Marcellus - Graf von Arduena - Michael Kuhn - E-Book

Marcellus - Graf von Arduena E-Book

Michael Kuhn

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Beschreibung

Der Westen Europas im Jahre 506: Nach der Auflösung des Imperiums haben die Franken das römische Erbe in weiten Teilen Galliens und Germaniens angetreten. Nichts scheint den Siegeszug Chlodwigs aufhalten zu können. In einer letzten Anstrengung versuchen Alamannen, Westgoten und Burgunden, sich der Vorherrschaft der Franken zu widersetzen. Zehn Jahre sind vergangen, seit der ungestüme Marcellus seinem König die Schlacht von Zülpich gewann. Vom undankbaren Chlodwig ins Exil geschickt, verbringt er die folgenden Jahre in der beschaulichen Ruhe und Abgeschiedenheit seiner moselländischen Heimat. Seine Feinde und Widersacher haben ihn jedoch nicht vergessen. Wie im ersten Teil der Marcellus-Trilogie ist der Handlung wieder eine Spurensuche angegliedert. Der Leser ist gleichsam eingeladen, die Handlungsorte des Romans aufzusuchen und viel Wissenswertes über die Zeit des frühen Mittelalters aufzunehmen.

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Seitenzahl: 465

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Ammianus-Verlag

Der Autor

Michael Kuhn M.A., Jahrgang 1955, studierte in Aachen Geschichte und Politische Wissenschaften. Im Anschluss war er in unterschiedlichen historischen Projekten involviert und organisierte in eigenen Unternehmen geschichtliche Events. Zurzeit arbeitet er neben seiner Tätigkeit als Autor in der Archäologie.

Das Anliegen, bei seinen Mitmenschen Interesse und Verständnis für die faszinierende Welt der Geschichte zu wecken, durchzieht seine bisherige Vita wie ein roter Faden.

So steht der vorliegende Band am Beginn einer Buchreihe, die den Leser mit Spannung und Information auf eine Zeitreise in die aufregendsten Epochen unserer Vergangenheit mitnimmt.

Zurzeit schreibt Michael Kuhn an der Fortsetzung der abenteurerlichen Lebensgeschichte des römischen Offiziers Marcus Junius Maximus.

Michael Kuhn

Marcellus Graf von Arduena

Band II

Impressum

Ebook basiert auf erster Auflage von November 2012

Copyright © by Ammianus Verlag, Aachen Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, Tonträger jeder Art, fotomechanische Wiedergabe und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Soweit durch Hinweis oder Verlinkung auf andere Websites zusätzliche Informationen zugänglich gemacht werden, erfolgt hiermit der Hinweis darauf, dass keine Inhaltskontrolle stattfindet und jegliche Haftung für den Inhalt dieser Seiten ausgeschlossen ist.

Umschlaggestaltung und Bildbearbeitung: Thomas Kuhn & Aleksandra Stojkovic (Helmabbildung Cover: mit freundlicher Genehmigung des Landesmuseums Mainz) Zeichnungen und Kartenmaterial: Tatjana Lehnen Fotos:wenn nicht anders angegeben, Michael Kuhn und Lars Neger Wissenschaftliches Lektorat: Dr. Sebastian Ristow Lektorat: Angelika KielE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Ebook-ISBN: 9783945025260

Widmung

Für Angelika und Melanie, willkommen im Team von Ammianus

Das Herrschaftsgebiet derfränkischen Könige an Rhein, Mosel und Maas zu Beginn des 6.Jahrhunderts nach Christus

Alamannisches Dorf – Lauchheim

Antunacum – Andernach

Aquis – Aachen

Arduena – Erden

Bodobriga – Boppard

Bonna – Bonn

Bononia – Boulogne-sur-Mer (F)

Burungum – Haus Bürgel, Monheim

Cameracum –Cambrai (F)

Colonia – Köln

Confluentes – Koblenz

Divodurum – Metz (F)

Durnomagus – Dormagen

Iuliacum – Jülich

Mettis / Divodurum – Metz (F)

Mogontiacum – Mainz

Parisia – Paris (F)

Remis – Reims (F)

Rigomagus – Remagen

Runde Berg – Bad Urach

Suessonis – Soisson (F)

Tolbiacum – Zülpich

Traiectum – Maastricht(NL)

Treveris – Trier

Turnacum – Tournai (B)

Dramatis Personae

Die Familie

Marcellus:Ehemann, Vater, Krieger

Hilka:Ehefrau, Freundin Clothildes

Pippin:dergemeinsame Sohn

Die Gefährten

Sebastianus:Romane aus der Treveris

Quirinus: Romane aus Bodobriga

Wulfram:Burgunde, väterlicher Freund

Ullrich: der Tapfere

Tassilo:Sohn einer Toten

Das Königshaus der Merowinger

Chlodwig*:der Merowinger

Clothilde*:Chlodwigs Gemahlin, Tochter Chilperichs von Burgund

Theuderich*:Bastard,ältester Sohn des Merowingers

Remigius*:Bischof von Reims, Berater am HofeChlodwigs

Hortarius:Militär und Ratgeber

Die fränkischen Kleinkönige undihr Gefolge

Sigibert*:König der Rheinfranken

Chloderich*:„der Parasit“, Sigiberts Sohnund Thronfolger

Silinga:Chloderichs Frau, heimliche Königin

Rotrudis: rechte HandChloderichs, Freundin Silingas

Folmar:Gefolgsmann wider Willen

Ursula:Folmars Frau

Ragnachar*:König von Cameracum

Farro*:Berater Ragnachars

Chararich*:König von Bononia

Allowin:Chararichs Sohn

* Historische Persönlichkeiten

Prolog

Es hatte Jahre gedauert, bis Chlodwig,König der Franken, sich entschloss, sein Versprechen einzulösen. Langehatten seine Berater und Königin Chlothilde auf ihn eingeredet, daszu tun, was er an jenem denkwürdigen Tagzu Turonum gelobt hatte.

Mit finsteren Blicken musterte der Königdurch das Fenster das geschäftige Treiben vor der Bischofskirche.Alle Edlen und die hohen Kleriker seines Reiches warenherbeigeeilt, Zeuge des Tages zu werden, an dem er, dergroße Merowinger, sein Haupt unter der Taufe beugen sollte. EinLächeln überzog seine markanten Züge, als er die Kleinkönige Chararichund Ragnachar erkannte, die im weißen Taufgewand auf das Kirchenportalzustrebten.

„Du tust gut daran, unserem Herrn Jesus Christus endlichzu Willen zu sein.“

Chlodwig, in dessen Haar und Schnauzbartsich die ersten grauen Strähnen mischten, wandte seinen Kopf derTüre zu, durch die eine Frau und ein Mann denRaum betraten.

An Chlothilde, seiner Frau und Königin, schienen dieJahre spurlos vorüber gegangen zu sein. Immer noch mädchenhaft schlankund von liebreizendem Äußeren, bedachte sie ihren bulligen Gemahl miteinem prüfenden Blick ihrer blassblauen Augen. Hinter ihr überschritt BischofRemigius die Schwelle, der gerade im vergangenen Winter erheblich anKörperfülle gewonnen hatte.

„Das wird der heutige Tag zeigen“, grantelteder König. „Murren die Krieger, dass ihr Gebieter den Götternden Rücken kehrt?“

„Im Gegenteil“, rang der Bischof in gespielterEmpörung die Hände.

„Es ist, als ob Jesus Christus undder heilige Martinus alle Bedenken und Vorbehalte hinfortgenommen hätten. Im ganzen Reich werden sichFreude und Frohlocken erheben, wenn du den geheiligten Fluten desTaufbeckens entsteigst.“

„Weil ich es so befohlen habe“, trotzte Chlodwigdem Kirchenmann.

„Bedenke“, entgegnete Remigius, „dass viele deiner Edlen dieTaufgewänder angelegt haben, um es dir gleichzutun.“

Mit geringschätzigem Blickmusterte Chlodwig die über einen Schemel drapierte Tunika ausweißem Leinen. „Das ist nicht das Gewand eines Kriegers, sonderndas Hemd eines Büßers.“

„Rein und unbefleckt sollst du vordeinen Gott treten.“ Ein leises Zittern schwang in derStimme des Bischofs, als ob er fürchtete, dass sich derKönig im letzten Augenblick anders besinnen könnte.

„So wie ChlothildesErstgeborener?“, herrschte Chlodwig den Bischof an. „Er starb noch imTaufhemd, bevor man es ihm ausziehen konnte.“

„Als Christ undohne Sünde standen ihm die Pforten des Himmels weit offen“,verteidigte sich Remigius mannhaft.

Chlothilde war bei der Erwähnung destragischen Kindstodes zusammengezuckt, hielt aber dem Blick ihres Mannesstand.

„Es gibt kein Zurück, Chlodwig“, unterstützte sie den Bischof.„Hast du nicht den anderen Königen befohlen, es dir gleichzutun?Du zierst dich, wo Chararich und Ragnachar in ihren Taufgewändernfrierend deine Ankunft erwarten.“

Bei der Erwähnung seiner Erbfeinde, dieihm im Jahr der Schlacht von Tolbiacum nach dem Lebengetrachtet hatten, erhellte sich die Miene des Merowingers.

„Und hoffennicht Tausende rechtgläubiger Westgoten und Burgunden, aus den Klauen ihrerarianischen Bedrücker befreit zu werden?“ Remigius verschränkte die Armevor der Brust und nickte Chlodwig aufmunternd zu.

Esarbeitete im Gesicht des Königs, der sich nur ungern inseinen wahren Beweggründen ertappen ließ.

Was ging ihn, denBegründer des fränkischen Großreiches, das Gezeter des Gottesmannes und seinerGemahlin um sein Seelenheil an? Wenn ihm der Gottder Christen, wie einst dem großen Imperator Constantinus, bei derMehrung seiner Macht von Nutzen sein könnte, war ihm dieserJesus willkommen. Thyr und Wodan sähen es ihm nach, wenner sich an diesem nasskalten Tag vom Bischof mit Wasserübergießen ließe. Was und an wen er glaubte beziehungsweiseworan nicht, war alleine seine Sache.

Wichtiger war es, dassseine Untertanen, Franken wie Romanen, auch in ihren Überzeugungen vereintwürden und ihn die katholischen Untertanen seiner Feinde alsden wahren, rechtgläubigen Herrscher anerkannten.

„Chloderich“, wechselte er denGesprächsgegenstand, „der Sohn des Rheinfranken Sigibert hat sich meinem Willenwidersetzt und weigert sich, die Taufe zu empfangen.“

„Weil erden Zorn seines Vaters fürchtet“, kam Chlothilde einer unüberlegtenEntgegnung des Bischofs zuvor. „Seine Gemahlin, meine Base Silinga, hatmir berichtet, dass Sigibert imstande sei, ihn als Thronerbenzu übergehen, wenn er noch einmal etwas Unüberlegtes unternehmenwürde. Du erinnerst dich doch an die unbewiesene Verschwörung gegen dein Leben, ander er beteiligt gewesen sein soll.“

„Was für ein König“,spottete Chlodwig, den gescheiterten Anschlag übergehend. „Sigibert schickt Chloderich, weiler selber nicht kommen kann. Weil ihn sein lahmes Beinschmerzt, das er seit der Schlacht von Tolbiacumimmer dann als Ausrede anführt, wenn er mir nicht begegnenwill.“

„Woran du nicht schuldlos bist“, entgegnete der Bischof. „Wärstdu ihm damals gegen die Alamannen früher zu Hilfe geeilt,wäre er nicht verwundet worden. Das war eine Sünde.“

„Wärendieser Marcellus und seine Freunde nicht gewesen, wäre Sigibert jetzttot und sein Reich an das unsere gefallen, und ichhätte Chloderich und seine Mitverschwörer längst zu ihren Ahnen geschickt.Stattdessen muss ich sie weiter ertragen und auf einen günstigenAugenblick hoffen.“

„Der noch nicht gekommen ist“, warf Chlothildeein. „Ohne die Mithilfe von Ragnachar, Chararich und denRheinfranken wird es schwer, gegen die Burgunden und Westgoten zubestehen.“ Chlothilde unterbrach sich, ehe sie fortfuhr. „Mir wurdeberichtet, dass sich Marcellus und seine Hilka in der Stadtbefinden. Sie haben es sich nicht nehmen lassen, dem denkwürdigenEreignis deiner Taufe beizuwohnen.“

„Weil ich allen Gefolgsmännern befohlen habe, sich hier zuversammeln“, schnaubte Chlodwig.

„Dann tätest du gut daran“, fuhrChlothilde ungerührt fort, „einen Zusammenstoß zwischen Marcellus und Chloderichzu verhindern. Was, wenn Sigibert im bevorstehenden Krieg gegen dieBurgunden die Seiten wechselt, weil seinem Sohn und Thronfolger derihm zustehende Respekt verweigert wurde?“

„Das würde ich zugerne sehen“, lachte Chlodwig auf. „Aber Marcellus wird esnicht wagen, meinen Zorn ein weiteres Mal zu erregen.“

„Undwenn doch?“, ließ der Bischof vernehmen.

„Dann wird es ihn einiges kosten, meineGunst zurückzugewinnen“, dräute der Merowinger.

Endlich, es dämmerte bereits, öffneten sich die Tore des Stadtpalastes, in dessen Zimmerfluchten derMerowinger für die Dauer des Aufenthaltes sein Quartier bezogen hatte.

Jeder Stadtbewohner oder Landmann, der es ermöglichen konnte, war andiesem Weihnachtstag herbeigeeilt, um die Taufe des Königs zu sehen.Sie waren es gewohnt, am Tage der Geburt des Herrnvom Bischof mit mildtätigen Gaben bedacht zu werden. Derheutige Tag versprach jedoch, alle vorhergehenden zu übertreffen. Weiltedoch nicht nur der Bischof in der Stadt, sondern eshatten sich alle Großen und Edlen des Reiches nebst ihremGefolge eingefunden.

Dicht gedrängt und mehrere Reihen tief säumten Männer,Frauen und Kinder die geschmückten Straßen, wobei die besten Plätzeden Gebrechlichen und Kleinen vorbehalten waren. Weiße und bunteTücher hingen aus den Fenstern oder spannten sich über dieGassen, während auf den Freiflächen und Plätzen erlesene Duftkräuter und Weihrauch verbranntwurden. Weiß wölkte es, die Wohlgerüche des Himmels verbreitend, ausmetallenen Dreifüßen und Kesseln in die Höhe.

Die Leibwachen desMerowingers und die Bediensteten des Bischofs hatten Mühe, einen Durchgangfreizuhalten. Kreischen und Schreie flackerten auf, wenn die Kriegerihre Schilde und Lanzenschäfte einsetzten, um die Mengeeinige Schritte zurückzutreiben. Voller Unruhe musterten dieBucellarier die Massen. Ihr Befehlshaber Hortarius hatte ihnen eingeschärft,vor allem die Männer zu beobachten. Chlodwig hatte viele Feindeund darauf bestanden, dass sein Gebot, ohne Waffen zukommen, genauestens eingehalten wurde. Es wäre nicht das erste Malgewesen, dass ein rachsüchtiger Untertan oder gedungener Mörder versucht hätte,eine solche Situation für sein ruchloses Vorhaben zunutzen. Alleine im vergangenen Jahr waren mehrere Anschläge auf das Leben desKönigs erst im letzten Augenblick verhindert worden.

Jubelrufe brandeten auf,als Bischof Remigius und die ersten in Weiß gewandeten Täuflingenahten.

Den Anfang machte König Ragnachar, den zwei Klerikerflankierten. Schmährufe mischten sich unter den Beifall, als die Mengeseinen Berater Farro ausmachte.

Der als korrupt und intrigant geltendeRomane hielt sich hinter seinen hünenhaften Gefolgsherrn, der ihn ummehr als Kopfhöhe überragte. Vor allem die Frauen des Hofesmieden die Nähe des als Lüstling verschrienen Ratgebers. Öfterals ihm lieb war, hatte ihn Ragnachar gegen den Zornder geprellten Ehemänner in Schutz nehmen müssen. Nur unter vorgehaltenerHand raunte man sich zu, dass er sich sogar aneiner Nonne vergangen haben sollte. Die bedauernswerte Frau konnte zurWahrheitsfindung nicht mehr beitragen, da sie vor Scham ins Wassergegangen war.

Hinter diesem ungleichen Paar schritt der beleibte Chararichin Begleitung seines Sohnes. Im Gegensatz zu Ragnachar, dereine stolze Miene aufgesetzt hatte, sah man Chararich seinenVerdruss an. Immer wieder zupfte er an den Faltenseines zu engen Gewandes, das seinen mächtigen Bauch unvorteilhaft hervortretenließ.

Ihm folgten einige einflussreiche Militärs, alles Edle aus Chlodwigsdirektem Umfeld, und einige ausgesuchte Krieger, die den Aufzug komplettierten. Im Ganzen nicht mehr als dreißig Personen, die jedocheinen repräsentativen Querschnitt von Chlodwigs Gefolgschaft darstellten. Ihnen oblag es,dafür zu sorgen, dass ihre Männer ebenfalls den Weg zuGott finden sollten.

Chloderich, Sohn und Thronfolger des Rheinfranken Sigibert,hatte sich mit seiner Frau Silinga und einigen Getreuen unterdie Zuschauer gemischt und erwartete die Vorüberziehenden am Endedes Prozessionsweges. Dieser Ort war den Gästen zugeteilt worden,für die kein Platz im überfüllten Atrium und der engenTaufkapelle vorgesehen war. Als ungetaufter Heide wäre Chloderich der Zugangauch ohne diese Beschränkung verweigert worden, während die Frauen,bis auf die Königin Chlothilde, ebenfalls ausgeschlossen waren.

Verstohlen grüßte der Rheinfranke diebeiden Könige und raunte Silinga etwas zu, die daraufhin ihre Augenumherschweifen ließ. Ihr Blick nahm einen unwilligen Ausdruck an, alssie fand, wonach sie gesucht hatte.

In diesem Augenblick kündigtenSignalhörner das Kommen des Merowingers an. Passend zu seinemTaufgewand hatte der König einen weißen Mantel übergeworfen, der ihnvor dem schneidenden Wind schützte.

Chlothilde hatte sich für einrotes Kleid und einen blauen Umhang entschieden, um demunschuldigen Weiß ihres königlichen Gemahls mehr Geltung zu verschaffen. Außereinem goldenen Armreif und einer vom Gürtel herabhängenden Perlenkette hattesie auf allen Schmuck verzichtet.

Aus den Augenwinkeln gewahrteChlodwig den eisigen Blick, mit dem Silinga die auf dergegenüberliegenden Straßenseite wartende Hilka musterte. Die leichte Wölbung des Bauchesunter ihrem Mantel sagte ihm, dass die Frau schwanger war.Neben ihr erkannte er seinen Gefolgsmann Marcellus, den ernach der Schlacht von Tolbiacum aus seinem Umfeld verbannthatte. Er stieß Chlothilde an und wies mit einer leichtenBewegung des Kopfes auf die beiden, als sie den Zugangzum Atrium erreicht hatten, das den gedrungenen Steinbau der Kirchemit der Taufkapelle verband.

Die Königin grüßte Hilka mit einemhuldvollen Lächeln, während sie die Burgundin, ihre Base, nur miteinem flüchtigen Augenaufschlag bedachte. Dann hatte der Aufzug dasAtrium betreten und die beiden verfeindeten Gruppen waren sichselbst überlassen.

Im Innern des Zwischenhofes hatten die übrigen Täuflingeihre Plätze vor dem Zutritt zum Baptisterium eingenommen und bildetenein Spalier, das Chlodwig und Chlothilde gemessenen Schrittes passierten.

DieTürflügel standen weit offen, sodass man im Schein der Kerzendie im Hintergrund gelegene, von einem Baldachin überwölbte Einfassungdes Taufbeckens erkennen konnte.

„Hast du die Blicke gesehen“, raunteChlothilde dem Merowinger zu, „die sich Hilka und Silinga zugeworfenhaben?“ Chlodwigs brummte und bestätigte mit einem Nicken.

„Was denkstdu“, fuhr Chlothilde fort, „wenn der Romane und der Rheinfrankeaneinander geraten?“

„Nichts Gutes.“ Der Blick des Merowingers fiel aufFlorentinus, einen Offizier seiner Leibwache, den er mit einer Handbewegungzu sich befahl.

„Geh und sorge dafür, dass eskeinen Streit zwischen Marcellus und Chloderich gibt.“

Der Genannte nickteund begann, sich gegen den Andrang der hineinströmenden Gästedurch das Atrium ins Freie zu kämpfen.

Remigius, der Bischofvon Remis, starrte ungeduldig auf den vor der Pforte verhaltendenChlodwig, der einen seiner Offiziere zu sich gewinkt hatte. Alswenn er befürchtete, dass es sich der Merowinger noch einmalanders überlegen könnte, öffnete er beide Arme und suchte denBlick des Königs.

Von Chlothilde am Arm genommen und leicht nachvorne gestoßen, gab sich Chlodwig einen Ruck und betrat diefeuchte, kühle Taufkapelle. Er blinzelte, bis sich seine Augen andas nur vom Kerzenschein durchdrungene Halbdunkel gewöhnt hatten. Nurundeutlich gewahrte er die verschwommenen Gesichter seiner Getreuen und derGroßen des Reiches vor dem Hintergrund der an denWänden angebrachten weißen Laken und bunt bestickten Tücher.

Von zweiDiakonen geleitet, die ihn rechts und links bei den Armenfassten, erklomm er über ein hölzernes Podest den Rand desTaufbeckens, wo er sich seiner Schuhe entledigte. Dann raffteer sein Gewand bis zu den Knien und stieg diewenigen Stufen in das eisige Wasser hinab, das seine Beineumspülte.

Chlothilde und die meisten Anwesenden konnten ein besorgtes Raunen nicht zurückhalten, als Chlodwig auf dem glitschigen Untergrund beinaheausgeglitten und gestrauchelt wäre.

‚Man hätte das Becken wenigstens reinigenkönnen’, schoss es dem Merowinger durch den Kopf, alser endlich einen festen Stand gefunden hatte, während die Eiseskälteseinen Waden wie mit Nadelstichen zusetzte.

Remigius hatte nach ihm,eine goldene Schale in der Hand, den Rand des Beckenserstiegen. Anscheinend zog er es vor, im Trockenen zu bleiben, denn er beugte nur das Knie und tauchte daskostbare Gefäß in die glucksende Flut. Dann erhob er sichund streckte die Rechte mit der halb gefüllte Schale nachdem Haupt des Königs.

„Beuge still deinen Nacken, Sugambrer, verehre, wasdu verfolgtest, verfolge, was du verehrtest“, dröhnte die Stimme desBischofs durch das modrige Gewölbe.

Der König zuckte und schlossdie Augen, als es kalt über den Kopf und denNacken hinab rann. Seine Knie zitterten, aber er musste nochausharren, bis Remigius seinen Scheitel und die Stirn mit geheiligtemÖl gesalbt hatte. Dann war es vollbracht und er griffnach den hilfreichen Händen, die sich ihm beim Verlassendes Beckens entgegenstreckten.

Während der Merowinger mühevoll den Rand erklomm,drang von draußen ein vielstimmiges Aufbrausen an sein Ohr. Er schauteauf die Königin, die unwissend den Kopf schüttelte.

Ragnachar machtesich jetzt als nächster bereit, um mit angewiderter Miene dasBecken zu betreten.

Endlich hatte Florentinus den Innenhof durchmessenund die Pforte erreicht.

Was im Baptisterium nur als fernesBrausen zu vernehmen war, schlug ihm auf dem Vorplatzals Gebrüll entgegen.

Umringt von einer Menschentraube sah er zwei Männer miteinanderringen, vor denen die Umstehenden zurückgewichen waren. Er erkannte denRomanen Marcellus, der den gegen ihn gezückten Dolch zur Seite stieß.Sein Kontrahent Chloderich verlor, mitgerissen vom eigenen Schwung, das Gleichgewichtund taumelte.

Florentinus schrie laut auf und schubste die vorihm Stehenden.

Der Leibwächter konnte aber nicht mehr verhindern, dassder Romane mit der Rechten ausholte und dem Thronfolger derRheinfranken die Faust ins Gesicht hieb. Es knackte, als das Nasenbein brach und Chloderich miteinem Kreischen zu Boden ging. Blutüberströmt und wimmernd wälztesich Sigiberts Sohn auf dem Pflaster.

Vergeltung

Mein Nameist Marcellus, Sohn des Sidonius, Enkel des Lucius und Urahnedes Marcus Junius Maximus, der an der Seite des ImperatorsJulian die Franken und die Alamannen besiegte.

Der erste Teilmeiner Erinnerungen beschrieb die dramatischen Ereignisse, die ich imvierhundertsechsundneunzigsten Jahr nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christuserlebt hatte.

Jahre zuvor, ich war noch ein Kind, hattemich mein Vater an den Hof Sigiberts geschickt, damitich zum Franken erzogen werde. Als Romane und Sohn derheiteren Mosel brauchte ich aber eine Weile, um inder rauen Metropole am Rhein heimisch zu werden. Ich schaffte es mit der Hilfemeiner Freunde, die aus den unterschiedlichsten Regionen des Reichesihren Weg in die Colonia gefunden hatten.

Den beidenRomanen Sebastianus und Quirinus gesellten sich bald die Franken Folmarund Pippin hinzu. Zu sechst bildeten wir eine unzertrennlicheGruppe, in der jeder für den anderen einstand. Gemeinsam übtenwir uns im Gebrauch der Waffen und wurden in dashöfische Leben der Colonia eingeführt. Die Abende gehörten jedoch unsund wir erkundeten ausgiebig die zahlreichen Tavernen und verrufenen Vergnügungsstätten der Stadt.

Aber es waren nicht nur Freunde,die ich in der Colonia fand. Besonders problematisch gestaltetesich mein Verhältnis zum Thronfolger Chloderich, der mirvon Beginn an mit Argwohn und Misstrauen begegnete. Erverzieh es mir nie, dass sein Vater mir vonHerzen zugetan war und ich ihm des Öfteren als gutesBeispiel vorangestellt wurde. Er ging schließlich in seiner Eifersucht soweit, dass er seinen Kumpan Hinkmar auf mich ansetze.

Dieserlauerte mir in der Nacht auf, ließ mich von zweiHelfern zu Boden werfen und trat mir mit voller Wucht ins Gesicht. Als Andenken an diesenfeigen Anschlag blieb eine leichte Schrägstellung der gebrochenen Nase.

In der Folge ging ich Chloderich nach Möglichkeit aus demWeg, was jedoch die folgenden Streitigkeiten nicht verhinderte.

Es begannam Vorabend des großen Alamanneneinfalls. König Sigibert hatte uns denAuftrag erteilt, Silinga, die Braut seines Sohnes, sicher in dieColonia zu geleiten.

Chloderich selber hatte sich vor der gefährlichenUnternehmung gedrückt. Zu Beginn hatte er sich gegen dieseVerbindung ausgesprochen, die sein gewohntes Lotterleben zu gefährden drohte. Esüberwog aber eher die Angst, dem Feind in die Händezu fallen. Mut und Tapferkeit hatten nie zu den Tugenden des verschlagenen Thronfolgers gehört. Aber er überredete seinen Vater, uns einige üble Gesellen unter der Führung jenes Hinkmaran die Seite zu stellen, der mir einst das Gesicht verunstaltet hatte. Wiesich später herausstellen sollte, tat er das in der Absicht, mich von dieser Kreatur beseitigen zu lassen.

An einemtrüben Sommermorgen brachen wir auf und suchten mehrere Tagenach Silinga, bis wir ihre Reisegruppe endlich in Confluentes fanden.

Die schöne Burgundin zog mich, einen in den Dingender Liebe noch unerfahrenen Jüngling, sofort in ihren Bann. Dankdes Zuredens meiner Freunde erkannte ich bald das Spiel, dassie mit mir trieb, und entzog mich ihrem Einfluss. Aufgehetztvon ihrer Vertrauten Rotrudis, einem intriganten und zuweilen bösartigenCharakter, schlug ihre Zuneigung jetzt in Ablehnung um.

Unsere Gruppe war fortan in zwei Lager gespaltet, die sichargwöhnisch belauerten. Während die Frauen offen mit Hinkmar konspirierten,fand ich in Wulfram, den Führer der burgundischen Reisegruppe, einentreuen und zuverlässigen Freund.

Da uns das Heer der Alamannenden Rückweg in die Colonia versperrte, versuchten wir, unsRichtung Westen zu Chlodwig durchzuschlagen, der mit seinenKriegern aufgebrochen war, um die Rheinfranken gegen die Invasoren zuunterstützen.

Auf der Flucht vor dem Feind verschuldete Hinkmar durch sein Versagen den Tod meines Kameraden Pippin. Nur mitGlück und Geschick überstanden wir den Überfall der alamannischenStreifschar, die sich auf unsere Spur gesetzt hatte.Mein bester Freund Folmar wurde in diesem Gefecht so schwerverwundet, dass wir ihn in Marcomagus zurücklassen mussten. Dem gütigenGott im Himmel sei Dank genas er unter der Pflegeder heilkundigen Ursula und kehrte später in die Colonia zurück.

In der Sorge, seinen eigentlichen Auftrag nicht mehr ausführen zukönnen, verübte Hinkmar am folgenden Tag einen ruchlosen Anschlag aufmein Leben. Der Burgunde Wulfram eilte mir jedoch rechtzeitigzur Hilfe und wir töteten den Mörder und den letztenseiner Spießgesellen im ehrlichen Kampf.

Eine Woche später gelangtenwir endlich nach Traiectum, wo Chlodwig sein Heer sammelte.Meine Hoffnung, bei dem Merowinger in Sicherheit zu sein,erfüllte sich jedoch nicht.

Ich war der Blutrache von HinkmarsBruder Hagen verfallen, der mit Chloderich an den Hof eilteund meinen Tod forderte. Da mich auch die beiden Frauen,vor allem Rotrudis, des Mordes bezichtigten, brauchte es die ganzeAutorität des Königs, um mein Leben zu schützen. Man verständigte sich schließlich auf die Zahlung eines Wergeldes, die meineSchuld am Tode Hinkmars tilgen sollte.

Dies band mich allerdings fürden Rest meines Lebens an den Merowinger. Ich musste inseine Dienste treten und hatte damit gegen das Treuegelöbnis zuSigibert verstoßen. Das gleiche galt für Wulfram, der sich gegenSilinga und damit auch gegen seinen Gefolgsherrn, den BurgunderkönigGundobad, gestellt hatte. Wir wurden in Chlodwigs Heer eingereiht,das den Alamannen entgegenzog.

Zwei Frauen wurden in diesen dunklenTagen zu eifrigen Unterstützerinnen meiner Sache. Zum einendie Königin Chlothilde und zum anderen ihre Vertraute Hilka.

Dieschöne, junge Fränkin stand mir auch zur Seite, als Silingaein letztes Mal versuchte, mich für ihre Belange einzuspannen. Ichwies das Ansinnen der Burgundin zurück, ihr gegen den verhasstenChloderich beizustehen. Sie war entsetzt, als sie nach der erstenBegegnung mit Sigiberts Sohn erkannte, wem sie versprochen wordenwar. Verbittert begleitete sie ihren Bräutigam in die Colonia, was unsauf Dauer verfeindete.

Zwischenzeitlich hatten Chloderich und die beiden fränkischenKleinkönige Chararich und Ragnachar eine tödliche Verschwörung gegenChlodwig angezettelt. Dank meiner Hilfe gelang es, den Anschlag zuvereiteln und das Leben des Königs zu retten. Leider wares nicht möglich, den Schuldigen ihr verbrecherisches Vorhaben zu beweisen, sodass sie vorerst straffreidavonkamen.

In der Entscheidungsschlacht von Tolbiacum traf ich wieder aufChloderich. Dort wurde ich Zeuge seiner schimpflichen Feigheit undder daraus resultierenden schweren Verwundung seines Vaters, der seitdemnur noch ‚Sigibert der Lahme’ genannt wurde. Ich rettete nichtnur meinem ehemaligen Gefolgsherrn das Leben, sondern erschlug auchden König der Alamannen, was mich zum Helden machte.

InChlodwigs Augen hatte ich mich aber durch mein Eintreten fürSigibert des Ungehorsams schuldig gemacht. Er hatte aus machtpolitischen Erwägungen auf den Schlachtentod des Rheinfranken spekuliert, was ichvereitelt hatte. Die Fürsprache der Königin Chlothilde und mein Heldenstatusschützen mich vor einer Bestrafung, aber ich hatte die Gunstdes Merowingers verloren. Deshalb zog ich es auf Anraten derKönigin vor, mich in die Ruhe und Sicherheit meinesVaterhauses an der Mosel zu begeben. Mich begleiteten Wulframund meine Freunde Sebastianus und Quirinus. Das Leben derbeiden wäre am Hofe König Sigiberts wegen ihrerBeteiligung an der Aufdeckung der Verschwörung mehr als gefährdet gewesen.

Hilka, die mir eine gute Freundin geworden war, erschieneines Tages völlig überraschend mit einer Botschaft der Königin Chlothilde.In der Ruhe und Abgeschiedenheit des Moseltales fanden sich unsereHerzen und sie blieb, um mein Exil zu teilen.

Essollten Jahre vergehen, bis ich die Freunde und Feinde desgroßen Abenteuers wiedersah sehen sollte. Anlässlich seiner bevorstehenden Taufe hatteChlodwig alle Gefolgsleute nach Reims geladen, um den festlichenTag mit ihm zu begehen. Die Ereignisse und Vorfälle des Tages brachten esleider mit sich, dass mir nur eine kurze Zeit mitFolmar und seiner Gefährtin Ursula vergönnt war. Der von seinerVerwundung vollständig genesene Freund berichtete mir in allerEile, was sich seit seiner Ankunft in der Colonia zugetragenhatte.

Mit großem Gepränge war die Hochzeit von Chloderich undSilinga nach Sigiberts Genesung gefeiert worden. Die Hoffnung auf einfestes Bündnis des rheinfränkischen Königshauses mit den Burgunden sollte sichjedoch nicht erfüllen. König Gundobad war davor zurückgeschreckt, Chlodwigallzu sehr zu reizen. Ein Fehler des Burgunden, der dannin dem folgenden Waffengang gegen die Franken bis auf einehalbherzige Hilfe der Westgoten auf sich alleine gestellt war. Er hatte Glück, dass sich schließlich der große OstgoteTheoderich seiner Sache annahm und eine vernichtende Niederlage verhinderte.

Um eine große Hoffnung betrogen war Silingas Einfluss auf dierheinfränkische Politik in der Folge enge Grenzen gesetzt. Trotzdemblieb ihr der Thronfolger verfallen, was ihm die burgundische Prinzessin wenig dankte. Sie machte ausihrer körperlichen Abneigung keinen Hehl und verwies Chloderich bald aus ihren Gemächern.Wie früher sah man den Thronfolger durch die Tavernender Colonia ziehen, wo er seine Begierden mit billigenHuren befriedigte. War er nüchtern, was selten vorkam, hing ermit Rotrudis, der Vertrauten seiner Gemahlin zusammen, die ihn zuimmer neuen Intrigen anzustiften versuchte.

Seine ehemalige Gespielin Bertha, dieden entscheidenden Hinweis auf den geplanten Anschlag gegen Chlodwig gegebenhatte, wurde einige Wochen nach der Schlacht von Tolbiacumtot aus dem Rhein gezogen. Ihr Sohn überlebte dieRache des Thronfolgers, weil ihn Folmar mit Hilfe eines Mittelsmannesbei Freunden unterbrachte, die sich seiner annahmen.

Mein Freund selberhatte sich damit abgefunden, als einziger der alten Freundesgruppe imGefolgschaftsverhältnis zu Sigibert verblieben zu sein. Mit Silinga hatte erkeine Probleme, weil sie es genoss, den besten Kameraden ihresFeindes bei ihrem Gefolge zu wissen. Ursula hingegen hatte schon desÖfteren unter den Launen der Burgundin zu leiden gehabt. Hilka war derMeinung, dass vielleicht Silinga ein Auge auf meinen gutaussehenden Freund geworfen hätte.

Einen weiteren Austausch verhinderte der Zusammenstoßmit Chloderich.

Hilka und ich wurden sofort von denweiteren Feierlichkeiten ausgeschlossen. Wir sollten nach Arduena zurückkehrenund abwarten, wie Chlodwig in der Sache entscheiden würde.

Dievon Florentinus überbrachte Antwort des Merowingers ließ nicht lange aufsich warten. Er zog die Leibwache ab, die mir Chlothildeeinst zugestanden hatte, und untersagte es mir, zukünftig die Nähedes Thronfolgers zu suchen. Er entließ mich zwar nichtaus dem Gefolgschaftsverhältnis, gab mir aber deutlich zu verstehen,mich vorläufig nicht mehr zu schützen.

Es war einsam umHilka und mich geworden. Quirinus hatte es schon einige Monatenach unserer Ankunft an die Mosel zurück zu seiner Familie nach Baudobriga gezogen und Sebastianus hatte seinen Wohnsitz indie Treveris verlegt. Wenigstens er kam in regelmäßigen Abständen vorbei,um uns mit den wichtigsten Neuigkeiten zu versehen.

In demJahr, als die Krieger aus dem Krieg gegen dieBurgunden heimkehrten, gingen meine Eltern friedvoll zu Gott. Gemäßdem Willen meines Vaters begrub ich sie nach fränkischerSitte zwischen den Grundmauern des niedergelegten Steinhauses meiner Ahnen.

LediglichWulfram und einige Knechte und Mägde verblieben auf meinemAnwesen.

Ein freudiges Ereignis war die Geburt meines ersten Sohnesim Frühjahr des Jahres, das auf die Taufe desMerowingers folgte. In Gedenken an meinen so früh verstorbenen Freundgab ich ihm den Namen Pippin.

Es waren keine guten Nachrichten,die Sebastianus dieses Mal aus der Treveris nach Arduena gebracht hatte.

DieSchatten wurden länger, als wir an einem schönen Spätsommertag imSeptember aus den Weinbergen zurückkehrten. Bei Sonnenaufgang war ich mitWulfram und einigen Knechten aufgebrochen, um die ersten Reben zuschneiden. Der Karren, den wir nach Hause schoben, war biszum Rand mit den köstlichen Trauben gefüllt, die wir demSteilhang in schweißtreibender Arbeit abgerungen hatten. Ich überwachte noch das Einbringendes Lesegutes in den fest gefügten Bottich, bevor ich zumBrunnen ging, um mich vom Staub und Schweiß des Tagewerkeszu reinigen.

Von den warmen Strahlen des Tagesgestirns beschienen, glitzertees von der Wasserfläche des träge dahinfließenden Flusses bis zumir herauf. Auf den Feldern stand das Getreide hüfthoch,im Garten und an den Bäumen reiften Gemüse und Früchte.Mein Blick ruhte auf den prallen Äpfeln, Kürbissen undÄhren, und ich stellte zufrieden fest, dass es in diesemHerbst eine gute Ernte geben würde.

Trotzdem fühlte ich Unruheund Beklemmung in mir hochsteigen. Mir war, als würde trotzdes wolkenlosen Himmels ein bedrohlicher Schatten über dem Land liegen.Lag es daran, dass Pippin nicht aus dem Haus gestürmt kam,um mich zu begrüßen? Oder waren es die Vögel undInsekten, die heute nicht wie gewohnt zwitscherten und summten?Selbst unser Hund und die Katzen, die diese Stunden fürihre Pirschgänge nutzten, ließen sich nicht blicken. Oder bildeteich mir alles bloß ein und Hilka würde gleich vordie Türe treten und mich zum Essen hineinbitten?

„Marcellus“,klang es in diesem Augenblick vom Haus her. „Sebastianusist gekommen. Komm herein und hör dir an, was eruns zu sagen hat.“

Täuschte ich mich, oder hatten wirklichSorge und Bedrücktheit in der Stimme meiner Frau geklungen?

Ichtrocknete mich geschwind mit dem auf der hölzernen Brunneneinfassungliegenden Lappen und folgte Hilka in die schattige Kühle desHauses.

Sebastianus stellte seinen Becher beiseite und blickte auf, alser meine Schritte auf dem Dielenboden des Wohnraumes hörte. Erhatte nicht sein gewohntes, herzliches Lächeln aufgesetzt, mit dem ermich sonst begrüßte. Stattdessen nickte er mir nur zuund wies auf den freien Platz an seiner Seite.

Obwohler wie ich erst am Beginn der Dreißiger stand, begannsein dunkles Haar schütter zu werden. Seinem aufwändigen Lebensstil geschuldet, den er seit seinem Umzug in die Treveris führte,spannte seine Tunika über Bauch und Hüften. Unverändert waren seineliebenswerten Gesichtszüge und der Glanz in seinen Augen, die stetsunternehmungslustig blitzten.

Hilka hatte ihm gegenüber Platz genommen undschaute zum Fenster, dessen hölzerne Läden weit offen standen.

„Werist Chloderich?“, hörte ich die Stimme Pippins, der auf demBoden saß und ein hölzernes Pferdchen vor sich her schob.„Ist das ein böser Mann?“

Unser Sohn und bisher einzigesKind hatte mit seinen bald vier Jahren die kritische Zeitüberstanden und begonnen, in ganzen Sätzen zu sprechen. Dashereinfallende Sonnenlicht ließ seinen blonden Schopf golden aufblitzen, während ermich aus seinen tiefblauen Augen gespannt ansah. Es war außergewöhnlich, dass ein Kindromanischer Eltern alle äußeren Merkmale eines fränkischen Kindes in sich vereinte.Aber auch ich hatte in jungen Jahren einen hellblonden Schopfbesessen, der im Laufe der Jahre immer dunkler geworden war.Seine Gesichtszüge verrieten mit der hohen Stirn und derleicht geschwungenen Nase den Einfluss der Mutter. Von mirhatte er unzweifelhaft die energische Mundpartie mit dem leicht vorstehendenKinn.

„Geh nach draußen und such die Katze“, wies ihnHilka zurecht. „Wir haben etwas zu bereden, was nichts fürdich ist.“

Pippin schaute in stummer Auflehnung zu mir hoch, aberauch ich wies mit einem Nicken des Kopfes zur Türe,durch die er zögernd die Stube verließ. Draußen hörten wirihn, endlich besser gestimmt, nach seiner Lieblingskatze, dem schwarzen Kater,rufen.

Das, was mir Sebastianus nun mitteilte, war unerhört undstellte unser ganzes gemeinsames Leben in Frage.

Auch Wulfram, dermittlerweile hineingekommen war, schüttelte sein schweres Haupt und ließ sichschwerfällig auf einem Schemel nieder. Der Recke mit den markantenGesichtszügen hatte sich in den zehn Jahren, die wiruns jetzt kannten, nur wenig verändert. Ungebeugt in seiner Staturhatten sich nur einige graue Strähnen unter sein HauptundBarthaar gemischt.

„Und du bist dir sicher“, fragte HilkaSebastianus mit banger Stimme, „dass du alles richtig verstanden hast?Vielleicht liegt ja ein Irrtum vor.“

„Nein“, antwortete mein Freundbedrückt. „Es ist so, wie ich es gesagt habe. Chlodwighat mit Sigibert eine Vereinbarung getroffen, nach der denRheinfranken die Treveris und das Tal der Mosel bis nach Confluentes überlassen wird.Das ist der Preis für das starke Truppenkontingent, mitdem Chloderich den Kriegszug gegen die Westgoten unterstützen wird.“

„Wassoll das?“, begehrte ich auf. „Noch sind die Alamannen nichtbesiegt und Chlodwig plant schon den nächsten Krieg. Will erunsere Siege gegen die Burgunden und den sich abzeichnenden Erfolgim Süden aufs Spiel setzen? Und das zu diesem Preis?“

„Sigibert wird nicht lange Freude an seiner neuen Errungenschaft haben“, versuchteWulfram zu beschwichtigen. „Als ob Chlodwig den Rheinfranken einen der reichsten Teileseines Reiches auf Dauer überlässt!“

„Was unser Problem nicht löst“, entgegneteHilka schroff. „Sicherlich wird er sich alles zurückholen. Aber waswird in der Zwischenzeit aus uns?

Du weißt, dass dirChloderich in Remis blutige Rache geschworen hat.“ Den letzten Satz hattemeine Frau mit leichtem Vorwurf an mich gerichtet.

„Hättestdu vor Silinga nicht mit deiner Schwangerschaft geprahlt, wäre esnicht zum Streit mit Chloderich gekommen.“

„Das führt zu nichts“,unterbrach Wulfram den sich anbahnenden Zwist.

Seit der Geburt Pippins,die fünf Monate nach der Taufe des Merowingers erfolgtwar, hatte sich mein Zusammenleben mit Hilka verändert. Immerhäufiger stritten wir uns über alltägliche Dinge. Manchmal schien esmir, als ob sich meine Frau mit dem in ihrenAugen unbedeutenden Landleben in meinem selbst gewählten Exil nichtmehr abfinden wollte. Dann war wieder alles gut – bisder nächste Streit den häuslichen Frieden störte.

Sie war immernoch eine schöne Frau, obwohl zwei ausgeprägte Falten ihrer Mundpartieeinen harten Zug verliehen. Ihre blauen Augen schienen etwasverschattet, während ihr braunes Haar seinen Glanz bewahrt hatte.

„Wäreich an eurer Stelle“, schlug Sebastianus vor, „würde ich meineSachen packen und dorthin gehen, wo ihr vor Chloderichs Nachstellungen sicher seid.“

„Das kommt nicht in Frage“, begehrte ichauf. „Der Feigling wird es nicht wagen, seine Hand gegen einenGefolgsmann Chlodwigs zu erheben.“

„Sicherlich ist er feige“, knurrteWulfram. „Er hat gequiekt wie ein Schwein, als du ihmmit einem einzigen Schlag die Nase gebrochen hast.“

„Du hastangesichts der wichtigsten Feierlichkeit des ganzen Reiches sein Blut vergossen.“Hilka schüttelte energisch ihren Kopf, als sie diese Worte hervorstieß.„Das war ein Frevel. Das wird der Merowinger dir niemalsverzeihen. Er wird keinen Finger rühren, wenn uns Chloderich dasHaus über dem Kopf anzündet.“

„Er hat dich beleidigt“, wehrteich mich. „Er hat dich mit einem trächtigen Karnickelverglichen. Das konnte nur mit Blut gesühnt werden.“

„Nachdem du ihmder Feigheit vor dem Feind und der Zeugungsunfähigkeit bezichtigthast“, fiel Hilka mir ins Wort. „Und es hatdir Freude gemacht, sein Gesicht zu verunstalten.“ Hilka atmete schwer,bevor sie fortfuhr. „Mit deiner Unbeherrschtheit hast du unser Leben undunsere Existenz aufs Spiel gesetzt.“

„Ich muss Hilka Recht geben“,schlug sich Wulfram auf die Seite meiner Frau. „SigibertsSohn ist feige, aber hinterhältig und nachtragend. Wenn er eineMöglichkeit sieht, sich an dir zu rächen, wird er estun. Und vergiss nicht die Verschwörung gegen Chlodwig“, fuhrer fort. „Wir haben sie vereitelt und sind die einzigenZeugen seines Hochverrates, die es noch gibt. Er wird nichtsunversucht lassen, uns alle zu beseitigen.

Wir sollten unseine andere Bleibe suchen und die weitere Entwicklung in Ruheabwarten. Wenn der Krieg gegen die Westgoten gewonnen ist, wirdsich Chlodwig gegen die Rheinfranken wenden. Er wird Sigiberts Reich kassierenund Chloderich und die anderen Mitverschwörer zur Rechenschaft ziehen.Sigibert und der Thronfolger sind zu dumm, das zu sehen.Sie haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Und dann,aber erst dann“, fügte er gedehnt hinzu, „wird sich Chlodwigwieder deiner Verdienste erinnern. Du hast ihm schließlich einst den Hals gerettet.“

„Und wasist mit Chlothilde und mit Theuderich, seinem ältesten Sohn. Erist mein Freund und wird alles tun, uns zu helfen.“

„Wird er nicht, solange sein Vater die Krieger der Rheinfrankenbraucht. Chlodwig ist eine von Machthunger zerfressene Bestie. Wer sichihm in den Weg stellt, wird vernichtet. Und wennes der eigene Sohn ist.“

„Aber Sigibert“, gab ich nicht auf, „wird es nicht zulassen, dass sein Sohn etwasgegen mich unternimmt. Er wird uns schützen.“

„Wenn er davonweiß“, spottete Hilka. „Glaubst du, Chloderich geht zu seinem Vater undfragt ihn, ob er es erlaubt?“

„Trotzdem lasse ich michnicht aus meinem Vaterhaus vertreiben“, beharrte ich. „Glaubt ihr,ich lasse die Ernte und das Lesegut im Stich? Dasist unser Leben!“

„Denk an Hilka und Pippin“, gab Sebastianuszu bedenken. „Bring die beiden in Sicherheit. Ich kannsie bei Verwandten in Divodurum unterbringen, bis essich geklärt hat, ob eine wirkliche Gefahr besteht. Vielleichtunternimmt Chloderich auch nichts. Er muss schließlich bald gegen dieWestgoten ziehen und hat etwas Besseres zu tun.“

„Wir solltennichts überstürzen“, übernahm Wulfram das Wort. „Es bleibt noch Zeit, bis Chloderich seine Schergen an dieMosel schicken kann. Trotzdem sollten wir wachsam sein.“

„Und unsbeeilen, die Lese einzuholen. Ich werde einige Tage bleiben undeuch helfen“, schlug Sebastianus vor. „Wenn alles getan ist, nehmeich Hilka und Pippin mit und bringe sie persönlich nachDivodurum.“

Ich erhob mich und ging zum Fenster, wo icheinen Blick hinauswarf. Dann drehte ich mich zu Hilka umund schaute sie an, bis sie zustimmend nickte.

„Sowerden wir es machen“, entschied sie. „Aber eilt euch mitder Lese. Ich möchte zumindest Pippin in Sicherheit wissen.“

DieMenschen der Colonia waren aus ihren Häusern auf die Straßenund Plätze geeilt, als die Nachricht von dem unerwarteten politischenErfolg in der Metropole am Rhein eingetroffen war. Besonderseng drängten sie sich vor dem Portal zum alten Prätorium,dem heutigen Königspalast, um die aus Suessonis zurückkehrenden Helden zubejubeln. Fliegende Händler, die Getränke und Imbisse in Körbenund Beuteln mit sich führten, schoben sich schreiend durchdie Massen.

Das Stimmengewirr steigerte sich zum Brausen, als hochzu Ross Chloderich mit seiner Delegation in Sichtweite kam.Väter und Mütter hielten ihre Kinder hoch, um ihnen denin ein blinkendes Panzerhemd gehüllten Thronfolger zu zeigen.

Ein dunklerMann, wohl ein Romane und einen Kopf kleiner als seineBergleiter, nahm den Schluss des Zuges ein.

„Das ist Farro“, wisperte man sich zu, „der Abgesandte Ragnachars.“

Auf einen Stock gestützt war Sigibert, begleitet von seinerLeibwache, in den Innenhof geeilt, um seinen Sohn zu empfangen.Ehrliche Freude und Stolz auf diese außerordentliche Leistung seines Sohneszogen über seine eingefallenen Gesichtszüge. Neben ihm waren Silinga undeine schon ältere Frau zu erkennen, die sich Bewusst imHintergrund hielt.

Als die Kavalkade hereinpolterte, trat die Burgundin einigeSchritte vor, worauf Chloderich seinen Hengst zügelte. Sie nahm dasPferd beim Zügel und reichte ihrem Gemahl ein blaues Tuch,das dieser der jubelnden Menge zuschwenkte.

„Was für einTheater“, raunte ein hoch gewachsener Offizier der Palastwache seinerFrau zu, die sich bei ihm eingehakt hatte. „Sie hatwirklich ein Gespür für die Gefühle der Massen.“

„Mag sein,Folmar“, antwortete die schöne Ursula ihrem Mann. „Sigibert sähees aber lieber, wenn sein Sohn ihm endlich einenEnkel präsentieren würde.“

„Dafür wäre es nötig, dass sieihn mal ranlassen“, prustete Folmar gegen den Lärm der Mengean. „Da läuft doch seit beinahe zehn Jahren nichts. Oderweißt du es anders?“

„Nein“, lächelte Ursula verschmitzt. „Dafür müsstesich Chloderich mal waschen, das Saufen lassen und seine Hurendavonjagen.“

Folmar umfasste seine Ursula mit der Rechten und drückteihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, ehe sie denmittlerweile abgesessenen Ankömmlingen und dem königlichen Gefolge in denEmpfangssaal folgten.

Es waren mehrere Stunden seit dem festlichen Empfangvergangen, als Chloderich mit Farro die Privatgemächer seiner Frau betrat.Sein Atem und die rötlich verfärbte Nase zeigten an, dasser seinen Durst sehr ausgiebig gestillt hatte.

„Nein“, vertratihnen Rotrudis den Weg. „So will dich Silinga nichtsehen.“

„Wir haben aber mit ihr zu reden“, polterte derThronfolger ungehalten. „Und mit dir auch.“ Er schnäuzte sich die schrägstehende, eingedrückte Nase ineinen Zipfel seines Mantels, wobei er schmerzhaft das Gesicht verzog.

„Washast du uns zu sagen?“, forschte die verhärmte Frau inden Fünfzigern im Gesicht des Angetrunkenen.

„Es hat etwas damitzu tun“, lallte Chloderich und deutete auf sein ramponiertes Riechorgan.„Es ist an der Zeit, eine alte Rechnung zu begleichen.“

„Ich verstehe“, antwortete die grauhaarige Vertraute Silingas. Sie legtedabei die Stirn in Falten, was ihre Runzeln noch stärkerhervortreten ließ. „Wartet hier, ich hole deine Gemahlin.“ Siewies auf einige Schemel, die um einen niedrigen Tisch gruppiertwaren.

„Was für eine Hexe“, wisperte der düstere Farro seinemneuen Freund zu. „Der möchte ich nicht in meinem Bettbegegnen.“

„Aber sie hat unbestrittene Vorzüge“, lachte Chloderich. „Sieist eine vorzügliche Ratgeberin, was über den Rest hinweg tröstet.“

„Hast du…?“, fragte Farro entgeistert.

„Was weiß ich, was ichtue, wenn ich betrunken bin“, weidete sich Chloderich am Entsetzenseines Gegenübers. „Sie hat sich jedenfalls noch nicht bei Silingaüber mich beschwert.“

Silinga ließ die beiden Männer lange warten,ehe sie Rotrudis in das Besucherzimmer folgte.

Vorher warf sienoch einen Blick in den metallenen Spiegel aus versilbertemEisenblech. Sie war zufrieden mit dem Abbild, das ihr zulächelte.Keine Schwangerschaft hatte ihren makellos schlanken Körper erschlaffenlassen und die Fältchen neben ihren Mundwinkeln ließen sich mitein wenig Schminke leicht übertünchen. Sie legte den Kopf inden Nacken und schüttelte ihre blonden Locken, die bis aufden Rücken herabflossen. Die wenigen grauen Haare, die sichdaruntermischten, hatten keine Chance, die morgendliche Toilette zu überstehen. Sieignorierte den kurzen Schmerz und riss sie kurzerhand raus. Diegrößte Freude empfand sie beim Anblick ihrer leicht aufgeworfenen, schlanken Nase, dieihrem Gesicht einen kecken Ausdruck verlieh. Leider hatte sie dieAngewohnheit, bei Kälte einen rötlichen Schimmer anzunehmen, was aber mit einwenig Puder zu beheben war.

Kaum war sie mit ihrerGefährtin eingetreten, sprang Chloderich von seinem Schemel hoch und durchmaßwild gestikulierend den Raum. Ohne sich zu besinnen ließ erseinen Gefühlen freien Lauf und stieß eine Hasstirade gegen denverhassten Marcellus aus. Endlich schien er sich gefasst zu habenund hielt schwer atmend inne.

Angewidert senkte Silinga ihre Augenvor diesem Zerrbild eines königlichen Gemahls. Chloderich war nieschön gewesen, aber im betrunkenen Zustand war er widerwärtig.Nichts an diesem grobschlächtigen, plumpen Trunkenbold deutete auf eine königliche Abstammunghin. Es ekelte sie, wenn er sie nur berührte. SeinKörper war aufgedunsen und seine Haut ungesund blass und teigig.Das feiste Gesicht mit der eingeschlagenen Nase war dasAbbild eines brutalen Schlächters. Einen stolzen Thronfolger hatte siesich anders vorgestellt.

„Thyr und Wodan“, keuchte Chloderich, „haben Marcellus in meine Handgegeben. Noch heute reite ich los und schlage ihn totwie einen räudigen Hund.“

„In deinem Zustand wird es nureinen Toten geben“, spottete Silinga.

„Und der wirst dusein. Lass den Romanen in Frieden! Du gefährdestalles, wenndu unüberlegt gegen ihn losschlägst! Glaubst du, Chlodwig lässt es sichgefallen, wenn du einen seiner Gefolgsmänner umbringen lässt?“

„Der verfluchte Merowinger kann nichts machen.Er ist auf meine Krieger angewiesen, wenn es gegen dieGoten geht.“

„Das mag sein“, bestätigte Silinga, während sie ihrenGemahl mit einem abschätzigen Blick bedachte. „Das ganze Heer wirdaber seine Stimme erheben, wenn Chlodwig einen Gefolgsmann im Stich lässt.Er würde seinen Zug gegen die Goten aufschieben müssen, biser das verlorene Vertrauen zurückgewonnen hätte. Das ist eineFrage von Ehre und Treue, wenn du das verstehst.Und dann ist dein schöner Vertrag, den du mit FarrosHilfe abgeschlossen hast, nichts mehr wert.“

„Das glaube ich nicht“,entgegnete Rotrudis. „So viel politisches Kalkül traue ich demMerowinger nicht zu.“

„Ich auch nicht“, lächelte die Burgundin. „Aberseiner Frau Chlothilde und dem Bischof Remigius.“

„Trotzdem mussdieser Romane für seine Taten bezahlen. Hast du vergessen, dass der Anschlag, den Chloderich und die Teilkönige damals geplanthatten, geglückt wäre, wenn sich Marcellus und seine Freunde nicht eingemischthätten? Uns würde heute alles gehören, wenn der Merowingernicht mehr leben würde.“ Rotrudis rang beide Hände gegen dieZimmerdecke, ehe sie fortfuhr. „Und hast duvergessen, was er dir in der Silva Arduenna undin Aquis angetan hat? Und denkst du noch an Remis,als Hilka dich tödlich beleidigte und er deinen Gatten niederschlug?“

Chloderich ballte die Fäuste und grunzte, als Rotrudis anden Vorfall während der Taufe erinnerte.

„Was hast du andem Romanen, dass er sich dir gegenüber alles erlaubenkann?“

„Nichts“, schüttelte Silinga den Kopf. „Aber ich möchte auchnicht alles verlieren, weil ihr in eurem Hass zu weitgeht und alles gefährdet.“

„Lasst die Toten ruhen“,mahnte Farro, der sich zum ersten Mal in das Gesprächeinmischte. „Die Sache mit der Verschwörung ist zehn Jahre her.Die wahren Mitwisser sind tot, und wenn man dem Merowinger keinen Anlass bietet, kann er keinen mehr zur Rechenschaftziehen.

Deine Frau hat recht“, fuhr er fort. „Jage Marcellus aus seinem Haus und vertreibe ihnvon deinem Land. Aber krümme ihm kein Haar, wenn dudie Treveris und die Mosel behalten willst.“

„Gut“, gab Chloderichnach. „Aber ich mache es selber. Ich werde esmir nicht nehmen lassen, ihn persönlich auf die Straße zusetzen. Und wenn er mit seiner Hilka vor mir imStaub liegt und um Gnade wimmert, werde ich ihm einenTritt versetzen.

Und…“, fügte Chloderich nach einer Weile mit teuflischemGrinsen hinzu, „ich werde seinen Freund Folmar mitnehmen. Er istmir zur Gefolgschaft verpflichtet, was Marcellus besonders verletzen wird.“

Er rief nach einem Krieger der Wache und beauftragte denMann, Folmar ausfindig zu machen und ihn herbeizuholen.

„Tu,was du nicht lassen kannst“, schüttelte Silinga den Kopf. „Duhast eine seltsame Gabe alles zu gefährden, was du dirmit Mühen aufgebaut hast. Nur gut, dass Folmar dabeiist. Er wird hoffentlich verhindern, dass die Situation außerKontrolle gerät und ein Unglück geschieht.“

Chloderich ignorierte die Bemerkungseiner Gemahlin und wandte sich an Farro. „Und du, kommstdu mit oder willst du dir das Schauspiel entgehen lassen?“

„Es tut mir Leid“, schüttelte der Angesprochene den Kopf. „Ragnachar hat mir aufgetragen, mich umgehend in Mogontiacum einzufinden.Ich soll dort ein Hilfskontingent übernehmen und es Theuderich zuführen,der im Süden gegen die Alamannen kämpft. Der Sohn desMerowingers hat Mühe, die Sache bis zum Winter zubeenden. Chararich wird ebenfalls dort sein, um seine Bündnisverpflichtung zuerfüllen.“

Man sah dem Thronfolger die Enttäuschung an, als ersich erhob und von den beiden Frauen verabschiedete.

„Wasfür ein Dummkopf“, grollte Silinga, als Chloderich und Farro ihreGemächer verlassen hatten.

„Aber dir treu ergeben“, widersprach Rotrudis. „Denkean das Abkommen, das er abgeschlossen hat. Du solltestihn besser behandeln.“

„Lass das meine Sorge sein“, entgegnete Silingaspitz. „Und ob das Bündnis so vorteilhaft ist, werden wirnoch sehen. Chlodwig hat nichts zu verschenken. Er wird dieRechnung noch präsentieren und sich nichtalleine mit der Militärhilfebegnügen. Wir hätten besser daran getan, uns mit denOstgoten gegen Chlodwig zu vergleichen. Auch ein Bündnis mit meinemOnkel, König Gundobad von Burgund, wäre möglich gewesen. Aberkeiner wollte auf mich hören. Stattdessen hat ihn Chlodwig aufseine Seite gezogen. Und was ist mit meinem Vorschlag, mit den Thüringern zuverhandeln, die ihren Einfluss bis an den Rhein ausgedehnt haben? Einer ihrer Grafen sitzt in Dispargum, einen Tagesrittflussabwärts, und wartet darauf, dass man mit ihm spricht.Aber Sigibert tut nichts.“

„Halte dich aus der Politik herausund schenke Chloderich endlich einen Sohn“, wies Rotrudis ihre jüngereFreundin zurecht. „Das und der Tod des Sigibert werden dichzur Königin machen. Oder möchtest du, dass dein Mann direines Tages einen Bastard unterschiebt, den ihm eine seiner Hurengeboren hat und den du dann als deinen Sohn großziehen darfst?“

Silinga war aufgesprungen und starrte ihre Vertraute voller Feindseligkeit an.

„Kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichtsangehen“, giftete sie Rotrudis an, eilte zur Türe und schlug siehinter sich zu.

Viel zu aufgewühlt, um sofort in seinHeim und zu Ursula zurückzukehren, strich Folmar durch dieStraßen und Gassen der Colonia, bis er in einer derHafenkneipen einkehrte und einen Becher Wein hinunterstürzte.

Wasder Thronfolger ihm und seiner Gefolgschaftstreue soeben abverlangt hatte,war ungeheuerlich. Er musste die Männer anführen, die morgen inaller Frühe aufbrechen und Chloderich nach Arduena begleiten sollten.Der einzige Zweck des Unternehmens bestand darin, seinen Freund undGefährten Marcellus nebst seiner Familie aus seinem Vaterhaus zuvertreiben.

Er hatte sich geweigert, was Chloderich nicht gelten ließ.Er bestand auf die Erfüllung seines abgelegten Treuegelübdes, das ereinst seinem Vater geleistet hatte. Die betont fürsorglich gehalteneNachfrage nach dem Befinden seiner Frau machte ihm bewusst, dassUrsulas Unversehrtheit von seiner Entscheidung abhing.

Den zweiten Becherleerte er nur zur Hälfte, zahlte und eilte zu seinerFrau, um alles mit ihr zu besprechen.

„Die Sache hatauch etwas Gutes“, beschwichtigte Ursula ihren aufgebrachten Mann. „Erwird es nicht wagen, Marcellus und Hilka zu töten, wenndu dabei bist. Es geht ihm nur darum, deinen Freundzu erniedrigen. Sonst würde er nicht auf deine Teilnahmebestehen.“

„Das wird Marcellus und mich auf ewig auseinanderbringen“, erwiderte Folmar.

„Wenn dein Freund nachdenkt, wird er zudem Entschluss kommen, dass du keine andere Wahl hattest. Hilkaist schlau, sie wird es ihm verständlich machen.“

„Undwenn ich zu Sigibert gehe und ihm das geplante Unternehmen anzeige?“, gabsich Folmar kämpferisch.

„Dann bist du erledigt. Und ich auch. Denke daran,was Chloderich mit Bertha gemacht hat.“

„Also soll ich michfügen und an dieser Schandtat teilhaben?“

„Du könntest Marcellus eineWarnung zukommen lassen“, sinnierte Ursula.

„Wie denn, wenn ichden Thronfolger begleiten muss. Er wird mich nicht aus denAugen lassen“, antwortete Folmar resignierend.

Die Frau zuckte mit denAchseln und schaute zu Boden. „Gibt es keinen Kriegeroder Freund“, unternahm sie einen erneuten Anlauf, „dem du vertraust? Einer, der das für dich machen könnte?“

„Nein“, schüttelte Folmarden Kopf. „Das wäre viel zu gefährlich.“

„Und wenn ichgehe?“, schlug Ursula vor. Es war der Stimme der Frauanzuhören, dass sie ohne Überzeugung gesprochen hatte.

„Rotrudis wirddeine Abwesenheit sofort bemerken“, widersprach Folmar. „Sollte Chloderich unverrichteterDinge von der Mosel zurückkehren, wird sie die Faktenzusammenzählen und dich schwer belasten.“

Ursula nickte zustimmend, als ihreAugen plötzlich aufleuchteten.

„Hast du nicht damals Berthas Sohn gerettet?Er muss jetzt siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein. Erist dir einen Gefallen schuldig.“

„Du hast recht“, antwortete Folmarerleichtert. „Ich habe den Jungen, er heißt übrigens Tassilo, einemFreund der Kastellwache übergeben. Er ist in der Divitia stationiert,wo keiner um seine Herkunft weiß. Selbst Chloderich hat keineAhnung, dass der junge Krieger ein Sohn seiner ehemaligen Geliebtenist.“

„Dann gehe in die Divitia und schicke den Jungenunter irgendeinem Vorwand nach Arduena. Beeile dich!“

Es ging schonauf den Morgen zu, als Folmar zu Ursula zurückkehrte. Erhatte, vermummt in einen schwarzen Mantel, die Rheinbrücke überquertund den Wachhabenden am Tor der Divitia nach Tassilogeschickt.

Dann hatte er sich in den Schatten des Durchgangszurückgezogen, um nicht zufällig erkannt zu werden.

Es dauerte nichtlange, bis der junge Mann erschien und seinen einstigenRetter erkannte. Er war sofort bereit gewesen, die gefährliche Aufgabe zu übernehmen. Gab ihm die bevorstehende Aufgabe doch endlichdie Möglichkeit, dem Thronfolger wenigstens etwas von dem zurück zuzahlen, was er seiner Mutter angetan hatte.

Er suchte seinenvorgesetzten Offizier auf, der ihn ziehen ließ, nachdem er ihmeine schwere Erkrankung des Vaters als Grund für eine Beurlaubung vorgegaukelt hatte.

Folmar, der ungeduldig auf Tassilos Rückkehrgewartet hatte, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als erden Jungen mit seinem Handgepäck zurückkommen sah. Er gabihm noch bis zur Fähre im Süden der Brücke dasGeleit und steckte ihm zum Abschied einige Silbermünzen zu.Das Geld musste ausreichen, um ein gutes Reitpferd und ausreichend Proviant in der Herberge am jenseitigen Ufer zu erstehen.Dann hatte er Tassilo noch den Weg erklärt undihm viel Glück gewünscht.

Folmar atmete auf, als der Kahn mit seinem Boten in die Dunkelheitglitt. Er hatte alles getan, um seinen Verpflichtungengegenüber seiner Frau, dem Freund und dem Gefolgsherrn nachzukommen. Das Weiterelag nun nicht mehr in seiner Hand und der Herrim Himmel sollte es fügen, dass alles einen guten Ausgang nahm.

Obwohl das Wetter hielt und wir eine üppige Ernte einfuhren,hatten wir keinen Spaß an unserer Arbeit. Vor allem mirwar bewusst, dass es vielleicht auf lange Zeit das letzte Mal sein würde, dass ichmein Tagwerk in meinen geliebten Weinbergen verrichtete. Des Weiteren mussteich mir Gedanken machen, was mit dem gepressten Rebensaft geschehensollte. Es war damit zu rechnen, dass mir nicht genugZeit bleiben würde, um den Wein im Keller heranreifen zulassen. Einer meiner Nachbarn, dem ich die Lese angeboten hatte, war mitseinem Angebotweit unter meiner Forderung geblieben. Sollte ich nach einemanderen Käufer suchen oder mich mit dem Erlös begnügen?

Ichhatte mir ausgerechnet, dass uns eine Woche verblieb, bisdas Unheil aus der Colonia heranziehen konnte. Deshalb drängteich darauf, die Arbeiten in drei Tagen zu erledigen. Mehr Zeit wollte ich nicht riskieren, um Sebastianus und die Familie nicht zu gefährden.

Jenäher das Ende der Frist rückte, desto unwirklicher erschien mirdie ganze Situation.

Warum, bei allen Heiligen im Himmel, sollte Chlodericheinen Konflikt mit Chlodwig riskieren? Sicherlich hatte ich ihnin Remis schwer beleidigt und war auch vorher keinen Konfliktmit ihm aus dem Weg gegangen; auch der Vorwurfder Feigheit musste an ihm nagen. Aber würde ihndas motivieren, seine Schergen nach Arduena zu schicken oder gar selberzu kommen?

Sooft ich Hilka in meine Überlegungen mit einbezog,reagierte meine Frau immer abweisender. Sie schien sich damit abgefundenzu haben, unsere Heimat zu verlassen und ein neues Lebenaußerhalb des rheinfränkischen Herrschaftsgebiets zu beginnen. Im Innersten begannich daran zu zweifeln, ob sie noch loyal zu mirstand. Auch Sebastianus und Wulfram setzten eine bedenkliche Miene aufund rieten mir, nicht leichtsinnig zu handeln.

Es kamder Abend, an dem die Arbeiten abgeschlossen waren und Hilkamir mitteilte, am nächsten Tag mit Sebastianus aufbrechen zuwollen.

Wir saßen schweigend an der Tafel unseres Wohnraumes. Lustlosstocherte ich mit dem Löffel in dem Brei herum, dendie Magd aus Waldbeeren, gerahmter Milch und etwas Honigzubereitet hatte. Die Reste des aufgeschnittenen Schinkens und das übriggebliebene Fladenbrot waren beiseite geräumt worden, um morgen als Reiseproviantzu dienen. Selbst Pippin rührte seine süße Lieblingsspeise kaum an.Eingeschüchtert traute er sich nicht, das Wort an einen derErwachsenen zu richten, nachdem ihn Hilka zu Beginn des Mahles übellaunig zurechtgewiesen hatte.Es war meine Aufgabe gewesen, ihm am Nachmittag zu erklären,dass er mit Sebastianus und seiner Mutter eine Reise unternehmen

werde, ich jedoch zu Hause bliebe.

„Ist der Lastkarren schonbeladen?“, fragte ich Wulfram, der bestätigend nickte.

„Ich habeden ganzen Wein aus dem Keller geschafft. Wir lassen keinTropfen zurück.“

„Gut“, lobte ich den Freund, bevor ich michan Hilka wandte. „Ihr könnt die Ware meinem Geschäftspartner inDivodurum verkaufen. Es wird eine schöne Summe zusammenkommen. Ich möchte nicht,dass ihr irgendjemandem etwas schuldig bleibt.“

Bevor Hilka etwas antwortenkonnte, klopfte es an der Türe und der Knecht führteeinen jungen Mann herein, der einen erschöpften und abgerissenenEindruck machte.

Ich schätzte den jugendlichen Krieger im dunklen Reisemantelauf siebzehn Jahre. Er trug die beim Militär übliche rostroteTunika und halbhohe Stiefel. Die darin steckenden leinenen Hosen warenbis zu den Knien mit roten Stoffstreifen umwickelt. Bewaffnet warer mit einer halblangen Spatha und einem im Gürtel steckendenSax. Das blonde, fast schulterlange Haupthaar fiel ihm strähnig indie verschwitzte Stirn seines ehrlichen Gesichts. Seine Augen flackerten unsicher,