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Hajo Schumacher räumt auf mit den unsinnigen Ritualen im Geschlechterkrieg. Sein Ziel ist es, zu versöhnen statt zu spalten. Verstehen statt Scharfrichtern. Öffnen statt Panzern. Schumacher wagt den Rollentausch mit seiner Ehefrau, besucht einen Tantra-Workshop und fragt sich, welchen Vorbildern seine Söhne heute noch nacheifern können.
Hajo Schumachers Aufruf: Moderne Frauen und Männer mögen sich zusammentun, um gemeinsam gegen die dunklen Mächte des archaischen Denkens anzugehen, das überall nistet, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Partnerschaft. Im heraufziehenden Zeitalter
aggressiver Spaltungen ist Teamgeist die wichtigste Ressource.
»Ein brutal ehrliches Buch, schlau, liebevoll und Basiswissen für alle, die häufiger mit Männern zu tun haben. Hajo Schumacher betont die vielen Gemeinsamkeiten von Männern und Frauen. Gut so. Respekt und Leidenschaft, Mitgefühl und Offenheit kennen kein Geschlecht.«
Bibiana Steinhaus, Deutschlands erste und einzige Bundesliga-Schiedsrichterin
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Seitenzahl: 305
Hajo Schumacher räumt auf mit den unsinnigen Ritualen im Geschlechterkrieg. Sind Männer von Natur aus so? Oder wurden sie von der Gesellschaft so gemacht? Opfer der Hormone? Oder von Grundschullehrerinnen? Egal. Der seit Generationen hingebungsvoll geführte Krieg zwischen Machos und Feministinnen geht von einer völlig falschen Konfrontation aus. Moderne Frauen und Männer mögen sich zusammentun, um gegen die dunklen Mächte des archaischen Denkens anzugehen, das überall nistet, in der Politik, in der Wirtschaft, in Kneipen, Familien und Vereinen.
Hajo Schumacher, geboren 1964, studierte Journalistik, Politologie und Psychologie. Von 1990 bis 2000 arbeitete er beim Spiegel, von 2000 bis 2002 war er Chefredakteur von Max. Er ist Journalist, TV-Moderator und Autor zahlreicher Bücher. Unter seinem Pseudonym Achim Achilles eroberte er mit Achilles’ Verse und Laufberater die Bestsellerlisten. Hajo Schumacher lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Berlin.
HAJO SCHUMACHER
M Ä N N E RS P A G A T
Warum der unsinnige Krieg zwischen Frauen und Männern nur gemeinsam zu beenden ist
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Manche Namen und Orte wurden mit Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte verändert.
Redaktionelle Mitarbeit: Carla Mönig
Originalausgabe
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Werner Irro, Hamburg
Titelgestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano unter Verwendung von Motiven von © getty-images: R.Tsubin | Vectorios2016
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-6048-6
www.luebbe.de
www.eichborn.de
www.lesejury.de
Für alle guten Jungs
Es geschah auf einer sommerlichen Gartenparty. Ich lümmelte in einer Hängematte und lauschte dem Weltuntergangsgegrummel der satten Mittfünfziger um mich herum. Ich trug nichts außer einer Latzhose und einer Flasche Bier und fühlte mich irgendwo zwischen den Merry Pranksters und John-Boy Walton. Da nahm eine entfernte Bekannte mit Weißweingesicht meine Frau zur Seite und fragte sie grimmig: »Findest du nicht, dass sich dein Mann komisch anzieht?« Meine Frau lachte, winkte mir zu – und ich wusste, dass ich auf dem richtigen Weg war.
Mannsein nervt kolossal. Wir Kerle haben keinen guten Lauf gerade. Die falschen Männer sind zu laut, die guten kaum zu hören. Sieht so aus, als ob Männer vor allem »nur« oder »noch« sind, unzureichend, Mängelwesen, Auslaufexemplare. Ich erfahre dauernd, wie ich nicht sein darf; wie Trump, wie Kollegah, wie unsere Väter, wie der Chef, wie früher. Dabei gibt es viele Männer, verdammt viele, die mehr als okay sind, bewusst, aufmerksam, empathisch, nicht autoritär. Leider verschwinden diese Brüder im Pesthauch einer globalen toxischen Männlichkeit. Offenbar grassiert weltweit ein Herrenmännerfimmel, den ich massiv unterschätzt habe. Aber es gibt eben auch die vielen, vielen anderen, denen ihre Geschlechtsgenossen unendlich peinlich sind. Je verbissener ich forschte, desto rätselhafter erschien er mir, der Mann. Bilanz heute: Mannsein ist unübersichtlicher denn je. Ich bin verwirrt, von mir, von uns. Warum nehmen sich, und zwar überall auf der Welt, dreimal mehr Männer als Frauen das Leben, über alle Altersklassen und sozialen Schichten hinweg? Was ist los mit uns?
An welchem Beispiel erkläre ich mir und meinen Söhnen, wie ein positives Männerbild aussieht? Stattdessen verspüre ich permanenten Erklärzwang, wie ein liberaler Muslim: Ich soll mich für irgendwelchen Mist rechtfertigen, den andere verbocken, die zufällig zu meinem »Klub« gehören, auch wenn ich sie weder kenne noch verstehe noch mag. Bitte keine weitere Abhandlung über die Krise des Mannes. Nase voll von Komödiantinnen, die Späße über notgeile Vollhirnis machen. Ich mag auch nicht schon wieder beteuern müssen, wie sehr ich Übergriffe von Männern verabscheue, dass ich natürlich für Equal Pay bin, aber auch dafür, dass meine Söhne in ihrem jungen Mannsein nicht nur diskreditiert werden. Ich fühle mich in einer Endlosdebatte gefangen, geführt in einem schmalen Korridor. Auf dessen rechter Wand steht: »Du musst …« und auf der linken: »Du darfst nicht …«
Wie lange soll das so weitergehen? Diese Frage quält mich vor allem als Vater. Denn die Verunsicherung frisst sich durch bis in die Familie. Wie soll ich meinen Söhnen in Zeiten von Youporn, Schulmassakern, Patriarchatsbürde, vergifteten alten und unklaren neuen Rollenbildern ein halbwegs gutes Vorbild sein? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich es allein nicht schaffe. Ich brauche Hilfe, von guten Männern und guten Frauen. Denn eines ist klar: Toxische Männlichkeit richtet sich nicht nur gegen Frauen, sondern gegen alle, die anders ticken. Und es gibt durchaus toxische Frauen, die diese Kerle noch anfeuern. Der Graben verläuft nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen Gut und Böse.
Es stimmt ja: Die alten Konzepte von Männlichkeit sind erledigt, die neuen noch sehr unscharf. Viele Männer sind verunsichert in dieser Zwischenzeit, verängstigt, verwirrt. Ich auch. Wer unsicher ist, beißt leicht mal um sich. Das mag nicht souverän sein, zumal Beißen und Zurückbeißen und Weiterbeißen nicht weiterführt. Ich sehne mich nach einem offenen, ehrlichen Gespräch, bei dem alle Beteiligten ihre Bedürfnisse formulieren, Grenzen ziehen und Respekt bewahren.
Vielleicht bin ich heillos romantisch, aber: Ich wünsche mir ein Gender-Camp-David. Ich würde gern Frieden schließen, mit mir selbst, mit uns Männern, mit euch Frauen und all den anderen, schon unseren Kindern zuliebe. Dieses Buch ist weder Jammer-Prosa noch Macho-Gedröhne, sondern eine Freundschaftsanfrage, ein Annäherungsversuch, ein Friedensangebot. Sollen wir’s noch mal versuchen, ernst und aufrichtig, wir, die wir diese Beklommenheit spüren, weil die Aggression, die wir verurteilen, weltweit marschiert, das Toben und Ballern und Erniedrigen?
Geht doch so nicht weiter.
Versöhnen statt spalten, das ist mein Ziel. Verstehen statt scharfrichtern. Dazu gehört auch das Akzeptieren von einigen tausend Jahren herrischer Männlichkeit und ihren Verwüstungen. Stattdessen relativieren Männer reflexhaft die Leidensgeschichten von Frauen: Warum hat sie sich denn nicht gewehrt? Warum hat sie so lange geschwiegen? Warum ist sie überhaupt mit aufs Hotelzimmer gegangen? Ein erster Schritt, um einen grundsätzlichen Schwenk im Denken hinzubekommen, wäre, die Abwehrhaltung aufzugeben, die historischen Machtverhältnisse zu erkennen und einfach nur zuzuhören. Das Tückische an Privilegien ist, dass alle sie sehen, nur die Privilegierten nicht.
Ist es Männern möglich, wütende Rückzugsgefechte, auch wenn sie im Einzelfall nicht falsch sein mögen, einfach zu unterlassen, um ihrerseits Ängste, Reflexe, Gelerntes zu betrachten? Nein, keine 180-Grad-Wende, eher ein Erweitern der bisherigen Denk-, Fühl- und Kommunikationsmuster, um echte Gespräche möglich zu machen. Interessenkonflikte lassen sich gemeinsam lösen; Glaubenskriege schließen Kompromisse dagegen aus.
Männer öffnen sich nicht gern, ich möchte es dennoch versuchen. Ich inspiziere mich zunächst mal selbst, schonungslos. Das kann hässlich werden, denn ich werde in den finsteren Keller steigen, dorthin, wo meine Dämonen hausen: Versagenspanik, Scham, der Heldenfimmel, das Testosteron, all die in gut fünf Jahrzehnten Mannsein eingeschlossenen, womöglich giftigen Emotionen. Von Freude, Liebe, Leidenschaft wird auch die Rede sein, aber erst später. Zunächst werde ich mir diese lichtscheuen Untiere anschauen, um ihnen dann in einer liebevollen Umarmung die Luft abzudrücken, so lange, bis sie verträglich sind. Das Unausgesprochene nährt die Dämonen, als Gegenmittel hilft resolute Offenheit. Dann sehen wir weiter.
Als ich zum ersten Mal eine Frau sein durfte, erschrak ich über mich. Meine Stimme kiekste, ich trippelte in einem ziemlich knappen Sommerkleid, das mir meine Frau zum Ausleiern überlassen hatte. Meine Hände wedelten unsicher, abwehrend, albern. Ungewohnte Zugluft von unten. Ich war so wenig Dame wie Daphne aus Manche mögen’s heiß in einer Aufführung unseres Schultheaters 1972. Wie geht das, Frau sein?
Meine Ehefrau sollte zugleich einen Mann spielen. Sie hatte Karohemd und Jeans angelegt, ging breitbeinig und -schultrig, deutete andauernd Ausspucken an und griff sich abwechselnd in den Schritt und zum Revolver. Clint Eastwood hätte einen solchen Vogel vor lauter Verachtung nicht mal erschossen. Mannsein ist offenbar auch nicht leicht.
Mit der fröhlichen Verzweiflung von Langzeitverheirateten hatten wir uns in ein Paarseminar gewagt. Der Rollentausch war als ernstes Spiel gedacht. Wir sollten nicht groß analysieren, kritisieren oder freudianisieren, auf keinen Fall herumjuxen, sondern einfach ehrlich wahrnehmen, was es mit uns machen würde, ein paar Minuten ins andere Geschlecht zu schlüpfen. Erste Erkenntnis: Manche Paare scheiterten kichernd. Sie drangen gar nicht erst in tiefere Gefühlswelten vor, sondern ironisierten ihre Unsicherheiten weg.
Wir hatten immerhin geschafft, ernst zu bleiben. Und das Resultat war verblüffend: Als Frau empfand ich mich schlagartig ängstlicher, aber schicker, verletzlicher, andererseits aber auch sicherer in mir und meinem Körper. Meiner Frau erging es nahezu spiegelbildlich: Sie fühlte sich körperlich stärker, aber psychisch labiler, ungehobelter und ebenfalls ziemlich verletzlich. Gemeinsam verspürten wir eine immense Unsicherheit. Was war da passiert?
Willkommen, ihr spannenden Fragen.
Endlich hatten wir Nachschub bekommen vom wichtigsten Rohstoff jeder Beziehung. Die halbe Nacht lang sprachen wir über unsere Rollenbilder, über biologisches, soziales, ethisches Geschlecht, über Erwartungen, vor allem die unausgesprochenen. Wir, die wir uns nach Jahrzehnten des Geschlechterkampfs als aufgeklärte und halbwegs gleichgestellte Menschen bezeichnet hätten, sahen uns heillos in Klischees, Stereotypen und Fehlannahmen gefangen, mehr Voodoo als Wissen. Wir wussten erschreckend wenig vom Leben des anderen. Gleichzeitig spürte ich: Ich mag keine Zeit mehr vertrödeln mit ritualisierten Rechthabe-Debatten, wer das bessere, starke, schwache, überflüssige Geschlecht sei.
Und es wurde noch spannender. Am nächsten Tag sollten wir einen Geschlechtsakt andeuten, mit vertauschten Rollen. Give it to me, Baby! Der gegenseitige Respekt wuchs rapide. Meine tapfer pumpende Frau bekam erstmals eine Idee davon, warum Männer angeblich unentwegt an Sex denken, nur während des Sexes nicht – der elende Leistungsdruck. Ich, der ewige Mehrleister, wurde wiederum mehrfach ermahnt, einfach mal stillzuhalten. Hört man ja auch nicht so oft, wenn man jahrzehntelang ambitioniertes Dienstleisten gewohnt ist. Mehr dazu später.
Das Seminar war ein voller Erfolg. Ich war aufs Rabiateste aus der Komfortzone der gefühlten Wahrheiten katapultiert worden. Ich liebe diese Momente des Durcheinanders, die mich seither auf meiner Expedition zu meiner Männlichkeit begleiten. Die Reise begann sehr ungeplant mit drei Todesfällen und einem Tantra-Seminar, führte über Trumpputinerdogan und #MeToo zu – mir. Seither grabe, bohre, fühle ich dem Mysterium Mann hinterher: Wann ist ein Mann ein Mann? Was kann er? Was will er? Was darf er? Was taugt er als Partner? Wie erzieht er? Was wird gebraucht? Was kann weg? Das zu fragen ist hart. Und peinlich. Oft aber auch ganz lustig.
Ich dachte ja mal, mit Männern kenne ich mich halbwegs aus. Weil ich selbst einer bin, weil ich zwei Söhne zu anständigen Menschen zu erziehen versuche, weil ich als Sohn, Bruder, Kindergartenjunge, Schüler, Student, Angestellter, Chef, Freund, Freiberufler, Vater, Gatte, Liebhaber, Versorger und Spottobjekt manche Varianten des Männerspagats kennengelernt habe. Ich dachte tatsächlich, dass all die Übergriffe, Anzüglichkeiten, Straftaten, Machtmissbrauch und Dienstreisen-Bademanteleien eher Einzelfälle seien. Aber dafür sind es zu viele. Zugleich erhebt sich weltweit eine Gegenbewegung, ein Schwarm der Minderheiten, der die einzig wahre Mehrheit bildet.
Genau das ist die Realität, die uns fordert, dieses Durcheinander von Evolution und Genen, Religion und Machtsystemen, Traditionen und Glaubenssätzen, Moden und Mindfucks, Aufbegehren und Beleidigtsein. Wir wünschen uns Ordnung, aber Chaos und Widersprüche regieren. Kein Entkommen, wir haben scheinbar Selbstverständlichstes zu hinterfragen. Höchste Zeit zum Aufräumen von Routinen und Konventionen, gelassen und mit Mitgefühl. Es ist halt ganz schön viel, was sich da in den Jahren zwischen Suzie Quatro und Princess Nokia bei mir angestaut hat. Womöglich schaffen wir es sogar, aus dem Morast der Schuldzuweisungen herauszufinden, um die wichtigen Fragen zu bearbeiten: Was haben wir gelernt? Was machen wir künftig besser? Wie geht es gemeinsam weiter?
So jedenfalls nicht. Denn es wird ja nicht übersichtlicher. Bislang hatte ich Gleichstellung für einen unumkehrbaren Prozess gehalten, der je nach Weltgegend nur in verschiedenen Geschwindigkeiten abläuft. Sogar in Saudi-Arabien tut sich ja was. Doch plötzlich scheint die Emanzipation rückwärts zu laufen; ob in Washington oder Kabul, in Moskau oder Ankara, bei AfD oder IS – überall pöbeln und prügeln Männer und krallen sich an die Macht. Die anderen fühlen anschwellende Verhaltensunsicherheit und ducken sich hinter Sarkasmus, Distanz, passiver Aggressivität. Schon wieder. Immer noch. Waren wir vor fünfzig Jahren nicht mit anderen Zielen gestartet?
Das Phänomen der toxischen Männlichkeit ist nicht neu. Seit Kant und Fichte wird maskuline Unzulänglichkeit konstatiert, mal mit dem tückischen Mitleid der Feministin (Susan Faludi: Männer:Das betrogene Geschlecht), mal mit dem Sezierblick des Neurologen (Gerald Hüther: Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn), aber immer im Krisengestus, ob früher von Horst-Eberhard Richter (Die Krise der Männlichkeit) oder heute bei Robert W. Connell (Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten). Seit ich auf der Welt bin, verfolgt mich die Erzählung von Rettungsfrauen und Täter- oder Trottelmännern. Heute fragen Feministinnen, wozu die Welt überhaupt Männer brauche.
1982 forderte Ina Deter »neue Männer« fürs Land, aber das war auch schon Unsinn. Woher sollen die neuen kommen? Greencards für George Clooney, Barack Obama, Emmanuel Macron, Justin Trudeau? »Neu erfinden« ist eine der gewaltigsten Lügen des 21. Jahrhunderts. Nein, neue Männer gibt es nicht. Wir werden mit den alten klarkommen müssen, mit Exemplaren wie mir, die sich im Spagat eingerichtet haben, ohne sich dort übermäßig wohlzufühlen. Ich soll kochen, die Kinder ins Bett bringen und feuriger Liebhaber sein, mutig führen und empathisch zuhören, morgens Kickboxen, abends Yoga, viel Geld verdienen, aber Work mit Life balancieren, ein Sixpack vorzeigen, während ich ein Vier-Gänge-Menü mit guter Butter zaubere, und nach dem Holzhacken beim Paarseminar Frau spielen. Kein Problem, kriege ich halbwegs hin.
Aber ich habe diese Auf- und Abwertungsfloskeln satt, die Barths genauso wie die Schwarzers. Kann es sein, dass Super-Machos und Turbo-Feministinnen in einer unheimlichen Hysteriesymbiose vereint sind? Denn ohne die einen hätten die anderen nichts zu meckern.
Bevor wir uns erfolglos zu neuen Männern und Frauen umerziehen, sollten wir zunächst ein neues Miteinander versuchen. Und das beginnt mit einem klaren Wort. Wir müssen reden, nicht über-, sondern miteinander. Jeder Mann für sich, über seine Erwartungen, Träume, Verletzungen, Macken. Wir Männer müssen miteinander reden, zum Beispiel über unseren Helden- und Rivalitätsfimmel, warum uns Schwule eine irre Angst machen und was die Ursachen für diese unfassbar anstrengenden Hasslieberituale mit den Frauen sind. Und dann müssen wir mit unseren Nächsten reden, Eltern, Kindern, Partnern, ohne Konfrontationsreflexe, offen, ehrlich, verständnisvoll. Klingt so simpel. Und wird doch zu selten versucht. Denn gutes Reden braucht keine Glückskeksweisheiten aus der Mars/Venus-Klasse, sondern den Mut des Redenden und die Empathie des Zuhörenden. Nur im Gespräch können wir die Schützengräben zuschütten, aus denen seit Jahrzehnten Verletzte krabbeln, ohne dass wir große kulturelle Fortschritte gemacht hätten.
Reden gilt nicht als Domäne der Männer. Aber man kann sich da ranüben, zum Beispiel mit kalkulierten Abenteuern wie Paarseminaren. Klar schieben wir vorher tierische Panik, was uns wohl erwarten mag. Die anderen aber auch. Man nennt es Spannung. Sofort bäumen sich die ersten Dämonen auf, Angst, Schuld, No-Gos, Glaubenssätze. Die Kunst besteht darin, diese Dämonen nicht gleich wegzuschieben, sondern zu betrachten und zu erkennen: Aha, so funktioniere ich also. Nicht schön, aber Realität. Was kann schon passieren? Wir haben Spaß. Wir finden neuen Gesprächsstoff. Und wir lernen was.
Die Frauen – Entschuldigung fürs Verallgemeinern – haben in den letzten fünfzig Jahren dank des Feminismus sehr viel mehr über sich geredet und Unbekanntes erkundet, ihre Schmerzen, ihre Wünsche. Sie haben sich viel umarmt. Gut so. Wir Männer standen mit verschränkten Armen daneben und haben spöttisch bis ängstlich beteuert, dass wir so was nicht brauchen. Vielleicht doch: Denn Reden hilft, sogar Männern. Und Zuhören hilft ebenfalls, auch Frauen. Mein Ziel ist dabei nicht Seelenstriptease, sondern, sehr egoistisch, mehr Freude an meiner Männlichkeit.
Erfülltes Mannsein sei möglich, sagt der Therapeut Björn Süfke, wenn Männer ihre Handlungsspielräume und Ausdrucksmöglichkeiten erweitern, mehr wagen auf der intellektuellen, emotionalen, kreativen, spirituellen Ebene. Es gibt tatsächlich noch mehr Gefühlsbekundungen als High Five und Fist Bump. Aber welche? Und ist das nicht peinlich? Nein. Ich habe Männergruppen besucht, einen Tantra-Workshop, das Paarseminar, habe mit Psychologen geredet, mit Feministinnen, Dominas und natürlich jeder Menge Männern. Fazit: Handlungsspielräume und Ausdrucksmöglichkeiten werden mehr und breiter. Bei den Männern bewegt sich was. Wir kapieren, dass es mehr Bedürfnisse gibt als Bier und Baggern. So liefert dieses Buch Erkenntnisse, die abweichen von den zahlreichen Männerratgebern mit Orgasmusgarantie. Spektakulärere.
Dieses Buch bietet kein verklemmtes Testosteron- und Menstruations-Gejuxe, sondern ehrliches Bemühen um eine Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen, zunächst mit uns selbst, dann mit allen anderen. Lasst uns Glaubenssätze checken, Stereotype prüfen und Reflexe mit liebevoller Distanz betrachten. Und lasst uns überlegen, ob die Frontlinie zwischen Mann und Frau zeitgemäß ist, wenn höchste Gerichte in aller Welt ein drittes Geschlecht anerkennen, das sich nicht biologisch, sondern individuell definiert. Haben wir es in der Geschlechterfrage tatsächlich mit zwei unversöhnlichen Polen zu tun oder mit einem Schieberegler, den jeder für sich selbst bedienen kann?
Im 21. Jahrhundert konkurrieren nicht körperliche Merkmale, sondern freiheitliche mit diktatorischen Gesellschaftsentwürfen. Mann, Frau, Trans stehen vor denselben Aufgaben: Respekt, Gelassenheit, Fairness. Wer arbeitet mit an einer lebenswerten Zukunft? Wer hält sich an die Regeln? Wer nutzt seine Ressourcen kooperativ? Alle großen Transformationen unserer Zeit, ob Digitalisierung, Globalisierung, Gerechtigkeit, sind nicht mit Mann gegen Frau, sondern nur mit Mann und Frau und allen anderen Guten zu bewältigen. Die Unterschiede zwischen toleranten Menschen und ihren Gegnern sind größer als die zwischen Hodensack und Eierstock.
Aber es geht noch weiter, in eine historische Dimension. Kooperation wird zur Überlebensfähigkeit der Zukunft, so wie es in der Urzeit bereits war. Einst in der Nomadenära stellten sich Geschlechterfragen kaum. Auch Frauen jagten, auch Männer blieben in der Höhle, es ging nicht um Rollenbilder, sondern um Fähigkeiten, die halfen, den nächsten Winter zu überleben.
Vor etwa zehntausend Jahren wurde der Mensch sesshaft, erst in Hütten, dann in Städten, schließlich in Weltreichen. Machtfragen wurden zugunsten der physisch Stärkeren beantwortet, Religionen lieferten den Überbau. Das Patriarchat verfestigte sich in Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und hält bis heute an der alten Ordnung fest. Der Rückbau zieht sich.
Doch derzeit erleben wir die nächste historische Wende der Weltgesellschaft. Das Nomadentum kommt zurück. Sesshaftsein verliert an Wert. Haus, Auto, Pferd, Jacht werden mehr geliehen und weniger besessen. Besitz ist Ballast. Der mobile Mensch will leichtes Gepäck. Flexibilität ist Trumpf. Die alten Verlässlichkeiten schwinden, familiäre Sicherheiten auch.
Wir Babyboomer nomadisieren bereits deutlich mehr umher als unsere sicherheitsbewussten Eltern, die fest verwurzelt auf ihrer Scholle lebten. Unsere Kinder werden ganz selbstverständlich als digitale Nomaden um die Welt ziehen, der Arbeit, den Trends, dem Wetter hinterher. In einer »Gesellschaft der Singularitäten«, so der Soziologe Andreas Reckwitz, werden die Menschen neue alte Kooperations- und Lebensformen entwickeln, eher an Fähigkeiten und Bedürfnissen orientiert als an tradierten Vorschriften und Erwartungen. Mann und Frau gehen in Zukunft womöglich respektvoller miteinander um, nicht weil sie Gesetzen oder Konventionen gehorchen, sondern dem Wunsch zu überleben. Moderne Nomaden fragen nicht: Wer darf was?, sondern: Wer kann was?
Viele Zahlen sprechen dafür, dass sich die Unterschiede von Frauen und Männern verringern. Konsum von Aufputschmitteln? Die Frauen holen auf. Infarkte? Ebenso. Ernährung? Männer lassen die Fettwurst viel öfter als früher liegen. Mobile Männer, Frauen am Herd? Schon in der Bronzezeit wanderten Frauen viele hundert Kilometer, um Männer für die Ehe zu finden. Und sie brachten technisches Wissen mit.
Keine Ahnung, wo diese Reise endet, aber eines ist klar: Wir sollten uns vorbereiten. Schadet ja nichts, wenn Männer um einer gelingenden Zukunft willen endlich die eigenen Festplatten zu putzen beginnen. Und da ist einiges zu tun. In einem gigantischen Prozess des Verlernens müssen wir uns von eingeübtem Verhaltensmüll befreien, von Mustern, Mythen, Missverständnissen – Detox für Körper, Geist und Seele. Weg mit giftigen Rollenbildern und kranken Erzählungen aus einer vergangenen Zeit. Das Kommando lautet: nackt machen und sich unbewaffnet gegenüberstehen, Männer und Männer, Frauen und Frauen, Männer und Frauen.
So lautet das erste Prinzip dieses Buches: Verzicht auf die altbekannten Grobheiten. Raus aus dem Gegeneinander, hinauf auf gemeinsames Terrain.
Zweites Prinzip: Dieses Buch beschreibt Probleme, Krisen und deren Ursachen, aber fragt grundsätzlich lösungsorientiert. Wie kann eine renovierte Männlichkeit aussehen?
Drittes und wichtigstes Prinzip: Ehrlichkeit. Seit meiner Jugend schleicht die Geschlechterdebatte um die wunden Punkte herum: Schuld, Scham, Angst, Glaube, Statusdenken, projizierte Erwartungen, Geilheit, Traditionen, unterdrückte Bedürfnisse – jeder Dämon hat seinen Auftritt. Ich versuche, halbwegs ungeniert über allerlei Peinlichkeiten zwischen Männermustern, tristen Sexroutinen und Jungszärtlichkeiten zu schreiben. Jedes Kapitel beginnt mit spontanen Gedankensplittern, unzensiert, ungeschönt. Wer sich fremdschämt – einfach überspringen.
Zum Schluss möchte ich ein massives Eigeninteresse an diesem Buch gestehen: Ich will meiner Verwirrung näherkommen und einen halbwegs verlässlichen Männerkompass in Geist, Herz und Händen halten. Schließlich möchte ich meinen Söhnen ein gesundes, erfülltes Mannsein vorleben. Sodann bin ich als Ehemann im Jahr meiner Silberhochzeit auf der Suche nach Anregungen, um auch die Strecke bis zur Goldenen unterhaltsam und sinnvoll zu gestalten. Und obendrein möchte ich meine Freundschaften sortieren, beleben, vertiefen. Vor allem die zu mir selbst. Da gärte viel zu viel viel zu lange. Das muss jetzt raus.
Geht ja gut los: gleich die Hose runter. Aber zur schonungslosen Ehrlichkeit gehört nun mal, von diesem Workshop zu berichten, der mir den Zugang zu meiner ebenso einfachen wie widersprüchlichen Identität als Mann eröffnet hat. Mich umfängt noch immer dieses Gefühl zwischen Verwegenheit und Peinlichkeit, genau wie damals. Kann man das machen? Was sollen die Leute denken? Aber ich weiß, dass es gut war. Eine Schocktherapie voller Angst und Tränen, aber extrem wertvoll. Erstkontakt mit den innersten Dämonen.
Die Expedition zu mir selbst begann vor einigen Jahren unfreiwillig und ungeplant. Klar hatte ich meine Probleme, als Mann, als Mensch, als wandelnde Midlife-Krise. Ich wollte was ändern an meinem Leben. Aber doch nicht sofort. Und nicht gleich so radikal. Vielleicht erst mal ein Wochenende Yoga, um zur Ruhe zu kommen und nachzudenken. Nachdenken ist aber oft nur ein anderes Wort für hasenherziges Abwarten. Mit Nachdenken kann man sein ganzes Leben vertrödeln.
Dann kam unsere Uraltfreundin Sara zu Besuch. Sie hatte diesen Workshop mitgemacht, bei dem »es so richtig zur Sache geht«. Sara, die notorische Hektikerin, hatte entspannt gewirkt wie lange nicht. Sie trank wenig Wein, wir umso mehr, weil wir unsere Freizeit gern mit Aufregen verbrachten, über all den Statusquatsch und die Konsumscheiße, Panik vorm Altwerden, Sorge um die Kinder, überfordert versus unterliebt, toxische Männlichkeit, und obendrauf Erwartungen, Selbstzweifel, Frustrationen. Druckdruckdruck. Dieses bescheuerte Paradox: Die ganze Welt beneidet uns um unser deutsches Komfortleben. Und ich? Will weg von alledem. Dringe nicht mehr durch zu mir. Wer bin ich? Was will ich?
»Reset«, hatte Sara ruhig gesagt, »Stecker raus, abschalten. Stecker rein, Muster, Ängste, Rollen klarer sehen. Du wirst dich nach der Woche nicht wiedererkennen.« Zu oft gehört, diesen Satz. Ich nickte zustimmend, weil ich ahnte, dass meine Frau mich ohnehin nicht würde ziehen lassen, von wegen: Tantra, so richtig zur Sache, nicht wiedererkennen. Nach über zwanzig Ehejahren. Da rattert das Kopfkino aber los. Ich scherzte über Eso-Spielchen und Atmen für den Weltfrieden und hoffte auf ihre gewohnten Fürsorgereflexe. Vergeblich. Keine Details, nur so viel: Ich habe unerwartet die Startfreigabe bekommen. Unter der Bedingung, dass meine Frau nach mir das gleiche Seminar besuchen würde. Wie bitte? Meine Frau? Tantra? Zur Sache? Das hatte ich nicht gewollt. Panikkribbeln breitete sich aus.
Unruhig betrachtete ich später die Website: Eso-Sound, aber nette Gesichter. Keine Erwähnung im Jahresbericht der Sektenbeauftragten. Was sind »schamanische, spirituelle, sexuelle Techniken«? Ich sollte mein morgendliches Gymnastikprogramm umgehend verschärfen. Ich googelte nach Gründen, die meine Teilnahme im letzten Moment verhindern könnten. Doch Kritik war kaum zu finden. Stattdessen euphorische Kommentare aus aller Welt: »Amazing Transformation. Most important experience of my life. Should have done it twenty years earlier.« Skepsis versus Neugier.
Sara schwor, dass ich mich als Kerl auf diesem Workshop nicht zum Affen machen würde. Sie und ihr Mann hatten es ja auch überlebt. »Du kannst jederzeit abhauen«, erklärte Sara. Was hatte ich zu verlieren? Nicht mehr als die Kursgebühr, die einer Woche Wellnesshotel entsprach, und einige Urlaubstage. Und was gab es zu gewinnen? Eine faszinierende Expedition zu den wunderlichsten Abgründen der Welt, die spannendste Reise meines Lebens – einen Trip zu mir selbst.
Tag 1
Ich bin nicht verklemmt. Mag sein, dass ich in der Sauna das Handtuch zufällig mal in Hüfthöhe halte. Nacktsein sei doch ganz natürlich, hatten wir unsere Kinder so oft gelehrt. Nur jetzt gerade nicht. Es wird zum Äußersten kommen bei diesem Tantra-Workshop. Das habe ich nicht gewollt. Oder doch? Wollten wir das Leben als Großstadtzyniker nicht mit ein wenig mehr Sinn und Freude füllen, aus lauter Panik, auf dem Sterbebett ein ungelebtes Leben zu bereuen?
Ich wäre so gern ein souveräner, starker Mann. Stattdessen stehe ich inmitten von fünf wildfremden, viel jüngeren Menschen, die im Schneidersitz hocken und auf meine Körpermitte starren. Sieben solcher Gruppen sind im Raum verteilt. Alle spielen das Pferd-und-Reiter-Spiel: Wir sollen in unseren Körper spüren, er ist das Pferd. Der Kopf ist der Reiter. Was sagt das Pferd? Ich halte die Augen geschlossen und lausche tapfer. Das Körperpferd fühlt sich erschöpft und vernachlässigt, traurig. Perspektivwechsel. Was sagt der Kopf? Er schämt sich für seine Rücksichtslosigkeit. Immer nur Sporen und Gerte. Schneller! Weiter! Früher raus! Fertig werden! Du musst, du musst, du musst. Klar, Erholen ist wichtig, weiß der Kopf. Aber heute muss Vitasprint reichen. Pausen später. Immer alles später. Was hast du über fünfzig Jahre lang mit mir getrieben, fragt mein ausgemergelter Klepper. Mein Kopf trägt schwarze Uniform und Sonnenbrille. Bin ich das? Tränen steigen auf. Es werden viele folgen.
Ein leiser Gong. Ich öffne die Augen und blicke in fünf sanfte, ernste Augenpaare. Kein Grinsen. Ich habe mich nackig gemacht. Kein Verstecken, kein Posen, stattdessen schonungslose Ehrlichkeit, zum ersten Mal seit Langem. Und diese Gruppe hat mich gehalten. Ich gucke noch mal. Grinst wirklich niemand? Danke.
Ich setze mich zitternd. Wo ist die Unterhose?
Eine filigrane Frau stellt sich in die Mitte. Sie zieht ihr Oberteil aus. Sie liebe ihren Körper, sagt sie, auch die Haare, auf dem Kopf, unter den Armen, zwischen den Beinen. Schluchzen. Der Reiter will keine Haare, weil die Welt keine Haare will. Rasier dich endlich, befehle er, alle rasieren sich. Sie krallt sich ins Bündchen ihres Schlüpfers. Anschwellendes Schluchzen. Sie erzählt, wie ein junger Mann, den sie liebte, sie das erste Mal nackt sah und sich angeekelt abwandte.
Mit einem Ruck zieht sie ihren Slip hinunter. Ein wilder Busch. Stolz, flüstert ihr Pferd. Schäm dich, brüllt der Reiter. Ich will den Kerl würgen, der sie missachtete. Ich suche ihre Augen, will sie mit meinem Blick umarmen. Stopp! Empathie ist erlaubt, haben die Trainer gesagt, aber keine manipulative Anteilnahme. Lass die Tränen der anderen fließen. Widerstehe der Versuchung, billige Trostpunkte zu sammeln. Wer was braucht, soll es sagen. Autonomie first.
Gong. Die Frau setzt sich hin, nackt. Ich fühle mich unwohl in Unterhose.
Jetzt der junge Israeli. Leise berichtet er von orthodoxen Glaubenssätzen, die seine Kindheit prägten. Dass sein Pferd noch nie die Zärtlichkeit einer Frau gespürt habe. Dass sein Reiter Sex verbiete. Dass sein Pferd vor Geilheit durchgehe. Dass er sich mit Karriere betäube. Dass er in Pornos ersticke. Er brüllt, dass er diese verdammte einsame Schuld nicht mehr ertrage. Er ist sichtlich erregt.
Verstohlener Blick in den Saal: überall Heulen, Kreischen, Stille. In der ersten Runde fielen die Klamotten spärlich, jetzt fliegen sie. Gut dreißig Wildfremde öffnen sich einander, einfach so. Ein Kessel Seelenmüll kocht über. Wo mag diese Woche enden?
Nun liege ich im schmalen Bett der spartanischen Seminar-Herberge und versuche, die Nachtaufgabe zu bewältigen: »Just enjoy yourself«, hatte Coach Dez Nichols fröhlich angeordnet. Haha.
Tag 2
Fünf Stunden Schlaf. Sonst brauche ich sieben. Ungewohnte Klarheit. Herrlicher dänischer Horizont um halb sechs. Ich gehe barfuß durch den Garten, strecke mich, vermisse die vertraute Verspannung im linken unteren Rücken. Ich genieße Tau, Frische, Morgensonne und merke, wie Sarkasmus über »achtsamen Eso-Scheiß« aufsteigen will. Rasch eine SMS nach Hause, dass hier keine Sektenexzesse abgehen, bis jetzt jedenfalls nicht. Mails? Nee. Keine Lust auf online. Auch neu. Die Welt jenseits der Hecke ist mir egal.
Im Saal wird Chakren-Atmung angeboten, eine gute, alte Osho-Meditation. Die sieben Chakras – Perinäum, Nabel, Solarplexus, Herz, Kehle, Stirn, Scheitel – markieren energetische Knotenpunkte im Körper, jeder mit eigener Qualität, Farbe, Schwingung. Medizinisch vielleicht nicht korrekt, aber ein gutes Bild, um Körper, Geist und Seele zu ordnen.
Bei der Meditation wird der Atem vom untersten zum nächsthöheren Chakra gelenkt, dabei immer schneller atmen, dann langsam runter, wieder hoch, drei Mal, eine Stunde lang, die Augen geschlossen. Irgendwann bin ich drin, löse mich auf. Wow. Warum mache ich so was nicht jeden Morgen?
Frühstück vegetarisch, klar. Es gibt zwei Sorten Teilnehmer: Die Kaffeetypen sind in den Vierzigern, berufstätig, Mütter knapp vor, Väter kurz nach der Trennung, Medien-, Marketing-, Computerleute, ernüchtert in Routinen. Die Teepartei ist um die dreißig, Yoga-affin, Heilberufe, kaum Kinder, Weltretter. Alle suchen Sinn, alle haben gestern zum Start versprochen, ehrlich mit sich und anderen zu sein, offen, verletzlich. Angenehm wenig Geschwätz. Nicht ohne Mühe halte ich meinen Ironiekasper eingesperrt.
Dieselbe kleine Gruppe, die sich voreinander ausgezogen hat, trifft sich jeden Morgen zum Austausch, meine kleine Familie. Wie fühlst du dich? Wie war die Nacht? Je fünf Minuten Redezeit; keine Kommentare, keine Fragen. Ich spreche über meine Konfusion: Ich weiß, dass ich zu schnell, zu oberflächlich, zu unbewusst lebe. Egal, was ich mache, im Kopf bin ich schon bei der nächsten Aufgabe. Statt hier und jetzt bin ich woanders und später. Halt doch einfach mal an, blödes Leben, damit ich mich fühlen kann, als Mensch, als Mann. Meine kleine Familie guckt mich mitfühlend an. Nasse Flecken auf meinem Hosenbein. Ich habe geweint, ohne es zu merken.
Wüste Musik aus dem Gruppenraum. Alle tanzen. Mein Körperpferd will stampfen. Sieht definitiv nicht cool aus. Was die anderen denken? Mir egal. Aufgabe des Tages: nicht immer sofort be- und vor allem abwerten, einfach nur liebevoll wahrnehmen. Ein muskulöser Finne macht Liegestütze, ein paar Frauen umtanzen ihn. Angeber. Das war keine Bewertung, sondern eine Feststellung.
Dann der große Morgenkreis: vierzig Teilnehmer, eine Handvoll Assistenten, drei Trainer. »Take a deep breath.« Wer mag, darf reden, aber bitte in Ich-Botschaften. Auf Resolutionen ist zu verzichten. Die Nachtaufgabe hat den wenigsten Vergnügen bereitet. Dabei kann »enjoy yourself« alles Mögliche bedeuten, und sei es der Blick aus dem Fenster auf die wogenden Bäume. Reingefallen, auf meinen eigenen Leistungswahn. Orgasmusfixierung könne eine Qual sein, sagen Sexualwissenschaftler. Orgasmusmangel aber auch, entgegnet der Alltag.
Eine Yoga-Frau erzählt, wie schmerzhaft sie die Kluft zwischen ihrem fordernden Geist und einem erschöpften Körper wahrgenommen hat. Viele nicken. Trainer Dez Nichols weist auf eine Dysbalance: Wie oft befiehlt der Kopf, auch wenn Körper oder Seele etwas anderes wollen. So wachsen über Jahre Blockaden.
Erste Übung des Tages: Konfrontiere deinen Nachbarn mit einer möglichst absurden Bitte, und findet dann auf gemeinsames Terrain. Ich frage einen bärtigen Engländer, ob er mir sein Auto schenkt. Nein, sagt er, aber er würde es mir leihen. Sehr gut – ein Kompromiss. Dann fragt mich eine ältere, attraktive Schwedin, ob ich in der Mittagspause Sex mit ihr wolle. Klar, sagt mein Ego. Mein Anstand tut, als zögere er. Meine Seele will Geborgenheit. Meine Männlichkeit würde sich gern erst mal wieder finden. Mein schlechtes Gewissen denkt an zu Hause. Interessant: eine Frage, so viele Antworten.
Und was will ich wirklich? Wo sind meine Grenzen? Meint sie das überhaupt ernst? »Lass uns spazieren gehen«, sagt meine Intuition. Sie nickt. Gemeinsames Terrain. Fühlt sich gut an. Wir umarmen uns, erst vorsichtig, dann intensiver, aber ohne spürbare Absicht. Take a deep breath. Ich genieße das Gefühl, mein Nähebedürfnis gestillt, aber zugleich meine Integrität bewahrt zu haben. Gelingt mir im richtigen Leben viel zu selten.
Lunch am Tisch von Cheftrainer Baba Dez Nichols, 61, Freak, Kalifornier, Surfer, Polyamorist, Tantraguru, ein austrainierter Freak, beneidenswert faltenarm. Hing fünf Jahre lang bekifft in einer Hütte im Urwald von Hawaii, wurde mit Algenpulvern und anderen Superfoods wohlhabend, ist seit über zehn Jahren unterwegs, um dieses Training in die Welt zu tragen, das er selbst entwickelt hat.
Er sieht aus wie Winnetou, ein britisches Öko-Magazin nannte ihn »the world’s sexiest healer«. Der provozierend entspannte Nichols macht Männer aggressiv, die an ungelebtem Leben leiden, weil er eine perfekte Projektionsfläche bietet. Ich wollte anfangs einen Scharlatan sehen, der sich in Workshops auslebt und sich dafür auch noch bezahlen lässt, einen Blender, typisch amerikanisch-oberflächliches Windei. Was man so in einen Kerl hineinhasst, auf dessen Lebensstil man neidisch ist.
An Nichols’ Seite coacht Elaine Young, 48, eine Atem- und Orgasmus-Trainerin aus London mit Marianne-Faithfull-Stimme, die herrlich offen und höchst kundig über die Vorzüge verschiedener Dildo-Designs spricht. Der Nachwuchstrainer heißt Binoy Milton d’Souza, 35, geboren in Goa. Er war im ersten Leben Ingenieur, im zweiten als Tango-Profi unterwegs, im dritten ist er jetzt mit Herz, Leib und Seele Coach-Lehrling.
Die drei lachen etwa fünfmal so viel wie Durchschnittsmenschen, sondern bemerkenswert wenig Smalltalk-Bullshit ab und sind offenbar nie gestresst, auch wenn sie jede Woche woanders auf der Welt lehren.
Für das einwöchige Training »Spiritual Sexual Shamanic Experience« hat sich Nichols bei Tantra und Buddhismus bedient, bei Hirnforschung, Feminismus, Soziologie, Paar- und Sexualtherapie, David Deida sowie in der Abteilung für Lebenshilfe in der nächstbesten Bahnhofsbuchhandlung. Jeder Tag ist voll Meditation, Ritual, Tanz, Lektionen. Anhänger des Bhagwan erkennen einen Hauch von Poona wieder, vor allem die Elemente des Tantra, die sich durch viele asiatische Lehren ziehen, im Westen aber vorwiegend auf die Jagd nach Superorgasmen reduziert werden. Das stimmt zum Teil, denn Tantra betrachtet sexuelle Energie als göttliche Lebenskraft und die Vereinigung als Gebet.
Aber Tantra ist größer. Das Wort stammt aus dem Sanskrit, bedeutet Zusammenhang, Einheit, Gewebe und basiert auf der Idee, dass unsere Welt aus einer einzigen Quelle stammt. Polaritäten wie Yin und Yang, Shiva und Shakti, Yoni und Lingam sind keine Gegensätze, sondern bilden durch ihre Wechselwirkungen das Eine, Göttliche ab. Tantriker sehen das Universum als Netzwerk von tanzenden Energien, die auch durch den Körper fließen, sofern nicht Ego, Muster, Traumata blockieren.
Tantra bietet eine vereinende, integrierende, liebevoll akzeptierende Weltsicht, Gegenentwurf zu einer von Idioten polarisierten Welt. Liebe ist die Basis für alles, das Sein im Hier und Jetzt die tägliche Aufgabe, Autonomie und Verantwortung die Grundhaltung. Vor allem aber ist Tantra zunächst einmal ein Grundkurs in gutem Benehmen: Ich bin okay, du bist okay, wir sind okay. Weil alle alle lieben, bestehen weder Besitzansprüche noch Eifersüchteleien. Das ist der polyamore Teil, theoretisch ganz gut nachzuvollziehen, bei der praktischen Anwendung sieht es schwieriger aus.
Die ehernen Gesetze des Tantra lauten: Tue nichts, was dir schadet. Tue nichts, was anderen schadet. Tue nichts, was der Welt schadet. Das Göttliche ist als Liebe in dir. Höre auf dich. Vertraue dir. Lasse dich nicht manipulieren und manipuliere andere nicht. Könnte von Jesus sein.
Das Ziel: innere Ruhe, Leichtigkeit, »Ease«.
Das Vorgehen: die eigenen Schatten in Körper, Geist, Seele aufspüren, ob Glaubenssätze aus der Kindheit, gesellschaftliche, kulturelle, religiöse Muster, und sie durch liebevolles Umarmen zur Strecke bringen.
Methode: eine Menge Übungen, Rituale, Meditationen, die zum Ende hin auf wundersame Weise in ein Fest der persönlichen Freiheit münden, bei jedem anders, bei fast keinem ohne Wirkung.
Geeignet: für jedes Alter, jede Religion, jedes Mindset, jeden, der Spaß hat, seine innere Wildheit zu befreien. Aber: Kenne und respektiere deine Grenzen. Sage ehrlich Ja oder Nein. Jedes ehrliche Wort ermutigt andere, sich ebenfalls zu öffnen. Regel für die kommenden Tage: Ein Ja ist ein Ja, ein Nein ist ein Nein, ein Vielleicht ist auch ein Nein. Nichts passiert hier ohne Konsens, nicht mal die leichteste Berührung. Jede Meinung kann jederzeit ohne Angabe von Gründen geändert werden.
Jedem steht frei, wie weit er oder sie gehen mag.
Und ich? Weiß noch nicht. Alles etwas viel gerade. Aber eines wird mir langsam klar: Ich kann dieses Leben aus ganz anderen Perspektiven betrachten als der des deutschen Durchschnittsparanoikers. Ich könnte zum Beispiel meine Bedürfnisse ehrlich formulieren, meine Bedenken, meine Grenzen. Und nicht immer alles schweigend voraussetzen wie daheim oder ausgedachte Erwartungen zu erfüllen versuchen.
Später stünde ein spannendes Ritual an, verspricht Dez. Lange Schlangen vor den Duschen.