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Männer unerwünscht - Die drei Erfolgsromane im Sammelband. Leserstimmen: "…von der Liebe und den Tücken des Alltags…" "Total lustig und herzerwärmend!" "Doris Sack ist genial. Doris Sack ist Kult." Doris schlittert von einer Katastrophe in die nächste. Um zumindest ihr Privatleben in den Griff zu kriegen, zieht sie in eine männerverachtende Frauen-Wohngemeinschaft auf dem Lande. Doch kaum hat sie den "Männer-unerwünscht-Schwur" geleistet, durchkreuzen Landwirt Björn und der amüsante Arzt Holger ihre Pläne. Obendrein muss sie einen heißblütigen Italiener beherbergen, ihr Chef droht mit Kündigung und ihre konservative Mutter taucht in der Wohngemeinschaft auf. Als sich ein fast vergessener Freund zurückmeldet, ist das Chaos perfekt – und Doris muss sich entscheiden…
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Seitenzahl: 1274
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Die drei Erfolgsromane im Sammelband
Männer unerwünscht
Lass beim Sex die Socken an
Schnittenfänger
Die Trilogie - 3 Bände in einem - Köstlicher Lesespaß nonstop
Leserstimmen:
„…von der Liebe und den Tücken des Alltags…“
„…Total lustig und herzerwärmend!“
„Doris Sack ist genial. Doris Sack ist Kult.“ (Leserstimmen)
Copyright © 2013 © 2023 Karin Köster
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Marcus Friedeberg
Lektorat: Rebekka Bolzek, Claus A. Hock
www.karin-koester.de
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1
Während eines ausgedehnten Frühstücks fiel mir die Anzeige auf. Winzig klein, beinah hätte ich sie übersehen – und doch … diese drei unscheinbaren Zeilen sollten mein Leben komplett umkrempeln.
Ich las die Samstagszeitung immer gern von hinten nach vorne und dann noch mal von vorne nach hinten durch. Nach den Sonderangeboten des Reformhauses und des örtlichen Supermarktes erfuhr ich, dass der Sanitär- und Heizungsinstallationsbetrieb Hansen sein 50-jähriges Betriebsjubiläum feierte. Die Angehörigen der Firma waren allesamt abgebildet. Vom Seniorchef über den Junior im flotten Blaumann bis hin zum kompetent aussehenden Gesellen.
Ein hoch aufgeschossener Jüngling mit hervorspringendem Adamsapfel blickte mit großen Augen in die Kamera. Es handelte sich bei ihm vermutlich um den Auszubildenden. Seine Latzhose hatte Hochwasser und gab den Blick auf die Arbeitsschuhe frei.
Eine dralle Bäuerin züchtete im eigenen Stall Wildschweine, der hiesige gemischte Chor hatte Nachwuchsprobleme zu beklagen und das Schwimmbad bedurfte dringend einer Sanierung.
Ich freute mich an der Abbildung eines übergewichtigen Herrn mit Vollbart, der übers ganze Gesicht strahlte. Neben ihm stand ein etwa halb so schweres Männlein, das korrekt in Anzug und Schlips gekleidet war. Der Text unter dem Bild klärte mich auf: Eduard Butt hatte im Gewinnsparen der Städtischen Sparkasse überraschend abgeräumt. Leider ließ der Bericht offen, ob Eduard sein Geld sinnvoll anlegen oder es einfach verprassen würde.
Es folgten die Kleinanzeigen. Hier fand ich jede Rubrik gleichermaßen interessant – bis auf den Kraftfahrzeugmarkt, denn ich hatte keinen Führerschein. Der Flohmarktteil mit seiner bunt gemischten Angebotspalette für jedermann, die Stellenangebote, wo sich für mich als Schuhverkäuferin nicht allzu viele berufliche Veränderungsmöglichkeiten auftaten, oder meine Lieblingsrubrik, die Bekanntschaftsanzeigen.
Es erstaunte mich immer wieder, wie viele gut aussehende, gut situierte, sportliche, tolerante und liebenswerte Menschen kürzlich schwer enttäuscht worden waren, und trotzdem den Mumm aufbrachten, im Meer der einsamen Herzen nach der nächsten „Liebe fürs Leben“ zu fischen.
Ich hatte mich bisher erst ein einziges Mal auf eine Kontaktanzeige gemeldet. Und das auch nur, weil meine Mutter mir tagelang in den Ohren gelegen hatte.
„Hier Doris, der Dippeling, der wär was für dich! Lies doch mal!“ Sie wies auf besagte Annonce.
„Einsam? - Das muss nicht sein! Dipl.-Ing., 30, vielseitig interessiert, sucht schlanke, aufgeschlossene Sie mit Niveau.“ Ich fand den Text total bescheuert und würde niemals auf eine Kontaktanzeige antworten, erklärte ich meiner Mutter energisch.
Man muss sich so entblößen bei solchen Sachen: Name und Adresse oder zumindest Telefonnummer, dann Interessen, Beruf oder ähnlich Persönliches angeben und schließlich noch ein Foto beilegen, damit der Inserent gleich eine Vorab-Sondierung der Bewerberinnen vornehmen kann. Ich stellte mir den Kennenlern-Prozess ein klein wenig romantischer vor, doch wahrscheinlich hatte ich diesbezüglich eine altmodische Einstellung.
Mama wischte meine Einwände mit einer unwirschen Handbewegung beiseite und lamentierte: „Kind, du bist jetzt fünfundzwanzig Jahre alt.“ Als ob ich das nicht selbst wüsste.
„Und du hast keinen Freund.“ Momentan nicht, nein.
„Geschweige denn einen Kandidaten, der dich heiraten würde.“ Ihr dramatischer Tonfall ließ vermuten, dass besagter Kandidat, wenn es ihn denn gäbe, eine äußerst bedauernswerte Person sein müsste, die sich wider besseres Wissen eine Last wie mich aufbürdete.
„Das Glück klingelt nicht an der Haustür. Man muss schon etwas dafür tun“, belehrte sie mich und hielt mir erneut die Anzeige unter die Nase. Um des lieben Friedens willen las ich mir die Zeilen noch dreimal durch, doch ich fand den Text nach wie vor nichtssagend und den Einsam-Spruch total daneben. Dipl.-Ing. - na großartig. Der hatte es ja echt zu was gebracht. Im Gegensatz zu meiner Mutter imponierten mir akademische Grade kein bisschen.
Hinter den „vielseitigen Interessen“ konnte alles Mögliche stecken. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass Männer sich für unvorstellbare, nicht aber für wirklich spannende oder wichtige Dinge interessierten.
Mutter deutete meine gerunzelte Stirn völlig falsch und raste los, Stift und Papier zu besorgen. Sekunden später saß sie erwartungsvoll auf dem Küchenstuhl, einen Block auf den Knien und bereit fürs Diktat.
„Ich will nicht, Mama.“ Schon wollte sie mir ins Wort fallen, ihr scharf eingezogener Atem war der Vorbote.
„Die … die Sache mit Jens ist einfach noch zu … zu frisch“, stammelte ich in der Hoffnung, sie würde Mitleid mit mir und meinem gebrochenen Herzen haben. Falsch gehofft.
„Unsinn, Doris! Deine nichts sagende Affäre mit diesem unreifen Taugenichts liegt schon drei Wochen zurück. Du solltest heilfroh sein, dass du ihn los bist. Der wäre kein guter Vater für deine Kinder.“
Nichts sagende Affäre – das war gut. Bevor er kürzlich von der Bildfläche verschwand, hatte Jens immerhin zwei Jahre lang regelmäßig Bett und Frühstückstisch mit mir geteilt. So was hinterlässt seine Spuren. Von welchen Kindern sprach Mama? Wollte sie außer Schwieger- auch Großmutter werden?
Ich schaffte es drei Tage lang, mich zu weigern. Am vierten hatte sie mich weich gekocht. Willenlos ließ ich sie in meinem Namen einen Antworttext (den hatte sie schon längst im Kopf vorformuliert) an die angegebene Chiffrenummer abschicken und hatte endlich meine Ruhe. Bis am übernächsten Abend das Telefon klingelte und sich eine Männerstimme meldete.
„Einen wunderschönen guten Abend, junge Frau, hier ist der große Unbekannte! Har-har-har!“ Ich ahnte schon: Das kann nur der Typ aus der Zeitung sein. Er hatte eine tiefe Stimme, und sein Lachen klang, als würde man einen Mülltonnendeckel in sehr kurzen Abständen mit voller Wucht zuknallen. Seine Begrüßung passte zu seinem bekloppten Anzeigentext. Sei nicht unfair, Doris!, schalt ich mich und bemühte mich um ein freundliches „N’ Abend.“
Mama kam mit einem Riesensatz aus dem letzten Winkel der Wohnung angehechtet und drückte keuchend ihr Ohr neben meines an den Telefonhörer.
„Er ist es, nicht wahr?“ wisperte sie aufgeregt, was der Gesprächsteilnehmer natürlich hören musste, schließlich befand sich ihr Mund ebenso dicht an der Muschel wie meiner.
„Na los, mach schon, sag was Nettes!“
„Also … ich …“, begann ich lahm und wünschte mich weit weg. Meine Mutter stieß ihren knochigen Ellenbogen in meine Rippen.
„Aua!“ schimpfte ich.
„Haben Sie sich wehgetan?“, kam es besorgt vom anderen Ende.
„Also … ich … äh …“ Ich wusste beim besten Willen nicht, worüber ich mich mit einem wildfremden Mann unterhalten sollte, von dem ich nichts wusste, außer dass er eine schlanke Frau aus deren Einsamkeit befreien wollte. Ich stöhnte. Mutter rang die Hände.
„Wie bitte?“
Jetzt war’s mir zu blöd. Ich drückte Mama den Hörer in die Hand und überließ ihr das Feld. Sie hatte den Antwortbrief geschrieben, also konnte sie auch die Verhandlung führen. Ich hörte sie „Kind!“ rufen, als ich die Wohnungstür hinter mir zuzog.
Als ich Stunden später zurückkehrte, spielte Mama die Eingeschnappte. Sie hielt diese für mich erholsame, für sie jedoch sehr anstrengende Strategie nicht lange durch.
„Morgen Abend, achtzehn Uhr. Vor der Ratsschänke. Er trägt ein rot kariertes Sakko, ein weißes Hemd mit Fliege, eine schwarze Hose und eine Baskenmütze“, platzte es aus ihr heraus.
Jenen Abend verbrachten wir im Rausch: Mutter wiederholte ein dutzend Mal ihr anregendes Gespräch mit dem „Kandidaten“ Rainer, dem sie meine plötzliche Abwesenheit mit akuten Zahnschmerzen erklärt hatte. Ich hingegen gab mich dem Frust hin, der mich immer überkam, wenn meine Mutter zu Besuch bei mir weilte, und goss mir einen hinter die Binde.
Der darauffolgende Abend mit Rainer hätte grauenhafter nicht sein können. Rainer war ein durchschnittlich aussehender Dreißiger, der mich, noch während wir uns zur Begrüßung die Hände schüttelten, aufklärte, er habe heute in seinem Arbeitsvertrag nachgelesen, dass … Was genau in jenem Vertrag geschrieben stand, erfuhr ich auf dem Weg zu den Sitzplätzen innerhalb der Kneipe, wohin ich ihn zerrte, damit wir uns bloß nicht länger auf der Straße aufhielten. Ich vermutete, dass meine Mutter irgendwo Posten bezogen hatte, um das Geschehen zu beobachten.
Rainer unterhielt sich blendend. Er lief zu voller Form auf, als ich ein paarmal „Mhhm“, „Aha“ und „So so“ gemurmelt hatte, während er mir den harten Arbeitsalltag im Systemanlagenbau (was immer das sein mochte) in seiner ganzen Pracht und Fülle schilderte. Ich kippte sieben Bier, rauchte ungefähr hundert Zigaretten und langweilte mich zu Tode. Als Rainer endlich eine Atempause einlegte, stand ich auf, gähnte herzhaft und schickte mich zum Gehen an. Rainer sah auf seine Armbanduhr.
„Fast drei Stunden haben wir hier beisammen gesessen! Tja, wenn man sich gut unterhält, vergeht die Zeit wie im Fluge. Also Doris, war nett, dich kennengelernt zu haben. Ich rufe dich bald an. Vielleicht gehen wir das nächste Mal spazieren oder tanzen oder wir essen einen Happen, was?“
Ich musste herzhaft rülpsen von dem vielen Bier, presste die Lippen aber höflicherweise fest aufeinander. Uuupps. Rainer wertete das als Zustimmung, klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und entließ mich mit einem lockeren „Ciao!“
Wie betäubt stand ich auf dem Bürgersteig. War nett, mich kennengelernt zu haben! Rainer wusste außer meinem Namen nur, dass ich nicken, „Mhhm“ sagen und saufen konnte. Auf dem Heimweg fing mich Mutter ab. Hatte ich doch gewusst, dass sie irgendwo lauerte. Sie sang wahre Lobeshymnen auf diesen gut aussehenden, gebildeten Mann, und ich ließ sie singen. Nur noch zwei Tage! jubelte ich innerlich.
Rainer rief drei Tage später an, und da war Mutter glücklicherweise wieder abgereist. Tags zuvor hatte ich ihr lieb am Bahnhof nachgewinkt und anschließend eine Solofete gefeiert.
„Wie wär’s, wollen wir es uns heute mal gut gehen lassen? In einem Lokal was Leckeres essen?“
Lecker essen gerne, dafür bin ich jederzeit zu haben. Aber nicht mit einem Alleinunterhalter an meiner Seite, der mir bestenfalls ein Gähnen zu entlocken vermag. Nein, vielen Dank.
„Nö“, antwortete ich einsilbig und ballerte den Hörer auf die Gabel. Sollte er von mir denken, was er wollte. Rainer probierte sein Glück in den folgenden Tagen noch drei-, viermal, dann gab er auf.
Seit jenem Intermezzo hatte ich von „blind dates“ die Nase gestrichen voll. Trotzdem war ich nach wie vor eine eifrige Leserin der Bekanntschaftsanzeigen. Zu gerne spielte ich „Paarungen“ mit den einzelnen Inserenten. Bei diesem, meiner Phantasie entsprungenen Spiel galt es, möglichst viele sich deckende Angaben zu finden und so einem Weiblein ein passendes Männlein zuzuordnen. Ich konnte, je nach Anzeigenfülle, Stunden mit diesem Spielchen zubringen. Leider musste ich mich an diesem Samstag auf eine andere Rubrik konzentrieren: die Wohnungsvermietungen.
Seit vier Jahren lebte ich mehr oder minder zufrieden in einem Ein-Zimmer-Appartement eines Zwölf-Parteien-Hauses in der Stadtmitte. Sämtliche Einkaufsmöglichkeiten befanden sich in greifbarer Nähe, zum Friseur brauchte ich nur ein paar Gehminuten und der Bus, der mich morgens zum Schuhladen kutschierte und abends wieder heimbrachte, hielt unter meinem Fenster. Praktischer ging es wahrhaftig nicht.
Als mir mein Vermieter Herr Röhrig kürzlich mit betrübter Stimme kündigte, weil seine Tochter sich von ihrem Mann trennen wollte, (der nebenbei gesagt ein Schwein war, weil er sie dauernd betrogen und es ihr nie erzählt hatte) und er nun seinem Töchterchen aus der Patsche helfen wollte, indem er ihr wenigstens ein Dach über dem Kopf bot, tat mir der arme Mann wirklich leid. Hatte er seine Evi doch gut versorgt geglaubt, zumal deren Gatte leitender Angestellter einer Handelskette für Duschwände war.
Dieses Ungeheuer von einem Ehemann hatte nicht nur die unzähligen Frauen, die er in seiner unbezähmbaren Gier vernascht hatte, auf dem Gewissen, nein: Außer der armen Evi geriet auch ich durch ihn in eine Notlage. Zu Zeiten absoluten Wohnungsmangels sollte ich so mir nichts dir nichts eine neue Bleibe finden.
Mein Vermieter hätte mir die Dringlichkeit der Lage nicht extra noch zu verdeutlichen brauchen, ich verstand: Lieber gestern als heute sollte ich ausziehen, denn Evi war dem Nervenzusammenbruch nahe. Musste sie doch noch bis zu meinem Auszug Tisch und Bett mit diesem Scheusal teilen. Warum Evi unbedingt mein Appartement und nicht eine von Herrn Röhrigs ungezählten anderen Wohnungen beziehen wollte, war mir nicht ganz klar, aber ich mochte den vom Schicksal gebeutelten Mann nicht danach fragen. Eines war sicher: Ich musste ausziehen, und zwar so schnell wie möglich.
Die Anzeigen für zu vermietende Wohnungen verrieten mir, was ich schon geahnt hatte: Die Mieten waren unverschämt hoch. Obendrein verlangten die Vermieter drei Monatsmieten Kaution. Für mich völlig indiskutabel, mein Konto gab nach dem überstürzten, wenn auch nicht bereuten Kauf des drei Meter breiten, voll verspiegelten Schiebetürenkleiderschranks rein gar nichts mehr her und hatte eine längere Verschnaufpause dringend nötig. In Sachen Geldausgeben war ich hin und wieder recht spontan. Sonst wäre ich auch nie zu diesem Schmuckstück von einem Schrank gekommen.
Mit dem Vorsatz, einen einfachen Kleiderschrank Marke „Sieht aus wie Echtholz“ mit zwei Klapptüren und Stange zu erstehen, hatte ich das „Ruck-Zuck-Nimm’s-Mit-Möbelhaus“ betreten.
Das Modell, das ich zu dem Zeitpunkt in meiner Wohnung beherbergte, stammte noch aus meinem Kinderzimmer. Lange bevor es in meinen Besitz übergegangen war, hatte meine Patentante Sophie darin ihre Wäschestücke verwahrt. Das gute Stück ließ sich jetzt leider nicht mehr gefahrlos öffnen oder schließen, weil die Scharniere völlig fertig waren. Sie hatten sich zusammen mit den Pressplattenseiten, an denen sie befestigt waren, vereinigt und große Löcher in die Seitenteile gerissen. Es half nichts, was blieb, war der Gang zum Abdecker.
Das alte Ding tat mir leid, als es einsam am Straßenrand stand und auf die Müllmänner wartete, die sich für den kommenden Tag angesagt hatten. Doch am nächsten Morgen sah ich, dass Nachbarn und Passanten ebenfalls die Chance der kostenlosen Entsorgung genutzt hatten, und bergeweise Plastiksäcke, Kartons, Fahrrad- und Autoteile sowie sämtlichen denkbaren Unrat neben meinen Schrank geschmissen hatten, so dass dieser nicht mehr allein der Abfuhr harren musste.
Doch zurück zu meinem neuen Stück. Ich betrat also besagtes Möbelhaus und steuerte zielstrebig auf die Billigschränke am hinteren Ende des Ganges zu, als mir dieses Prachtstück den Weg versperrte. Er war dreimal so breit wie mein alter und statt kackbraun glänzend-pechschwarz. Und dann diese verspiegelte Front: Einfach Wahnsinn! Endlich konnte ich mich in voller Größe bewundern, statt mich mit der Ansicht meines Gesichts im Alibert-Badezimmerschrank und der ab Kniehöhe im Spiegel des Schuhladens zufrieden geben zu müssen.
Auf der mittleren Spiegeltür prangte ein großes Schild mit der Aufschrift SONDERANGEBOT und darunter der ehemalige Preis, energisch dick durchgestrichen. Der Ruck-Zuck-Nimm’s-Mit-Preis betrug knappe fünfhundert Euro weniger. Na, wenn das keine Gelegenheit war!
Ich glaubte manchmal an Vorsehung oder Schicksal oder wie immer man das nennen will; bei diesem Schrank war es jedenfalls eindeutig so ein Fall. Deshalb pfiff ich auch gleich einen dieser Verkäufer heran, die immer so dezent im Hintergrund herumlungern und strahlend ihren Auftragsblock zücken, wenn man sie anspricht. Ruck-zuck hatte der zuvorkommende Mann denn auch die nötigen Fakten eingetragen, und ich brauchte nur noch zu unterschreiben. So einfach ging das.
Energisch riss er die Preisschilder von den Schranktüren, wobei mir der winzige Hinweis Auslaufmodell – mit kleinen Schönheitsfehlern auffiel.
„Wollen Sie ihn sofort mitnehmen?“ fragte er mich mit Blick auf die zwei Monteure, die mit Schraubenziehern bewaffnet bereits in den Startlöchern standen. Welch kundenfreundlicher Service! Plötzlich wurde mir bewusst, wie spontan ich da wieder gehandelt hatte. Ich besaß weder ein Fahrzeug, um dieses Monstrum zu transportieren, noch kannte ich jemanden, der mir bei der Beförderung behilflich sein würde, und bei dem Gedanken, die auseinander geschraubten Einzelteile wieder zusammen zu puzzeln, wurde mir noch mulmiger.
Außerdem hatte ich entschieden zu wenig Geld dabei; war ich doch von einem wesentlich primitiveren Modell ausgegangen. Kleinlaut schilderte ich dem Möbelfachmann meine Probleme, doch das freundliche Lächeln verschwand nicht einen Augenblick von seinem Gesicht. Ich war dankbar dafür, hätte er doch wegen meiner überstürzten Handlung durchaus Grund gehabt, etwas verärgert zu sein.
Aber ganz im Gegenteil: beim Stichwort „Transport“ grinste er breit und riet mir, den Schrank einfach durch das fachkundige Personal des Möbelhauses in die Wohnung liefern zu lassen. Ich unterschrieb schnell unter „Aufpreis für Auslieferung und Montage“ und war froh, damit wenigstens diese Schwierigkeiten aus der Welt geschafft zu haben.
Der kluge Mann hatte auch für meine finanzielle Not eine Lösung. Als er herausfand, dass ich mangels Masse niemals per EC-Karte bezahlte und deshalb die bargeldlose Variante nicht in Frage kam, schlug er Folgendes vor: Während die Mechaniker meinen Schrank zerlegten, sollte ich zu meiner Sparkasse flitzen und das fehlende Kleingeld besorgen. Für den Fall, dass sich die Sparkassenangestellten aus irgendeinem unerfindlichen Grund querstellten und einer Kontoüberziehung nicht zustimmten, würde die Hausbank dieses großartigen Möbelladens einspringen und mir das Geld pumpen. Zum günstigen Zins, versteht sich.
Ich tat wie mir geheißen, setzte mich in den nächsten Bus und steuerte mein Kreditinstitut an. Wundersamerweise war ich auch hier König, und man händigte mir umgehend einen Stapel Scheine aus.
Zurück im Möbelhaus stand von meinem Schrank nur noch das Gerippe. Ein wenig bangte ich um ihn, als ich die Handwerker die Einzelteile rüde aufeinander stapeln sah.
„Mit kleinen Fehlern, ha, ha“, lachten sie schedderig, unterließen es aber, als ich in ihr Blickfeld geriet.
Der Verkäufer begrüßte mich wie eine alte Freundin und händigte mir den Durchschlag des Vertrags aus. Die Monteure waren Männer der Tat, denn sie trugen bereits die Einzelteile schnaufend an mir vorbei hinaus zum Möbelwagen. Ich eilte hinter ihnen her in der Hoffnung, dass durch meine Anwesenheit das Verladen etwas vorsichtiger als die Demontage vonstattengehen würde. Am Möbelwagen lehnend schaute ich den beiden Experten auf die Finger, was sich diese nicht lange gefallen ließen.
„Sie stehn hier inner Be- und Entladezone, und das iss’n Gefahrenbereich“, klärte mich der eine auf, während er gleichzeitig eine Handbewegung machte, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen. Mir lag eine spitze Bemerkung auf der Zunge, aber ich wollte es mir nicht mit den beiden verscherzen. Sie hätten das meinen Schrank sicher spüren lassen. Deshalb hielt ich den Mund und setzte mich schon mal ins Führerhaus des Lieferwagens, während hinter mir das Fachpersonal die letzten Einzelteile des Auslaufmodells auf die Ladefläche schmiss. Nett von dem Möbelverkäufer, die Auslieferung so zu organisieren, dass Schrank und ich gemeinsam daheim ankamen.
Aufatmend warfen sich die Männer in die Polster ihrer Sitze, wobei ich zwischen ihnen ziemlich eingeengt wurde. Sobald die Türen geschlossen waren, konnte ich kaum noch atmen. Ihre Hemden wiesen kreisförmige Schweißränder unter den Achseln auf, und dementsprechend war der Geruch. Dieser schwächte sich erst während der Fahrt ab, als sich der Fahrer eine Zigarette ansteckte und der andere sein in Butterbrotpapier verpacktes Leberwurstbrötchen auswickelte. Die Wärme dieses Tages hatte dem Brötchen zugesetzt, aber das schien meinen Nachbarn nicht zu stören. Der Feinschmecker genießt und schweigt.
Nicht so der Fahrer. Zwischen den Zügen an seiner Zigarette sprudelte er über vor Mitteilungsdrang. Dieser erschöpfte sich im Erzählen von Witzen, die sich ausschließlich auf den Bereich unterhalb der Gürtellinie bezogen. Vor jedem Witz kam ein einleitendes „Kennste den schon?“ und noch bevor ich antworten konnte, legte er los. Sein Kollege bog sich vor Lachen, wobei dann und wann kleine Brötchen-Leberwurst-Partikel an die Frontscheibe flogen.
Ich wollte die gute Stimmung im Führerhaus nicht verderben und verzog hin und wieder die Lippen zu einem Grinsen. Dass man, wenn eine Frau zum Arzt geht, vor Lachen nicht mehr aus noch ein weiß, konnte ich nicht nachvollziehen, doch vielleicht hatten die beiden einfach mehr Humor als ich.
Angst bekam ich jedoch, als der Fahrer vor lauter Lachen eine rote Ampel übersah und damit eine ältere Dame, die gerade die Straße überquerte, in arge Bedrängnis brachte. Und das nur, weil in dem Witz die Frau, die zum Arzt ging, zu allem Überfluss auch noch schwanger war.
Endlich hielten wir vor meinem Haus, und ich stürzte aus dem Wagen.
„Welch’n Stock?“ fragte mich der Witzbold, während er mit der einen Hand die Tür des Laderaums öffnete und sich mit dem Handrücken der anderen die letzte Lachträne wegwischte.
„Vierter“, antwortete ich, und sofort verschwand der heitere Ausdruck auf den Gesichtern der Möbelpacker. Mürrisch schulterten sie den drei Meter langen Schrankboden und bugsierten ihn durch die geöffnete Eingangstür.
Ächzend schlurften sie die Treppe hinauf, und ich, die ich hinter dem stemmenden zweiten Mann hertapste, litt mit jedem Ritsch, den das Holz an der rauen, verputzten Wand entlang schleifte, mit. Endlich war der erste Mann an meiner Wohnungstür angelangt. Diese war natürlich verschlossen und mein Schlüssel und ich gute drei Meter entfernt. Der zweite Träger und das sperrige Schrankteil machten ein Durchkommen in dem engen Treppenaufgang unmöglich.
„Sehr clever“, stöhnte der erste Mann.
„Und nu?“ japste der zweite.
Blieb nur eines: Mich eng an dem zweiten Mann vorbeidrückend, krabbelte ich auf allen Vieren unter dem Schrankboden her, den die beiden immer noch in ihren starken Händen hielten, tauchte dann dicht neben Mann Nr. 1 auf und öffnete schnell die Tür meines Wohn-Schlafraums.
In dem Moment, als ich die Klinke in der Hand hielt, fiel es mir siedend heiß ein: Ich hatte nicht aufgeräumt. Seit Tagen nicht. Die Bude sah aus wie nach einem Luftangriff. Hastig griff ich nach den verstreuten Klamotten und warf sie in eine Ecke auf den Haufen, der sich dort nach dem Zusammenbruch des alten Schranks angesiedelt hatte.
„Wohin damit? Wir kriegen schon lahme Arme“, maulte der Leberwurstfan ungnädig.
Ich deutete auf die jetzt leere Wand, die kaum länger als drei Meter war und die mein Prachtstück in Kürze voll ausfüllen würde. Die Männer setzten das Schrankunterteil ab und richteten sich stöhnend auf. Erneut wischten sie sich mit den Hemdsärmeln den Schweiß von der Stirn.
Ich rang mit mir, ob ich ihnen etwas zu trinken anbieten sollte, doch ich wollte die beiden nicht länger als unbedingt notwendig beherbergen.
Nach einer kleinen Verschnaufpause zogen sie wieder ab Richtung Möbelwagen, um die nächsten Teile raufzuschleppen. Ich hingegen setzte mich, bewunderte den leicht verschrammten Schrankboden und beglückwünschte mich zu meiner Neuerrungenschaft.
Wegen des Glückskaufs war ich logischerweise nicht imstande, die von den Vermietern als Sicherheit verlangten drei Kaltmieten zu hinterlegen. Somit fielen die meisten für mich in Frage kommenden Wohnungen schon mal flach.
Die anderen Angebote, bei denen von einer Kaution nicht die Rede war, kamen leider auch nicht in Betracht. Hier wurde entweder ein gut situiertes, ruhiges Ehepaar, eine alleinstehende ältere Dame, ein handwerklich versierter Herr oder ein netter Student gesucht. Erst beim Weiterblättern fiel mir die kleine Anzeige unten rechts in der Ecke auf: Mitbewohnerin in Frauen-Wohngemeinschaft ab sofort gesucht.
Hatte ich einen Moment bei „Wohngemeinschaft“ gezögert, war ich ob des „ab sofort“ begeistert. Das würde Herrn Röhrigs Miene wieder erhellen und Evi in einen wahren Freudentaumel versetzen! Ich räumte das Frühstücksgeschirr vom Tisch, griff zum Telefon und wählte die angegebene Nummer.
Es klingelte und klingelte, und ich wollte gerade wieder auflegen, als der Hörer endlich doch noch abgenommen wurde.
„Ritaaaaaa …?“ fragte jemand emotionslos.
Ratlos zögerte ich einen Moment. Dann wurde mir die Situation jedoch klar: Ich hatte so was selbst auch schon erlebt. Kurz bevor das Telefon klingelte, hatte ich an meine Mutter gedacht, die in Süddeutschland lebte und mit der ich von zwei bis drei unvermeidlichen Stippvisiten im Jahr abgesehen, ausschließlich telefonisch kommunizierte. In dem festen Glauben, dass es sich bei dem Anrufer nur um meine Mutter handeln konnte (habe ich schon erwähnt, dass mich meine Intuition fast nie trügt?), meldete ich mich fröhlich mit „Mama?“ Doch statt meiner Mutter war mein übellauniger Chef dran und der fand das gar nicht lustig.
Überzeugt, dass es sich hier um eine ähnliche Situation handeln musste, antwortete ich mit glockenheller Stimme:
„Hallo, hier ist nicht Rita. Mein Name ist Sack. Doris Sack“, fügte ich schleunigst hinzu, da ich aus Erfahrung wusste, dass mein Nachname manchmal Verwirrung, wenn nicht gar Bestürzung auslöste.
Ich hatte mir schon mehrmals ernsthaft vorgenommen, mich um eine Namensänderung zu bemühen, beispielsweise von Sack in Zack, was sich wirklich flott anhören würde. Doris Zack, die ist auf Zack! Als ich meiner Mutter von dieser Idee berichtete, war sie zutiefst beleidigt. Sie lebte schließlich schon seit fünfunddreißig Jahren mit diesem Namen, und mein armer Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er von seiner undankbaren Tochter wüsste. Aus Rücksicht auf meine Familie hatte ich deshalb von diesem Vorhaben Abstand genommen.
Ich gab meiner Gesprächspartnerin Gelegenheit, das Missverständnis aufzuklären. Ein gekichertes „Ach, ich dachte du wärst Rita“ oder etwas in der Art. Stattdessen entstand eine lange Pause, während derer ich auf eine Antwort wartete. Dann, als ich dem Gespräch schon mit einem netten „Hallo?“ auf die Sprünge helfen wollte, erklang endlich wieder die Stimme an meinem Ohr. Genauso gelangweilt-gedehnt wie zuvor, und obendrein mit einem genervten Unterton.
„Hier ist Rita. Was gibt’s?“
„Oh - hier spricht Doris Sack“, stammelte ich. Mann, war das schwierig!
Endlich konnte ich Rita über den Grund meines Anrufs aufklären. Ich hatte angenommen, dass sie durch die Aussicht auf eine neue Mitbewohnerin nun etwas mehr aus sich herauskäme, aber Fehlanzeige. Sie gab mir eine knappe Wegbeschreibung nach Kuhstedt durch, einem Dorf, von dem ich noch nie gehört hatte, und das sich ungefähr zwanzig Kilometer von der Stadtmitte entfernt befinden sollte. Dann legte sie grußlos auf.
Ratlos hielt ich den Hörer in der Hand und lauschte dem anhaltenden Piepton. Schließlich legte auch ich auf. Energisch ignorierte ich den Anfall von Mutlosigkeit, nahm meinen alten Heimatfaltplan zur Hand und breitete ihn auf dem Fußboden aus. Dann bemühte ich mich, Ritas Wegbeschreibung nachzuvollziehen.
Ich kannte mich im Landkreis so gut wie überhaupt nicht aus, denn ich hatte die gesamten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens in der Stadt verbracht. Zuerst bei Muttern in der Hökerstraße, kurzzeitig unterbrochen von einem gescheiterten Versuch, mich auch räumlich mit dem männlichen Geschlecht zu vereinen. Als Mama nach Bayern auswanderte, war ich in die kleine Wohnung in der Industriestraße gezogen.
Nach langem Suchen fand ich schließlich den gesuchten Ort auf der Karte. Der Name Kuhstedt war so klein gedruckt, dass ich ihn wohl ein paar Mal übersehen hatte.
Eine Frauen-Wohngemeinschaft weit draußen auf dem Lande...Widersprüchliche Gefühle tobten in mir. Ritas gelangweilte Stimme aus meinem Gedächtnis vertreibend, war ich sehr neugierig auf die anderen Mitbewohnerinnen. Welch völlig neue Erfahrung würde es für mich sein, mit gleich gesinnten Frauen unter einem Dach zu wohnen!
Bilder von gemeinsamen Mahlzeiten am blank gescheuerten Massivholz-Küchentisch und beschaulichen Abenden mit einem Becher Tee vor dem knisternden Ofen tauchten vor meinem inneren Auge auf. Meine Genossinnen und ich würden anregende Gespräche führen, die mir ganz neue Sichtweisen eröffneten. Wir würden gemeinsam durch dick und dünn gehen.
Das größte Problem bei diesem Vorhaben war die Entfernung. Ich hatte keine Ahnung, wie sich Landbewohner ins Stadtinnere bewegten, doch ich ging davon aus, dass ein Großteil von ihnen im Besitz eines Autos war. Der Rest wurde entweder mitgenommen oder musste auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen. Na klar! Warum war ich nicht gleich darauf gekommen? Sicher gab’s nach Kuhstedt eine Busverbindung, denn Kuhstedter ohne Auto oder Mitfahrgelegenheit mussten schließlich auch irgendwie in die Stadt gelangen.
Ich würde angesichts des längeren Anfahrtswegs früher aufstehen müssen, um pünktlich zum Arbeitsbeginn um 8 Uhr 30 beim Schuhladen zu sein, doch das musste ich in Kauf nehmen.
Ich malte mir aus, wie am frühen Morgen die Sonne in mein weit geöffnetes Fenster schien, der Duft von frischer Landluft mein Zimmer erfüllte und ich dem Krähen des Hahns lauschte, während ich mir verschlafen aber glücklich die letzten Spuren einer erholsamen Nachtruhe aus den Augen wischte.
Mit einem Satz würde ich aus meinem mit rotweiß-kariertem Leinen bezogenen Daunenbett springen und barfuß über den knarrenden Dielenfußboden ins angrenzende Bad laufen. Dort würde ich mich unter die eiskalte Dusche stellen, meine erfrischte Haut mit einem groben Handtuch trocken rubbeln und sauber und frohgemut am liebevoll gedeckten Küchentisch erscheinen. Meine Freundinnen wären schon um die Tafel versammelt und reichten mir abwechselnd den Brötchenkorb, die frische Landbutter und die selbst gemachte Marmelade. Ich würde den gehäkelten Eierwärmer von dem Ei aus Freilandhaltung nehmen und mir aus der Milchkanne ein Glas voll frischer Kuhmilch einschenken.
Die romantische Vorstellung vom Landleben (obwohl ich weder frühes noch zügiges Aufstehen, kalte Duschen, grobe Handtücher, geschweige denn frische Kuhmilch mochte) in Gesellschaft meiner Geschlechtsgenossinnen bestärkte meinen Entschluss, heute auf jeden Fall einen Ausflug nach Kuhstedt zu machen.
2
Es war herrliches Wetter – der erste Frühlingstag in diesem Jahr. Unter mir tobte der Straßenverkehr, der an diesem Vormittag um einiges dichter als gewöhnlich war, denn die Ampelanlage war ausgefallen, und die Autofahrer mussten sich an der belebten Kreuzung Industrie-/Holperstraße selbständig in den Verkehr reindrängeln.
Die vorfahrtberechtigten Holperstraßenbenutzer beharrten natürlich auf ihrem Recht und fuhren hämisch grinsend oder fröhlich winkend an den wütend-fäusteballenden Ausharrenden der Industriestraße vorbei. Dem einen oder anderen wurde die Warterei zu bunt, und er gab beherzt Gas.
Ich beobachtete interessiert einige Beinah-Unfälle und bedauerte eine junge zweifache Mutti mit Kinderwagen, die vergeblich darauf hoffte, die Kreuzung gefahrlos passieren zu dürfen. Sie hatte ihre liebe Mühe, das Kleinkind, das tatendurstig an ihrem Ärmel zerrte, zu bändigen und am Betreten der Straße zu hindern. Während sie ihre Brut im Wägelchen auf und ab schaukelte, hielt sie gleichzeitig den zähfließenden Verkehr im Auge, in der Hoffnung, doch noch auf einen mitfühlenden Fahrer zu treffen, der ihretwegen seinen Bleifuß kurzzeitig auf dem Bremspedal ablegte.
Als sich nach einer ganzen Weile nichts an der Situation änderte, ging ich in meine kleine Küche und riss eine Coladose auf. Ich nahm einen Schluck, schnappte mir im Vorbeigehen die Flipstüte, die noch vom gestrigen Fernsehabend auf dem Beistelltischchen lag, und trat zurück ans Fenster. Die junge Mutti war an einen netten Verkehrsteilnehmer geraten, der ihr per Handzeichen zu verstehen gab, dass er ihr durch seine Bremsleuchten den nachfolgenden Verkehr vom Leibe halten würde.
Den Kinderwagen schiebend und das quirlige Kleinkind hinter sich herziehend, wagte sie denn auch den Schritt auf die Straße, doch sie kam nur bis zur Straßenmitte. Der nette Bremser von eben war jetzt nicht mehr für sie zuständig und längst davongebraust, während sie sich mitten im tosenden Verkehr mit den Teilnehmern der Gegenfahrbahn arrangieren musste.
Ich zitterte mit der armen Frau, griff in die Flipstüte und stopfte mir den Mund voll, ohne dabei das Geschehen aus den Augen zu lassen. Haarscharf sausten die Autos an dem Kinderwagen vorbei, das Schicksal der kleinen Familie hing jetzt am seidenen Faden.
Erst als ich alle Flips aufgefuttert hatte und gerade überlegte, was ich noch an leckerem Essbaren im Haus hatte, trat der Fahrer eines Betontransporters in seine quietschenden Bremsen und bedeutete der Frau, doch bitte zügig die Straße zu überqueren. Sie lief, so schnell es eben ging, mit ihren Nachkommen in Richtung heiß ersehnter Bürgersteig. Ich seufzte erleichtert auf. Dann wandte ich mich vom Fenster ab und wieder meinen Plänen zu.
Ich war energiegeladen und voller Tatendrang an diesem späten Vormittag. Statt mich um etwaige Busfahrpläne zu kümmern, wollte ich mein Fahrrad aus dem Keller holen und an diesem wunderschönen Frühlingstag eine Zwanzig-Kilometer-Radtour nach Kuhstedt unternehmen. Gesagt – getan.
Irgendwann im vergangenen Jahr war ich zuletzt mit meinem Fahrrad gefahren, nämlich als mein unausstehlicher Boss die glorreiche Idee hatte, den Betriebsausflug auf dem Fahrradsattel zu verbringen. Von acht Uhr früh bis abends um sechs hieß es in die Pedale treten – eine mörderische Gewalttour. Mein Chef nahm aktiv nur am Mittagessen im Landgasthof teil. Mit Grauen erinnerte ich mich an den tagelang anhaltenden Muskelkater und mein sonnenverbranntes Gesicht, das die kühlenden Lotionen nur so in sich hineinfraß. Jetzt war ich schlauer: Ich bereitete die Tour gründlich vor.
Bequeme Kleidung hatte oberste Priorität, deshalb schlüpfte ich in die einzige Radlerhose, die ich besaß: Ein giftgrünes Ding, das ich beim letzten Sommerschlussverkauf erstanden hatte. Endlich konnte ich das gute Stück einweihen. Die der Sonne ausgesetzte Haut cremte ich messerrückendick mit Sonnenschutzmittel ein und stellte ein kleines Proviantpäckchen zusammen.
So gerüstet stieg ich die Kellertreppe hinunter, verwundert beäugt von Herrn Schmerglatt, dem Hausmeister. Seinetwegen wollte ich die weiße Cremeschicht in meinem Gesicht nicht abwischen, und so wünschte ich ihm einen frohen „Guten Tag“, während ich entschlossen an ihm vorbeistiefelte. Ächzend beförderte ich das verstaubte Fahrrad die steile Treppe hinauf. Oben angekommen stellte ich fest, dass die Reifen platt waren.
Ich sprintete zurück in den Keller, in der Hoffnung, dort eine Luftpumpe zu finden. Tatsächlich entdeckte ich eine am Fahrrad eines anderen Hausbewohners. Sicherheitshalber, für den Fall der Fälle, klemmte ich sie auf den Gepäckträger, nachdem ich die Reifen mit genügend Luft gefüllt hatte. Jetzt aber los! Mit der Wegbeschreibung im Gummizug meiner knallengen Satin-Radlerhose trat ich eifrig in die Pedale. Erst mal raus aus der miefigen Stadt.
Ich will nichts beschönigen: Die Radtour war ein Fiasko. Meine völlig untrainierten Muskeln streikten schon, als ich den Stadtrand erreichte, und ich legte eine längere Pause ein. Böse Stimmen rieten mir, es gut sein zu lassen und den Drahtesel zurück zur Industriestraße zu lenken. Ich fühlte mich jedoch gestärkt, und ignorierte die mimosenhaften Kommentare in meinem Inneren.
Der Stadtrand war noch in Sichtweite, als mir schon wieder sämtliche Körperteile wehtaten. Wie unsportlich ich doch die letzten Jahre gelebt hatte! Das sollte sich jetzt ändern.
Verbissen strampelte ich weiter, den Blick starr auf den endlosen Fahrradweg gerichtet. Die Reifen hielten nicht lange die Luft, und ich war froh über die geliehene Luftpumpe. Immer öfter musste ich anhalten und nachladen. Und dann wieder rauf auf den Sattel. Welch grausiger Schmerz peinigte mein Gesäß. Oh, was war ich doch für eine verweichlichte Stadtpflanze.
Durchgeschwitzt, abgekämpft und mit platten Reifen kam ich in Kuhstedt an. Um unnötigen Suchereien vorzubeugen, fragte ich das erstbeste menschliche Wesen, das mir vors Rad lief, nach dem Weg. Es handelte sich um einen rotgesichtigen Landwirt, der mich wohlwollend betrachtete. Sprachen ihn die Fahrradschmier- und Grasflecken auf meinem T-Shirt und die aufgeplatzte Naht meiner Radlerhose (für eine derartige Belastung war sie wohl doch zu preisgünstig gewesen) an? Oder war es mein Gesicht, das die Röte seines eigenen sicher noch bei weitem übertraf?
Selbstverständlich konnte er mir den Weg zur WG weisen, hier kannte schließlich jeder jeden. Durch geschicktes Hinterfragen bekam er die gewünschten Informationen über das Woher, Wohin, Warum und Wie lange meiner Reise heraus, das Wie ersparte er sich, er hatte ja Augen im Kopf.
Als Gegenleistung erzählte er mir lustige Anekdoten aus seinem Leben als Schweinemäster, nicht ohne hin und wieder einfließen zu lassen, dass er noch unverheiratet war. Augenscheinlich waren heiratswillige Jungbäuerinnen in diesem Landstrich Mangelware.
Ich verabschiedete mich energisch – freiwillig hätte er mich wohl noch nicht so schnell aus seinen Fängen gelassen. Jedenfalls war er so nett, meine Reifen noch mal mit Luft zu füllen, und dafür war ich ihm sehr dankbar. Ich fühlte mich zu schlapp, um die Pumpbewegungen auch nur noch ein einziges Mal auszuführen. Matt winkte ich ihm über die Schulter zu, und hört ihn ein „Hoffentlich sehen wir uns bald öfter!“ rufen, bevor ich in der nächsten Seitenstraße verschwand.
Das gesuchte Haus Nummer 13 hätte ich ohne seine Beschreibung garantiert nicht so schnell gefunden. In dieser Straße mit dem Namen „Hinterm Busch“ waren nur zwei Häuser zu sehen. Das erste trug logischerweise die Nummer 1, das nächste die Nummer 104. Ratlos schaute ich auf die etwa dreißig Meter breite Wiese dazwischen. Dann fiel mir die Weisung des Landwirts wieder ein, und ich radelte weiter. Aus der Straße wurde ein Schotterweg, der schließlich vor dem Gatter einer Kuhweide endete.
Ich fand den schmalen Weg, auf den der Bauer mich hingewiesen hatte, und befuhr den unebenen Untergrund. Unter hohen Bäumen hoppelte ich mit meinem Rad immer weiter. Tief atmete ich die würzige Waldluft ein und war auf einmal richtig beschwingt. Ich war fast am Ziel meiner Reise, obwohl ich zwischendurch daran gezweifelt hatte, die Tour durchzustehen.
Und dann erblickte ich das Haus. Es stand verträumt unter riesigen Eichen, umgeben von mannshohem Gestrüpp und wilden Gräsern, die schon seit Jahren nicht mehr von einem Rasenmäher überrollt worden waren. Es war eindeutig baufällig. Aber schön.
Ein uraltes Bauernhaus mit moosbewachsenem Dach und ehemals weiß gestrichenen Holzfenstern, von denen die Farbe abblätterte. Ich hoppelte über dicke Grasbüschel und war bald bei den schiefen Gehwegplatten angelangt. Eine verrostete Ente in verschiedenen Farben parkte im hohen Gras. Mein Fahrrad an die Hauswand lehnend, hielt ich nach einem menschlichen Wesen Ausschau, doch niemand hatte meine Ankunft bemerkt. Vorsichtig bewegte ich mich auf den Gehwegplatten vorwärts, sie hätten leicht zur Stolperfalle werden können. Ich klopfte ein paarmal an die marode Haustür, aber nichts tat sich. Zaghaft drückte ich die Klinke hinunter: Die Tür war offen. Meine Augen mussten sich nach dem Sonnenlicht erst an das Dunkel in der Diele gewöhnen, bevor ich Umrisse ausmachen konnte. Ich mochte nicht so dreist sein und eine der vielen Türen öffnen, also rief ich ins Hausinnere.
„Hallo?“ Noch etwas fröhlicher und lauter. „Hallo?“
Endlich erschien eine Frau. Sie war Ende zwanzig, sehr groß, sehr dünn und in sackähnliche Klamotten gehüllt. Die braunen, derben Wollsocken in ihren Gesundheitslatschen und ein lose um den Hals geschlungenes Arafat-Tuch vervollständigten ihr Outfit. Das tiefschwarze, glatte Haar hatte sie mit einem Haushaltsgummiband zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Aus dunklen, mit breitem Kajal umrandeten Augen musterte sie meine merkwürdige Erscheinung und ließ sich dann zu einem schlappen „Hi“ hinreißen. Das musste Ritaaa? sein!
Auf ihre unkomplizierte Art eingehend, erklärte ich ihr den Grund meines Besuchs. Sie schien sich nur vage an unser Telefonat erinnern zu können, entschloss sich dann aber doch, mich hereinzubitten.
Rita öffnete eine Tür, wir betraten die Küche und trafen auf drei Frauen. Meine zukünftigen Freundinnen? Sie saßen um einen großen, massiven Kiefernholztisch (zwar nicht blank gescheuert, aber immerhin). Eine hatte die Knie angezogen und umfasste ihre nackten Beine. Außer ihrem Slip trug sie ein durchsichtiges, weißes T-Shirt. Sie begrüßte mich mit einem sonnigen Lächeln und stellte sich als Steff (Stefanie?) vor. Steff war ungefähr in meinem Alter. Ich mochte sie auf Anhieb.
Die mollige Mittdreißigerin im geblümten Hängerchen an der Stirnseite des Tisches ließ ihre Strickarbeit sinken und begrüßte mich mit einem kräftigen Händedruck. Sie hieß Uschi.
Als letztes rief mir die rothaarige Bärbel ein nettes Hallo zu, um sich gleich darauf wieder dem Lackieren ihrer Fußnägel in einem aufregenden Bordeaux-Ton zu widmen. Der Einfachheit halber hatte sie ihren nackten Fuß auf dem Küchentisch abgelegt, was hier niemanden zu stören schien.
Ungezwungen schnappte ich mir einen freien Stuhl und setzte mich neben Bärbel. Uschi bot mir grünen Tee an, und weil im Schrank keine Tasse mehr zu finden war, spülte sie schnell einen Keramikbecher ab, der gemeinsam mit einem enormen Berg Geschirr auf den Abwasch gewartet hatte. Der Tee war lauwarm und die Vollkornkekse staubtrocken, doch nach der langen Fahrt war ich hungrig und durstig und kein bisschen wählerisch.
Ich erfuhr, dass Uschi geschieden und Steff Studentin war, während Bärbel eine Pollenallergie hatte und Rita sich ausschließlich vegetarisch ernährte. Niemanden störte es, als ich mich meiner Turnschuhe samt Socken entledigte und genüsslich mit den nackten Zehen wackelte. Erst jetzt fiel mir der sehr dicke schwarz-weiße Kater auf, der es sich zusammengerollt auf einem Stapel Bügelwäsche bequem gemacht hatte. Sein Name lautete Derrick, und alle Bewohnerinnen waren ihm gleichermaßen zugetan. Den Zusammenhang zwischen dem Kommissar in der ehemaligen, gleichnamigen Freitagabend-Krimi-Serie und dieser adipösen Schlafmütze konnte mir niemand erklären.
Derrick war außer Butschi, Uschis Nymphensittich, das einzige männliche Wesen, das seinen Fuß über die Schwelle des Hauses setzen durfte. Darauf legten die vier offensichtlich großen Wert, denn sie betonten es nachdrücklich. Männer waren hier unerwünscht. Klar, dachte ich mir, ist ja auch ne Frauen-WG. Was haben da Männer zu suchen?
Wie konsequent dieser Standpunkt vertreten wurde, verdeutlichte mir Uschi anhand einer kleinen Anekdote. Da hatte man statt der ausdrücklich erbetenen Radio- und Fernsehtechnikerin einen männlichen Kollegen geschickt. Getreu dem Grundsatz „Kein Mann in unserem Haus“ schmiss Bärbel den Unhold rigoros raus und warf ihm das Werkzeug hinterher. Der arme Mann hatte daraufhin fluchtartig das Gelände verlassen und ward nie wieder gesehen. Weil Fernsehfachfrauen dünn gesät waren, verzichteten man seit einem halben Jahr auf die Glotze.
Diese kompromisslose Einstellung erschien mir zwar etwas übertrieben, aber sicher gab es Gründe dafür. Ich sollte sie bald erfahren.
„Bist du bereit, den Grundsatz ‚Kein Mann über unsere Schwelle’ aus tiefster Überzeugung zu vertreten?“, fragte mich Uschi und sah mir ernst in die Augen.
„Ich – ähh...tja…“, stammelte ich und dachte an all meine Verflossenen. In Sachen Männerbeziehungen hätte man mich durchaus als Tetra-Pack bezeichnen können: Aufreißen, genießen, wegschmeißen.
„Geben wir Doris doch ein paar Tage Bedenkzeit. Ich glaube, sie muss noch in sich gehen und sich intensiv mit unserem Leitsatz auseinandersetzen. Nicht, dass wir mit ihr die gleiche Pleite erleben wie mit Paula“, meinte Rita. Ich wertete ihren Kommentar nicht gerade als Sympathiebekundung mir gegenüber.
„Natürlich werde ich ‚Kein Mann über unsere Schwelle’ konsequent vertreten!“, tönte ich und bemerkte erfreut, wie Ritas Kinnlade einen halben Meter hinunterfiel. Niemandem schien aufzufallen, wie überrascht ich selbst über meine Antwort war. Wie kam ich bloß dazu? Nur um Rita zu widersprechen? Ich kannte sie kaum, und ihre Meinung über mich konnte mir piepegal sein.
Plötzlich schossen mir Situationen aus meinem bisherigen Leben durch den Kopf. Wie in einem Film wechselten die Bilder rasch. In jeder Szene war ich mit einer meiner vergangenen Beziehungen zu sehen. Der Streifen war alles andere als amüsant.
In meinem Inneren trugen eine Pro- und eine Kontra-Männer-Partei erbitterte Kämpfe aus. Ich dachte an meine Mutter und deren unablässiges Bemühen, mich zu verkuppeln. In ihrem Ansinnen war sie kürzlich sogar so weit gegangen, mir einen oberbayerischen Dorfbewohner auf den Hals zu hetzen, mit der schlichten Begründung, er sei ein äußerst geduldiger Mensch, der perfekt zu mir passen würde. Besagter Heinerle war von Beruf Schlosser und hatte die Achthundert-Kilometer-Reise eigens dafür angetreten, meinen Küchenstuhl zu reparieren. Leider fühlte ich mich nicht in der Lage, ihm mehr als eine Tasse Kaffee anzubieten, bevor ich ihn wieder heimschickte.
Eine männerlose WG. Für mich in meiner derzeitigen Lage genau das Richtige, redete ich mir ein. Der überzeugte Ausdruck in meinem Gesicht musste sich wohl trotz der inneren Gefechte keinen Moment verflüchtigt haben, denn Uschi lächelte mich treuherzig an. Nach Klärung der Fronten sah Rita nun für eine halbe Stunde stur aus dem Fenster, ohne einen Piep von sich zu geben. Die anderen schnatterten durcheinander und ignorierten ihre maulige Mitbewohnerin.
In der Runde dieser interessanten Frauen verging die Zeit wie im Flug. Uschi trug, ohne viel Aufhebens zu machen, das Abendessen auf. Sie hatte das Brot, dessen Zutaten ausschließlich vom Bio-Bauern stammten, selbst gebacken.
Die WG war Großkunde bei besagtem Bauer, dessen Betrieb sich mitten im Dorf befand. Erstaunlicherweise zollten die vier Frauen ihm einigen Respekt, obwohl er ein Mann war. Ich wunderte mich über Rita, die plötzlich ihr Schweigen brach und richtiggehend ins Schwärmen geriet. Ihre Wangen glühten, als sie sich über diesen außergewöhnlichen Menschen namens Ludolf Lasch ereiferte. Ich schrieb das dessen hochwertigen Produkten zu.
Weiterhin stellte Uschi Butter, verschiedenes frisches Gemüse, eine große Schale Vollkornmüsli und andere gesunde Leckereien auf den Tisch. Rita verzog angewidert das Gesicht, als Uschi die Tupperdosen mit Wurstaufschnitt öffnete. Steff kochte inzwischen eine große Kanne Tee.
Nach dem Abendbrot führten die Frauen mich durch das Haus. Steff, die Kunst und Kunstgeschichte studierte, hatte ihre Wände mit Dutzenden Drucken und Kritzeleien tapeziert. Ein paar recht eigenwillige Klecksereien fielen mir auf, sie sahen aus, als ob eine völlig verzweifelte Person ihre Farbtöpfe auf die Leinwand geschmissen und anschließend wahllos mit dem Pinsel darauf eingedroschen hatte.
Steff klärte mich sogleich über Ursprung, Schattierung, Technik und so weiter auf und überzeugte mich. Das war Kunst! Sie bot an, mir die Thematik bei Gelegenheit näher zu bringen. Eine große Staffelei und jede Menge Farbtuben machten den Raum zum Atelier. Nur das Polsterbett neben dem einfachen Kleiderschrank (Marke Tante Sophie) erinnerten daran, dass hier ein Mensch wohnte.
Von Bärbel wusste ich bereits, dass sie in einer Werbeagentur tätig war und vieles in Heimarbeit erledigte. Daher verwunderte mich der Computer mit überdimensionalem Bildschirm in ihrem Zimmer nicht. Ein riesengroßes Regal brach fast unter dem Gewicht unzähliger Aktenordner und Fachliteratur zusammen.
Sie war wie ich eine Leseratte, und ich entdeckte eine stattliche Anzahl aufregender Romane in einem Bücherschrank. Bärbel besaß eines dieser französischen Betten mit eingelassenem Digitalradioteil, die ich persönlich oberätzend finde. Ein großer Spiegel mit Schminktischchen, auf dem diverse Cremetöpfe und Tiegel zu finden waren, zeugten von ihrem Faible für ein gepflegtes Äußeres.
Bärbels Nymphensittich Butschi saß in einem runden, goldenen Käfig, der an einem Haken an der Zimmerdecke baumelte. Er rief ein fröhlich-krächzendes „Bäbä! Bäbä!“, als wir den Raum durchquerten. „Butschi kann sprechen“, klärte mich sein stolzes Frauchen auf. „Er sagt ‚Bärbel’!“
Uschis Zimmer war feminin-nostalgisch eingerichtet. Sie besaß schwere, restaurierte Möbel aus dunklem Eichenholz und ein zierliches, mit seidig glänzendem Stoff bezogenes Zweisitzersofa. Filetgehäkelte Deckchen zierten sämtliche waagerechten Flächen und waren als Gardinen vor das Sprossenfenster drapiert. Drei niedliche, abgegriffene Teddybären, die um die fünfzig Jahre alt sein mochten, trugen bunte, selbstgestrickte Kleidung. Auf dem Sprossenbett lag spitzenbesetzte weiße Bettwäsche.
Blieb noch Ritas Bude. Dort stank es wie in einem Pumakäfig. Getrocknete Sträuße und Kräuter hingen umgarnt von Spinnenweben an der Decke. Ein Räucherstäbchen glimmte in einem getöpferten Aschenbecher. Ritas Schlafplatz war eine einfache Matratze, die auf dem Fußboden lag. Ihre Kleidungsstücke lagerten in Wäschekörben aus Korbgeflecht. Rita setzte sich eingehend mit psychologischen Themen auseinander; ich erblickte Bücher mit Titeln wie „Auf dem Weg zu mir selbst“, „Innere Weisheit“ und „Endlich glücklich sein“. Rita studierte Sozialpädagogik.
Das jetzt leer stehende Zimmer lag am Ende des Flurs, der Gemeinschaftsküche gegenüber. Es war von seiner ehemaligen Bewohnerin Paula sehr überstürzt verlassen worden, nachdem sie sich in einen Be- und Entlüfter verliebt hatte. Die vier Verlassenen waren immer noch zutiefst erschüttert und sich nicht einig, ob sie Wut oder Mitleid für das sich freiwillig ins Verderben stürzende Geschöpf empfinden sollten.
Steff hatte das vormals grün gestrichene Zimmer renoviert und auf die jetzt hellgelben Wände feine violette Streifen gepinselt. Die beiden niedrigen Fenster lagen an der Rückwand des Hauses und ich sah hohes Gras, Büsche und mächtige Bäume. Ich dachte an mein Fenster daheim und das hektische Treiben darunter und hatte, glaube ich, in diesem Augenblick den endgültigen Entschluss gefasst: Ich wollte das neue Mitglied in der Wohngemeinschaft werden. Der Raum war groß und konnte meinen Drei-Meter-Freund locker beherbergen.
Uschis Frage, ob ich mich schon entschieden hätte, klang wie ein Heiratsantrag. Feierlich antwortete ich mit „Ja“, und da brach der Jubel los. Steff umarmte mich stürmisch, Bärbel klatschte begeistert in die Hände.
Draußen dämmerte es bereits und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit funktionierte das Licht an meinem Rad nicht. Die Mädels zogen mich ins Gemeinschaftswohnzimmer, wo große Sitzkissen in lockerer Unordnung den Fußboden bedeckten. Wir hockten uns hin, Steff im Schneidersitz und ich mit meinen nackten Füßen daneben. Uschi legte eine Klassik-CD ein, Klaviergeklimper erfüllte den Raum. Wir schwiegen, eine jede in Gedanken versunken. Es war angenehm, sich auch in Gesellschaft völlig in sich zurückziehen zu können.
Mich bewegten hauptsächlich praktische Überlegungen. Es war zu spät, um per Fahrrad zurück in die Stadt zu gelangen. Über die Verkehrsanbindung von Kuhstedt zu meiner Arbeitsstätte, dem Fix-Schuh-Laden, hatte ich noch nichts in Erfahrung gebracht. Und ich machte mir Sorgen um den Transport meiner Habseligkeiten.
Mit dem Wissen, jede Not von nun an teilen zu können, unterbrach ich das Schweigen, indem ich um ein Nachtlager bat. Sofort bot mir jede meiner neuen Schwestern selbstlos einen Platz in ihrem eigenen Bett an, wobei mir der Gedanke, mich mit Rita auf deren Fußbodenlager zu kuscheln, nicht so recht behagen wollte. Trotzdem fand ich ihr Angebot nett – eine Geste der Versöhnung. Nach langer Diskussion einigten wir uns schließlich, dass ich diese Nacht in Steffs alten Schlafsack gehüllt an der Seite von Bärbel in deren hochmodernem Franz-Bett verbringen würde, einfach weil es das breiteste von allen war.
Ich verlebte den unterhaltsamsten Abend seit langer Zeit. Es war weit nach Mitternacht, als wir uns gähnend von den zwanglosen Kissen erhoben. Bärbel hakte mich fröhlich unter und schloss ihre Zimmertür hinter uns. Butschi schrak aus seinem Schlummer und kreischte „Bäbä! Bäbä!“ zur Begrüßung.
Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Gähnend griff ich nach Steffs ausgeblichenem, etwas muffigen Schlafsack und entledigte mich meiner aufgeplatzten Radlerhose. Bärbel warf mir kichernd ein hellrosa Satinnachthemd zu. Sie war total aufgekratzt und sprudelte nur so über vor Mitteilungsdrang.
„Lass uns doch im Bett weiterreden“, nuschelte ich erschlagen, während ich mir den Edelfummel überwarf. Der Stoff war angenehm kühl und leicht. Nur widerwillig stimmte Bärbel zu und kroch unter ihre Federdecke, während ich mich als Mumie getarnt daneben legte.
Bärbel im Fahrwasser quasselte denn auch drauflos, es gab so vieles, was sie mir mitteilen wollte. Mein hin und wieder eingeworfenes, schläfriges „Mmmh“ genügte ihr bei der Schilderung einiger markanter Stationen ihres Lebens.
Wäre ich einen Tick wacher gewesen, dann hätte ich einige Male nachgehakt. Beispielsweise bei dieser bösen Sache mit ihrem Ex-Freund. Nur Frauen sind zu wahrer Liebe fähig, proklamierte sie, und schwärmte in den höchsten Tönen von einer Dame namens Victoria, die Bärbels Zuneigung jedoch leider nicht erwiderte. Ich hörte nur noch mit halbem Ohr hin. Mein letzter Gedanke galt dem Digitalradiowecker. In der Hoffnung, im Schlaf nicht aus Versehen auf einen der Bedienungsknöpfe zu drücken, schlief ich ein.
3
Der Erste war der schrecklichste Tag im Monat. Die Kunden unseres Fix-Schuh-Ladens hatten dann die Taschen voller Geld und wiegten sich in dem Gefühl, die Liquidität würde umso länger anhalten, je günstiger sie einkauften. Endlich konnten sie sich das heißersehnte Schuhwerk, mit dem sie schon viel zu lange geliebäugelt hatten, kaufen und somit für immer ihr Eigen nennen.
Unsere Kundschaft bestand zum größten Teil aus Menschen der sogenannten Unterschicht. Steigende Arbeitslosenzahlen und unzählige Notlagen drängten leider immer mehr Bürger in diese Kategorie. Ich war ja selbst heilfroh, dass ich einen Job hatte, auch wenn mein Chef mir für die nächste Zukunft das Gegenteil prophezeite. Die Bezahlung war zwar saumäßig, versetzte mich aber trotzdem in die glückliche Lage, mir dann und wann etwas leisten zu können, was vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen wäre.
Viele unserer Kunden waren jedoch gezwungen, mit jedem Cent zu rechnen. Sie kauften ihre Schuhe bei uns, weil sie mussten, sicher nicht, weil sie wollten. Daneben gab es aber auch einige Leute, die unsere Billigprodukte den qualitativ haushoch überlegenen aus gewöhnlichen Schuhgeschäften vorzogen. Aus Gründen, die mir schleierhaft waren. Und vereinzelt verirrten sich Menschen in unseren Laden, die es schick fanden, sich unters niedere Volk zu mischen und ausnahmsweise einmal preiswert einzukaufen. Ich vermutete, dass diese Kunden sowieso tausend Paar Schuhe besaßen und das bei uns gekaufte maximal einmal anziehen würden. Wenn überhaupt. Dazu taugte Fix-Schuh-Ware allemal.
Nichts gegen die Menschen, die bei uns einkauften, egal, welchem Milieu sie entsprungen waren. Eines hatten sie jedoch bedauerlicherweise gemein: Sie waren schwierig. Um nicht zu sagen: sehr schwierig. Die Ausnahme war da leider selten. Das machte die Arbeit bei Fix-Schuh oftmals zur Folter und forderte den Nerven ein hohes Maß an Stabilität und Belastbarkeit ab.
Dieser seelischen Beanspruchung hielten nicht viele Verkäuferinnen, egal ob mit abgeschlossener Ausbildung oder ohne erlernten Beruf (ich zählte zur zweiten Kategorie), stand. Kein Wunder also, dass die Fluktuation bei unserem Personal enorm war. Die ehemaligen Angestellten waren jeder Hoffnung beraubt, befanden sich nahe eines psychischen Kollaps‘ und hatten jedes noch so bescheuerte Arbeitsangebot angenommen, nur um Fix-Schuh den Rücken kehren zu können. Nach der Devise: Bloß weg hier, noch ein weiterer Tag in diesem Laden, und ich drehe durch.
In den vergangenen Jahren hatte ich viele Kolleginnen kommen und gehen sehen. Gabi beispielsweise: Sie fing total motiviert bei uns an, war eine fröhliche Natur und machte sogar Verbesserungsvorschläge zur Steigerung der Kundenzufriedenheit. Nach drei Monaten war sie am Ende, ein menschliches Wrack. Gabi sah die fristlose Kündigung als einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten. Ich habe sie irgendwann mal in der Fußgängerzone wiedergetroffen. Tonlos berichtete sie, dass sie jetzt in der Fischverarbeitung tätig sei. Ihre Hände waren rot geschwollen, und ein strenger Geruch umgab sie.
Oder die modebewusste Sonja, die sich unter „Schuhverkäuferin“ wohl etwas anderes vorgestellt hatte. Mit dem Vorhaben „Schwung in unsere Bude“ zu bringen, trat sie den Job an. Ich weiß nicht, wie lange sie glaubte, ihren Plan in die Tat umsetzen zu können. Lange jedenfalls nicht. Sonja war nicht mehr sie selbst, als sie das Angebot einer Textilfirma annahm. Ihre Tätigkeit erstreckte sich dort auf das maschinelle Einnähen von Waschanleitungs-Etiketten.
Das nur zur Verdeutlichung meines aufreibenden Jobs. Der Grund, warum nicht auch ich längst einen Schlussstrich gezogen hatte, lag einzig darin, dass ich mir von einer anderen Tätigkeit, die meinen Qualifikationen entsprach, keine grundlegende Verbesserung erhoffte. Deshalb strengte ich mich auf dem Gebiet der Arbeitsuche nicht sonderlich an - bis auf das Überfliegen der Stellenangebote in der Samstagszeitung - und hielt Fix-Schuh so seit mittlerweile vier Jahren die Treue.
Ein sehr erschwerendes Übel im täglichen Schuh-Zirkus war die Existenz unseres Chefs Bruno Kunze. Glücklicherweise war er nicht ständig anwesend, sonst hätte es wohl niemand länger als zwei Tage dort ausgehalten. Außer der dicken Gertrud vielleicht. Doch zu der komme ich gleich.
Bruno Kunze war der unangenehmste Mensch, den die Welt je gesehen hat. Er war einen Kopf kleiner als ich und hatte eine Halbglatze mit zunehmender Tendenz. Um seinem Haar den Anschein jugendlicher Fülle zu geben, hatte er sich auf einer Seite so lange Fransen wachsen lassen, dass er sie quer über die Glatze bis auf die andere Seite kämmen konnte. Das schüttere Haar kaschierte so in strähnigen Fäden die kahle Fläche. Sehr lustig sah das aus, wenn man ihn zufällig draußen ohne Hut erwischte. Ein Windstoß – und die Pracht war dahin. Über seiner dicken, blau geäderten Nase saßen wässrig-hellblaue Äugelchen, mit denen er seinem Gegenüber niemals ins Gesicht sah, wenn er sprach. Stattdessen blickte er stur geradeaus, und so ruhte sein Blick meist in Brusthöhe seiner Angestellten, eben weil er so klein war.
Direkte Anreden waren nicht sein Ding, viel lieber sprach er in der dritten Person. Dass wir Frauen seit vierzig Jahren nicht mehr mit „Fräulein“ angesprochen werden, war bei ihm noch nicht angekommen. Er stand also vor mir, sah mir auf meinen nur in Ansätzen vorhandenen Busen und sagte beispielsweise: „Fräulein Sack könnte auch mal wieder die Regale abwischen!“ Beim Sprechen betonte er das K und das G unnatürlich stark. Welcher Akzent oder welcher Ursprung dieser Angewohnheit zugrunde lag, habe ich nie herausfinden können. Er sagte also: „Fräulein Sackkkkönnte auch mal wieder die Rekale abwischen!“ Zu Beginn meiner Zeit bei Fix-Schuh hatte mich diese Sprech- und Guckweise zutiefst verwirrt, doch ich fand mich im Laufe der Zeit damit ab. Es gibt Dinge, die wird man niemals ändern können.
Herr Kunze, oder einfach „Chef“, was er gerne hörte, ich jedoch niemals sagte, war extrem übergewichtig und dementsprechend kurzatmig. Ihn sich nackt vorzustellen glich einer Horrorvision und ließ einem den Appetit auf die Spezies Mann gründlich vergehen. Susi und ich taten es trotzdem manchmal, wenn wir Langeweile hatten und weder Gertrud noch Bruno in der Nähe waren. Wir lachten uns jedes Mal schlapp und kriegten vor Abscheu eine Gänsehaut. Susi imitierte fast perfekt sein K, das war wirklich lustig.
Bruno platzte einmal unbemerkt in eine solche Vorstellung. Susi hatte sich ihre Jacke unters T-Shirt gestopft, um annähernd „Chefs“ Leibesfülle zu erreichen. Gebückt watschelte sie durch den Frühstücksraum und rief: „Fräulein Sackkkkönnte mal nach meinem Sackkkkucken. Dort kkkribbelt es so merckwürdik.“
„Ihm fallen auch dort die Haare aus“, schrie ich vor Lachen und lag schon unterm Tisch. Das war der Moment, als Bruno auf der Bildfläche erschien. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen, im Gegenteil, es wurde sogar noch schlimmer, als ich ihn leibhaftig vor mir sah.
Susi hatte sich da besser in der Gewalt. Unauffällig entledigte sie sich ihres dicken Bauches und ordnete ihre Haare, die eben noch zu einem strengen Seitenscheitel gekämmt waren. Sie lachte schon längst nicht mehr, während ich mich japsend aufrappelte. Bruno stand dicht vor mir, sah mir auf die Brust und brachte wütend ein „Fräulein Sackkk fliekt raus, sobald ich Ersatz habe“, hervor.
Seitdem ließen wir uns zu solchen Späßen nur noch selten hinreißen. Susi saß der Schreck noch lange in den Knochen, und sie zierte sich seitdem, Bruno zu imitieren.
Wenigstens annähernd zu Brunos Zufriedenheit arbeitete nur die dicke Gertrud. Von Natur aus weißblond hatte sie sich die Haare kupferrot gefärbt, als sie zufällig herausbekam, dass Bruno auf feurige Frauen stand. Seitdem rannte sie sofort zum Friseur, wenn ihr Haaransatz auch nur daran dachte, wieder die ursprüngliche Farbe anzunehmen.
Sie presste ihre Leibesfülle ausschließlich in knallenge Jeans, die sie in Übergrößen kaufte und einfach von einer pfiffigen Schneiderin um 30 Zentimeter kürzen ließ. Wenn sie sich vor die untersten Regale bückte (sie tat das gern, wenn Bruno in der Nähe war), standen die Nähte ihrer Hose kurz vorm Explodieren. Ich wartete auf den Tag, an dem ihr bei einer solchen Gelegenheit die Beinkleider mit einem lauten Knall um die Ohren flogen.
Gertruds Äußeres wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn sie nicht so einen miesen Charakter gehabt hätte. Selbstverständlich war ihr oberstes Gebot, sich beim Chef einzuschmeicheln und ihren Kolleginnen gleichzeitig eins auszuwischen. Sie hatte mir duch ihre Tratsch-, Petz- und Lügerei schon so manch unnötigen Ärger eingebrockt. Klar, dass er im Zweifelsfall immer ihr glaubte. Somit konnte sie ihre eigenen Schnitzer ganz bequem auf ihre Kolleginnen abwälzen. Sie war Meisterin im Lauschen, hintenrum Ausfragen, Spekulieren, Erfinden und Weitererzählen.
Außer Gertrud, Susi und mir arbeitete die stille Monika bei Fix-Schuh. Moni war ein netter Kerl, ihr Fehler war nur, dass sie sich alles gefallen ließ und nie den Mund aufmachte, um sich gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen.
An besagtem Montag, dem Tag nach meinem WG-Wochenende, machte sich endlich der zu erwartende Muskelkater bemerkbar. Matt schleppte ich mich zur Arbeit. Der erste April! Als ich um 8 Uhr 35 ankam, drängte sich bereits eine Menschenmenge vor dem Schaufenster, obwohl wir erst um 9 Uhr öffneten. Um dem gewöhnlichen Ansturm am Monatsersten die Krone aufzusetzen, hatte Bruno die Tageszeitung mit allerlei verlockenden Sonderangeboten gespickt.
Hastig zog ich meine Jacke aus und warf sie auf einen Stuhl, bevor ich mein Tageswerk begann. Susi hatte heute frei, keine Ahnung, wie sie das hingekriegt hatte. So standen mir nur Gertrud und Moni zur Seite. Doch halt, was war denn das? Ein neues Gesicht in unserer Mitte. Und dazu ein männliches. Ich hatte den Jüngling kaum entdeckt, da stellte Gertrud ihn schon beflissen vor. Schließlich war sie die Dienstälteste hier.
„Doris, das ist Maik von Eick. Er möchte sein Schulpraktikum bei uns absolvieren.“ Schwang da tatsächlich Stolz in ihrer Stimme mit? Bei Fix-Schuh hatte meines Wissens noch nie ein junger Mensch seine Praktikumszeit verbracht.
„Maik ist in der neunten Klasse. Auf dem Gymnasium.“ Jetzt überschlug sie sich förmlich. Ein Gymnasiast in unseren Gefilden!
„Maik, das ist Dorissack. Eine der Angestellten.“ Das letzte Wort klang aus ihrem pink geschminkten Mund wie „Abschaum“ und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie in der Hierarchie weit über mir stand. Maik hatte den letzten Satz gar nicht mehr gehört, denn bei „Sack“ fing er laut an zu lachen. Dabei warf er seinen Kopf in den Nacken und riss den Mund ganz weit auf, und ich sah seine mit Speichel benetzte Zahnspange blinken. Irgendwann wurde mir das zu bunt, man kann schließlich nichts für seinen Namen, und auch ich habe meinen Stolz.
„Da wir ja nun alle wissen, wie wir heißen, können wir mit der Arbeit anfangen“, erklärte ich frostig und deutete auf die Menschentraube, die sich vor unserer Fensterfront herumdrückte. Einige Kunden beobachteten uns gleichmütig, andere wirkten erbost. Ich sah mahnende Finger auf imaginäre oder vorhandene Armbanduhren weisen und erblickte ein paar sehr ungeduldige Zeitgenossen, die ihrem Unmut durch laute Zurufe („Aufmaaaaachchen!!!“) und empörtes Klopfen gegen die Schaufensterscheibe Luft machten.
Wir mussten in die Hufe kommen, denn eine Palette voll Ware war weder ausgepackt noch ausgezeichnet. Ich schnappte mir gleich den ersten Karton und begann mit der aufregenden Tätigkeit, ockerfarbenen Herrenslippern der Größen 41 bis 45, „Modell College“, den Preis aufzubacken und sie in die entsprechenden Regale zu ordnen. Gertrud unterwies Maik, der immer noch pubertär kicherte. Er wurde gleich voll mit eingespannt: Auspacken, auszeichnen, einsortieren. Den Tacker zum Auszeichnen in den Händen, sah ich ihn an den Rädchen zum Einstellen des Preises herumspielen, als mir Moni, die neben mir gerade cognacfarbene Schlabberlatschen einsortierte, zuraunte: „Darf der das schon?“ Sie meinte unsere verantwortungsvolle Tätigkeit.
„Na klar“, antwortete ich laut. „Er ist schließlich ein ganz Schlauer.“ Das saß, denn Maik hörte auf mit seinem albernen Gegacker und schmollte. Schweigend pappte er denn nun auch die Preise auf sportive Schnürschuhe für den Herrn und die Dame.