Manche tun es nicht - Ford Madox Ford - E-Book

Manche tun es nicht E-Book

Ford Madox Ford

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Beschreibung

In seinem grandiosen Hauptwerk gelingt es Ford Madox Ford, große Figuren zu schaffen und an ihnen exemplarisch den Verfall einer jahrhundertealten Gesellschaft zu demonstrieren. Christopher Tietjens ist ein vermögender englischer Gentleman mit fast unmenschlicher Selbstbeherrschung – und so lässt er auch die Romanzen und Amouren seiner attraktiven Frau scheinbar ohne sichtbare Regung über sich ergehen. Doch je unnahbarer und kühler er sich gibt, desto perfider und demütigender die Versuche seiner Frau, die Maske der standesgemäßen Selbstlosigkeit zu zerbrechen … England, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Christopher Tietjens ist ein perfekter englischer Gentleman mit nahezu unmenschlicher Selbstbeherrschung – zum Glück, denn andernfalls wäre er vermutlich schon längst zum Mörder geworden. Seine impulsive Frau Sylvia lässt keine Gelegenheit aus, ihn lächerlich zu machen, zu demütigen und zu erniedrigen. Ihr Furor gilt seiner standesgemäßen Selbstlosigkeit, seiner perfekt abgeschotteten Gefühlswelt – kurz: jener Englishness, die seinem Leben in einer immer intriganter und korrupter werdenden Umwelt Halt und Form gibt. Je unnahbarer er sich gibt, desto wütender wird Sylvia. Tietjens flieht in den Weltkrieg. Im Bombenhagel glaubt er sich in Sicherheit – aber Sylvia verstrickt ihn in einen fürchterlichen Zweifrontenkrieg. Band 1 der Tetralogie Ende der Paraden.

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Seitenzahl: 658

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Ford Madox Ford

Manche tun es nicht

Band 1 der Tetralogie »Das Ende der Paraden«

Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Joachim Utz

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Ford Madox Ford

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Erster Teil

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

Zweiter Teil

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

Anhang

Manche tun es nicht

Bibliografie

Inhaltsverzeichnis

Das englische Original erschien unter dem Titel »Some Do Not« im Jahr 1924 bei Duckworth & Co in London.

Im Sinne der Originaltreue wurden bei der Übersetzung gewisse systematische und grammatikalische Inkonsistenzen in Kauf genommen.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

I

Die beiden jungen Herren – sie gehörten dem englischen höheren Staatsdienst an – saßen in ihrem perfekt ausgestatteten Eisenbahnabteil. Die Ledergurte zum Öffnen der Fenster waren jungfräulich neu; die Spiegel unter den neuen Gepäckablagen so makellos blank, als hätten noch nicht viele hineingeschaut; die üppig schwellenden, wohlbemessenen Polster der Sitze in Scharlachrot und Gelb trugen ein verschlungenes, zierliches Drachenmuster nach dem Design eines Kölner Geometers. Das Abteil roch schwach und etwas klinisch nach einem teuren Lack; Tietjens erinnerte sich, früher schon einmal gedacht zu haben, der Lauf des Zuges sei so ruhig und sicher wie erstklassige britische Wertpapiere. Und obwohl er schnell fuhr, hätte jedes Schwanken oder Rumpeln über den Schienenstößen, außer in der Kurve vor Tonbridge oder über den Weichen in Ashford, wo dergleichen Unregelmäßigkeiten erwartet und zugestanden werden durften, Macmaster veranlasst, darin war Tietjens sich sicher, einen Brief an die Eisenbahngesellschaft zu schreiben. Vielleicht hätte er sogar an die Times geschrieben.

Ihre Klasse administrierte die Welt, nicht bloß die neu geschaffene Imperiale Abteilung für Statistik unter Sir Reginald Ingleby. Ungebührliches Verhalten von Polizisten, mangelnde Höflichkeit von Gepäckträgern auf den Bahnhöfen, unzureichende Straßenbeleuchtungen, Unzulänglichkeiten in öffentlichen Einrichtungen oder fremden Ländern, ließen sie sich persönlich angelegen sein, entweder mit der kühlen Stimme eines Oxford-Absolventen oder in Briefen an die Times, in denen sie mit dem Ausdruck bedauernder Indignation Auskunft darüber verlangten, ob es »mit Diesem oder Jenem in Britannien schon so weit gekommen« sei? Oder sie schrieben in den seriösen Zeitschriften, die es noch in großer Zahl gab, Artikel, in denen sie sich in den Dienst der guten Sitten, der Schönen Künste, der Diplomatie und des imperialen Handels, oder auch des Nachruhms verstorbener Staatsmänner und Schriftsteller stellten.

Das heißt, dass Macmaster so zu handeln pflegte: Für seine eigene Person war sich Tietjens so sicher nicht. Ihm gegenüber saß Macmaster; etwas klein geraten; konservativer Liberaler, ein Whig; mit gepflegtem, ausgezwirbeltem schwarzem Bart, wie ein etwas kleinerer Mann ihn tragen möchte, um seine bereits aufkeimende Bedeutsamkeit noch etwas zu unterstreichen; mit schwarzem Haar von störrischer Beschaffenheit, das mit einer harten Drahtbürste gefügig gemacht worden war; mit einer scharfen Nase; kräftigen, gleichmäßigen Zähnen; einem weißen Schmetterlingskragen von porzellaner Glätte; einer von einem goldnen Ring gehaltenen Krawatte, stahlblau mit schwarzen Tupfen – denn sie sollte, wie Tietjens wusste, zu seinen Augen passen.

Tietjens seinerseits hätte nicht sagen können, was für eine Krawatte er gerade trug. Er hatte sich für den Weg vom Büro zu ihrem Logis eine Droschke genommen, sich einen tadellos gearbeiteten Rock und eine bequeme Hose sowie ein weiches Hemd angezogen, dann schnell, doch überlegt, ziemlich viele Sachen in eine riesige Tasche mit zwei Griffen gepackt, die man, wenn notwendig, einfach in die Karre eines Wachmannes schleudern konnte. Es missfiel ihm nämlich, seinen »Mann« Dinge seines persönlichen Gebrauchs in die Hand nehmen zu lassen; es hatte ihm auch missfallen, sich seine Sachen von der Zofe seiner Frau packen zu lassen. Es missfiel ihm sogar, wenn ihm ein Gepäckträger die Tasche abnahm. Er war ein Konservativer, ein Tory, und da es ihm auch missfiel, sich umzuziehen, trug er bereits auf der Reise seine großen braunen Golfschuhe mit den dicken Nähten und gewaltigen Nägeln, saß auf der Polsterkante, nach vorne gebeugt, mit auseinandergestellten Beinen, auf jedes Knie eine riesige weiße Hand gestützt – und hing seinen Gedanken nach.

Macmaster hingegen saß zurückgelehnt und las, etwas steif, in einigen kleinen, ungebundenen, bedruckten Papierbögen, wobei er ganz leicht die Stirn runzelte. Tietjens wusste, dass dies für Macmaster ein erhebender Augenblick war. Er las nämlich die Fahnen seines ersten Buchs Korrektur.

Mit dieser Angelegenheit wiederum waren viele feine Facetten verknüpft. Hätte man, zum Beispiel, Macmaster gefragt, ob er Schriftsteller sei, hätte er darauf mit nicht mehr als einem fast unmerklichen, verächtlichen Schulterzucken reagiert.

»Aber nein, meine verehrte Dame!«, denn natürlich hätte kein Mann diese Frage an einen gerichtet, bei dem es sich so augenfällig um einen Mann von Welt handelte. Und hätte dann lächelnd hinzugefügt: »Nichts ganz so Edles! Jemand, der sich hin und wieder ein wenig die Zeit vertreiben möchte. Im besten Falle Kritiker. Ja, doch! Vielleicht ein klein wenig ein Kritiker.«

Dennoch bewegte sich Macmaster in Salons, die mit ihren schweren Vorhängen, ihren blauen chinesischen Porzellanen, groß gemusterten Tapeten und hohen, stillen Spiegeln auch den langmähnigen Jüngern der Künste Obdach boten. Und Macmaster, der sich den teuren Damen, die diese Hausgesellschaften gaben, so nahe wie möglich hielt, verstand es, die Konversation in Fluss zu halten – ein klein wenig in der Attitüde des Meisters. Er schätzte es, wenn man ihm bei seinen Ausführungen über Botticelli, Rossetti und jene frühen italienischen Künstler, die er als »Die Primitiven« bezeichnete, respektvoll lauschte. Tietjens hatte ihn bei solchen Anlässen erlebt und missbilligte die Art seines Auftretens nicht.

Obschon diese Zusammenkünfte nicht gleichbedeutend mit der Gesellschaft waren, so stellten sie doch Stationen dar auf dem langen und mit Umsicht verfolgten Weg zu einer Karriere in einem hochrangigen Amt der Ministerialbürokratie. Und war Tietjens, wie er glaubte, selbst gänzlich uninteressiert an Karriere oder Ämtern, so verhielt er sich doch, wenngleich mit einem Schuss zynischer Distanz, anteilnehmend gegenüber den Ambitionen seines Freundes. Es war eine etwas merkwürdige Freundschaft, und doch sind gerade die Merkwürdigkeiten im Verhältnis von Freunden oft genug Garanten der Dauerhaftigkeit solcher Konstellationen.

Als jüngster Sohn eines Landedlen aus Yorkshire, hatte Tietjens Anspruch auf das Beste – das Beste, was erstklassige öffentliche Ämter und erstklassige gesellschaftliche Beziehungen zu bieten hatten. Zwar hatte er keinen persönlichen Ehrgeiz, aber alles würde sich einmal so für ihn ergeben, wie dies in England eben üblich war. Deshalb konnte er es sich leisten, ebenso nachlässig mit seiner Kleidung zu sein wie mit dem persönlichen Umgang, den er pflegte und mit den Meinungen, die er von sich gab. Er verfügte über ein kleines privates Einkommen aus dem Vermächtnis seiner Mutter, über ein kleines Einkommen aus seiner Tätigkeit für das Imperiale Amt für Statistik; er hatte eine vermögende Frau geheiratet und es standen ihm in so hinreichendem Maß Spott und Witz der guten alten konservativen Art zu Gebote, dass man ihm aufmerksam zuhörte, wenn er redete. Er war sechsundzwanzig; und trug, in einer für Leute aus Yorkshire typischen unbekümmerten und schmuddeligen Weise körperlich sehr massig, mehr Gewicht mit sich herum als sein Alter rechtfertigte. Sir Reginald Ingleby, sein Vorgesetzter, pflegte ihm aufmerksam zuzuhören, wenn er über staatliche Entwicklungen sprach, die Auswirkungen auf die Statistiken hatten. Dann konnte es vorkommen, dass Sir Reginald sagte: »Sie sind eine perfekte Enzyklopädie exakten Realienwissens, Tietjens«, was Tietjens nur für selbstverständlich und gerechtfertigt hielt und weshalb er das Lob einfach schweigend zur Kenntnis nahm.

Macmaster, seinerseits, pflegte auf eine entsprechende Bemerkung von Sir Reginald mit einem gemurmelten »Sie sind wirklich sehr gütig, Sir Reginald!« zu reagieren, was Tietjens ebenfalls für völlig angemessen hielt.

Macmaster war der um ein weniges Dienstältere, wie er wahrscheinlich auch in einem geringfügig höheren Lebensalter stand. Hinsichtlich der Lebensjahre nämlich oder der genauen Herkunft seines Wohnungsgenossen gab es in Tietjens’ Hirn eine Leerstelle. Macmaster war offenkundig Schotte von Geburt und allgemein sah man ihn als das, was man sich gerne unter dem Spross eines Pfarrhauses vorstellte. Zweifellos aber war er in Wirklichkeit der Sohn eines Lebensmittelhändlers aus Cupar oder eines Gepäckträgers des Bahnhofs von Edinburgh. Für Schotten spielt das keine Rolle, und da er, wie es sich nun einmal gehörte, hinsichtlich seiner Abstammung verschwiegen war, verzichtete man, hatte man ihn einmal akzeptiert, sogar unterbewusst, Genaueres von ihm erfahren zu wollen.

Tietjens hatte Macmaster schon immer akzeptiert – in Clifton, in Cambridge, in Chancery Lane und in ihren Räumlichkeiten in Gray’s Inn. Entsprechend hegte er eine sehr tiefe Zuneigung für Macmaster – ja sogar Dankbarkeit. Und von Macmaster darf man annehmen, dass er diese Gefühle erwiderte. Ganz sicherlich hatte er sich stets nach besten Kräften bemüht, Tietjens nützlich zu sein. Schon im Schatzamt als Sir Reginald Inglebys Privatsekretär, Tietjens war damals noch in Cambridge, hatte Macmaster Sir Reginald auf die mannigfachen und großen natürlichen Begabungen von Tietjens aufmerksam gemacht, worauf Sir Reginald, der für sein Ziehkind, nämlich seine neu gegründete Abteilung, Ausschau nach jungen Männern hielt, höchst bereitwillig Tietjens als seinen dritten Mann zu sich holte. Andererseits jedoch war es Tietjens’ Vater gewesen, der Macmaster der unmittelbaren Aufmerksamkeit von Sir Thomas Block im Schatzamt selbst anempfohlen hatte. Ja, die Familie Tietjens – genau gesagt war es Tietjens’ Mutter gewesen – hatte sogar eine kleine Summe zur Verfügung gestellt, um Macmaster den Abschluss seines Studiums in Cambridge zu ermöglichen und ihn in der Hauptstadt unterzubringen. Den kleinen Betrag hatte er insofern zurückerstattet – jedenfalls einen Teil davon – indem er in seinen Räumlichkeiten Platz für Tietjens bereitstellte, als dieser seinerseits in die Hauptstadt zog.

Mit einem jungen Schotten waren derartige Arrangements vollkommen problemlos. Tietjens hatte einfach das Morgengemach seiner heiteren, weitherzigen, heiligmäßigen Mutter betreten und zu ihr sagen können:

»Mutter, da ist noch die Sache mit diesem Macmaster! Er bräuchte noch ein bisschen Geld, um seinen Abschluss an der Universität zu machen«, worauf seine Mutter lediglich sagte:

»Natürlich, mein Lieber. Wie viel?«

In einem jungen Engländer aus den unteren Schichten hätte dies ein Gefühl zurücklassen können, in der Schuld einer Klasse zu stehen. Bei Macmaster war das überhaupt nicht der Fall.

Als Tietjens jüngst eine schwierige Zeit durchzustehen hatte – vier Monate lang bis zum Auszug seiner Frau, die mit einem anderen Mann auf den Kontinent zu gehen gedachte –, hatte Macmaster einen Platz eingenommen, den kein anderer hätte ausfüllen können. Das Fundament von Christopher Tietjens’ Gefühlsleben war nämlich seine völlige Verschwiegenheit – zumindest was eben seine Gefühle betraf. Zu Tietjens’ Weltverständnis gehörte es, dass man einfach nicht »darüber redete«. Vielleicht dachte man nicht einmal darüber nach, wie man sich fühlte.

Und in der Tat war Tietjens, nachdem seine Frau durchgebrannt war, in einer Verfassung zurückgeblieben, in der er fast keine Gefühle mehr hatte, derer er sich hätte bewusst werden können und infolgedessen verlor er kaum mehr als vielleicht zwanzig Worte über den ganzen Vorgang. Die meisten davon bekam sein Vater zu hören, der, von großer, sehr massiger Statur, mit silbernem Haar und erhobenen Hauptes, gleichsam schwebend, Macmasters Salon in Gray’s Inn betreten und nach fünf Minuten schweigender Anwesenheit hervorgebracht hatte:

»Wirst du die Ehe auflösen?«

Und Christopher hatte geantwortet:

»Nein! Nur ein Lump würde eine Frau je der Tortur eines Scheidungsprozesses aussetzen.«

Genau darauf hatte Mr. Tietjens mit seiner Frage abgezielt und nach einer kurzen Pause gefragt:

»Du wirst ihr aber einräumen, selbst die Scheidung einzureichen?«

Er hatte darauf geantwortet:

»Wenn sie es wünscht. Aber es muss Rücksicht auf das Kind genommen werden.«

Dazu sagte Mr. Tietjens:

»Wirst du ihr Vermächtnis auf das Kind übertragen lassen?«

Tietjens antwortete:

»Wenn es sich ohne Misshelligkeiten machen lässt.«

Mr. Tietjens’ Kommentar belief sich lediglich auf ein:

»Ach ja!« Kurz darauf später hatte er gesagt:

»Deiner Mutter geht es sehr gut.« Darauf: »Dieser Motorpflug ist einfach nicht angesprungen«, und danach: »Ich werde im Club speisen.«

Christopher sagte: »Darf ich Macmaster mitbringen, Sir? Ihr sagtet, Ihr wolltet ihm eine Position verschaffen.«

»Ja, nur zu. Der alte General Ffolliott wird auch da sein. Der wird sich um ihn kümmern. Er sollte seine Bekanntschaft machen.« Und damit war er gegangen.

Das Verhältnis zu seinem Vater entsprach dem, was Tietjens unter ›vollkommen‹ verstand. Sie waren zueinander wie zwei Männer im Club – dem einzigen Club, den es gab, und in ihrem Denken waren sie sich so ähnlich, dass keine Notwendigkeit zum Reden bestand. Sein Vater hatte lange Zeit im Ausland gelebt, ehe er sein Erbe antrat. Wenn er übers Moor in die Industriestadt fuhr, die ihm gehörte, lenkte er immer eine vierspännige Kutsche. Tabakrauch hatte es in Groby Hall nie gegeben: Von seinem Obergärtner ließ sich Mr. Tietjens jeden Morgen zwölf Pfeifen stopfen und in den Rosenbüschen entlang der Auffahrt deponieren. Diese rauchte er im Laufe eines Tages. Einen Großteil seines Landes bewirtschaftete er; von 1876 bis 1881 saß er für Holderness im Parlament, hatte sich aber, nach der Neuverteilung der Sitze, nicht mehr zur Wahl gestellt; er war der Herr von elf Gütern; ritt gelegentlich Parforce mit seiner Meute und ging ziemlich regelmäßig zur Jagd. Er hatte noch drei andere Söhne sowie zwei Töchter und war jetzt zweiundsechzig Jahre alt.

Am Tage nach der Flucht seiner Frau hatte Christopher am Telefon zu seiner Schwester Effie gesagt:

»Kannst du auf unbestimmte Zeit Tommie zu dir nehmen? Marchant wird mitkommen. Sie bietet an, auch deine beiden Jüngsten zu betreuen, sodass du ein Dienstmädchen weniger brauchst, und ich komme für ihre Verköstigung auf und lege noch ein bisschen was drauf.«

Die Stimme seiner Schwester – aus Yorkshire – hatte geantwortet:

»Aber gewiss, Christopher.« Sie war die Frau eines Vikars in der Nähe von Groby und hatte mehrere Kinder.

Zu Macmaster hatte Tietjens gesagt:

»Sylvia hat mich verlassen mit diesem Kerl Perowne.«

Macmaster hatte darauf nur mit einem »Ach!« geantwortet.

Des Weiteren hatte Tietjens ihm mitgeteilt:

»Das Haus werde ich vermieten und die Möbel auf Lager stellen. Tommie wird zu meiner Schwester Effie gehen. Marchant wird ihn begleiten.«

Macmaster hatte gesagt:

»Du wirst dann wieder deine alten Räume brauchen.« Macmaster bewohnte einen ganzen, sehr geräumigen Stock in einem der Gebäude von Gray’s Inn. Auch nach Tietjens’ Auszug infolge seiner Eheschließung hatte Macmaster das Alleinsein geschätzt, wenngleich er seinen Diener aus dem Dachraum in das Schlafzimmer ziehen ließ, das zuvor von Tietjens belegt worden war.

Tietjens sagte:

»Wenn ich darf, komme ich morgen Abend. Dann hat Ferens genügend Zeit, wieder in seinen Dachraum zu ziehen.«

An jenem Morgen, beim Frühstück, vier Monate waren vergangen, hatte Tietjens einen Brief von seiner Frau erhalten. Darin bat sie, ohne die geringsten Zeichen von Zerknirschung, wieder von ihm aufgenommen zu werden. Sie habe genug von Perowne und der Bretagne.

Tietjens blickte zu Macmaster hoch. Macmaster hatte sich schon halbwegs von seinem Stuhl erhoben und sah ihn mit großen stahlblauen Augen an; sein Bart zitterte. Ehe Tietjens etwas sagen konnte, hatte Macmaster die Hand um den Hals der kristallenen Brandykaraffe in dem abschließbaren Kabinett aus braunem Holz.

Tietjens sagte:

»Sylvia bittet mich, sie zurückzunehmen.«

Macmaster sagte:

»Nimm mal ein bisschen hiervon!«

Tietjens wollte schon automatisch »Nein« sagen, überlegte es sich aber anders und sagte:

»Ja. Vielleicht. Ein Likörglas voll.«

Er bemerkte, dass die Tülle der Karaffe zuckte und Glas klinkerte. Macmaster schien zu zittern.

Macmaster, der ihm immer noch den Rücken zugewandt hatte, sagte:

»Wirst du sie wieder zurücknehmen?«

Tietjens antwortete:

»Ich denke ja.« Der Brandy floss die Kehle hinab und wärmte ihm die Brust. Macmaster sagte:

»Du solltest noch einen nehmen.«

Tietjens antwortete:

»Ja. Danke.«

Macmaster setzte sein Frühstück und die Lektüre seiner Post fort. Tietjens tat dasselbe. Ferens trat ein, räumte die Teller ab, auf denen der Frühstücksspeck serviert worden war und stellte ein silbernes wassergewärmtes Gefäß mit pochierten Eiern und Schellfisch auf den Tisch. Einige Zeit verging, bis Tietjens sagte:

»Ja, im Prinzip habe ich mich dazu entschieden. Aber ich werde drei Tage brauchen, um mir über die Details klar zu werden.«

Er schien keine Gefühle in dieser Angelegenheit zu haben. Gewisse unverschämte Formulierungen in Sylvias Brief gingen ihm durch den Kopf. Es war ihm recht, dass der Brief so gehalten war. Auf seine Denkweise hatte der Brandy keinen Einfluss, doch schien er zu verhindern, dass ihn fröstelte.

Macmaster sagte:

»Angenommen, wir nehmen den Zug nach Rye um elf Uhr vierzig Uhr. Die Tage sind jetzt lang und wir könnten nach dem Tee noch eine Runde spielen. In der Nähe gibt es einen Pfarrer, dem ich gerne einen Besuch abstatten möchte. Er hat mir bei meinem Buch geholfen.«

Tietjens sagte:

»Hat dein Dichter auch Pfarrer zu seinen Bekannten gezählt? Aber natürlich, was sage ich denn. Er heißt doch Duchemin, nicht wahr?«

Macmaster sagte:

»Wir könnten dort etwa um halb drei vorsprechen. Auf dem Lande ist das eine gute Zeit. Wir bleiben bis vier und lassen die Droschke warten. Um fünf könnten wir beim ersten Abschlag sein. Wenn uns der Kurs gefällt, bleiben wir noch am nächsten Tag: Dienstag wären wir dann in Hythe und Mittwoch in Sandwich. Aber wir könnten deine drei freien Tage auch ganz in Rye verbringen.«

»Es täte mir wahrscheinlich besser, wenn ich in Bewegung bliebe«, sagte Tietjens. »Da gibt es ja deine Zahlen für Britisch-Kolumbien. Wenn wir jetzt eine Droschke nehmen, könnte ich sie in einer Stunde und zwölf Minuten überprüfen. Dann könnte Das Britische Nordamerika zum Drucker gehen. Wir haben ja erst halb neun.«

Etwas besorgt meinte Macmaster:

»Oh nein, das kannst du nicht schaffen. Mit Sir Reginald kann ich absprechen, dass wir gehen.«

Tietjens aber sagte:

»Oh doch, ich kann. Ingleby wird sich freuen, wenn du ihm sagst, dass sie fertig sind. Du bekommst deine Zahlen so rechtzeitig, dass du sie ihm geben kannst, wenn er um zehn Uhr kommt.«

Macmaster sagte:

»Was bist du nur für ein außerordentlicher Kerl, Chrissie. Fast ein Genie!«

»Nun ja«, antwortete Tietjens. »Ich habe gestern, als du gegangen warst, mal in deine Unterlagen geschaut und habe die meisten Zahlen im Kopf. Vor dem Einschlafen hab ich darüber nachgedacht. Ich glaube, du machst einen Fehler, wenn du den Einfluss von Klondyke auf die Bevölkerungszahlen für dieses Jahr so hoch einschätzt. Die Pässe sind zwar offen, aber vergleichsweise wenige überqueren sie. Ich werde eine entsprechende Anmerkung hierzu machen.«

In der Droschke sagte er dann:

»Tut mir leid, dich mit meinen unappetitlichen Geschichten zu belästigen. Wie sich das wohl auf dich und im Amt auswirken wird?«

»Im Amt«, sagte Macmaster, »überhaupt nicht. Man glaubt, dass Sylvia sich auf dem Kontinent um Mrs. Satterthwaite kümmert. Und was mich betrifft, sähe ich es gerne …« – er biss seine kleinen, kräftigen Zähne zusammen – »ich sähe es gern, wenn du dieser Frau die Nase so richtig in den Dreck drücken würdest. Bei Gott ja, das wünschte ich mir! Warum soll man ihr erlauben, dich für den Rest deines Lebens auf die Folter zu spannen? Sie hat schon genug angerichtet!«

Tietjens spähte über das Verdeck der Droschke.

Das erklärte eine Frage. Ein paar Tage zuvor hatte ein junger Mann, der eher zum Freundeskreis seiner Frau als zu seinem gehörte, ihn im Club angesprochen und gesagt, er hoffe, Mrs. Satterthwaite – der Mutter seiner Frau – gehe es wieder besser. Jetzt sagte er:

»Ich verstehe. Wahrscheinlich ist Mrs. Satterthwaite verreist, um Sylvias Rückzug zu decken. Sie ist eine kluge Frau, wenn auch ein Aas.«

Die Droschke fuhr durch fast leere Straßen, denn für das Regierungsviertel war es noch sehr früh. Eilig klapperten die Hufe des Pferdes. Tietjens zog immer eine Droschke vor, denn Pferde und Personen von Geblüt gehörten für ihn nun einmal zusammen. Er hatte keine Ahnung gehabt, was man unter seinesgleichen über seine Angelegenheiten dachte. Eine schwere Decke träger Dumpfheit begann sich zu lüften und er stellte Fragen.

Während der letzten Monate hatte er sich damit unterhalten, aus dem Gedächtnis eine Liste der Fehler in der Encyclopaedia Britannica aufzustellen, von der kürzlich eine neue Ausgabe erschienen war. Für eine etwas langweilige Monatszeitschrift hatte er zu diesem Thema sogar einen Artikel geschrieben. Dieser war so sarkastisch geraten, dass er eigentlich über sein Ziel hinausschoss. Er verachtete Leute, die Nachschlagewerke benützten; doch war sein Ansatzpunkt so ungewohnt, dass sein Artikel niemand zum Widerspruch reizte, mit Ausnahme vielleicht von Macmaster. Sir Reginald Ingleby hatte er sogar Vergnügen bereitet, denn ihm gefiel es, einen jungen Mann unter sich zu haben, der über ein derartig gutes Gedächtnis und enzyklopädisches Wissen verfügte …

Diese Beschäftigung hatte ihm gutgetan, wie ein langer Schlummer. Jetzt musste er Fragen stellen. Er sagte:

»Und dass ich mit neunundzwanzig meinen Haushalt auflöse? Was denkt man darüber? Ich werde kein Haus mehr haben.«

»Man nimmt an«, antwortete Macmaster, »dass Lowndes Street Mrs. Satterthwaite nicht zusagte. Was erklärt, dass sie krank wurde. Mängel in der Kanalisation. Ich kann sagen, dass Sir Reginald völlig – und zwar ausdrücklich – derselben Ansicht ist. Er ist nicht der Meinung, dass junge verheiratete Männer in Regierungsämtern kostspielige Etablissements in der teuersten Gegend von London unterhalten sollten.«

Tietjens sagte:

»Zum Teufel mit ihm.« Und fügte gleich hinzu: »Obwohl er wahrscheinlich recht hat.« Dann sagte er: »Danke. Das ist alles, was ich wissen will. Ein Hahnrei steht immer in gewissem Misskredit bei den andern. Mit gutem Grund. Ein Mann sollte wohl in der Lage sein, seine Frau zu halten.«

Besorgt rief Macmaster:

»Nein! Nein! Chrissie.«

Tietjens fuhr fort:

»In einem Ministerium ist es wie in einem Internat. Man mag dort sehr wohl etwas gegen einen Mann haben, dessen Frau mit einem anderen seiner Mitglieder über die Stränge geschlagen hat. Ich erinnere mich, wie abscheulich man es in Clifton fand, als die Leitung beschloss, den ersten Juden und den ersten Nigger aufzunehmen.«

Macmaster sagte:

»Es wäre mir lieber, wenn du nicht weitermachen würdest.«

»Es gab da einen Zeitgenossen«, fuhr Tietjens fort, »dessen Land an unseres grenzte. Conder hieß er. Seine Frau betrog ihn regelmäßig. Jedes Jahr pflegte sie sich für drei Monate zurückzuziehen. Conder hat nie auch nur einen Finger gerührt. Aber wir fühlten uns in Groby und der Nachbarschaft nicht mehr sicher. Es war peinlich, ihn – ganz zu schweigen von ihr – im Salon zu haben. Es ergaben sich alle nur denkbaren Peinlichkeiten. Jeder wusste, dass die jüngeren Kinder nicht von Conder waren. Irgendein Bursche heiratete die jüngste Tochter und übernahm die Hundemeute. Kein Mensch hat sie je besucht. Es war weder rational noch gerecht. Aber genau deshalb misstraut die Gesellschaft dem Hahnrei. Weil es immer passieren könnte, dass man sich zu etwas Irrationalem und Ungerechtem hinreißen lässt.«

»Aber«, sagte Macmaster im Ton echter Besorgnis, »du wirst es nicht zulassen, dass Sylvia sich so verhält.«

»Weiß ich nicht«, sagte Tietjens. »Wie sollte ich sie davon abhalten? Ich glaube, Conder hat das völlig richtig eingeschätzt, wohlgemerkt. Solche Heimsuchungen sind Gottes Wille. Ein Gentleman muss sie hinnehmen. Lehnt die Frau eine Scheidung ab, muss er es hinnehmen und er kommt ins Gerede. Diesmal scheinst du alles richtig gemacht zu haben. Du, in Abstimmung, wie ich annehme, mit Mrs. Satterthwaite. Aber du wirst nicht immer zur Stelle sein können. Und es könnte ja auch sein, dass ich eine andere Frau kennenlerne.«

Macmaster sagte:

»Ach!« und einen Augenblick später:

»Und was dann?«

Tietjens sagte:

»Das weiß der liebe Gott … Da ist ja auch noch das arme kleine Kerlchen zu berücksichtigen. Marchant sagt mir, dass er schon anfängt, breites Yorkshire zu sprechen.«

Macmaster sagte:

»Abgesehen davon … Das wäre eine Lösung.«

Tietjens sagte: »Ach!«

Als er vor einem zementgrauen Portal mit einem Giebelbogen die Hand dem Kutscher hinstreckte, um ihn zu bezahlen, sagte er:

»Ihr habt der Stute weniger Lakritze ins Futter getan. Ich hab’ ihnen ja gesagt, dass sie dann besser geht.«

Der Kutscher mit seinem puterroten lackglänzenden Gesicht, dem speckigen Hut, abgewetzten Kutschermantel und einer Gardenie im Knopfloch, sagte:

»Ja doch! Wusste, dass Sie sich daran erinnern werden, Sir.«

 

Im Zug, unter dem Stapel seiner blank gewichsten Kleiderkoffer und Depeschentaschen sitzend – seine riesige Packtasche hatte Tietjens eigenhändig in die Karre des Wachmannes geworfen –, richtete Macmaster den Blick auf seinen Freund ihm gegenüber. Ein großer Tag war das für ihn. Vor seinen Augen lagen die Fahnen seines ersten, schmalen, eleganten Buchs … Es war von kleinem Format, die Buchstaben waren tiefschwarz und rochen noch! Der angenehme Geruch von Druckerschwärze hing ihm in der Nase, das frische Papier fühlte sich noch ein bisschen feucht an. Zwischen seinen weißen stark spatelförmigen, immer etwas kühlen Fingern, fühlte er den Druck des kleinen, flachen goldenen Bleistifts, den er eigens für die Fahnenkorrekturen gekauft hatte. Doch er entdeckte nichts, was zu korrigieren gewesen wäre.

Er hatte erwartet, in Freude zu schwelgen – fast der einzige Genuss, den er sich seit Monaten zugestanden hatte. Es war keine leichte Aufgabe, mit einem mageren Einkommen das Erscheinungsbild eines englischen Gentleman zu wahren. Doch in deinen eigenen Sätzen zu schwelgen, sich deiner eigenen scharfsinnigen Wendungen zu erfreuen, zu spüren, dass dein Rhythmus stimmt und du dennoch nüchtern bist – dies sind Freuden, die die meisten anderen übersteigen und obendrein nicht viel kosten. Er hatte sie schon aus einzelnen Essays und Artikeln gewonnen – über das Denken und Leben großer Gestalten wie Carlyle oder Mill, oder über die Ausweitung des interkolonialen Handels. Hier jedoch handelte es sich um ein Buch.

Mit ihm hoffte er, seine Stellung zu konsolidieren. Im Ministerium waren die meisten »Geborene«, adeliger Abstammung und nicht übertrieben entgegenkommend. Doch gab es schon ein Häuflein junger Männer – und es war gerade im Begriff anzuwachsen –, die sich durch Verdienst oder puren Fleiß ihren Anspruch verschafft hatten. Eifersüchtig beobachteten sie Beförderungen, registrierten scharf auf Vetternwirtschaft zurückgehende Einkommenssteigerungen und wurden laut gegeneinander, wenn sie Bevorzugungen witterten.

Er hatte es sich leisten können, ihnen die kalte Schulter zu zeigen. Seine Nähe zu Tietjens erlaubte ihm, sich in der Behörde mehr dem Lager derer von adeliger Herkunft zuzurechnen, und auch der Umstand, Sir Reginald Ingleby angenehm zu sein – er wusste, dass er angenehm und nützlich war! – bewahrten ihn weitgehend vor Unerfreulichkeiten. Seine »Artikel« hatten ihm ein gewisses Recht erworben, Strenge in seinem Auftreten zu zeigen; er war sich sicher, aufgrund seines Buches eine fast richterliche Attitüde einnehmen zu dürfen. Das sollte dann aus ihm den Mr. Macmaster schaffen, den Kritiker, die Autorität. Und gerade die Abteilungen mit dem höchsten Prestige sind nicht abgeneigt, ihre Reihen mit hervorragenden Männern zu schmücken; zumindest erhebt man keine Einwände gegen die Beförderung der Herausragenden. Demzufolge sah Macmaster Sir Reginald Ingleby fast körperlich vor sich, wie dieser die betonte Herzlichkeit zur Kenntnis nahm, mit welcher sein geschätzter Untergebener in den Salons der Mrs. Leamington, Mrs. Cressy, der Ehrenwerten Mrs. de Limoux behandelt wurde; dergleichen pflegte Sir Reginald zur Kenntnis zu nehmen, denn er selbst las nicht viel anderes als regierungsamtliche Publikationen, und war sich deshalb ziemlich sicher, seinem kritisch begabten und strengen jungen Gehilfen den Weg ebnen zu dürfen. Als Sohn eines sehr armen Angestellten einer Reederei in einem unbedeutenden schottischen Hafenstädtchen, hatte sich Macmaster sehr früh entschieden, welche berufliche Karriere er einschlagen wollte. Macmaster hatte keinerlei Schwierigkeit gehabt, sich zwischen den Romanhelden eines Mr. Smiles, der zur Zeit von Macmasters Kindheit ein außerordentlich populärer Schriftsteller war, und den mehr intellektuell ausgewiesenen Leistungsbereichen, die den ganz armen Schotten offenstanden, zu entscheiden. Mag sein, dass ein Bursche seinen Weg vom Hauer zum Minenbesitzer machte; ein harter, begabter, die Nächte durcharbeitender schottischer Jüngling indessen, der unauffällig und tadellos seinen Kurs der Wissensaneignung und Qualifikation zu öffentlicher Nützlichkeit verfolgt, wird sich mit Gewissheit eine ausgezeichnete Stellung, Sicherheit und die stille Bewunderung seiner Umgebung erwerben. Es war der Unterschied zwischen mag sein und wird und Macmaster hatte keinerlei Schwierigkeit gehabt, seine Wahl zu treffen. Inzwischen war er sich fast sicher, sich auf einem Werdegang zu befinden, der ihm mit fünfzig den Adelstitel einbringen würde und lange davor die Anerkennung seiner Kompetenz, seinen eigenen Salon und eine Dame, die das Ihre zu seinem unauffälligen Ruhm beisteuern würde, indem sie sich in jenem Salon mit Anmut und Hingabe unter den besten Geistern jener Tage bewegte, als Huldigung gleichsam sowohl an seinen Geschmack als auch seine Lebensleistung. Trat nicht irgendeine Katastrophe ein, war er sich seiner Sache sicher. Katastrophen ereilen Männer in Gestalt von Alkohol, Bankrott und Frauen. Gegen die ersten beiden wusste er sich gefeit, wenngleich seine Ausgaben eine Neigung zeigten, seine Einnahmen zu übersteigen und er bei Tietjens immer geringfügig in der Kreide stand. Ein Glück, dass Tietjens vermögend war. Das dritte betreffend war er sich nicht so sicher. Sein Leben hatte zwangsläufig der Frauen entbehren müssen und jetzt, da er ein Alter erreicht hatte, in welchem das weibliche Element, bei aller gebotenen Vorsicht, als eine durchaus legitime Beigabe in seinem Leben hätte betrachtet werden dürfen, musste er sich, gerade wegen der besonderen Entbehrung in diesem Bereiche, vor einer übereilten Entscheidung hüten. Der Typ von Frau, den er brauchte, stand ihm genauestens vor Augen: groß, anmutig, dunkel musste sie sein, in lose fallende Gewänder gekleidet, leidenschaftlich und gleichwohl umsichtig, mit ovalen Gesichtszügen, sorgsam abwägend und huldvoll gegenüber ihrer Umgebung. Fast konnte er das Rascheln ihrer Robe hören.

Und dennoch … Er hatte Phasen durchgemacht, in denen eine Art blinder Unvernunft ihn in fast völliger Sprachlosigkeit zu Mädchen hingezogen sein ließ, von jener Art immer kichernder, vollbusig und mit roten Backen hinter Ladentischen stehender Bedienungen. Tietjens allein hatte ihn vor den allerfragwürdigsten Irrungen und Wirrungen bewahrt.

»Zum Henker«, pflegte Tietjens zu sagen, »lass dich nicht ein mit dieser Schlampe. Die wäre gerade recht, um sie in einen Tabakladen zu setzen und innerhalb eines Quartals hätte sie dir die Haare vom Kopf gefressen. Und von allem anderen abgesehen, kannst du dir’s gar nicht leisten.«

Und Macmaster, der seine Schwärmerei um so ein dralles Mädel mit der Melodie von Highland Mary unterlegt hätte, verfluchte danach für gewöhnlich einen Tag lang Tietjens als völlig gefühlloses Stück. Gerade jetzt jedoch war er Gott dankbar für Tietjens. Jetzt saß er hier, auf die dreißig zugehend, ohne Verstrickungen, ohne Makel an seiner Gesundheit und ohne Sorgen, die er sich im Zusammenhang mit einer Frau vielleicht hätte machen müssen.

Voll tiefer Zuneigung und Besorgnis schaute er hinüber zu seinem brillanten jüngeren Amtskollegen, der sich selbst gegen derlei Unbill nicht hatte schützen können. Tietjens war in die schamloseste Falle, die grausamste Falle gegangen, die ihm von der schlechtesten Frau, die man sich vorstellen konnte, gestellt worden war.

Und plötzlich spürte Macmaster, dass er nicht, wie er erwartet hatte, im sinnlichen Dahinströmen seiner Prosa schwelgte. Mit Lebhaftigkeit noch hatte er sich vor Kurzem das saubere Rechteck eines Abschnittes vorgenommen … Ganz gewiss hatten seine Verleger einen Glücksgriff getan, ihn zu drucken:

»Ob wir ihn als Bildner geheimnisvoller, sinnlicher, genau umrissener plastischer Schönheit betrachten; als den Gestalter klangvoller, kraftvoll dahinfließender und hochtönender Zeilen, von Worten, genauso farbsatt wie seine Bilder; oder ob wir in ihm den gedankentiefen Philosophen sehen, der aus den Geheimnissen eines Mystikers, kaum größer als er selbst, seine Erleuchtung gewinnt, müssen wir Gabriel Charles Dante Rossetti, dem Gegenstand dieser kleinen Monografie, den Rang eines Mannes zuerkennen, der die äußeren Aspekte, die menschlichen Beziehungen und alle Elemente, die das Leben unserer höheren Zivilisation ausmachen, wie wir es heute ausleben, zutiefst beeinflusst hat …«

Macmaster stellte fest, dass er nur bis zu dieser Stelle in seiner Prosa vorgedrungen war, und vorgedrungen ohne eine Spur des Genusses, den er erwartet hatte, und dass er sich dann dem mittleren Abschnitt von Seite drei zugewandt hatte – der sich an das Ende seiner Einleitung anschloss. Unstet wanderten seine Augen der Zeile entlang:

»Geboren wurde der Gegenstand dieser Seiten im westlichen Zentralbezirk der Metropole im Jahre …«

Die Worte sagten ihm überhaupt nichts. Den Grund dafür sah er darin, dass er einfach noch nicht über jenen Morgen hinweggekommen war. Er hatte von seiner Kaffeetasse aufgeblickt – über den Rand hinweg – und hatte einen blaugrauen Bogen Notizpapier wahrgenommen, der in Tietjens’ Fingern zitterte und der von der großen, breit auseinandergezogenen Handschrift jener verabscheuungswürdigen Dirne bedeckt war. Und Tietjens hatte ihm, Macmasters, ins Gesicht gestarrt – hatte ihn mit der gespannten Aufmerksamkeit eines toll gewordenen Gauls angestarrt! Wie grau sein Gesicht war! Wie formlos! Mit einer Nase, die wie ein bleiches Dreieck auf einer Blase aus Schweineschmalz hing! Das war das Gesicht von Tietjens …

Immer noch konnte er den geradezu körperlichen Schlag spüren, der ihm damals in die Magengrube gefahren war! Er hatte den Eindruck gehabt, als sei Tietjens im Begriff, verrückt zu werden: ja, dass er schon verrückt war. Das war vorübergegangen. Tietjens hatte wieder die Maske des Gleichgültigen, Anmaßenden aufgesetzt. Später, im Ministerium, hatte er Sir Reginald einen außerordentlich eindringlichen – und ziemlich rüden – Vortrag über seine Gründe gehalten, sich die offiziellen Zahlen zu den Bevölkerungsbewegungen in den westlichen Territorien nicht zu eigen zu machen. Sir Reginald hatte sich sehr beeindruckt gezeigt. Die Zahlen waren für eine Rede des Kolonialministers angefordert worden – oder waren die Antwort auf eine Anfrage – und Sir Reginald hatte versprochen, dem großen Mann Tietjens’ Ansichten zu unterbreiten. Mit dergleichen Dingen konnte man etwas Gutes für einen jungen Mann tun – es brachte nämlich der Abteilung Punkte. Sie mussten mit Zahlen operieren, die ihnen die Kolonialregierung zur Verfügung gestellt hatte und sollten sie jene Burschen durch reine Hirnarbeit berichtigen können, dann zählte das.

Dort aber saß Tietjens in seinem grauen Tweed, mit gespreizten Beinen, klotzig, ungeschlacht, ließ seine talgigen, intelligent aussehenden Hände untätig zwischen den Beinen baumeln, während er auf eine kolorierte Fotografie des Hafens von Boulogne neben dem Spiegel unter dem Gepäcknetz stierte. Er war blond, von lebhafter Gesichtsfarbe, anscheinend gedanklich abwesend, und nicht um alles in der Welt hätte man sagen können, woran er gerade dachte. Wahrscheinlich an die mathematische Wellentheorie oder die Schnitzer in einem Artikel über Arminianismus. Denn Macmaster, so absurd es auch scheinen mochte, war klar, dass er so gut wie gar nichts über das Innenleben seines Freundes wusste. Was ihr Verhältnis betraf, so war es zwischen ihnen fast nie zu Vertraulichkeiten gekommen. Bis auf zwei Ausnahmen: In der Nacht vor der Abreise zu seiner Hochzeit in Paris hatte Tietjens zu ihm gesagt:

»Vinny, alter Kumpel, einen Ausweg gibt es nur durch die Hintertür. Sie hat mir einen Bären aufgebunden.«

Und einmal, noch gar nicht lange her, hatte er gesagt:

»Hol’s der Teufel! Ich weiß nicht mal, ob das Kind von mir ist!«

Diese letztere Mitteilung war es, die Macmaster so heillos schockiert hatte – das Kind war ein Siebenmonatskind gewesen und ziemlich schwächlich, und die unbeholfene Zärtlichkeit, die Tietjens ihm bezeigte, war so auffällig, dass Macmaster, sogar ohne diesen Albtraum, sich von dem Anblick, den die beiden ihm boten, angerührt gefühlt hatte – jene Mitteilung also hatte Macmaster so schrecklich ins Herz geschnitten, war so bestürzend, dass sie ihm fast wie eine Beleidigung vorkommen wollte. Sie gehörte in eine Kategorie von Vertraulichkeiten, in die ein Mann nicht etwa seinesgleichen einweiht, sondern die er nur gegenüber Anwälten, Ärzten oder Geistlichen äußert, die eben nicht ganz als richtige Männer zählen. Und wenn überhaupt, dann tauscht man unter Männern solche Vertraulichkeiten nicht aus, ohne dadurch ein Gefühl der Anteilnahme ansprechen zu wollen. Tietjens jedoch hatte nicht an Mitgefühl appelliert. Er hatte nur noch bitter hinzugefügt:

»Sie lässt mich freundlicherweise in wohltuendem Zweifel darüber. Und sie ist so gut wie ihr Wort, das sie Marchant gegeben hat« – Marchant war Tietjens’ altes Kindermädchen.

Als verlöre er, ohne es selbst zu merken, den Kopf, sagte Macmaster plötzlich:

»Du kannst einfach nicht behaupten, der Mann sei kein Dichter gewesen!«

Diese Bemerkung war ihm, gewissermaßen, einfach so herausgerutscht, weil er im hellen Licht des Abteils gesehen hatte, dass die Hälfte von Tietjens’ Stirnlocke und ein runder Fleck dahinter silbrig weiß waren. Das mochte sich schon seit Wochen vorbereitet haben: Da lebt man neben einem solchen Mann und merkt fast nicht, wie er sich verändert. Männer aus Yorkshire, von frischer Hautfarbe und mit blondem Haar, sind oft schon weiß gesträhnt, wenn sie noch sehr jung sind. Tietjens hatte schon mit vierzehn ein paar weiße Haare gehabt, die deutlich zu sehen waren, wenn er beim Cricket die Mütze abnahm, bevor er den Ball warf.

Doch Macmaster, bestürzt, war sich sicher, dass Tietjens unter dem Schock des Briefes seiner Frau weiß geworden war – innerhalb von vier Stunden! Dies bedeutete, dass Schreckliches in ihm vorgehen musste; um jeden Preis musste man ihn von seinen Gedanken ablenken. Alle diese Überlegungen waren Macmaster, fast unbewusst, durch den Kopf gegangen. Absichtlich hätte er den Maler-Dichter nicht zum Gesprächsthema gemacht.

Tietjens sagte:

»Soweit ich mich erinnere, habe ich überhaupt nichts gesagt.«

Darauf erwachte in Macmaster die Hartnäckigkeit seiner abgehärteten Rasse:

»Da«, zitierte er, »wenn wir stehen Seit an Seite,

 Nur unsre Hände sich vereinen dürfen,

Wär’s besser, wenn des Meeres Weite

 Uns trennen würde, Süße!

Viel besser, wenn’s auch Herzen bricht,

 Dass du Lebwohl mir sagst auf ewig!

Dass deine trauervollen Augen nicht

 Mit Blicken meine Seele stehlen!«

»Du kannst nicht behaupten«, fuhr er fort, »dies sei keine Dichtung! Große Dichtung!«

»Kann ich nicht«, erwiderte Tietjens verächtlich. »Außer von Byron lese ich keine Gedichte. Dies aber ist ein schmutziges Bild …«

Macmaster war sich seiner Sache nicht so ganz sicher und sagte:

»Ich wüsste nicht, dass ich das Bild kenne. Hängt es in Chicago?«

»Es ist kein gemaltes Bild!«, sagte Tietjens. »Aber es ist da drin!«

Und fuhr, plötzlich wütend, fort:

»Soll doch alles der Teufel holen! Was sollen all diese Versuche, Ehebruch zu rechtfertigen? England ist geradezu versessen darauf. Natürlich habt ihr euren John Stuart Mill und eure George Eliot für die oberste Etage. Aber verschone mich mit Details! Oder lass mich heraus; ich will dir wenigstens gesagt haben, dass es mich anwidert, mir diesen fettleibigen, öligen Mann, der sich nie gebadet hat, in einem fettfleckigen Morgenmantel und in derselben Unterwäsche, in der er auch geschlafen hat, vorzustellen, neben einem Fünfshilling-Modell mit gekräuseltem Haar oder einer Mrs. W. ***, mit der zusammen er in einen Spiegel starrt, der ihre übel riechenden Persönlichkeiten reflektiert und vergoldeten Sonnenbarsch und absenkbare Kerzenleuchter und Platten voller Übelkeit erregendem kaltem Fett vom Frühstücksspeck und ihr Gegluckse über Leidenschaft.«

Macmaster war weiß geworden wie eine Wand und sein kurzer Bart sträubte sich:

»Du wagst es doch nicht … du wagst es doch nicht, so zu reden«, stammelte er.

»Ich wage es!«, antwortete Tietjens; »aber ich sollte nicht … nicht dir gegenüber! Das will ich zugeben. Aber fast genauso wenig solltest du mit mir über dieses Zeug reden. Es beleidigt meine Intelligenz.«

»Sicherlich«, meinte Macmaster steif, »war der Augenblick nicht günstig dafür.«

»Ich verstehe nicht, was du damit meinst«, antwortete Tietjens. »Kein Augenblick kann dafür je günstig sein. Es ist, zugegebenermaßen ein dreckiges Geschäft, Karriere zu machen – für mich genauso wie für dich! Anständige Propheten grinsen hinter ihren Masken. Sie halten einander keine Predigten.«

»Jetzt wirst du esoterisch«, sagte Macmaster mit schwacher Stimme.

»Ich verdeutliche nur«, fuhr Tietjens fort. »Ich kann ja verstehen, dass die Gunst einer Mrs. Cressy und Mrs. de Limoux von entscheidender Bedeutung für dich ist! Sie haben schließlich das Ohr unseres alten Kenners Ingleby.«

Macmaster sagte:

»Oh verflucht!«

»Aber ich seh’s ein«, sagte Tietjens, »ich billige es ja. Es ist dasselbe Spiel, das schon immer gespielt wurde. Es ist Tradition und deshalb ist es auch richtig. Seit den Précieuses Ridicules heißt man es gut.«

»Was hast du für eine Art, die Dinge darzustellen«, sagte Macmaster.

»Gar nicht«, antwortete Tietjens. »Gerade weil ich diese Art nicht habe, bleibt das, was ich sage, im Gedächtnis von Kerlen wie dir haften, die sich immer nach einer literarischen Ausdrucksweise abzappeln. Alles was ich sage ist: Ich stehe für Monogamie.«

Macmaster stieß ein erstauntes »Du?« hervor.

Tietjens antwortete mit einem ungerührten »Ich!« und fuhr fort:

»Ich stehe für Monogamie und Keuschheit. Und dafür, dass man nicht darüber spricht. Natürlich nimmt ein Mann, wenn er ein Mann ist, eine Frau, wenn er eine haben will. Und auch hier gilt: Man spricht nicht darüber. Obwohl es ihm am Ende zweifellos besser ginge und er besser dastehen würde, hätte er es gar nicht erst getan. Wie es ihm sicherlich auch besser bekommen würde, den zweiten Whisky Soda nicht zu trinken …«

»Das verstehst du also unter Monogamie und Keuschheit!«, unterbrach ihn Macmaster.

»So ist es«, antwortete Tietjens. »Und wahrscheinlich ist es das auch. Auf jeden Fall ist es eine saubere Sache. Was ich so widerwärtig an euch finde, ist euer Gefummle in Kleiderschlitzen und euer vielsilbiges Unser Recht Ist Die Liebe. Du stehst für weinerliche Polygamie. Das ist in Ordnung, wenn du deinen Club dazu bringen kannst, seine Statuten zu ändern.«

»Du bist mir zu hoch«, sagte Macmaster. »Und dazu kommt, dass du sehr schlecht gelaunt bist. Du scheinst Promiskuität zu rechtfertigen. Das gefällt mir nicht.«

»Wahrscheinlich bin ich unerträglich«, sagte Tietjens. »Das sind Propheten normalerweise. Aber es müsste eine zwanzigjährige Sperrzeit geben für Diskussionen über sexuelle Scheinmoral. Deine Paolos und Francesas – ebenso wie die Dantes – kamen völlig zu Recht und ohne viel Federlesens in die Hölle. Du wirst nirgendwo entdecken, dass Dante sie rechtfertigt. Dein Kerl aber winselt darum, in den Himmel kriechen zu dürfen.«

»Tut er nicht«, rief Macmaster aus. Doch Tietjens fuhr mit Gleichmut fort:

»Aber dein Romanschreiber, der ein Buch schreibt, um jede zehnte oder fünfte Verführung einer einfachen jungen Frau im Namen der Rechte von Ladengehilfen zu rechtfertigen …«

»Ich will zugeben«, sagte Macmaster mitten in diesen Satz hinein, »dass Briggs hier zu weit geht. Ich habe ihm erst letzten Donnerstag bei Mrs. Limoux gesagt …«

»Ich rede ja gar nicht von einer bestimmten Person«, sagte Tietjens. »Ich lese nämlich keine Romane. Ich konstruiere nur einen Fall. Und hier liegt der Fall klarer als bei deinen präraffaelitischen Schrecklichkeiten! Nein! Ich lese zwar keine Romane, halte mich aber auf dem Laufenden darüber, was gerade Mode ist. Und wenn ein Kerl seine Eroberungen uninteressanter und schwärmerischer junger Weibsbilder mit dem Hinweis auf Freiheit und Recht des Mannes rechtfertigt, dann ist das doch einigermaßen respektabel. Besser wäre es wohl, mit seinen Eroberungen freiheraus und triumphierend zu prahlen. Aber …«

»Du gehst in deinen Scherzen manchmal zu weit«, sagte Macmaster. »Ich habe dich schon früher darauf aufmerksam gemacht.«

»Ich bin ernst wie eine Eule!«, gab Tietjens zurück. »Die unteren Klassen machen den Mund auf. Und warum sollten sie nicht? Sie sind die einzigen Leute in diesem Land, die gesund an Leib und Seele sind. Sollte das Land noch zu retten sein, dann wird es von ihnen gerettet.«

»Und du nennst dich einen Tory!«, sagte Macmaster.

»Die unteren Klassen«, fuhr Tietjens gleichmütig fort, »und jene aus ihren Reihen, die eine bessere Schulbildung erhalten, wollen nur lockere und flüchtige Verbindungen eingehen. Ihre Urlaube verbringen sie auf selbst organisierten Reisen durch die Schweiz und ähnliche Länder. Regnerische Nachmittage verbringen sie in ihren gekachelten Badezimmern, klatschen sich fröhlich die Rücken und schmieren sich weißes Make-up ins Gesicht.«

»Du behauptest zwar, keine Romane zu lesen«, sagte Macmaster, »aber ich erkenne das Zitat.«

»Ich lese auch keine Romane«, antwortete Tietjens. »Ich weiß aber, was drin steht. Seit dem achtzehnten Jahrhundert wurde, außer von einer einzigen Frau, nichts geschrieben, was es wert war, gelesen zu werden … Aber für deine Schminke-Schmierer ist es ganz natürlich, dass sie sich in einer schillernden und abwechslungsreichen Literatur selbst begegnen wollen. Warum sollten sie nicht? Es ist ein gesundes, menschliches Bedürfnis, und jetzt, wo Druck und Papier billig sind, wird es gestillt. Es ist gesund, ich sag’s dir. Ungleich gesünder als …« Er machte eine Pause.

»Als was?«, wollte Macmaster wissen.

»Ich überlege grade«, sagte Tietjens, »überlege, wie ich nicht allzu grob sein könnte.«

»Aber du willst ja«, sagte Macmaster bitter, »grob sein zu Leuten, die ein kontemplatives … die ein bedachtes Leben führen.«

»Da haben wir’s doch«, sagte Tietjens und zitierte:

Da wandelt sie, die Herrin meiner Lust,

 Die Hüterin der Schafe;

Sie ist so klug und weiß, was jeder muss:

 Und was sie denkt, bewahrt sie noch im Schlafe.

Macmaster sagte:

»Zum Teufel mit dir, Chrissie, dass du auch immer alles weißt.«

»Ja, doch«, sagte Tietjens, überlegend, »ich glaube schon, dass ich gerne grob zu ihr wäre. Womit ich nicht sagen will, dass ich es sein sollte. Ganz gewiss sollte ich nicht, sähe sie gut aus. Oder wenn sie deine Seelenverwandte wäre. Darauf kannst du dich verlassen.«

Wie in einer plötzlichen Vision sah Macmaster Tietjens’ massige, ungeschlachte Gestalt neben der Dame seiner, Macmasters, Lust einhergehen, nachdem er sie endlich gefunden – zwischen hohem Gras und Klatschmohn am Rande einer Klippe wandelnd und sich ihr von seiner angenehmsten Seite zeigend, indem er ihr über Tasso und Cimabue sprach. Gleichwohl wollte Macmaster es so vorkommen, als würde die Dame keine Sympathie für Tietjens empfinden. Was für Frauen im Allgemeinen zutraf. Sein Aussehen und seine Schweigsamkeit empfanden sie als verstörend, oder sie hassten ihn gar … Oder sie mochten ihn, und zwar sehr gerne. Und Macmaster sagte in versöhnlichem Ton:

»Ja, ich glaube, dass ich mich darauf verlassen könnte!« Und fügte hinzu: »Gleichwohl überrascht es mich nicht …«

Er war drauf und dran zu sagen:

»Überrascht es mich nicht, dass Sylvia dich unmoralisch nennt.« Denn Tietjens’ Frau erklärte Tietjens für verabscheuungswürdig. Er langweile sie, sagte sie, mit seinen langen Schweigephasen; und wenn er dann etwas sagte, hasste sie ihn wegen seiner unmoralischen Ansichten … Aber er führte den Satz nicht zu Ende und Tietjens fuhr fort:

»Gleichwohl werden es genau diese kleinen Snobs sein, die England retten werden, wenn es Krieg gibt, weil sie den Mut haben, zu wissen, was sie wollen und es zu sagen.«

Macmaster sagte etwas hochtrabend:

»Gelegentlich bist du außerordentlich altmodisch, Chrissie. Du müsstest genauso gut wissen wie ich, dass ein Krieg unmöglich ist – auf jeden Fall einer, an dem dieses Land teilnimmt. Einfach weil …« Er zögerte und meinte dann kühn: »Wir – die Bedachtsamen, die Umsichtigen – jawohl, die bedachtsamen, umsichtigen Klassen, werden die Nation durch die Engpässe lotsen.«

»Krieg, mein Guter«, sagte Tietjens – der Zug näherte sich Ashford und wurde bereits langsamer – »ist unvermeidbar, und zwar ein Krieg mit diesem Land mittendrin. Schlicht und einfach deshalb, weil ihr Kerle so verdammte Heuchler seid. Es gibt kein Land in der Welt, das uns traut. Wir sind sozusagen immer gerade dabei, Ehebruch zu begehen – wie dein Kerl! – mit dem Namen des Himmels auf unsren Lippen.« Er verteilte wieder Seitenhiebe auf das Objekt von Macmasters Monografie.

»Er nie!«, brachte Macmaster fast stotternd heraus. »Er hat nie etwas vom Himmel gewinselt.«

»Doch, hat er«, sagte Tietjens. »Das verdammte Gedicht, das zu zitiert hast, endet so:

Viel besser, wenn’s auch Herzen bricht,

 Weil wir nicht die Liebe wagen,

Ist’s, uns zu trennen, bis zum Wiedersehen

 In eines Himmels bessren Tagen.«

Und Macmaster, der diesen Hieb befürchtet hatte – nie konnte er sicher sein, wie viel oder wie wenig sein Freund von irgendeinem Gedicht auswendig kannte –, Macmaster kollabierte sozusagen, indem er fahrig seine Koffer und Schläger aus dem Gepäcknetz holte, was er normalerweise einem Gepäckträger überließ. Und Tietjens, mochte ein Zug auch bereits in einen Bahnhof einfahren, so blieb er doch immer bis zu dessen völligem Stillstand regungslos wie ein Felsblock sitzen, sagte:

»Ja, ein Krieg ist unvermeidbar. Zuerst einmal gibt es da solche Kerle wie euch, denen man nicht trauen kann. Und dann gibt es die Masse, die glaubt, Badezimmer und weißes Make-up nötig zu haben. Millionen, auf der ganzen Welt. Nicht bloß hier. Es gibt aber nicht genügend Badezimmer und weiße Schminke auf der Welt. Es verhält sich damit genauso wie mit euch Polygamisten und den Frauen. Es gibt nicht genug Frauen auf der Welt, um euren unersättlichen Appetit zu befriedigen. Und es gibt nicht genug Männer auf der Welt, damit jede Frau einen haben könnte. Und dabei gibt es viele Frauen, die mehr als einen wollen. Deshalb habt ihr auch eure Scheidungsprozesse. Du willst doch nicht etwa behaupten, es werde deshalb keine Scheidungen mehr geben, weil ihr so umsichtig und korrekt seid? Also Krieg ist genauso unvermeidbar wie Scheidungen …«

Macmaster streckte den Kopf aus dem Waggonfenster und rief nach einem Gepäckträger.

 

Auf dem Bahnsteig strebten, behütet von hochgereckten, beladenen Dienern, Frauen in wundervollen Zobelumhängen, mit purpurnen oder roten Schmuckkoffern, durchsichtigen seidigen Tüchern, wie man sie hinter Motorhauben flattern sieht, zum Zug auf der Nebenstrecke nach Rye. Zwei nickten Tietjens zu.

Wie absolut gut er daran tat, dachte Macmaster, stets makellos gekleidet zu sein; man konnte ja schließlich nie wissen, wem man auf einer Reise mit der Eisenbahn begegnen würde. Dies bestärkte ihn gegenüber Tietjens, der es vorzog, wie ein Kanalarbeiter auszusehen.

Ein großer weißhaariger rotwangiger Mensch mit einem weißen Schnurrbart hinkte Tietjens hinterher, der gerade seine riesige Tasche aus der Karre des Dienstmannes hob. Er schlug dem jungen Mann auf die Schulter und sagte:

»Hallo! Wie geht’s deiner Schwiegermutter? Lady Claude lässt nach ihr fragen. Du sollst heute Abend vorbeischauen, um bei uns zu essen, soll ich dir ausrichten, falls du auf dem Weg nach Rye sein solltest.«

Er hatte ganz ungewöhnlich blaue unschuldige Augen.

Tietjens sagte:

»Hallo, General«, und fügte hinzu: »Ich glaube, es geht ihr viel besser. Fast wiederhergestellt. Dies ist Macmaster. Ich werde wohl rüberfahren, um meine Frau zu holen, in ein oder zwei Tagen. Sind beide in Lobscheid … ein deutscher Kurort.«

Der General sagte:

»Recht so. Ist nicht gut für einen jungen Mann, allein zu sein. Küss mir Sylvias Fingerspitzen. Sie ist die einzig Richtige für dich, du Glückspilz.« Und ein bisschen unsicher fügte er hinzu: »Wie wär’s mit einem Viererspiel morgen Vormittag? Paul Sandbach ist auch hier. Der ist genauso klapprig wie ich. Einzeln schaffen wir keine ganze Runde.«

»Sie sind selbst daran schuld«, sagte Tietjens. »Warum sind Sie nicht mal zu meinem Knochenklempner gegangen? Machen Sie’s mit Macmaster aus, ja?« Und mit einem Sprung verschwand er hinter der Karre des Dienstmanns.

Der General warf einen schnellen, prüfenden Blick auf Macmaster:

»Sie also sind der Macmaster«, sagte er. »Muss ja wohl so sein, wenn sie mit Chrissie zusammen sind.«

Eine hohe Stimme rief:

»General! General!«

»Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte der General, »und zwar über die Zahlen in Ihrem Artikel über Pondoland. Die Zahlen stimmen ja. Aber wir werden das verdammte Land verlieren, wenn … Aber lassen Sie uns darüber nach dem Abendessen reden. Sie kommen doch auch zu Lady Claudine …«

 

Erneut beglückwünschte Macmaster sich für sein Äußeres. Tietjens durfte getrost wie ein Straßenkehrer daherkommen; schließlich gehörte er zu diesen Leuten. Er, Macmaster, jedoch nicht. Er musste, wenn überhaupt etwas, eine Autorität sein, und Autoritäten tragen goldene Krawattenringe und schwarzes Tuch. General Lord Edward Campion hatte einen Sohn, ständiger Leiter der Abteilung im Schatzamt, zuständig für Gehaltserhöhungen und Beförderungen in allen Ministerien. Tietjens erwischte den Zug nach Rye nur deshalb, weil er neben ihm entlangrannte, seine riesige Tasche durchs Waggonfenster schleuderte und sich aufs Trittbrett schwang. Macmaster stellte sich vor, wie der halbe Bahnhof »Zurückbleiben« geschrien hätte, hätte er dies versucht.

Doch weil es sich um Tietjens handelte, galoppierte ein Bahnhofsvorsteher hinter ihm her, ihm die Waggontür zu öffnen und ihn mit einem sportlichen Grinsen zu verabschieden:

»Den haben Sie gut gefangen, Sir!«, denn man befand sich in einer Grafschaft, in der Cricket ganz groß geschrieben wurde.

»Wahrlich«, sagte Macmaster vor sich hin,

»Jedem bescheiden die Götter Los und Pflicht:

Manche gehn durchs Hauptportal. Manche tun es nicht!«

II

In Begleitung ihres französischen Kammermädchens, ihres Priesters und ihres schlecht beleumundeten jungen Freundes, einem Mr. Bayliss, verbrachte Mrs. Satterthwaite ihren Aufenthalt in Lobscheid, einem unbekannten und wenig besuchten Luftkurort in den tiefen Nadelwäldern des Taunus’. Mrs. Satterthwaite war eine Dame von äußerster Vornehmheit und vollendetem Gleichmut – die Geduld riss ihr wirklich nur, wenn jemand an ihrer Tafel und unter ihren Augen ihre berühmten roten Weintrauben verzehrte, ohne die Haut und alles was sonst dazugehörte mitzuessen. Vater Consett war in Lobscheid, um es sich in den drei Wochen seines Urlaubs von den Slums von Liverpool einfach wahnsinnig gut gehen zu lassen; Mr. Bayliss, mager wie ein Skelett und in eng anliegenden blauen Serge gekleidet, mit goldnem Haar und rosig angehaucht, war nicht nur durch seine Tuberkulose dem Tod nahe und absolut mittellos, sondern hatte daneben auch so kostspielige Vorlieben, dass er bereit war, sich stumm wie ein Stein zu verhalten, täglich große Mengen Milch zu trinken, und sich gut zu benehmen. Eigentlich war er nur mit von der Partie, um Mrs. Satterthwaites Briefe zu schreiben, doch ließ die Dame ihn nie in ihre privaten Gemächer vordringen, aus Furcht sich anzustecken. Er musste sich damit zufrieden geben, eine wachsende Bewunderung für Vater Consett zu nähren. Der Priester, mit seinem riesigen Mund, den hohen Wangenknochen, dem ungepflegten schwarzen Haar, einem breiten Gesicht, das immer etwas ungewaschen wirkte, und mit Händen, die nie richtig sauber schienen und mit denen er stets in der Luft herumfuchtelte, konnte nie auch nur einen Augenblick stillhalten und hatte einen Akzent, wie man ihn außerhalb aus der Mode gekommener englischer Romane über Irland selten zu hören bekommt. Sein unablässiges Gelächter klang wie das Geräusch, das ein dampfbetriebenes Karussell ausstößt. Er war, kurzum, ein Heiliger, und Mr. Bayliss wusste es, wenn auch nicht, was genau ihn dazu machte. Schließlich, und mit finanzieller Nachhilfe von Mrs. Satterthwaite, wurde Mr. Bayliss zu Vater Consetts Almosenspender, machte sich die Regeln des Heiligen Vinzenz von Paul zu eigen und verfasste eine Reihe sehr bewundernswerter, wenn auch überfrachteter religiöser Gedichte.

Sie bewährten sich also als glückliche, unschuldige Gemeinschaft. Mrs. Satterthwaite nämlich interessierte sich – es war das einzige Interesse, das sie hatte – für hübsche, dünne und junge Männer mit skandalösem Leumund. Dafür wartete sie gerne selbst vor Gefängnistoren auf sie oder ließ ihren Wagen dort vorfahren, um sie abholen zu lassen. Bei diesen Gelegenheiten pflegte sie deren gewöhnlich auffällige Garderobe zu erneuern und sie mit so viel Geld zu versorgen, dass sie sich ein ordentliches Vergnügen leisten konnten. Schlug dies, entgegen allen Erwartungen – aber öfter als man glauben sollte! – zum Guten an, zeigte sie sich in einer müden Weise erfreut. Manchmal schickte sie sie zusammen mit einem Priester, der einen Urlaub brauchte, an einen hübschen Ort; manchmal holte sie sie auf ihren Sitz im Westen Englands.

Sie fühlten sich wohl in ihrer Gemeinschaft und waren zufrieden. Lobscheid verfügte über ein leer stehendes Hotel mit großen Veranden sowie ein paar Bauernhäuser, weiß getüncht mit grauem Holzwerk, unter den Giebeln mit Sträußen blauer und gelber Blumen bemalt oder mit scharlachroten Jägern, die auf purpurne Hirsche schossen. Sie ähnelten bunten Pappschachteln, die man ins tiefe Gras eines Feldes gestellt hatte; dahinter begannen die Nadelwälder, die sich düster, braun und in geometrischer Regelmäßigkeit bergauf und bergab meilenweit über die Hügel erstreckten. Die Bauernmädchen trugen Kamisole aus schwarzem Samt, weiße Mieder, unzählige Unterröcke und einen verrückten bunten Kopfputz mit Kugeln, die in Aussehen und Größe Dampfnudeln glichen. In Reihen von vier bis sechs liefen sie nebeneinander umher, langsamen Schritts, und warfen dabei weißbestrumpfte Füße in Tanzschuhen vor sich in die Luft, wobei ihr Kopfputz feierlich nickte; junge Männer in blauen Blusen, Kniehosen und, an Sonntagen, mit einem Dreispitz auf dem Kopfe, liefen hinterdrein und sangen mehrstimmige Lieder.

Die französische Zofe – Mrs. Satterthwaite hatte sie sich von der Herzogin von Carbon Château-Herault im Austausch gegen ihre eigene ausgeliehen – war anfänglich geneigt, den Ort maussade zu finden. Doch im Zuge einer gewaltigen Liebesaffäre mit einem hübschen, groß gewachsenen blonden jungen Burschen, zu dem eine Büchse, ein goldbeschlagenes armlanges Jagdmesser, eine leichte graugrüne Uniform mit goldnen Abzeichen und Knöpfen gehörten, versöhnte sie sich mit ihrem Los. Als der junge Förster versuchte, sie zu erschießen – »et pour cause«, wie sie sagte –, war sie hingerissen und Mrs. Satterthwaite müde amüsiert.

Im großen, düsteren Speisesaal des Hotels saßen sie zusammen bei einer Partie Bridge: Mrs. Satterthwaite, Vater Consett, Mr. Bayliss. Ein junger blonder Unterleutnant von großer Unterwürfigkeit, der dort, zum letzten Mal, seine rechte Lunge und seine Karriere zu retten suchte, und der barttragende Kurarzt platzten herein. Vater Consett, schwer atmend und häufig auf seine Uhr schauend, spielte sehr schnell und rief aus: »Jetzt beeilt euch; es ist fast zwölf. Schaut mal zu, dass ihr euch beeilt.« Und da Mr. Bayliss Strohmann war, rief der Priester aus: »Drei, keine Trümpfe; ich bestimme den Trumpf. Sorgt mir für einen Whisky Soda, aber verwässert ihn mir nicht wie beim letzten Mal.« Er spielte sein Blatt mit außerordentlicher Schnelligkeit, warf seine letzten beiden Karten hin und rief: »Ach! Verflixt und zugenäht; ich bin zwei Punkte zurück und habe nicht einmal die Farbe bekannt«, stürzte seinen Whisky Soda hinunter, schaute auf die Uhr und rief: »Hab’s auf die Minute geschafft! Hier, Doktor, nehmen Sie mein Blatt und spielen Sie die Partie zu Ende.« Er musste am nächsten Tag für den örtlichen Priester die Messe übernehmen, und die Messe konnte man nur lesen, wenn man seit Mitternacht nüchtern geblieben war und nicht Karten gespielt hatte. Bridge war seine einzige Leidenschaft; zwei Wochen im Jahr konnte er ihr in seinem ermüdenden Leben frönen. Im Urlaub stand er um zehn Uhr auf. Um elf Uhr hieß es dann: »Die Karten für den Vater.« Von zwei bis vier gingen sie im Wald spazieren. Um fünf hieß es dann wieder: »Die Karten für den Vater.« Um neun hieß es: »Vater, kommen Sie denn nicht zum Bridge?« Worauf Vater Consett übers ganze Gesicht grinste und sagte: »Wie gut ihr es meint mit einem armen alten Hund. Es wird euch im Himmel vergolten werden.«

Die anderen vier spielten konzentriert weiter. Der Priester setzte sich so hinter Mrs. Satterthwaite, dass sein Kinn fast ihren Nacken berührte. Wenn er es nicht mehr aushalten konnte, packte er sie an den Schultern und rief: »Spielt die Königin, Frau!« und stieß ihr seinen Atem den Rücken hinunter. Wenn Mrs. Satterthwaite dann aber die Karo zwei spielte, warf sich der Priester zurück und stöhnte. Über die Schulter sagte sie zu ihm:

»Ich möchte heute Abend mit Ihnen sprechen, Vater«, machte den letzten Stich und strich siebzehn Mark fünfzig von dem Doktor und acht Mark von dem Unterleutnant ein. Der Doktor rief aus:

»You gan’t dake that immense sum from us and then ko off. Now we shall be ropped py Herr Payliss at gutt-throat!«

Wie eine Wolke aus schwarzer Seide glitt sie durch die Schatten des Speisesaals und ließ den Gewinn in ihr schwarzes Kosmetiktäschchen fallen. Der Priester begleitete sie. Draußen vor der Tür, unter dem Geweih eines königlichen Hirsches, im Dunst von Paraffin-Lampen und Holzpolitur, sagte sie:

»Kommen Sie bitte auf mein Zimmer. Die Verlorene Tochter ist zurück. Sylvia ist hier.«

Der Vater sagte:

»Es war mir doch, als hätte ich sie kurz von der Seite gesehen im Bus nach dem Dinner. Sie wird zu ihrem Gatten zurückkehren. Was für eine arme Welt.«

»Sie ist ein boshafter Teufel!«, sagte Mrs. Satterthwaite.

»Ich kenne sie, seit sie neun war«, sagte Vater Consett, »und ich habe nur wenig an ihr entdeckt, was ich meinen Schäfchen zur Nachahmung hätte empfehlen können.« Und fügte hinzu: »Aber vielleicht hat mich der Schock ungerecht werden lassen.«

Langsam stiegen sie die Treppe empor.

Mrs. Satterthwaite setzte sich auf den Rand eines Rohrstuhls. Sie sagte:

»Also gut!«

Sie trug einen schwarzen Hut von der Größe eines Wagenrades und ihre Kleider wirkten immer so, als bestünden sie aus vielen quadratischen Stücken Seide, die man ihr einfach übergeworfen hatte. Da sie der Meinung war, ihr Teint, der von einem matten Weiß war, habe sich nach zwanzig Jahren Make-up leicht ins Violette verfärbt, trug sie, wenn sie kein Make-up aufgelegt hatte – was in Lobscheid immer der Fall war –, an mehreren Stellen in ihren Gewändern Stücke braunroter Bänder, sowohl, um dem Violett ihres Teints etwas entgegenzusetzen, als auch um zu zeigen, dass sie nicht Trauer trug. Sie war sehr groß und außerordentlich hager; der Ausdruck ihrer dunklen Augen, unter denen daumengroße dunkelbraune Flecken hingen, war abwechselnd sehr müde oder sehr gleichgültig.

Die Hände auf dem Rücken und mit gesenktem Kopf lief Vater Consett auf den nicht sehr gut gebohnerten Dielen auf und ab. Es gab zwei Kerzen, die ein trübes Licht verbreiteten und in imitierten nouvel art-Leuchtern aus Zinn standen,