Willkommen, willkommen!«, sagte er und bedeutete ihnen, ihm auf halbem Weg entgegenzugehen. »Das ist also die junge Frau, nach der der Engel sucht?« Rielle schickte sich an, die anmutigen Bewegungen einzuleiten – den Kopf senken und sich verneigen –, mit denen die Einheimischen dem Adel begegneten, aber der König hielt ihre Hände fest und hinderte sie daran. »Rielle Lazuli, ich entbiete Euch ein verspätetes Willkommen in meinem Land. Warum habt Ihr mich nicht aufgesucht, als Ihr eingetroffen seid? Es ist mir immer eine Ehre, eine Freundin der Engel kennenzulernen.«

Sie brachte ein Lächeln zustande. »Vielen Dank, Euer Majestät. Hättet Ihr mir geglaubt, wenn ich es Euch erzählt hätte?«

Er lachte leise. »Höchstwahrscheinlich nicht, das ist wahr. Die Geschichte ist zu unglaublich. Doch ich bin froh, dass Ihr mein Land gewählt habt, um Euch darin niederzulassen. Und jetzt sind wir alle Teil Eurer Geschichte, von dem vor einer sicheren Niederlage gerettet, der nach Euch sucht.«

Rielle konnte nicht anders – sie sah sich im Saal um.

»Er ist nicht hier, aber er wird später zurückkehren«, erklärte ihr der König. »Zur Stunde wird ein Festmahl zu Euren Ehren vorbereitet. Kommt, ich werde Euch in den Speisesaal begleiten.«

Ein Festmahl? Rielle dachte an den Karren draußen und an die hungernde Stadtbevölkerung. Woher hat er Speisen für ein Festmahl bekommen? Hat der Thronräuber Vorräte geschickt? Oder sind die Gerüchte über gehortete Nahrungsmittel im Palast wahr? Sie sagte nichts und ließ sich, benommen und ein wenig betäubt vor Furcht, vom König aus dem Saal führen.

Die nächsten Stunden waren wie ein Traum. Sie speiste neben dem schpetanischen Herrscher, und Menschen, deren Namen sie kannte, denen sie aber noch nie zuvor begegnet war, baten sie, dem Engel Nachrichten zu überbringen, und befragten sie nach ihrer früheren Begegnung mit dem Engel. Sa-Mica saß schweigend an ihrer Seite, bis jemand auf die Idee kam, dass sie für ihn übersetzen konnte, woraufhin die Fragen sich auf Sa-Micas eigene Verbindung mit dem Engel verlagerten. Zu ihrer Erleichterung drückte er sich, was seine Vergangenheit betraf, genauso ungenau aus, wie sie es ihrerseits getan hatte.

Ich bin mir sicher, dass es ihm ebenso widerstrebt zu offenbaren, was für ein Ort der Bergtempel war, als er dort aufgewachsen ist, wie es mir widerstrebt, ihnen zu erzählen, dass ich wegen der Benutzung von Magie ins Exil geschickt wurde und dass ich eine Mörderin bin, dachte sie. Aber warum ist der Engel nicht hier? Oder … isst er nicht?

Die Speisen waren schlichte Kost, die durch Gewürze und das Anrichten wohlschmeckender und ansehnlicher gemacht worden waren. Das einzige Fleisch war ein zähes, gebratenes Aum, wofür der König sich entschuldigte; er erklärte ihr, dass das Aum alt gewesen, jedoch das letzte in der Stadt verbliebene Tier sei. Ihr Hunger war schnell gestillt, da sie daran gewöhnt war, nur wenig zu essen, und in ihrem Magen arbeitete es eher aus Angst, als dass er verdaute. Irgendwann entschuldigte sich Sa-Mica. Als er zurückkehrte, war seine Miene angespannt und nachdenklich.

»Er sitzt allein da und schaut zu den Bergen«, berichtete er ihr.

»Warum gesellt er sich nicht zu uns?«, fragte sie.

»Er ist nicht gern unter so vielen Menschen.« Sa-Mica zuckte die Achseln. »Auch im Bergtempel hat er sich meistens abseits von den anderen gehalten.«

»Ist irgendetwas Ungewöhnliches passiert, bevor er beschlossen hat hierherzukommen?«, hakte sie nach, in der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu bekommen, was der Engel vorhatte.

Sa-Mica schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir sind nicht auf direktem Weg hergekommen. Wir sind nach Norden gereist, zu der am weitesten entfernten Eisstadt – und als wir dort ankamen …« Er hielt inne und schüttelte den Kopf.

»Was? Was hat er getan?«

Der Priester seufzte. »Ich muss es Euch erzählen. Ich will Euch nicht beunruhigen, aber vielleicht müsst Ihr es wissen. Am nördlichsten Punkt hat er alle Magie entfernt und ist dann nach Süden zurückgekehrt. Wir haben die Schwärze erst hinter Llura hinter uns gelassen.«

Sie starrte ihn an. In Llura war es unerträglich heiß gewesen. Wenn der Weg von Llura bis zu den Eisstädten im Norden ebenso weit war wie bis in das kühle Schpeta, musste das Ausmaß der Schwärze ungeheuerlich gewesen sein. »Was hat er damit gemacht?«

»Nichts, soweit ich erkennen konnte.«

»Also bereitet er sich auf irgendetwas vor.«

Die Schultern des Mannes hoben und senkten sich. Seine Augen zeugten von den vielen Tagen, in denen sich unausgesprochene Sorgen aufgestaut hatten. Sie öffnete den Mund, um zu fragen, wovor er Angst hatte, dann schloss sie ihn wieder. Wenn er bereit gewesen wäre, darüber zu sprechen, hätte er es getan. Warum sollte ein Engel die halbe Welt der Magie berauben?