Magische Momente der Veränderung - Klaus Renn - E-Book

Magische Momente der Veränderung E-Book

Klaus Renn

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Focusing bezeichnet den Prozess, durch Beobachtung und Erspüren von körperlichen Empfindungen persönlichen Problemen auf den Grund zu gehen und zu verarbeiten. Basierend auf jahrelanger Praxiserfahrung erklärt Klaus Renn, der bekannteste Focusing-Therapeut im deutschsprachigen Raum, die Grundlagen dieses psychotherapeutischen Verfahrens. Er führt in die Umsetzung in der therapeutischen und beratenden Anwendung ein, veranschaulicht dies durch zahlreiche Fallbeispiele und macht sie durch Übungen und konkrete Interventionsvorschläge nachvollzieh- und anwendbar. Ein hilfreiches Buch für alle, die Focusing in ihrer Arbeit anwenden wollen.

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Seitenzahl: 370

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Der Körper kennt die Antwort

Focusing bezeichnet den Prozess, durch Beobachtung und Empfindung von körperlichen Eindrücken persönlichen Problemen nachzuspüren und sie zu verarbeiten. Basierend auf jahrelanger Erfahrung erklärt Klaus Renn, einer der bekanntesten Focusing-Therapeuten im deutschsprachigen Raum, die Grundlagen dieses psychotherapeutischen Verfahrens. Konkret und anschaulich führt er in die Umsetzung in der therapeutischen und beratenden Praxis ein, veranschaulicht dies durch zahlreiche Fallbeispiele und macht sie durch Übungen und konkrete Interventionsvorschläge leicht nachvollziehbar. Ein hilfreiches Buch für alle, die Focusing in ihrer Arbeit anwenden wollen.

Die Lektüre dieses Buches hat mich tief bewegt. Der Leib ist für mich seit über 40 Jahren ein wichtiger Partner. So wünsche ich mir, dass viele Therapeuten sich durch Klaus Renns Erfahrungen anregen lassen, um den Klienten gerecht zu werden und ihnen zu vermitteln, dass in ihnen selbst ein Arzt ist, der genau weiß, was für sie heilsam ist.       Pater Anselm Grün, OSB

Ein anregendes Buch, wie man inneren Freiraum entdecken und nutzen kann, und eine hervorragende praxisorientierte Einladung, sich mit Focusing zu befassen und es schätzen zu lernen. Auch für die, die es bereits kennen, eine Fundgrube!       Prof. Dr. med. Luise Reddemann

Klaus Renn

Magische

Momente der

Veränderung

Was Focusing

bewirken kann

Eine Einführung

Kösel

Der Kösel-Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Copyright © 2016 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: © shutterstock/Giraffarte

Redaktion: Judith Mark

Illustrationen: Florentine Heimbucher, Leipzig

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-18857-3V001

www.koesel.de

Wenn du und ich zusammenkommen,

so geschieht etwas mit uns –

jeder von uns ist sofort anders,

als er üblicherweise ist …

Wie du bist, wenn du mich beeinflusst,

ist schon durch mich beeinflusst, in der Weise,

wie ich mich mit dir ereigne …

Was jeder in einer Interaktion mit dem anderen ist,

das ist schon durch den anderen beeinflusst.

GENE GENDLIN

Inhalt

Statt einer Einleitung: Erste Schritte mit Focusing

1     Focusing: Axiome und Haltungen

2     Der Focusing-Kernprozess: FreiRaum, Innere Achtsamkeit, Felt Sense

3     Implizieren und Explizieren – Implying und Occurring

4     Die Kunst der Prozessbegleitung: Haltungen und Techniken beim Focusing

5     Focusing wird zur Focusing-Therapie

6     Achtsamkeitsführung: von der Sprache zum körperlichen Erleben

7     Modalitäten des Erlebens

8     Die dem Focusing eigene »Verhaltenstherapie«

9     Teilpersonen, focusing-orientiert

10     Refilling: Die Vergangenheit heilen

11     Responding: Antworten aus der Resonanz

12     Strukturgebundenes Erleben erkennen

13     Mit strukturgebundenem Erleben arbeiten

Anhang

Focusing und das »Spirituelle«

Focusing-orientierte Experimente

Störungsbilder, Klassifikationen und Diagnostik

Dank

Wenn Sie mehr über Focusing erfahren möchten

Anmerkungen

Literatur

Register

Statt einer Einleitung: Erste Schritte mit Focusing

Haben Sie Lust auf einen Besuch in meiner Praxis? Ich befinde mich gerade in einer psychotherapeutischen Sitzung mit Michael T.1 Bisher sind circa 35 Minuten vergangen. Michael T. sitzt auf seinem Stuhl, er hat die Augen geschlossen und seine Aufmerksamkeit nach innen auf das von ihm dargelegte Thema gerichtet. Nach einer kleinen Stille öffnet er die Augen. Sein Blick ist jetzt heller, sein Gesicht entspannt sich zusehends. Die Veränderung wird von einem tiefen Atemzug begleitet. Ein »Aha«-Moment.

Seine neue berufliche Position verlangt dem introvertiert scheinenden Michael T. deutlich mehr Verantwortung als früher ab, was ihn mehr und mehr überfordert. Der Zugewinn an Gehalt und Status hatten ihn verlockt, doch gleichzeitig will er als Vater weiterhin Zeit und Energie für seine Kinder aufwenden und sein Eheleben nicht vernachlässigen. Er sieht sich immer weniger in der Lage, seine eigenen Ansprüche, geschweige denn die Erwartungen seiner geliebten Familie zu erfüllen. Die beruflichen und familiären Anforderungen ersticken seine eigenen Bedürfnisse. Er leidet seit geraumer Zeit unter Verspannungen, Schmerzen sowie sporadisch auftretenden Schwindelgefühlen.

In dem eben beschriebenen Moment ist die Aufmerksamkeit von Michael T. auf seinen inneren Erlebensprozess gerichtet. Dabei bemerkt er eine innere körperliche Bewegung, die ihn bei seinem Problem weiterbringt. Während die Situation vorher noch unklar und widersprüchlich, noch offen und ohne Lösung für ihn war, hat er nun offensichtlich einen inneren Schritt gemacht. Als Therapeut von Michael T. weiß ich in diesem Moment nicht, was dieser Schritt beinhaltet. Ich kann aber sehr wohl bemerken, dass hier etwas Bedeutsames passiert. In solch einem intuitiven »Aha«-Erlebnis wird die gesamte Komplexität der Problemstellung im Inneren neu verbunden und für bisher nicht denk- und fühlbare Wege geöffnet. Ein magischer Moment.

Dieser magische Moment, in dem eine Lösung im Körper entsteht, kommt aus einem Erleben, das wir im Focusing »Felt Sense« nennen. Damit ist eine körperliche Empfindung zu einem Thema gemeint, die noch vor den Kognitionen, Worten, Gefühlen und Bildern liegt. Der Felt Sense speist sich aus dem Fühlen, Spüren und Ahnen von etwas Neuem.

Focusing und Focusing-Therapie handeln von der Kunst, diese körperliche Erlebensebene in Verbindung mit einem bestimmten Thema dem Klienten bewusst zugänglich zu machen. Über theoretische Erörterungen lässt sich die spezielle Erfahrungsqualität des Felt Sense nicht vermitteln. Daher werde ich Ihnen in diesem Buch immer wieder kleine Übungen vorschlagen, um Ihnen die Erlebenswelt, die Focusing öffnet, verständlich und selbst anwendbar zu machen. Als erste Annäherungsmöglichkeit schlage ich vor, dass Sie sich an Situationen erinnern, in denen Sie etwas genau wussten und doch nicht aussprechen konnten. Der Begriff oder Name liegt einem auf der Zunge – doch will das dazugehörige Wort nicht kommen. Dabei stellt sich ein etwas vages, doch innerlich gespanntes Körperempfinden ein. Ihr Körper weiß etwas, das Sie bewusst noch nicht sagen können. Sie spielen vielleicht alle möglichen Namen und Begriffe durch. Fällt Ihnen dann der richtige ein – das werden Sie ebenfalls kennen –, macht sich Erleichterung breit. Ein gewisses »Aha«-Gefühl schwingt mit und die Gewissheit: Das stimmt. Diese kleine Geburt, dieser magische Moment beteiligt Denken, Fühlen, Spüren. Der gesamte Körper, der vorher die Anspannung des noch nicht Ausdrückbaren erlebte, erfährt jetzt im bewusst Gewussten eine Erleichterung. Focusing-Therapie ist die Kunst, dem Klienten solche Momente der Veränderung über viele kleine, ab und zu auch intensivere Erlebensschritte zu ermöglichen.

Obwohl uns allen die oben geschilderte Erfahrung vertraut sein wird, ist der bewusste Umgang mit ihr den meisten Menschen unbekannt, und auch die meisten Psychotherapeuten wissen nicht, was zu tun ist, um willentlich in diese verheißungsvolle innere Zone der Veränderung einzutauchen und diese Erfahrungsdimension für sich selbst oder ihre Klienten zu nutzen. Diese unbekannte Erfahrungskategorie liegt im körperlichen Spüren zwischen dem Bewussten und Unbewussten – sozusagen noch vor den Kognitionen, Worten und Gefühlen, vor inneren Bildern und inneren Stimmen. Zuerst wird eine vage Empfindung ahnbar, die sich immer deutlicher symbolisiert und zu konkreten Einsichten, Bildern, körperlichen Impulsen und neuen Bedeutungen führt.

Das vorliegende Buch soll Sie mit diesem Prozess bekannt machen. Und mit einer Methode, die diesen Prozess ermöglicht und unterstützt. Für Ihre psychotherapeutische, sozialpädagogische, pädagogische und medizinische Praxis werden Sie hier hilfreiche Konzepte und Techniken finden. Focusing ist an keine spezielle Therapieschule gebunden. In allen therapeutischen Richtungen gibt es TherapeutInnen, die intuitiv mit dieser Bewusstseinsebene arbeiten. Focusing schafft Zugang zu dem, was hinter der Frage- oder Problemstellung liegt, und kann daher in Verbindung mit unterschiedlichen Therapieformen die nächsten konkreten Schritte ermöglichen. Beim Focusing geht es auch nicht um die eine »richtige« Theorie an sich. Sie können also alle Ihre psychotherapeutischen Konzepte und Hypothesen focusing-orientiert anwenden.

Partnerschaftliches Focusing: Co-Counseling

Focusing findet seine Anwendung in professioneller psychotherapeutischer und beraterischer Arbeit. Gleichzeitig gehört zum Focusing auch die Kultur des sogenannten »partnerschaftlichen Focusings«. Dabei unterstützen sich Menschen, die Focusing kennen und praktizieren, gegenseitig in ihrer persönlichen Entwicklung, ihrer psychotherapeutischen Arbeit, in Entscheidungsprozessen usw. Ich selbst treffe mich beispielsweise circa einmal monatlich mit einer Kollegin zum partnerschaftlichen Focusing. Jeder von uns stellt dem anderen eine Stunde für den Focusingprozess zur Verfügung; jeder ist dabei einmal Fokussierender (quasi Klient) und einmal Focusing-Prozessbegleiter (quasi Therapeut).

Aus der kollegial-partnerschaftlichen Erfahrung erwächst eine selbstverständliche, personzentrierte Haltung. Focusing wird zum Weg für Selbsthilfe, kollegiale Supervision, Selbstmanagement und gegenseitige Unterstützung – ohne Hierarchie-Gefälle und Abhängigkeitsverhältnis. Mit dieser hierarchiefreien Beziehung, bei der Klient und Prozessbegleiter sich auf Augenhöhe begegnen, nimmt Focusing eine emanzipatorische, auch kritische Perspektive zur etablierten Psychotherapie2 ein.

Wie Focusing entstand

Focusing geht zurück auf den Psychologen und Philosophen Eugene T. Gendlin. Er ist der Entdecker des Felt Sense, jener Erlebenskategorie, die das Herzstück des Focusings bildet.

Gendlin wurde 1926 in Wien geboren, flüchtete 1938 mit seinen Eltern vor den Nationalsozialisten in die USA und studierte später in Chicago Philosophie. 1963 wurde Gendlin Associate Professor, später dann Professor in den Fachbereichen Philosophie und Verhaltenswissenschaften der Universität Chicago. Hinzu kamen Gastprofessuren in Belgien, Japan und New York.

Für seine bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der Psychotherapie wurde Gendlin 1970 die Auszeichnung »Distinguished Professional Psychologist Award« verliehen. Neben seinem philosophischen und psychotherapeutischen Arbeiten initiierte er zahlreiche Selbsthilfegruppen (Changes Groups). Sein erstes Buch Focusing, das 1978 erschien, erreichte eine Auflage von mehreren Hunderttausend verkauften Exemplaren und wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Es folgten circa 500 Veröffentlichungen wie etwa A theory of personality changes, Experiential Psychotherapy und Experiential Phenomenology. Zudem war Gendlin Herausgeber der Zeitschrift Psychology: Theory, Research and Practice.

Gene Gendlin hat empirische Psychotherapieforschung, psychotherapeutische Praxis und Philosophie zu einem Ganzen verwoben. So lässt sich Focusing sowohl aus der Humanistischen Psychologie als auch aus der Philosophiegeschichte heraus verstehen und beschreiben.

In den 1960er und -70er Jahren herrschte eine allgemeine Aufbruchsstimmung, die eine Vielzahl von Psychotherapieschulen hervorbrachte. Einer der bedeutsamsten Ansätze der Humanistischen Psychologie war die von Carl Rogers initiierte Personzentrierte Gesprächstherapie. In Rogers’ Counceling Center machte Gene Gendlin zunächst Erfahrungen als Klient. Rogers förderte ihn, machte ihn zu seinem Assistenten und übertrug ihm dann das Forschungsprojekt »Klientzentrierte Psychotherapie mit psychiatrischen Patienten«, das als »Wisconsin-Projekt« bekannt wurde. Als Philosoph beschäftigte sich Gendlin insbesondere mit der Phänomenologie und Existenzphilosophie (Dilthey, Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty, Sartre), mit der Philosophie Wittgensteins sowie dem Pragmatismus (Peirce, James, Dewey).

Der Begriff »Focusing« entstand während des kollegialen Arbeitens einer Forschungsgruppe mit Gendlin. Die häufige Intervention »focus on your inner experiencing«verwandelte sich irgendwann in ein schlichtes »Let’s do focusing«. Damit war der Begriff geboren.

1    Focusing: Axiome und Haltungen

Focusing ist kein mechanisches Räderwerk, keine Technik, die sich einfach »anschrauben« lässt. Focusing ist grundlegend anders. Das liegt daran, dass Gene Gendlin gewissermaßen das Denken vom Kopf wieder auf die Füße gestellt hat. Gendlin geht nicht von »Kopfgedanken« aus, nicht von Konzepten, sondern vom Geschehen, vom Prozess, der uns strukturiert, bevor wir überhaupt anfangen, begrifflich zu denken. Denn zuerst sind wir da und das Blut kreist in uns, der Atem fließt und wir sind irgendwo, im Zweifelsfalle genau hier, wo wir jetzt sind. Wir sind der Ort des (Er-)Lebens. Noch bevor wir Konzepte schaffen, denken, Unterscheidungen treffen, gibt es interaktives Geschehen in unserem Körper und um uns herum, das uns leben lässt (zum Beispiel atmen, Bodenhaftung haben, essen …). Von dort aus verhalten wir uns, handeln und denken wir, von dort aus wachsen die Strukturen, Differenzierungen und Bestimmungen. Gendlin denkt von diesem Geschehen aus. Aus der Situation heraus. Das hat Konsequenzen für die therapeutische Situation: Es bedeutet, dass wir als Focusingprozess-Begleiter aus einem Mit-dem-Klienten-Sein heraus handeln.

Arbeiten wir, wie im »klassischen« therapeutischen Setting, nur auf der Ebene der Sprache, der Gefühle, der Ziele, der Lösungsorientierungen und Behandlungskonzepte, so besteht das Risiko, die innere Welt des Klienten zu übergehen. Ein Klient, der »wiederhergestellt« werden möchte, bekommt im klassischen Behandlungssystem ein persönliches Behandlungskonzept, Therapie mit vielleicht pharmakologischer Unterstützung, Hausaufgaben und Übungen. Doch kommt dieser Klient mit der Ebene darunter, dem Noch-Nicht-Wissen, seinem inneren Erleben in Berührung, so können ganz andere Impulse und Lösungswege entstehen. Diese mögen auf den ersten Blick nicht immer vernünftig klingen. Vielleicht führen sie in eine grundsätzlich andere Richtung, als das »Problem« oder »Thema« des Klienten zunächst nahelegte. Vielleicht steht erst eine ganz andere Veränderung an, die ihn sein Leben stimmiger und gesünder fortsetzen lässt. Wir Therapeuten können nicht wirklich wissen, welche dieser Lösungsrichtungen für den anderen Menschen existieren und das auch mit noch so vielen Tests nicht herausfinden. Fragen wir den Klienten, so kann er sie uns auch nicht direkt nennen. Fragen wir jedoch den Felt Sense, kann dieser in der ihm eigenen Präzision (manchmal »innere Weisheit« genannt) eine Antwort geben.

Aus alledem folgt, dass Sie in diesem Buch keine Techniken finden werden, die losgelöst von der konkreten Beziehung und der konkreten Situation funktionieren. Focusing ist als reine Methode oder als strukturiertes Manual, losgelöst von Ihnen als Person, für die Arbeit mit Patienten nicht erlernbar. Der Veränderungsprozess geschieht nur, wenn sich der Therapeut auf eine ganz bestimmte Präsenz einlässt. Daher wird Focusing von Anfang an in der persönlichen Begegnung mit anderen und damit auch mit sich selbst gelehrt. Nur über die eigene Selbsterfahrung ist es möglich, diesen Prozess in einer psychotherapeutischen oder sonstigen professionellen Beziehung zu kreieren.

Grundannahmen des Focusing

Zeit: ein anderes Konzept

Zuerst ist der Prozess, so lautet Gendlins Axiom, aus dem dann das Zeitbewusstsein, oder einfacher, die erlebte Zeit erwächst. Legen wir erst einmal unsere Uhr ab, so erkennen wir, dass Zeit in erster Linie gefühlte, erlebte Zeit ist. »Ich habe keine Zeit« kann auch als »Ich habe kein Leben« verstanden werden. Zeit generiert sich im gelebten Leben, in der gegenwärtigen Situation, in der wir uns befinden. Meine Vergangenheit manifestiert sich in meinem Körper. Ist Vergangenes jetzt wirksam, so ist es jetzt körperlich gegenwärtig. Gendlin definiert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht im landläufig verstandenen Sinne, also als lineares Zeitkonzept, wie es uns die Uhr vorgibt. Er definiert nach der Funktion, die Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges jetzt für uns haben. So kann eine vergangene Situation in der Gegenwart höchst wirksam sein. »Wirksam« bedeutet, dass ich mich damit jetzt in einem Dialog befinde. Vergangenheit ist damit nicht abgeschlossen. Erinnern wir uns durch irgendeinen Auslöser an ein längst vergangenes Ereignis, so kann dieses im gegenwärtigen Moment körperlich, also auch in Gefühlen deutlich spürbar werden. Wie uns die systemische Arbeit in Familienrekonstruktionen und -aufstellungen plastisch aufzeigt, wirken in der Gegenwart auch die Erfahrungen der Eltern- und Großelterngeneration weiter. Vergangene Erfahrungen früherer Generationen sind in uns wirksam und lassen sich symbolisieren.

Für die therapeutische Arbeit bedeutet dies ganz pragmatisch, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer nur im gegenwärtigen Prozess relevant sind. Eine Geschichte von damals zu erzählen, hat vielleicht nur den Prozessaspekt, im jetzigen Moment die Zeit zu vertreiben, vielleicht dient sie auch zur Veranschaulichung einer gegenwärtigen Problematik. Wie auch immer und was auch immer in der Vergangenheit geschah – das, worauf es ankommt, ist der gegenwärtige Bezug dazu. In manchen Situationen mag uns unser gesamtes Leben wie ein einziges chaotisches Versagen erscheinen, und in einem anderen Zustand wird die gleiche Vergangenheit als glücklich und von einem sinnhaften roten Faden durchzogen erlebt.

Die Landkarte erschafft die Landschaft

Gene Gendlin kommt das Verdienst zu, auf die Macht (nicht nur) therapeutischer Konzepte hingewiesen zu haben. Seiner Meinung nach benutzen viele Therapeuten Konzepte, ohne sich bewusst zu sein, dass es sich um solche handelt und welche Macht ihnen innewohnt. Therapeutische Konzepte erschaffen ganz bestimmte therapeutische Situationen. Auch wenn es paradox klingen mag: Die Landkarte, die ich benutze, bestimmt mit, in welcher Landschaft ich mich bewege.

Mit Konzepten, also Landkarten, meint Gendlin nicht nur die großen Schulen, wie Verhaltenstherapie, Psychoanalyse oder Systemische Familientherapie, sondern auch einfache, selbstverständliche Worte, die in unserem Denken und unseren Gesprächen zum »Konzeptträger« werden. Solche Worte sind etwa: »Selbst«, »das Ich«, »Wahrnehmung«, »Interaktion«, »Inneres Kind«, »Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart«, »Teilpersonen«, »System« usw. Diese Konzepte, naiv benutzt, führen zu der unausgesprochenen Annahme, dass die »Person« in aller Regel ein in sich abgeschlossenes Ding ist. Ein »Selbst« oder »Ich« oder das »Innere Kind« wird ebenfalls zu einem kleineren Ding, welches in dem großen Ding, der »Person«, wohnt. Die Interaktion von zwei Menschen wird zur Beziehung zwischen zwei solchen großen Dingen, die getrennt und unabhängig voneinander sind. Wahrnehmung erfolgt über die fünf Öffnungen (Sinne) im Ding, der Input durch sie konstruiert die Realität.3

Gendlin geht es aber nicht darum, was ein bestimmtes Konzept in der Anwendung bewirkt, sondern darum, wie es nur dadurch die Situation verändert, dass wir es haben. Sein Ansatz ist, in einer personzentrierten Beziehung alle Konzepte zu nutzen. Der Mensch ist Beziehung. So wie unsere Körperzellen und Organe sich gegenseitig Umwelt sind, so sind wir in Beziehungen und in unser äußeres Umfeld eingebettet. Wir sind unsere Körperzellen und auch der Ort, an dem wir uns gerade aufhalten, und aus genau diesem Eingebettet-Sein heraus können und dürfen wir fühlen und handeln – gerade in der therapeutischen Situation.

Zuerst die Person in der jeweiligen Situation, dann die Deutungen

Stellen wir uns diese therapeutische Situation einmal in ihren Grundzügen vor Augen: An einer psychotherapeutischen Sitzung nehmen mindestens zwei Personen teil: zwei Menschen, die sich mit ihren Körpern in dieser konkreten Situation aufhalten. Auch wenn Ihnen diese Aussage als Selbstverständlichkeit erscheinen mag, möchte ich es noch einmal betonen: Es handelt sich um reale Menschen in einer lebendigen Situation. Es handelt sich nicht um zwei auf Stühlen abgelegte Gehirne. Es handelt sich nicht um einen Gesunden und einen psychisch Kranken. Diese beiden Personen sind Menschen, sie sind mehr als ihr Verhalten, mehr als ihre Kognitionen, mehr als ihre Emotionen, mehr als ihre Ressourcen. Natürlich lassen sich Verhalten, Emotionen, Ressourcen, Diagnosen durch Konzeptbildungen »abheben« und damit vom vollständigen Menschen trennen. Doch erst einmal sitzen hier Menschen zusammen, zwei Menschen. Legen wir dann ein einfaches Konzept an und unterscheiden, so können wir feststellen: Der eine wird »Klient« und der andere »Therapeut« genannt. Beide kommen aus ihren jeweiligen Kontexten, haben ihre Geschichte, sitzen jetzt da und schauen sich an. Sie teilen eine gewisse Zeit miteinander.

Mit dieser Perspektive beginnen wir im Focusing: zuerst die ganze Person, inklusive Körper, in der jeweiligen Situation, dann die Wahrnehmung und dann erst alle möglichen Konzepte und Deutungen, die man auf sie anwenden kann. Mit dem Körper, mit der körperlichen Wahrnehmung in einer Situation zu beginnen, ist das Axiom, auf das folgende Konzeptbildungen aufbauen können. Konzepte und Wahrnehmungen, die sich auf den (von innen gespürten) Körper beziehen, haben Zugang zur Gesamtheit, der gesamten Situation, in der sich Therapeut und Klient befinden. (Gendlins basales Mini-Konzept dazu lautet »Interaction first«.)

Typische Focusing-Anfragen an den Klienten im Erstgespräch könnten etwa lauten: »Wie fühlt es sich gerade an, jetzt hier zu sein?« Oder: »Vermutlich spannend und etwas aufregend, jetzt hier zu sein, einem fremden Menschen gegenüberzusitzen … oder wie ist das gerade bei Ihnen?« Oder, bei der Themensuche (der sogenannten »Auftragsklärung«): »Was in Ihnen wünscht sich gerade Aufmerksamkeit?«

Focusing-Therapie ist die Kunst, die Aufmerksamkeit des Klienten immer wieder vom konkreten Gedanken, von der Imagination zum Erleben des Ganzen, der Thema-Körper-Situation im Hier und Jetzt zu führen und von dort neue Schritte zu erwarten. Wir beginnen mit dem Körper und beziehen uns auf den ganz konkreten Prozess, der im Moment hier stattfindet. Das kann sich zunächst ungewohnt anfühlen. Wir sind es gewohnt, dass unsere Wahrnehmung unser Erleben zergliedert. Wir meinen im herkömmlichen Denken, es sei notwendig, kleine, fassbare Einheiten zu erschaffen, um von dort aus die folgerichtig scheinenden Schritte zu unternehmen.

Ich möchte Sie nun zu einem kleinen Experiment einladen.

Während Sie jetzt lesen, bitte ich Sie, einmal tiefer durchzuatmen, langsam zu werden und über das Buch hinauszusehen … Schauen Sie sich etwas um. Nehmen Sie Ihre Umgebung wahr. Betrachten Sie den Raum um sich. (Bitte pendeln Sie mit Ihrem Blick zwischen der Lektüre dieser Übung und Ihrer Umgebung.) Was sehen Sie, wenn Sie Ihren Blick schweifen lassen? Beantworten Sie diese Frage bitte nicht in Worten, sondern als »ganzheitliche Schau«: »Was sehe ich?« Dabei könnten Sie bemerken, wie Sie alles gleichzeitig im Gewahrsein haben. Bleiben Sie etwas bei dieser Art von Wahrnehmung, die ohne Sprache ist und die auch die Struktur der Gegenstände nicht wirklich unterscheidet. Bleiben Sie noch eine kleine Weile dabei, die Umgebung in Ihrem Gesichtskreis gleichzeitig sein zu lassen. So ähnlich können wir auch einem Menschen gegenübersitzen. Erst einmal diesen Menschen ganz sein zu lassen – ohne von uns aus einen Aspekt hervorzuheben.

Nehmen wir an, dass sich jetzt wie von Zauberhand ein Schmetterling direkt auf Ihre Hand setzte. Wie würde sich Ihre Wahrnehmung verändern? Ihr bislang defokussiertes Schauen würde sich auf dieses Einzelphänomen konzentrieren. Sie würden die Flügel, das feine Beben des Schmetterlingskörpers, die Strukturen und Farben der Flügel und möglicherweise die zarten Fühler betrachten. Das Gesamte der Umgebung ginge dabei verloren. Das Ganze träte in den Hintergrund.

Vielleicht möchten Sie noch einen Moment nachsinnen. Ich möchte behaupten, dass wir in unserem Alltag die meiste Zeit gar nicht nach dem kognitiven »Einheiten-Zergliederungs-Modell« wahrnehmen und funktionieren. Vielleicht haben Sie Lust bekommen, dem noch weiter nachzugehen und sich selbst noch etwas zu beobachten …?

Gestalttherapeuten ist die Wahrnehmung von Vordergrund und Hintergrund vertraut. Ähnlich wie im Focusing wird die Person als ein Ganzes gesehen. Die Zergliederung in Einheiten, das Hervorheben von Teilen wird als Tun des Beobachters betrachtet.

Haltungen sind Werkzeuge

Bestimmte Haltungen und Einstellungen öffnen uns die »Wahrnehmung von innen« her und geben damit Zugang zum Gesamten der Situation.

Unter einer Haltung verstehe ich eine komplexe Erlebensstruktur, eine verkörperte Einstellung, die wir einnehmen und auch wieder verlassen können. Der Begriff »Haltung« lässt sich synonym mit dem in der Softwareentwicklung gebräuchlichen »Makro« verstehen, was ursprünglich »Großbefehl« bedeutete, der viele Unterbefehle beinhaltet. Nehmen wir eine bestimmte Haltung zu jemandem oder etwas ein, so verändern wir unser Fühlen und Empfinden, unsere Art zu denken, unsere Körperempfindungen, unseren Atem … Der Großbefehl geht subtil in unsere Körperhaltung ein, in unseren Blick, in unseren Tonfall … und im gleichen Moment beginnt die Umwelt entsprechend auf uns zu reagieren. Vielleicht fällt Ihnen auf, dass ich hier in Ermangelung einer passenderen Ausdrucksweise in die zergliedernde Denkweise zurückfalle, wenn ich sage: »… beginnt die Umwelt entsprechend auf uns zu reagieren«. Nach Gene Gendlin erschaffen wir durch unseren denkenden Zugriff erst einen Gegensatz aus »innen« und »außen«, »Innenraum und Umwelt« existiert aber ungetrennt. Entsprechend gibt es keine Interaktion zwischen beiden – oder besser formuliert: Das Konzept der Interaktion beschreibt diesen Prozess nur unzureichend. Auch wenn diese Sichtweise fremd erscheinen mag, ist sie uns im alltäglichen Leben vertraut. So verändern sich bei einem bestimmten Blick sofort unsere Gefühle. Finden wir auf der Straße einen 50-Euro-Schein, »arbeitet« es sogleich in uns. Spricht jemand in einem bestimmten Tonfall mit uns, so verspüren wir in uns sofort eine Reaktion.

Haltungen, die wir einnehmen, eröffnen einen von innen gespürten Erlebensraum, der auch gleichzeitig öffentlich ist und von anderen Menschen wahrgenommen und ebenfalls gespürt wird. Haltungen wirken und erschaffen Wirklichkeit. So spüren Klienten in aller Regel sofort, ob ihr Therapeut wirklich gegenwärtig ist, sich für sie interessiert und mit einer annehmenden, wertschätzenden Haltung präsent ist.

Haltungen erschaffen Beziehungsräume, in denen andere Menschen sich mehr oder weniger wohl, frei oder aber gedrückt fühlen, willkommen oder professionell abgefertigt. Unsere Mitmenschen bemerken (nicht unbedingt bewusst), welche Haltung wir zu ihnen einnehmen, und reagieren entsprechend. Damit erscheinen sie uns im gleichen situativen Moment in einer bestimmten Weise.

Haltungen geben Halt

Haltungen wirken und verändern – öffnend, sichernd, beängstigend oder auch verschließend. In der therapeutischen Arbeit bewirkt das »Wie«, mit dem »ich mit mir bin«, welche Haltung ich zu mir selbst einnehme und gleichzeitig meine Haltung zum Klienten. Die Haltung des Therapeuten zu sich selbst (während der Therapiestunde) ist das wesentliche Moment für eine mögliche therapeutische Veränderung. Therapie geschieht in unserer ganz persönlichen wirklichkeitsschaffenden Präsenz – egal, welcher Therapieschule wir angehören, egal, welche Konzepte und Methoden wir nutzen. Bin ich liebevoll-annehmend mit meinem gegenwärtigen Erleben und mit dem Erleben des konkreten Klienten? Bin ich eindeutig? Bin ich klar? Kann ich mich gerade so lassen, wie ich bin? Je nach professionellem Kontext wird sich die Kernerfahrung der Präsenz ändern. In der Suchtarbeit ist eine bestimmte Präsenz angemessen, in der Mediation eine andere und im Coaching von Sportlern wieder eine andere. Bei mir selbst bemerke ich, wie sich schon eine Weile vor dem Coaching zum Beispiel eines Kampfsportlers im Erlebenshintergrund eine bestimmte Haltung vororganisiert, die sich deutlich unterscheidet vom Gefühl, das sich beispielsweise bei einem psychotherapeutischen Setting mit einem traumatisierten Klienten etabliert. Diese Haltungen, die eine spezifische Präsenz erschaffen, geschehen wie von alleine. Unterstützen können wir unsere innere situative Beweglichkeit, indem wir uns selbst in einen Focusingprozess für die jeweils spezifische Situation einlassen. Dazu später mehr (vgl. Kapitel 4, Kapitel 11).

Da-Sein: Wie geht Focusing-orientierte Therapie?

Die grundlegende Haltung und die Basis für focusing-orientiertes Arbeiten wird von einer bestimmten Qualität des Da-Seins getragen. Das körperliche Da-Sein meint achtsames Wahrnehmen des gegenwärtigen Momentes mit all seinen situativen Facetten. Es umfasst das Hier – die Situation – und die zeitliche Bestimmung: das Jetzt. Es ist ein Verweilen mit dem eigenen Inneren und mit einem Menschen, ohne etwas verändern zu wollen. Sich sein lassen und den anderen sein lassen und in einem Gesamtbewusstsein ankommen, welches die Innen- und Außenwahrnehmung, die Eigen- und Fremdwahrnehmung nicht trennt.

Das Sein-Lassen, die radikale Annahme, wirkt sofort verändernd, sie verändert auch das Unveränderliche. Das erscheint Ihnen utopisch, unerreichbar? Die gute Nachricht ist: Wir können gar nicht anders als da sein, weil wir eben gerade in diesem Moment da sind. Diese Haltung der Annahme hat nichts mit einem Akzeptieren schlechter Umstände oder einem passiven Hinnehmen zu tun. Unser aktives inneres Tun beschränkt sich vielmehr darauf, uns selbst sein zu lassen. Es ist eine Art des Nicht-Tuns: nicht so »tun, als ob« wir mehr wüssten, als gerade da ist; als ob wir andere Gefühle hätten als die, die nun mal gerade sind (von hilflos bis unsicher und von ängstlich bis wütend, von erotisch bis eklig); nicht so tun, als ob wir professionell wirken, gut sein müssten. In dem Maße, wie wir bei dem, wie es ist, bleiben und es sein lassen, sind wir mit unserem Da-Sein verbunden, wirken authentisch und echt. Lassen wir die künstliche und konstruierte Sicherheit und das agierende Helfen bleiben, so kommen wir in diesen Momenten in einer tieferen, tragenden Sicherheit an. Der verändernde therapeutische Prozess braucht nur eine in diese Richtung gehende Haltung und Präsenz von uns. Es reicht, wenn wir uns selbst, so unvollkommen, wie wir nun mal sind, eine kleine Weile in Ruhe lassen und mit dem Klienten sind, statt unsere noch so gut gemeinten Ideen zu präsentieren. Das gelingt uns nicht immer so gut. Trösten mag uns, dass die wenigen Menschen, die die Lebenskunst des Da-Seins tatsächlich vervollkommnet haben, vermutlich nicht in psychotherapeutischen Praxen sitzen, sondern in irgendwelchen Klöstern des Himalajas. Es genügt vollkommen, wenn wir uns immer wieder in dieser Haltung üben.

Vielleicht möchten Sie die Annahme »Der Körper meines Klienten ›trägt‹ alle notwendigen Informationen und nächsten Wachstumsschritte in sich!« etwas auf sich wirken lassen.

Wenn das tatsächlich so wäre, wie würden Sie sich in der Therapiesituation fühlen? Sie erinnern sich vielleicht an eine Sitzung der letzten Tage, die Sie sich bildhaft vor Augen führen und mit der Sie ein bisschen experimentieren könnten. Imaginieren Sie die konkrete Sitzung mit dem betreffenden Klienten. Laden Sie den Klienten dazu ein. Lassen Sie sich Zeit, bis sich das Setting in Ihrer Vorstellung eingerichtet hat … Nun nehmen Sie in der imaginierten Sitzung nochmals an: »Der Körper meines Klienten trägt alle notwendigen Informationen in sich! Und auch der nächste Lösungsschritt ist schon im Entstehen.« Lassen Sie den Klienten auf sich wirken. Gehen Sie dabei folgendermaßen vor: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit in den Brust- und Bauchraum und warten Sie auf eine feine körperliche Resonanz … auf eine vage körperliche Empfindung. Verweilen Sie ruhig noch etwas in der Vorstellung von dem Klienten und dessen Lösungsprozess … und bemerken Sie, wie sich Ihre Haltung zum Gegenüber verändert … Welche Atmosphäre spüren Sie im Beziehungsraum? … Welche Qualität von Beziehung steigt auf? Vielleicht bemerken Sie auch, wie sich Ihr eigener Körper entspannt und Ihr Atem für Sie selbst fließend wahrnehmbar wird … Wie Sie gleichzeitig sich selbst spüren und fühlen. Verweilen Sie jetzt noch circa eine Minute mit dem Klienten und dessen Lösungsprozess. Wie würden Sie diese Haltung zu sich selbst, zu Ihrem Klienten benennen? Was ist für Sie das Besondere in dieser Haltung?

Unmittelbarkeit im Kontakt

Die Haltung des Da-Seins ist übrigens nicht synonym mit »verlangsamt« zu verstehen. Sind wir erst einmal »in« dieser Haltung angekommen, so lässt sich aus ihr heraus sprechen, konfrontieren, lachen, verstehen, laufen, malen, boxen …. Da-Sein erlebt sich wach, lebendig, humorvoll und eröffnet die in der psychotherapeutischen Situation wertvolle Erfahrung der Unmittelbarkeit im Kontakt. Wir selbst stehen uns in der Beziehung zum Klienten nicht im Wege. Das Gegenüber wird nicht getrennt von uns wahrgenommen. In diesem präsenten und unmittelbaren Raum entstehen mühelos kreative und treffende Antworten. Bin ich präsent, so bin ich im Kontakt.

Was sein darf, kann sich verändern

Im Da-Sein mit dem Klienten und der (auch unausgesprochenen) Einladung an den Klienten, seinerseits da zu sein mit allem, was ihn ausmacht, entstehen nächste konkrete Schritte.

In einer focusing-therapeutischen, achtsamen Atmosphäre können wir mehr und mehr formulieren, immer genauer das Gefühl ausdrücken, das wir jetzt haben – während es sich dabei verändert. Indem ein Gefühl mit all seinen Facetten da sein darf, kann sich paradoxerweise der innere Prozess fortsetzen, und es entstehen neue gefühlte Aspekte und Bedeutungen, es geschehen (kleine) Wandlungen. Der Gestalttherapeut Werner Bock hat einen programmatischen Satz geprägt, der dazu passt: »Was ist, darf sein, und was sein darf, kann sich verändern.«

Der Therapiestuhl und die Präsenz

Wieder sind Sie zu einem kleinen Experiment zum Da-Sein eingeladen: Dazu machen Sie es sich für einige Minuten gemütlich. Sie könnten sich rekeln, einmal tief einatmen – das Ausatmen fließt von selbst. Bitte verlangsamen Sie sich in der Lesegeschwindigkeit hin zum Fühlenden und Spürenden … dabei richten Sie Ihre Achtsamkeit in Ihren Körper, so als ob Sie Ihre Aufmerksamkeit von den lesenden Augen und vom Kopf mit jedem Atemzug hinab in den Körper rieseln lassen. Nehmen Sie in aller Ruhe die feinen, damit einhergehenden subtilen körperlichen Empfindungen wahr … Was ist angenehm? Bitte kosten Sie die innere Bewegung hin zur Körpermitte aus. Falls Unangenehmes auftaucht, nehmen Sie die entsprechenden Gefühle, Gedanken oder Bilder wahr und lassen Sie diese dann ziehen. Suchen Sie innerlich nach einem angenehmen Ort im Körper. Hier können Sie sich etwas aufhalten und auch die Atembewegung dazu kommen lassen. Geben Sie sich etwas Zeit …

Nun können Sie ein inneres Bild aufrufen und sich selbst mit einem (eher angenehmen) Klienten arbeiten sehen. Lassen Sie sich Zeit, die innere Präsenz dieser Situation entstehen zu lassen. Jetzt möchte ich Ihnen die Vorstellung anbieten, dass nicht Sie selbst die psychotherapeutische Arbeit mit diesem Klienten zu machen brauchen. Sie sitzen stattdessen auf einem Therapiestuhl, der die Therapie macht. Sie sitzen dem Klienten gegenüber. Es gibt nichts zu tun. Der Stuhl macht die Therapie. Damit er funktioniert, ist nur notwendig, dass jemand in diesem Stuhl Platz nimmt. Aus irgendwelchen Gründen sind Sie das. Schauen Sie sich dabei etwas zu und bemerken Sie, was geschieht. Sie haben frei, Ihr Job ist einfach nur, da zu sein. Sich selbst zu spüren, die Situation wirken zu lassen. Nur da zu sein. Der Stuhl bewirkt die Veränderung.

Vielleicht bemerken Sie die Erlaubnis, einfach nur da zu sein. Nichts tun zu müssen. Auf dem Stuhl sitzen und nur diesem anderen Menschen freundlich Gesellschaft leisten. Was nehmen Sie in dieser Vorstellung wahr? Wie atmen Sie? Welche Befindlichkeit, welches körperliche Gefühl entsteht? Wie wirkt Ihr Patient gerade, welche Themen kommen bei ihm auf? Vielleicht bemerken Sie auch Impulse, etwas sagen oder machen zu wollen. Beobachten Sie diese Impulse. Dabei erahnen Sie vielleicht, aus welcher Intention, aus welchem inneren Bedürfnis heraus dieses Handeln-Wollen entsteht. Vielleicht hat es etwas mit Leistung zu tun, vielleicht mit Geliebt-werden-Wollen oder mit einer gewissen Ängstlichkeit? Wie auch immer, beobachten Sie, was hinter den Handlungsimpulsen wahrnehmbar wird. Wenn es geht, erlauben Sie sich, diesen Impulsen im Moment nicht nachzugeben. Stellen Sie diese Impulse für eine kleine Weile neben sich, nehmen Sie das Sein-Lassen wahr. Welche Stimmung entsteht daraus bei Ihnen, welche Gefühle?

Zum Abschluss können Sie dieses Experiment auswerten, indem Sie sich fragen, was durch diese kurze Imagination entstanden ist. Was, und sei es noch so klein, ist für Sie dazugekommen? Dabei könnten Sie in Richtung Körper fragen und hören: Was ist für mich in diesem Experiment entstanden? Welche Bedeutung steckt in den beiseite gestellten Impulsen? Vielleicht erahnen Sie Hintergrundempfindungen und Themen des Klienten?

Gene Gendlin vertritt die Ansicht, dass mit dieser Präsenz, mit diesem Da-Sein die Voraussetzungen, die es braucht, um psychotherapeutisch wirksam zu sein, schon zur Hälfte erfüllt seien. Die andere Hälfte hat mit Konzepten und Methoden zu tun. Die Basis, die den Veränderungsprozess ermöglicht, ist für Gendlin jedoch in der Haltung des »Therapiestuhles« enthalten.

Die Haltung der Absichtslosigkeit

Als Personen brauchen wir selbst genauso wie unsere Klienten mit klinisch relevantem pathologischem Verhalten eine Haltung, die öffnet. Indem unser Inneres erkennt: Der andere will nichts von uns, wir können im Moment so sein, wie wir sind, der andere ist einfach da und interessiert sich für uns, vermag es, heikle und persönliche Dinge zu öffnen und zu verändern. Absichtslosigkeit ermöglicht, verweilend und lauschend inneren Regungen zu folgen, die viel weiter und viel tiefer als Worte reichen. Absichtslosigkeit verhilft dazu, mit sich selbst ganz im Jetzt zu sein. »Jetzt nehme ich dieses wahr«, »Jetzt fühle ich das«, »Wie ist es jetzt?«. Sie verbinden sich mit dem, was von innen kommt, mit dem, was wirklich und tatsächlich geschieht, nicht gemacht, produziert, kontrolliert und manipuliert wird. Nichts wird dem Klienten »angeschraubt«. In dieser Atmosphäre geschehen Schritte der Veränderung, geschieht Heilung und Wandlung.

ENDE DER LESEPROBE