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Der 1. Fall für Massimo Marconi Commissario Marconi ermittelt im hohen Norden: Cosy Crime und Culture Clash in einem der beliebtesten Touristen-Hotspots an der Nordsee Commissario Marconi, Münchner mit italienischen Wurzeln, verschlägt es an die Nordsee – nach St. Peter Ording. Nach dem Tod seines Bruders ist er der Vormund für dessen Kinder Klara und Stefano. Mit seinem Umzug zu den reservierten Nordfriesen, denen Marconi nicht viel abgewinnen kann, wird er zum Dienststellenleiter der örtlichen Polizeiwache degradiert – und gleich auf die Probe gestellt: Ein toter Krabbenfischer, in seinem Boot von einer Harpune durchbohrt. Eigentlich Sache der Kripo Flensburg, aber da sonst nichts zu tun ist … Mit seinen Kollegen, dem regeltreuen Jens und der resoluten Eva, nimmt Marconi die Ermittlungen auf, während er zu Hause «Spaghetti Krabbonara» für die Kinder kocht und sich mit dem Jugendamt herumschlägt. Dabei ist mit mehreren heißen Fährten im Mordfall schon genug zu tun: Hat Elektrofischer Henning Voss den Toten auf dem Gewissen, weil er ihm ins Gehege kam? Oder hat eine Umweltschutzorganisation ihre Finger im Spiel, der die Schleppnetzfischerei gegen den Strich geht? «Menschlich, melancholisch, witzig und immer hart am Meer – Marconi hat der Nordsee gerade noch gefehlt!» Sven Stricker
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2024
Daniele Palu
Ein St. Peter-Ording-Krimi
Massimo Marconi ermittelt in St. Peter-Ording
Commissario Marconi, Münchner mit italienischen Wurzeln, verschlägt es an die Nordsee. Nach dem Tod seines Bruders soll er der Vormund für dessen Kinder werden. Nicht die einzige neue Rolle, mit der er hadert. Obendrein wird er zum Dienststellenleiter der örtlichen Polizeiwache degradiert – und gleich auf die Probe gestellt: Ein Krabbenfischer liegt tot in seinem Boot, von einer Harpune durchbohrt. Während Marconi zu Hause «Spaghetti Krabbonara» für die Kinder kocht, häufen sich die rätselhaften Vorkommnisse: Was hat es mit dem mysteriösen Fischsterben auf sich? Und woher stammt das merkwürdige Loch im Watt? Je näher Marconi der Lösung kommt, desto gefährlicher wird es, für die Menschen in seinem Umfeld – und für ihn selbst.
«Menschlich, melancholisch, witzig und immer hart am Meer – Marconi hat der Nordsee gerade noch gefehlt!»
Sven Stricker
Daniele Palu schreibt als Journalist für viele große Magazine und Zeitschriften sowie als leitender Autor für den erfolgreichen True-Crime-Podcast «Hollywood Crime». Wann immer er kann, fährt er an die Nordsee, wo ihm die Idee zur Krimi-Reihe um Massimo Marconi kam. Im Sommer 2023 residierte Daniele Palu zudem als Stadtschreiber in Otterndorf, wo er viel über die Eigenheiten der Nordlichter erfahren hat.
3. Auflage September 2024
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Liedtext auf S. 9/10: «Lass nun ruhig los das Ruder», Text: Reinhard Mey
Covergestaltung bürosüd, München
Coverabbildung www.buerosued.de
ISBN 978-3-644-01702-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Siehe, in den Wässern weilt Einer,
Dessen furchtbarem Gebot
Kein Mensch entfliehen darf:
Zertritt die Ruchlosen,
Alle, die sich entgegenstellen,
Vertreibe die Räuber,
Vertreibe unsere Feinde.
Gustav Holst (1874–1934): «Hymns from the Rig Veda»
Wie um dem Anlass einen angemessenen Rahmen zu geben, hatte eine sibirische Kälte von Sankt Peter-Ording Besitz ergriffen. Ein schneidender Wind zwang die Temperaturen in die Nähe des Gefrierpunktes. Dunkle Wolkenberge schoben sich wie unheilverkündende Vorboten über den Himmel, der wie auf Verabredung die Schleusen öffnete, als der Trauerzug die Backsteinkirche verließ. Apokalyptisch laut prasselte das Wasser auf den winterharten Boden. Nur mit Mühe konnte Massimo Marconi den Worten des Pfarrers folgen, der den Kampf mit einem Regenschirm schnell aufgegeben hatte.
«Großer Gott, wie oft gehen wir unserer Wege, ohne uns an dich zu wenden? Doch nun hat uns die Trauer in deine Nähe gebracht. Wir bitten dich, trage uns durch den Abschied und darüber hinaus», rief der Geistliche, um sich gegen das Dröhnen des Regens durchzusetzen.
Massimo Marconi zog den Schal enger, lockerte ihn aber sofort wieder, als er die durchnässte Wolle am Hals spürte. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, versuchte er durch den Regen die anderen Trauergäste zu erkennen. Er schien als einziger Anzug und Mantel zu tragen, um dem Toten respektvoll die letzte Ehre zu erweisen. So war er es aus München gewohnt. Doch hier blickte er auf ein Meer unterschiedlicher Gelbtöne, lauter Friesennerze. Von den Gesichtern war unter den Kapuzen kaum etwas zu erkennen. Marconi konnte sich nicht erinnern, jemals so viele Menschen auf einer Beerdigung gesehen zu haben. Die mehr als zweihundertfünfzig Stühle in der nicht gerade kleinen Kirche hatten kaum ausgereicht für den großen Andrang.
«In deine Obhut geben wir nun Nevio. Öffne deine Arme und nimm ihn bei dir auf.»
Marconi hatte das Zittern in der Stimme des Pastors der Kälte und dem Regen zugerechnet. Doch inzwischen war er sich nicht mehr so sicher, dass es Regentropfen waren, die die Wangen des Mannes herunterliefen. Ein Geistlicher, der bei einer Beerdigung weinte? Marconi wusste nicht, was er davon halten sollte. Selbstverständlich war auch er traurig. So traurig, wie man sein konnte, wenn einem der kleine Bruder ohne Vorwarnung genommen wurde. Doch in die Trauer mischten sich Sorge, Wut und – ja – auch Angst, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Angst, das Versprechen einlösen zu müssen, das er seinem Bruder einst gegeben hatte, nicht ahnend, dass es jemals so weit kommen würde. Angst davor, wie es nun weiterging. Würde er ein Leben leben müssen, das allem widersprach, woran er glaubte? Ein Leben, gegen das er sich die zurückliegenden vierzig Jahre nahezu täglich bewusst entschieden hatte? Würde er seine Freiheit verlieren?
Die Träger begannen, den Sarg ins Grab herabzulassen. Marconi legte eine Hand auf den Kopf seiner Nichte und streichelte über die Gummikapuze. Doch Klara schüttelte ihn mit einer Kopfbewegung ab. Ein Knall jagte einen Ruck durch die Menschenmenge, einige Anwesende schrien, und auch Marconi zuckte heftig zusammen. Über ihren Köpfen entdeckte er ein Banner mit der Aufschrift Du bist mein Schutzengel. Der Sturm hatte es an einer Ecke vom hölzernen Glockenturm losgerissen. Laut flatternd drohte es nun ganz abzufallen.
Der Pastor beäugte den Ruhestörer einige Sekunden lang misstrauisch, bevor er mit erhobener Stimme weitersprach und die Gemeinde aufforderte, sich von dem Toten zu verabschieden.
«Tschüss, Papa», hörte Marconi Klaras Stimme neben sich. «Gute Reise und grüß Mama von uns.» Der Anblick des Mädchens, das dem Sarg hinterherblickte, versetzte Marconi einen Stich. Er ging ans offene Grab, die Kinder traten links und rechts neben ihn. Stefano entfaltete eine Bleistiftzeichnung, auf der ein Mann und eine Frau auf einer Wolke saßen, darunter hielten sich zwei Kinder an den Händen. Während die Sonne ebenso wie die beiden Personen im Himmel ein fröhliches Gesicht hatte, waren die Mundwinkel der Kinder nach unten gebogen. Dicke Tränen flossen von den gezeichneten Gesichtern auf den Boden, wo sich eine große Pfütze gebildet hatte. Marconi wollte seinem Neffen über die Wange streicheln, doch Stefano entzog sich ihm und warf seine Zeichnung auf den Sarg. Binnen Sekunden war das Papier durchnässt.
In diesem Augenblick erklang ein Akkordeon. Verwundert drehte sich Marconi um und erblickte eine Gruppe Männer mit Matrosenhemden und Schiffermützen, die sich an den Schultern fassten und ein Lied anstimmten: «‹Lass nun ruhig los das Ruder, dein Schiff kennt den Kurs allein. Du bist sicher, Schlafes Bruder wird ein guter Lotse sein.›»
Marconi spürte, wie sich Hände auf seine Schultern legten. Ohne sich umzudrehen, wusste er, dass die eine seiner Mutter gehörte, die andere seinem Vater, die sich hinter ihm und den Kindern ans Grab gestellt hatten.
«‹Heimkehren in den guten Hafen über spiegelglattes Meer. Nicht mehr kämpfen, ruhig schlafen, nun ist Frieden ringsumher. Und das Dunkel weicht dem Licht, mag es noch so finster scheinen. Nein, hadern dürfen wir nicht, doch wir dürfen weinen.›»
Marconi versuchte krampfhaft, nicht zu weinen, weil er für die Kinder stark sein wollte. Aber die singenden Männer waren zu viel. Ihm entfuhr ein lauter Schluchzer. Seine Eltern drückten ihn fest an sich. Die Kinder schlangen die dünnen Arme um ihre Großeltern. Wie Schiffbrüchige, die befürchten mussten zu ertrinken, sollten sie sich jemals wieder loslassen, klammerten sie sich aneinander.
Während sie einander festhielten, und der Shantychor noch immer vom Tod sang, musste Marconi an jenen Abend vor drei Jahren denken. An einen seiner seltenen Besuche bei seinem Bruder, einige Tage nach dem Krebstod von dessen Ehefrau Gesa.
«Warum ich? Warum nicht Mamma und Papà?», hatte Marconi gefragt.
«Weil du mutmaßlich länger leben wirst als unsere Eltern und ich meine Kinder gerne langfristig versorgt wissen möchte», hatte Nevio auf seine so typisch ruhige Art erwidert.
«Aber …» Du kennst mich, hatte Massimo antworten wollen. Du weißt, wie ich zu Kindern stehe, zu festen Bindungen. Und doch sagte er nichts. Konnte man seinem Bruder eine solche Bitte abschlagen? Außerdem war er überzeugt, dass der Fall ohnehin niemals eintreten würde.
«Bitte, Massimo. Du bist mein Bruder. Ich weiß, du wirst dich um Klara und Stefano kümmern, sollte mir etwas passieren.»
Warum nur, fragte sich Marconi, glaubte Nevio so unerschütterlich an ihn, dass er ihm das Wichtigste in seinem Leben anvertraute?
Er wusste es bis heute nicht.
Nur eines wusste Marconi sicher: Der Fall war eingetroffen. Und er würde an einen Ort ziehen müssen, an dem er sich noch nie wohlgefühlt hatte. Er hatte keine Wahl, er würde den letzten Wunsch seines kleinen Bruders erfüllen.
Eingehüllt in wohltuende Finsternis, trank er seinen heißen Tee. In der Ferne funkelten die Lichtpunkte der Küste, der Leuchtturm sandte ihm seine Strahlen wie tastende Finger entgegen. Er genoss die Nächte bei gutem Wetter auf dem Meer, wenn Ruhe herrschte. Das gelegentliche Zischen der Gaslampe mischte sich mit dem Rauschen der See, durch die er mit seiner Magda Verena glitt. Es war nicht mehr lang bis zum Sonnenaufgang. Dann würde er die Netze einholen. Kurz hatte er überlegt, in dieser Nacht nicht hinauszufahren, da es laut Schiffsbesatzungszeugnis verboten war, allein unterwegs zu sein. Aber er hatte sich noch nie etwas vorschreiben lassen. Die Küstenwache konnte ihn mal. Und jetzt war er froh, dass er die Gelegenheit nicht hatte verstreichen lassen. Zweihundert Kilo Krabben waren besser als nichts, dachte er und nahm einen weiteren Schluck Tee, während sein Boot auf Autopilot durchs Wattenmeer pflügte.
Wenig später trat er aus dem Führerhaus, um den Fang an Bord zu holen, als ihn ein Geräusch innehalten ließ. Er horchte in die dunkle Nacht hinein. Hatte er sich getäuscht? Nein, da war es wieder. Ein Brummen, das aus dem schwarzen Nichts zu ihm drang und, da war er ganz sicher, lauter wurde. Angestrengt lauschte er. So etwas hatte er auf offener See noch nie gehört. Er griff nach seinem Fernglas. Ein zarter Lichtschein am Horizont kündigte bereits den Sonnenaufgang an. Da! Da war etwas. Ein Schiff? Falls ja, dann eines von diesen neumodischen Dingern, die gar nicht mehr aussahen wie anständige Schiffe. Irritiert versuchte er, sich einen Reim auf das zu machen, was er sah. Und während er noch rätselte, bemerkte er, dass auf dem schiffsähnlichen Objekt zwei Männer ebenfalls durch ein Fernglas schauten und nervös in seine Richtung gestikulierten. Kurz darauf war die aufgebrachte Gruppe auf ein halbes Dutzend Männer angewachsen. Was hatten sie denn da in ihren Händen? Das waren doch nicht etwa Waffen? Er beschloss, die Netze nicht einzuholen und stattdessen zuzusehen, dass er wegkam. Den Bootsmotor auf volle Leistung gedreht, hielt er auf die Küste zu. Schweiß brach ihm aus, sein Puls schlug in ungesund schnellem Takt. Fast meinte er, die künstliche Klappe ächzen zu hören, die man ihm im vergangenen Jahr eingesetzt hatte. Minute um Minute verstrich, und die Männer kamen näher. Was hatten sie vor? Hatten sie es auf ihn abgesehen? Er sah auf den Kompass und überschlug die Zeit, die er noch bis in den wortwörtlich rettenden Hafen benötigen würde. Zehn Minuten, vielleicht fünfzehn, bis er am Eidersperrwerk war – es sei denn, sie holten ihn vorher ein. Alle paar Sekunden warf er einen Blick über die Schulter in Richtung des mittlerweile glühend roten Horizonts, versuchte abzuschätzen, wie schnell sie näher kamen. Er schlug auf die Bedienungselemente ein und fluchte, als könnte er so seine Magda Verena antreiben, schneller zu fahren. Vor ihm tauchte in einiger Entfernung das Tor des Sperrwerks auf, und er konnte regelrecht den Brocken spüren, der ihm vom Herzen stürzte. Er schaute zurück. Lag es an den ersten grellen Sonnenstrahlen, die sich über den Horizont schoben und ihn blendeten, oder hatten die Männer tatsächlich abgedreht? Hatte er sich das alles nur eingebildet? Er drosselte den Motor Stück für Stück, je näher er dem Sperrwerk kam. Als er auf die enge Einfahrt des Vorhafens zusteuerte und gerade per Funk den Kontrollturm benachrichtigen wollte, fiel ihm eine Person auf, die auf der Mole stand und mit beiden Armen über dem Kopf in seine Richtung winkte. Aber wer sollte ihn hier in Empfang nehmen? Er hatte wohlweislich niemand über seinen Alleingang informiert. Vielleicht war die Person in Not? Er trat aus seinem Führerhäuschen. Noch während er zurückwinkte, sah er, wie die Gestalt etwas aus dem Inneren ihres Mantels zog. Ein Knall ertönte mitten in der friedlichen Morgendämmerung. Das Letzte, was er spürte, war eine Kälte, die mit eisiger Hand sein Herz umschloss.
Marconi fand den Lichtschalter nicht und tastete sich im Dunkeln durch das fremde Haus. Sein Fuß stieß an einen Gegenstand. Obwohl das Hindernis leicht nachgab, konnte Marconi einen Sturz nicht verhindern. Als er fiel, hallte ein lautes Scheppern durch die obere Etage. Kurz darauf wurden fast zeitgleich zwei nebeneinanderliegende Türen geöffnet und zwei kleine Köpfe kamen zum Vorschein. Stefano rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. Klara sah Marconi mit gerunzelter Stirn an.
«Tut mir leid», brachte er kleinlaut hervor. «Ich wollte euch gerade wecken kommen, allerdings nicht so.»
Augenrollend schaltete Klara das Flurlicht an, und Marconis Blick fiel auf die Umzugskiste, auf der er kniete. Er würde später nachsehen, was darin zu Bruch gegangen war, stand auf und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.
«Wer hat Lust auf ein Piratenfrühstück?» Er klatschte in die Hände.
«Brot mit Marmelade», entgegnete Klara kurz angebunden und schlurfte ins Bad. Stefano nickte zustimmend und ging zurück in sein Zimmer.
Fünfundzwanzig Minuten und zwei Marmeladenbrote später saßen sie zu dritt im Mini von Marconis verstorbenem Bruder Nevio. Marconi hatte mehrere Anläufe gebraucht, um den Fahrersitz bis zum Anschlag nach hinten zu verstellen und seine ein Meter dreiundneunzig hinter dem Lenkrad zusammenzufalten. Weil er seine neue Uniform erst bei Dienstantritt erhalten würde, trug er eine bequeme graue Stoffhose, dazu halbhohe hellbraune Lederstiefel und ein hellblaues, tailliert geschnittenes Hemd. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel bestätigte seine Vermutung, dass er mit etwas gutem Willen als italienischer Gigolo durchging. Sein Haar lockte sich mittlerweile fast bis zum Kinn, weil sein Friseurbesuch aufgrund der Umzugsvorbereitungen mehrere Wochen überfällig war. Nur mit einer mangogroßen Portion Schaumfestiger war es ihm an diesem Morgen gelungen, seine Mähne ein wenig zu bändigen. Aber darum würde er sich kümmern, sobald er diesen akuten Ausnahmezustand hinter sich gelassen hatte. Es gab in seinen ersten Tagen hier an der Küste Wichtigeres, als Eitelkeiten zu pflegen. Allem voran Schulbrote schmieren und eine Lösung dafür finden, wer die Nachmittagsbetreuung für die Kinder übernahm, während er seinen neuen Job antrat. Beim Gedanken daran entfuhr ihm ein Seufzer.
«Turnbeutel fürs Fußballtraining nach der Schule hast du dabei?» Marconi war stolz auf sich, weil er sich die beiden Stundenpläne am Kühlschrank eingeprägt hatte. Statt eine Antwort zu geben, sah Stefano regungslos aus dem Seitenfenster. Stellvertretend für ihren kleinen Bruder hielt Klara die Trainingstasche in die Höhe.
«Und die belegten Brote für die Frühstückspause?» Marconi registrierte, dass Klara mit den Augen rollte. Er hatte schon davon gehört, dass Teenager das gern taten, war aber selbst noch nicht in den Genuss gekommen und beschloss, es zu ignorieren. Als ihr Blick den seinen im Rückspiegel traf, nickte sie kurz und sah dann wieder aus dem Seitenfenster. Mit aufgesetzter Fröhlichkeit plauderte er weiter: «Eure Nonna hat noch Brot und Käse gekauft, bevor sie gestern zurück nach München gefahren ist. Falls es euch nicht schmeckt, gehen wir gemeinsam einkaufen, okay?» Keine Reaktion.
Sie fuhren an zweigeschossigen Ein- und Zweifamilienhäusern vorbei. An vielen Fahnenmasten wehten blaue Fahnen mit gelbem und rotem Streifen am Rand, auf denen drei goldene Schiffe prangten. Die Sankt Peteraner schienen Lokalpatrioten zu sein. Das hatten sie immerhin mit vielen Italienern gemeinsam, die vor allem deshalb überzeugt waren, dass Gott existierte, weil nur eine göttliche Macht in der Lage sein konnte, etwas so Schönes wie Italien zu erschaffen. Zum zweiten Mal an diesem Tag dachte Marconi wehmütig an seine Heimat – und ihren deutschen Ableger. München war als italienischste Stadt Deutschlands, wie er fand, der Perfektion am nächsten gekommen.
«Was liegt in der Schule an?», unternahm Marconi einen neuen Versuch, die beiden Kinder – und sich selbst – aufzumuntern. Im Rückspiegel sah er, wie Klara und Stefano sich einen Blick zuwarfen, den er nicht deuten konnte. Da Stefano beharrlich schwieg, ließ sich Klara wenigstens zu einem «nix Aufregendes» herab.
«Kein Test, kein Ausflug?», bohrte Marconi nach.
Klara brummte etwas, das wie «Referat» klang.
«Ach, spannend», rief Marconi etwas zu euphorisch. «Und worüber?»
Während er auf eine Antwort wartete, fiel ihm auf, dass an nahezu jedem zweiten Hauseingang ein Schild befestigt war, das auf eine Ferienvermietung hinwies. Wohnte hier auch jemand, oder war seine neue Heimat fest in Touristenhand?
«Queller», bedachte Klara ihn mit der nächsten knappen Entgegnung.
«Ist das ein Fisch? Ein Fluss? Eine Quallenart?»
Er hörte Stefano prusten und im Spiegel sah er, wie Klaras Mundwinkel zuckten. Hohn und Spott sind besser als gar keine Reaktion, dachte er.
«Pflanze», sagte sie, offensichtlich darum bemüht, nicht versehentlich allzu freundlich zu erscheinen.
«Ist das alles? Das wird aber ein ziemlich kurzes Referat!»
«Der Queller ist der Kaktus der Nordsee. Er wird auch Meeresspargel genannt, weil man ihn essen kann. Wenn’s bei uns Fisch gab, hat Papa öfter Queller dazu gekocht.» Marconi konnte sehen, wie sich ihr Blick bei der Erinnerung verfinsterte. Marconi verspürte selbst einen Stich. Einige Sekunden sagte niemand etwas.
«Aber weißt du, was lustig ist?»
Marconi schüttelte den Kopf. Allerdings bemerkte er, dass Klara die Frage an ihren Bruder gerichtet hatte, der sie nun gespannt ansah.
«Der Queller braucht eigentlich fast gar kein Wasser zum Überleben. Nur das Salz. Aber weil es auch nicht zu viel Salz sein darf, muss er immer mehr Wasser speichern und quillt deshalb auf.»
«Deswegen Queller!», rief Stefano, offenbar zufrieden mit seinem kombinatorischen Talent. Er strahlte seine große Schwester an, und Klara nickte begeistert.
Marconi fühlte eine seltsame Verbundenheit zu der Pflanze. Auch er hätte auf die Wassernähe gut verzichten können, wären da nicht die äußeren Umstände. Es war überhaupt erst sein dritter Besuch an der Küste, seitdem sein Bruder vor fünfzehn Jahren von München hierhergezogen war. Wegen der Liebe. Und damit hatte ihr Zerwürfnis begonnen. Seitdem hatten sie sich selten gesehen und meist nur flüchtig, wenn Nevio und seine Familie die Eltern in München besucht hatten.
Er hielt am Gymnasium, ließ Klara aussteigen und wünschte ihr viel Glück fürs Referat, was sie gleichgültig zur Kenntnis nahm.
Das Navi führte ihn in eine Zwanzigerzone im Ortsteil Dorf. In Schrittgeschwindigkeit passierten sie das bayerische Bräuhuus – ein freundlicher Gruß in feindseligem Gebiet – , die Bernsteinschleiferei Boy Jöns mit angeschlossenem Museum und den Souvenirshop St. Peter-Laden.
Ihm entging nicht, dass die schicke Dorfstraße zu neunzig Prozent aus Rotklinker bestand. Trotzdem unterschieden sich die Häuser im Detail deutlich voneinander. Neben wirklich historischen Gebäuden, wie dem reetgedeckten Wanlik-Hüs, vor dem eine Plakette darauf hinwies, dass es das älteste Haus von Sankt Peter-Ording und zudem denkmalgeschützt sei, gab es viele noble auf alt gemachte Häuser. Am Ende der Straße schmiegte sich das Deicheck Café mit seinen Strandkörben auf der Terrasse an einen mannshohen Deich. Marconi wunderte sich, dass es hier überall Dämme gab, sogar im Ortskern. Nicht gerade die optimale Strecke, wenn man es eilig hatte. Er beschloss, die Empfehlung seiner Navi-App in Zukunft zu ignorieren.
Endlich erreichte er die Utholm-Grundschule.
«So, da sind wir. Schultaxi für Stefano Marconi. Alle mit diesem Namen bitte aussteigen!»
Wortlos öffnete Stefano die Wagentür und ließ sich vom Rücksitz rutschen.
«Hab einen schönen Tag, bis …» heute Abend wollte er noch ergänzen, doch da hatte Stefano schon die Tür zugeworfen. Mit hängenden Schultern schleppte er sich zum Eingangstor, was Marconi Sorgenfalten auf die Stirn trieb. Der Junge würde viel Zuwendung brauchen, und er fragte sich, wie ausgerechnet er die aufbringen sollte. Marconis Mutter erklärte ihm bei jedem Anruf, er solle den Kindern klare Regeln setzen und Strukturen einführen, um ihnen Sicherheit, Halt und Orientierung zu geben. Drei Dinge, die er selbst gerade ganz gut gebrauchen konnte. Wenn sein Vater nicht kurz vor einer Herz-OP gestanden hätte, hätten seine Eltern sicher angeboten, zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern. Aber es half ja nichts. Marconi fuhr los und stellte mit einem Blick aufs Navi fest, dass es von der Schule keine vierhundert Meter zur Polizeistation waren. Immerhin.
Als Marconi auf das Haus zufuhr, in dem sich angeblich die Polizeistation befand, glaubte er zunächst an einen Eingabefehler im Navi, dann an einen schlechten Scherz. Das zweigeschossige Backsteinhaus mit dem schlammbraunen Schrägdach sah aus wie eine in die Jahre gekommene Dorfkneipe oder eine Massagepraxis aus den Achtzigern. Jedenfalls nicht ansatzweise wie das Landeskriminalamt in Flensburg, in dem er sein Vorstellungsgespräch gehabt hatte und erst recht nicht wie das Polizeipräsidium in München, das zu einem der imposantesten Gebäude der Stadt gehörte. Ihn würde es nicht wundern, wenn sich regelmäßig ein Tourist in seine neue Arbeitsstätte verirrte und um eine Fangopackung oder ein Herrengedeck bat.
Ehe er noch tiefer in düsteren Gedanken versinken konnte, stellte er den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz kam über die mehrfach gewundene Rollstuhlrampe auf ihn zu.
«Massimo? Du bist mein neuer Chef, oder?» Sie schwang sich mit einem ebenso sportlichen wie eleganten Sprung über das Geländer und drückte dem erstaunten Marconi kräftig die Hand. Hinter ihr trat ein ebenfalls recht junger Mann durch die schmale Eingangstür und kam deutlich weniger schwungvoll die drei Betonstufen der Treppe herab.
Marconi tut’s auch, dachte er. Aber er wusste von der goldenen Regel: Je weiter Norden, desto du. Deshalb brummte er bloß etwas Unverständliches, während er sie musterte. Ihre Augen waren blassblau, fast grau – wie die Nordsee, dachte er, und fragte sich, ob hier oben alle genetisch mit der Landschaft verschmolzen. «Sie müssen Eva Martens sein, stimmt’s? Ich erinnere mich, Ihnen auf Nevios Beerdigung kurz begegnet zu sein.»
«Ich kannte deinen Bruder gut, wir sind früher gelegentlich zusammen gesurft. Tut mir sehr leid, was mit ihm passiert ist. Er wird mir … uns allen sehr fehlen.» Sie sah ihm so entwaffnend in die Augen, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
«Nu is aber mal gut, lass den Chef doch erst mal ankommen.» Der Mann in Polizeiuniform schob sich neben seine Kollegin und drückte Marconi nun ebenfalls die Hand. Seine sehr kurzen Haare schimmerten rötlich blond im Tageslicht. «Ich bin Jens, Jens Harms, willkommen in Sankt Peter.»
Der Mann reichte Marconi gerade mal bis zu den Schultern. Aber Marconi überragte fast immer alle anderen. Jens Harms schien oft ins Fitnessstudio zu gehen, da sich unter den aufgenähten Hemdtaschen deutlich seine Brustmuskeln abzeichneten. Wie Eva trug auch er die Polizeimütze auf dem Kopf, die vorschriftsmäßig aufgesetzt werden musste, sobald man die Polizeistation verließ. Und sei es nur, um den neuen Vorgesetzten in Empfang zu nehmen. Er wirkte fast jugendlich. Nur die kleinen Fältchen um die Augen verrieten, dass er die dreißig vermutlich überschritten hatte. «Erst mal ’nen Kaffee», schlug Jens vor, «dann gibt’s ’ne Führung?»
Die kann ja nicht allzu lang dauern, dachte Marconi, verkniff sich aber einen Kommentar. Er wollte seine neuen Kollegen nicht gleich in der allerersten Minute vor den Kopf stoßen. Also folgte er ihnen zu der wenig einladenden Milchglastür, während Eva ihn darüber unterrichtete, dass sein Vorgänger als letzte Amtshandlung einen Kaffeevollautomaten angeschafft hatte – sehr zur Freude der Kollegen. Jens hielt ihnen die Tür auf, gerade als ein Martinshorn in unmittelbarer Nähe ertönte. Marconi zuckte zusammen.
«Sorry», Eva zog ein Smartphone aus der Hosentasche und grinste ihn schelmisch an. «Etwas extravaganter Klingelton. Moin.» Eine Zeit lang hörte sie dem Anrufer zu. Dabei wurde sie immer ernster, bis sie schließlich erwiderte: «Okay, wir kommen!» Sie ließ das Handy sinken. «Das war der Chef vom Eidersperrwerk. Ein Fischer liegt tot in seinem Boot vor der Schleuse. Sieht ganz nach Fremdeinwirkung aus. Die Kollegen von der Mordkommission sind schon unterwegs. Wir sollen den Tatort absperren, sofort. Deine Uniform kannst du auch später noch anziehen.»
Marconi seufzte. Waren Tatorte noch vor wenigen Tagen seine Tatorte gewesen und hatten zu seinem natürlichen Lebensraum gehört, war er ab sofort von den Ermittlungen ausgeschlossen. Absperren statt ermitteln, nur dabei statt mittendrin. Definitiv eine Zäsur in seinem Leben. Und es würde nicht die einzige bleiben, dessen war er sich schon an seinem ersten Tag hier sicher.
Auf der knapp halbstündigen gemeinsamen Fahrt zum mutmaßlichen Tatort versuchte sich Marconi ein Bild von seiner neuen Heimat zu machen und ließ es umgehend wieder bleiben: Alles war flach, alles sah gleich aus. Wiese, Weide, Kühe, Schafe, Lämmer, noch mehr Wiesen, noch mehr Schafe. Ein monotoner Soundtrack aus Muhen und Mähen untermalte die Szenerie, bis er sein Autofenster schloss, um das Elend nur noch sehen und wenigstens nicht mehr hören zu müssen. Vielleicht würde er die Kinder irgendwann nach München holen, aber so kurz nach dem Verlust ihrer Eltern konnte er ihnen unmöglich ein weiteres Trauma zufügen. Und doch hoffte er inständig, dass sein Gastspiel im Norden mit einem Verfallsdatum versehen war.
Seit zwanzig Minuten saßen sie schon im Polizeiwagen. Seit zwanzig Minuten keine Kurve, nichts als Felder. Er konnte sich nicht erinnern, jemals durch eine monotonere Landschaft gefahren zu sein. Sie passierten eine Herde mit ausschließlich schwarzen Schafen und noch während er zu ergründen versuchte, warum er sich ihnen auf eine merkwürdige Weise verbunden fühlte, landeten sie am Ende einer Kolonne aus zwanzig Fahrzeugen. Ein Linienbus steckte hinter einem Traktor fest und konnte nicht schnell genug beschleunigen, um zu überholen.
Während sich auf der rechten Seite ein imposanter Betondeich aus der grünen Landschaft schälte, sah er aus dem linken Seitenfenster wie sich das Tageslicht in Tausenden von Prismen auf der Wasseroberfläche inmitten einer Wattlandschaft brach. Er kramte in seinen dürftigen Ortskenntnissen, die er sich kürzlich aus einem Reiseführer über Nordfriesland zusammengeklaubt hatte. Es musste sich um das Katinger Watt handeln, das einst durch den Deichbau von der Nordsee abgetrennt worden war. Inzwischen hatte es aufgehört zu nieseln, doch Marconi ließ sich nicht täuschen. Selbst bei schönstem Wetter musste man in diesem Landstrich noch mit dem Schlimmsten rechnen: Wetterumschwünge von strahlend blau zu tiefschwarz binnen Minuten, mit Windböen, die einen buchstäblich umzuhauen vermochten.
Eva schien ihn auf den Tatort einstimmen zu wollen und war in einen Touristenführermodus übergegangen. Begeistert reihte sie einen Superlativ über das Eidersperrwerk an den nächsten. Eines der größten Küstenschutzprojekte Europas, über zweihundert Meter lang, fünf riesige Tore, vor fünfzig Jahren eingeweiht, schon damals mit hundertsiebzig Millionen D-Mark unfassbar teuer, bereits mehr als sechzig zum Teil schweren Sturmfluten standgehalten. Er konnte sich bei Weitem nicht alles merken, hatte aber begriffen, dass es sich um ein Jahrhundertbauwerk handelte, das hier mit der gleichen Ehrfurcht behandelt wurde wie andernorts Weltkulturstätten.
Eine gefühlte Ewigkeit später nahm er in der Ferne ein aufgeregtes Treiben wahr. Je näher sie kamen, desto greller leuchteten die kreisenden Blaulichter der beiden Notarztwagen. Noch immer bewegten sie sich nur im Schritttempo, und Marconi atmete deutlich hörbar aus, als Eva endlich abbog und auf einer Brachfläche am Fuße eines Windrades parkte. Marconi öffnete die Wagentür und versank mit seinem Schuh fast komplett im Matsch. Einen Fluch unterdrückend, pflanzte er auch den zweiten in den aufgeweichten Boden und setzte sich mit schmatzenden Geräuschen in Bewegung. Jens holte zwei Rollen Absperrband aus dem Kofferraum und eilte hinter ihm und Eva den bestimmt sieben Meter hohen Betondeich hinauf. Über ihnen veranstalteten Dutzende Schwalben einen Heidenlärm.
Zwei massive Seedeiche aus Beton und Steinen umschlossen auf der dem Meer zugewandten Seite die Einfahrt zum Sperrwerk mit dem Schleusentor, wie die Scheren eines gigantischen Hummers. Als ein zwischen den beiden Mauern eingekeiltes Boot in Marconis Sichtfeld kam, blieb er abrupt stehen. In den elf Jahren bei der Kripo München war er schon einigem begegnet: Brandleichen, Menschen mit abgetrennten Gliedmaßen, Selbstmördern, die von Hochhäusern in den Tod gesprungen waren oder sich zum Sterben auf Bahngleise gelegt hatten. Leider hatten ihn diese Erfahrungen nicht abgehärtet. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, sich jemals an unnatürliche Tode zu gewöhnen. Was er zwei Meter unter sich auf dem Boot sah, drehte ihm den Magen um.
Viel Blut konnte sich nicht mehr im Körper des Mannes befinden, der ausgestreckt an Deck lag, die Hände seitlich über den Kopf gehoben, wie um sich nach dem Aufwachen zu räkeln. Eine Möwe hatte in eines seiner Augen gepickt, mit dem anderen starrte der Tote in die Sonne. Rasch schaute Marconi weg, holte tief Luft und wandte sich der Szenerie erneut zu, um sie auf sich wirken zu lassen. Er prägte sich jedes Detail ein. Die kleine, zerfledderte blau-weiß-rote Fahne über dem Heck, die abgeplatzte rote Farbe neben dem Bootsnamen Magda Verena. Das Blut, das einen grotesken Heiligenschein um den Kopf des Toten gebildet hatte. Sie würden ab sofort Teil seines geistigen Museums sein. Was an diesem Bild noch mehr störte als die große Menge Blut war das Objekt, das dem Mann aus dem Bauch ragte.
«Oh Gott!» Völlig von dem Anblick absorbiert, hatte er nicht bemerkt, wie Eva neben ihn getreten war und sich nun die Hand vor den Mund hielt. «Darauf hat mich auf der Polizeischule niemand vorbereitet.» Richtig, erinnerte sich Marconi an ihre Akte: Eva hatte vor nicht einmal vier Wochen die Ausbildung abgeschlossen. Dies war augenscheinlich ihr erster Tatort. Trotzdem näherte sie sich dem Boot und scannte mit den Augen Leiche und Umfeld. Die professionelle Neugier hatte offenbar schnell über ihr Entsetzen gesiegt. «Ist das … ein Brecheisen?» Sie zeigte auf die Leiche.
«Entweder das oder eine Harpu…» Ein Vogel setzte zum Sturzflug an und verfehlte seinen Kopf um wenige Zentimeter. Reflexhaft ging Marconi in die Hocke, um dem Angreifer auszuweichen. Unter lautem Geschnatter ließ sich das Tier auf der gegenüberliegenden Seite der Schleuse nieder und gesellte sich zu dem riesigen Haufen Schwalben und Möwen, die sich aufgeregt miteinander auszutauschen schienen.
«Ist das hier versteckte Kamera oder drehen Hitchcocks Erben einen Film, ohne dass ich etwas davon weiß?» Marconi erhob sich und sah sich alarmiert um.
Eva löste den Blick von der Leiche und musste tatsächlich lachen, als sie ihn ansah. «Das ist die Küstenschwalbenkolonie, die hier am Sperrwerk brütet. Sind inzwischen gut vierhundert Paare und fast genauso berühmt wie das Sperrwerk selbst.»
Na klar. Paris hatte den Eiffelturm, Rom das Kolosseum, und Eiderstedt wusste mit Zigtausenden Tonnen Stahlbeton und 400 wild gewordenen Vogelpaaren zu verzücken. Es gab für alles eine Zielgruppe, man musste nur zueinander finden.
«Kennen Sie den Toten?» Marconi schirmte die Augen gegen das Sonnenlicht ab, das sich vorübergehend durch die dichte Wolkendecke gekämpft hatte. Eva schüttelte den Kopf.
«Chef?» Jens rief von der anderen Schleusenseite zu ihnen herüber. «Alles abgesperrt!» Marconi reckte ihm den Daumen entgegen, da meldete sich aus Evas Hosentasche wieder das Martinshorn. Das Gespräch dauerte nur wenige Sekunden.
«Die Kripokollegen brauchen noch mindestens eine halbe Stunde», sagte sie, als sie aufgelegt hatte. «Wir sollen bis dahin Schaulustige fernhalten.» Sie ließ das Handy zurück in die Hosentasche gleiten.
Zu gern wäre Marconi an Bord gegangen, um den Tatort zu untersuchen, ließ aber die Vernunft siegen und wartete auf die Spurensicherung, die zusammen mit den Kollegen von der Kripo aus dem rund hundert Kilometer entfernten Flensburg auf dem Weg war.
Die Menge an Schaulustigen, die sich mittlerweile auf dem Deich eingefunden hatte, konnte es zahlenmäßig mit der gefiederten zu ihren Füßen aufnehmen. Ein mittelalter Mann mit Glatze und enormem Fotoapparat um den Hals bahnte sich den Weg durch die Menge. Mit gezücktem Schreibblock wandte er sich an Jens.
«Kannst du schon was zum Tathergang sagen, bevor die Angeber aus Flensburg ankommen und dir ’nen Maulkorb verpassen? Warum ist der Tote so übel zugerichtet?»
Hilfe suchend sah Jens Marconi an, was dem Reporter nicht entging.
«Ach, bist du unser neuer Dienststellenleiter, der Nachfolger vom Helmut?» Eifrig klemmte er sich den Notizblock in den Hosenbund und hielt ihm die Hand hin, die Marconi nach einigem Zögern ergriff.
«Massimo Marconi», brummte er. «Auskünfte erteilt die Pressestelle der Kriminalpolizei. Und jetzt lassen Sie uns unsere Arbeit machen.» Er wandte sich zum Gehen, hielt aber noch mal inne und sah dem Reporter in die Augen. «Sie drucken keine Bilder von Leiche oder Tatort in Ihrem Blatt und schreiben auch keine Details über die Tatwaffe, sonst kriege ich Sie wegen Behinderung einer Polizeiermittlung dran!» Damit ließ er den Mann stehen und ging mit großen Schritten voran auf die Klappbrücke zwischen den beiden Absperrbändern. Eva und Jens folgten ihm. Als sie weit genug von den Schaulustigen entfernt waren, lehnte er sich an das Geländer und ließ den Blick schweifen. Das Boot, das in der Schifffahrtsschleuse klemmte, war vom Deich aus nicht zu sehen. Stattdessen blickte er auf die tonnenschweren Tore, die den Wasserdurchlauf zwischen Binnenhafen und Meer regelten. Welche Sturmfluten einst gewütet haben mussten, damit Menschen solch ein Ungetüm in die Landschaft setzten? Die unberechenbaren Naturgewalten und diese Geschmacksverirrung aus Stahl und Beton waren zwei weitere Gründe, diese Gegend am besten zu meiden. Aber wo er nun schon einmal hier war, konnte er auch genauso gut seinen Job machen.
Er klatschte in die Hände. «Dann lassen Sie uns mit den Ermittlungen beginnen! Sie befragen die Anwesenden, ich gehe mal die schöne Aussicht genießen.» Mit dem Zeigefinger deutete er auf den achteckigen Kontrollturm, der über der Anlage thronte wie das Steuerhaus auf einem Schiff.
Seine Kollegen sahen sich vielsagend an, unschlüssig wie ein Elternpaar, das nicht wusste, wie es dem Kind vermitteln sollte, dass aus dem Ausflug in den Freizeitpark leider nichts wurde.
Eva räusperte sich. «Wir sollen sicherstellen, dass kein Unbefugter den Tatort kontaminiert, und können die Kripo natürlich mit Zeugenbefragungen unterstützen. Von Ermittlungen war nicht die Rede.»
Jens kratzte sich am Kopf. «Ich weiß, dass du in München Kripobeamter warst. Aber wir von der Polizeidienststelle in Sankt Peter sind nun mal … tja … Polizisten.» Offensichtlich peinlich berührt, seinen Vorgesetzten auf eine solch banale Tatsache hinweisen zu müssen, sah er zu Boden. «Und Ermittlungen in einem Kapitalverbrechen führen grundsätzlich die Kollegen von der Kripo aus Flensburg.»
Marconi wollte schon etwas Unwirsches erwidern, als die Worte einsickerten. Die beiden hatten recht. Nicht nur sein Privatleben, wie er es kannte, war vorbei. Auch beruflich war er mit seiner Entscheidung für den Norden am untersten Ende der Karriereleiter gelandet. Kurz versetzte ihm dieser Gedanke einen Stich. Doch sofort rief er sich zur Ordnung und straffte die Schultern. Wie ein Leben verlief, das mochte vielleicht das Schicksal entscheiden, aber wie es einem damit ging, das entschied man noch immer selbst.
«Sie haben recht», sagte er schließlich und konnte die Erleichterung seiner Kollegen deutlich spüren. «Wir machen hier unsere Arbeit. Passen Sie auf, dass niemand hinter die Absperrung tritt. Die Kollegin beginnt mit der Befragung. Ich mache unauffällig Fotos von den Schaulustigen.»
Die nächsten Stunden waren die langweiligsten seiner fünfzehnjährigen Laufbahn. Die Befragung der Anwesenden hatten sie zu dritt in nicht einmal einer halben Stunde erledigt. Niemand hatte die Tat beobachtet oder eine verdächtige Person den Tatort verlassen sehen. Also standen sie sich am Absperrband die Beine in den Bauch. Sehnsüchtig sah Marconi als Zaungast den Leuten vom Landeskriminalamt zu, wie sie Spuren sicherten. Verwandelten sich Tatorte normalerweise in ein unübersichtliches Meer aus nummerierten Kunststofftafeln, blieb die Ausbeute für den Augenblick dürftig. Der steinige Boden hatte kaum Fußabdrücke zu bieten, zumal die Ermittler nicht wussten, wo sie danach suchen sollten. Und das Gelände war weitläufig. Niemand schien zu wissen, von wo aus die tödliche Attacke unternommen worden war.
Marconi hätte nicht mit Gewissheit sagen können, wie viel Zeit bereits vergangen war, als er beobachtete, wie zwei Männer und eine Frau, einheitlich in schwarze Anzüge und weiße Hemden gekleidet, die Treppen zur Leitzentrale im Kontrollturm hinaufschritten. Soweit er wusste, war bei der Kripo keine Einheitskleidung vorgeschrieben. Jedenfalls nicht in Bayern. Zehn Minuten später spuckte der Kontrollturm das Trio wieder aus, das nun in dem Flachdachgebäude am Fuße des Gebäudes verschwand, wo Marconi die Verwaltung vermutete. Zwanzig Minuten lang geschah nichts, bis sie mit Gesichtern wie Leichenwagen wieder herauskamen und Eva ansprachen, die dem Kontrollturm am nächsten war. Sie zeigte in seine Richtung.
Der mutmaßliche Chef mit der tiefen Zornesfalte zwischen den Augenbrauen, von der Marconi sich fragte, ob die genetisch bedingt oder durch reichlich Training erworben war, stapfte auf ihn zu. Er hatte schwarzes Haar, das gefärbt aussah, und war nicht nur klein, sondern auch erstaunlich schmächtig. Die einzige Frau der Combo legte eine Attitüde an den Tag, als hätte sie in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal gelächelt, nicht einmal aus Versehen in ihrer Kindheit. Der Dritte im Bunde wirkte wie das fünfte Rad am Wagen. Die bis zum Platzen aufgepumpten Oberarme ließen ihn wie den Türsteher einer Dorfdisco aussehen, definitiv mehr Bodyguard als Ermittler, aber Marconi wusste aus Erfahrung, dass der erste Eindruck oft täuschte.
«Moin!» Alle drei Kripobeamte drückten beim Handschlag so fest zu, dass Marconi meinte, seine Knochen knirschen zu hören. Er wollte Namen und Dienstrang nennen, aber die Zornesfalte, die sich knapp mit «Bergmann» vorstellte, ließ es gar nicht erst dazu kommen.
«Warum trägst du keine Uniform?», raunzte er Marconi an.
Marconi schluckte seinen Ärger über den zackigen Tonfall runter. «Ich bin seit nicht einmal zwei Stunden Leiter der Polizeistation Sankt Peter-Ording und hatte noch keine Gelegenheit …»
Doch der mutmaßliche Chef fiel ihm gleich mit dem nächsten Anpfiff ins Wort. «Wenn ihr eure Arbeit gemacht und den Tatort rechtzeitig abgesperrt hättet, müssten wir jetzt nicht die tatrelevanten Spuren von denen unbeteiligter Zivilisten in Tatortnähe mühsam dekodieren.»
Dekodieren? Ernsthaft? Marconi drückte sein Kreuz durch und richtete sich auf, was ihn, wie er wusste, noch einmal zwei Zentimeter größer erscheinen ließ. Mit schmerzender Hand, aber grimmiger Genugtuung sah er auf sein Gegenüber herab. Er hatte keine Lust, die Leute von der Kripo auf freundliche Umgangsformen hinzuweisen. Unwidersprochen ans Bein pinkeln lassen wollte er sich aber auch nicht, Hierarchie hin oder her.
«Danke für Ihren fachkundigen Hinweis. Meine Kollegenund ich werden das berücksichtigen und uns in Zukunft bemühen, den Tatort abzusperren, noch bevor es zur Tat gekommen ist.»
Die Kollegen des Wortführers verschränkten die Arme, während dessen Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten. «Haben wir ein Problem?»
Marconi hätte sie auf seine Kripo-Vergangenheit hinweisen können, wusste aber nicht, inwiefern das in dieser Situation half. Natürlich war ihm bewusst, dass am Anfang einer Mordermittlung alles verfügbare Personal genutzt wurde, um wichtige, aber nervtötende Arbeit zu machen: Tatorte absperren, Zeugen befragen, an Haustüren klingeln und dabei Tonnen an Überstunden produzieren. Wichtige Entscheidungen wurden dagegen Hunderte Kilometer entfernt getroffen, in ihrem Fall in Flensburg. Dieses Prozedere war im Norden nicht anders als in Bayern. Nur, dass er, Marconi, zum ersten Mal auf der anderen Seite stand, da, wo die Drecksarbeit geleistet wurde. «Wie gesagt, ich bin neu hier», antwortete er einigermaßen versöhnlich. «Aber mir sind die Zuständigkeiten bekannt. Wir machen nur unsere Arbeit.»
Der Chef der Kavallerie nickte herablassend. «Kennen deine Kollegen den Toten?» Marconi fragte sich intuitiv, ob er als Hauptkommissar ebenso überheblich mit Kollegen der örtlichen Polizei umgegangen war. Er hoffte, nicht, hätte aber auch nicht die Hand für sich ins Feuer legen können.
«Ich weiß mittlerweile, wer der Tote ist.» Eva genoss sichtlich die Wirkung, die sie mit diesem Satz erzielte. Vier Augenpaare starrten sie an. «Klaus Olsen ist Krabbenfischer, seine Magda Verena beim Seeschiffsregister in Husum registriert. Seine Familie wohnt in Tating, hier ist seine private Anschrift.» Sie hielt den Zettel den drei Kripobeamten entgegen, die für einen Moment zu perplex waren, um zu reagieren. Schließlich griff die dunkelhaarige Kollegin danach, die ihren Chef um einen halben Kopf überragte, und reichte Eva im Austausch ihre Visitenkarte. Der Blick, den die beiden Frauen sich dabei zuwarfen, ließ keinen Zweifel daran, dass ihnen ihre Vorgesetzten zu viel Testosteron produzierten.
«Schickt mir die Befragungsprotokolle, sobald ihr sie abgetippt habt. Wir informieren euch, wenn der Fall abgeschlossen ist. Oder falls ihr für uns vor Ort noch etwas erledigen könnt.» Ohne sich zu verabschieden, ließen die Kripobeamten Marconi und Eva stehen.
Kurz darauf wurde die Leiche abtransportiert und das Fischerboot in den kleinen Hafen hinter dem Sperrwerk gebracht. Der Tote trat seine vorletzte Reise in die Gerichtsmedizin nach Kiel an. Das Team der Spurensicherung fuhr zurück nach Flensburg und die Kripokollegen in die entgegengesetzte Richtung nach Tating im Westen der Halbinsel Eiderstedt. Sie hatten sich nicht zum letzten Mal gesehen, davon war Marconi überzeugt.
«Packt ihr schon mal zusammen?», rief er Eva und Jens zu und deutete zum Kontrollturm. «Ich geh noch mal schnell für kleine Italiener.»
Drei auf einmal nehmend, hatte Marconi die rund siebzig Stufen des Stahlungetüms von Zickzacktreppe im Nu überwunden. Nach Atem ringend, stand er vor der achteckigen, rundum verglasten Schaltzentrale. Da er durch die getönten Scheiben nichts erkennen konnte, suchte er nach dem Eingang, doch noch ehe er eintreten konnte, drang eine dröhnende Stimme an sein Ohr.
«Nein, Sie können keinen Ausflug mit Ihrem Sportboot machen … nein, ich werde die Schleuse nicht öffnen.»
Marconi drückte die Klinke und schob die Tür einen Spaltbreit auf. Die bellenden Befehle einer männlichen Stimme waren zu hören, die, offenbar per Funk, den Kontrollturm beschallten.
«Ja, ich weiß, dass die Schifffahrt Vorrang vor dem Straßenverkehr hat», polterte der Mann aus der Schaltzentrale zurück. «Nein, ich muss Ihnen keine Rechenschaft ablegen, warum …»
Wieder war aus einem Funkgerät ein Wortschwall im Befehlston zu hören, der schlagartig verebbte.
«Touristen!», brummte der Mann, und Marconi öffnete die Tür.
«Hauptkomm-» Er unterbrach sich. «Massimo Marconi, Polizeistation Sankt Peter, servus!»
«Marconi?» Der Mann, der fast so groß war wie Marconi, allerdings deutlich kräftiger, legte die Stirn in Falten, was ihn in Kombination mit dem imposanten Schnurrbart wie ein Walross aussehen ließ. «Dann bist du der Bruder von Nevio?», folgerte er. Als Marconi bestätigte, fügte er ein «Beileid» an und drückte seine Hand. Dankbar registrierte Marconi, dass nun keine Anekdote folgte, die den Mann, der sich als Bahne Mommsen vorstellte, mit Nevio verband. Einige Sekunden lang standen sich die beiden Männer stumm gegenüber, ehe Marconi das Schweigen brach. «Ich wollte eigentlich nur kurz aufs stille Örtchen.»
«Echt?» Bahne Mommsen sah ihn erstaunt an. «Ich dachte, du bist wegen dem Toten hier.»
«Ich? Nee!» Marconi hob abwehrend die Hände. «Das ist Aufgabe der Kripo. Ich bin gerade erst ein paar Stunden im Dienst und will mir nicht gleich Ärger einhandeln, weil ich mich in Sachen einmische, die mich nichts angehen.»
«Willst du wirklich nicht wissen, was ich gesehen habe?» Bahne Mommsen sah ihn ungläubig an. «Was bist du denn für’n Bulle?»
Marconi räusperte sich. Das hatte er sich in den letzten Stunden auch schon gefragt – mehrfach. «Wieso, was haben Sie denn gesehen?»
«Nichts.»
«Was? Wirklich nichts Auffälliges?», konnte sich Marconi nun doch nicht zurückhalten.
«Rein gar nichts. Ich habe tief und fest geschlafen.»
Marconi drohten die Gesichtszüge zu entgleisen.
Ein Mundwinkel zuckte unter dem Walrossbart. «Ich hatte frei und lag zu Hause im Bett. Enno hatte Dienst.»
«Enno?»
«Enno Breitenreiter, der diensthabende Kollege der Nachtschicht. Als er den Kutter entdeckt hat, hat er erst die Kripo benachrichtigt und dann mich. Ich bin sein Chef und der Sperrwerksleiter.»
«Wie lange sind Sie schon hier?»
«Kein Plan!», sagte er, was nach Marconis Auffassung besser zu Klara gepasst hätte als zu einem Mann jenseits der sechzig. Mommsen sah auf seine Armbanduhr und fügte hinzu: «Nicht länger als zwanzig Minuten.»
Marconi nickte und ließ den Blick über die Armaturen gleiten. Mehr als ein Dutzend Flachbildmonitore, über die sich mehrfarbige Sinuskurven schlängelten, horizontale Anzeigen, die teils leuchteten, teils blinkten. Zwei nicht mehr ganz neue Bürostühle mit hohen Lehnen und Kopfstützen standen in den beiden Buchten zwischen den Armaturen. Ein Funkgerät lag auf einem der Drehstühle. Die Fenster gaben ab Hüfthöhe aufwärts den Blick auf die Bucht vor dem Sperrwerk frei und in entgegengesetzter Richtung auf den kleinen Hafen und das Katinger Watt. Auf zwei Monitoren waren jeweils sechs Livebilder von Überwachungskameras zu sehen.
«Zeichnen die auch den Bereich vor der Schleuse auf?» Marconi zeigte auf die Schwarz-Weiß-Bilder, auf denen er Eva und Jens erkennen konnte, die wieder mit den Menschen hinter dem Absperrband sprachen.
«Eine Kamera auf der Brücke ist auf den Vorhafen gerichtet, richtig scharf zu sehen ist aber nur der Bereich direkt vor der Schleuse.»
«Hat Enno gesagt, ob er auf den Bildern etwas Auffälliges entdeckt hat?»
«Nein. Laut den Protokollen aus der letzten Nacht haben nur drei Boote das Sperrwerk passiert: zwei Fischerboote und das Schiff einer Umweltorganisation, die Narwal II, die gestern Abend gegen halb zehn ausgelaufen ist. Aber das könnt ihr euch selbst anschauen. Deine Kollegen haben mich gebeten, die Aufnahmen der letzten zwölf Stunden auf einen externen Datenträger zu ziehen.» Er hielt Marconi einen USB-Stick hin. Weil Marconi keine Anstalten machte, danach zu greifen, hob Mommsen den Stick auf dessen Augenhöhe. «Kannst du das Ding gleich mitnehmen? Dann muss ich mich nicht darum kümmern!»
Während er noch immer den Stick anstarrte, den Mommsen ihm vor die Nase hielt, rang Marconi mit sich. Den Flensburgern hatte er versichert, dass er nur seine Arbeit mache. Aber wer definierte, was zu seiner Arbeit gehörte? Er griff nach dem USB-Stick und ließ ihn so schnell in seiner Hosentasche verschwinden, dass Mommsen für eine Sekunde versucht schien, das Teil doch noch zurückzuverlangen. Da er aber offenbar keinen Grund fand, ließ er Marconi schließlich ziehen und wies ihm den Weg zum Klo.
Marconi betrat den angeschlossenen Flachdachbau durch die Eingangstür im Erdgeschoss. Da nirgends eine Beschilderung zu finden war, begann er, an Türen zu klopfen und die Klinken herunterzudrücken. Nur die Tür am Ende des dunklen Korridors war nicht verschlossen. Die abgestandene Luft in dem abgedunkelten Pausenraum ließ darauf schließen, dass die Person, die den Sauerstoff verbraucht hatte, sich noch darin befand. Eine Neonröhre flackerte auf, als er den Lichtschalter betätigte. Aus der Ecke des kleinen Raumes war ein Stöhnen zu vernehmen.
«Tut mir leid», sagte Marconi. «Das ist wohl nicht die Toilette.» Er schaltete das Licht wieder aus und trat zurück auf den Flur. Doch dann besann er sich eines Besseren. Es war ja wohl nicht strafbar, Fragen zu stellen. Jedenfalls, solange gewisse Vorgesetzte nichts davon erfuhren.
Er schaltete das Licht wieder an. «Sind Sie Enno?»
Ein zustimmendes Grunzen ertönte. Während der Mann, der mit dem Gesicht zur Wand zusammengerollt auf dem Sofa gelegen hatte, sich umständlich über den Bauch zu Marconi herumwälzte, ging dieser zum Fenster und öffnete es, nachdem er die Rollos hochgezogen hatte. Ächzend richtete Enno Breitenreiter sich auf. Sein Blick traf Marconis, der darin eine ihm wohlvertraute Mischung aus Schuldbewusstsein und Trotz erkannte. Genau darin sah Marconi seine Chance.
«Marconi, Polizeistation Sankt Peter-Ording. Tut mir leid, dass Sie das ertragen mussten, Herr Breitenreiter. Die erste Leiche begleitet einen ein Leben lang, darauf dürfen Sie sich schon mal gefasst machen. Wie geht’s Ihnen?»
Enno Breitenreiter wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn. Sein Gesicht war fast so weiß wie das T-Shirt, das sich über seinen Bauch spannte. Er nickte, ging dann zu einem Kopfschütteln über. «Ich war nicht … Ich habe den Toten nur von oben aus dem Kontrollturm gesehen und dann die Polizei gerufen.»
Marconi nickte. Das war kein ungewöhnliches Verhalten.
«Wie alt sind Sie, Enno?»
Breitenreiter sah ihn überrascht an. «Dreiunddreißig.»
«Wie lange sind Sie schon verheiratet?»
Jetzt wurde Breitenreiters Blick misstrauisch. «Dreizehn Jahre.»
Marconi nickte wieder und ließ dabei offen, ob es ein anerkennendes Nicken war oder ein wissendes. «Wie viele Kinder?»
«Zwei. Nein. Drei.»
«Zwei oder drei?»
«Drei. Vor vier Monaten kam das dritte.»
«Anstrengend, oder?»
«Keine Ahnung, schon. Aber ist ja auch schön irgendwie.»
Marconi lächelte, als wüsste er genau, wovon der Mann sprach.
«Seit wann arbeiten Sie hier?»
«Keine Ahnung, paar Jahre.»
«Eher fünf oder eher fünfzehn?»
«Eher zwei oder drei.»
«Eher drei, weil der Job so viel Spaß macht und die Zeit so schnell vergeht? Oder eher zwei, die sich aber wie drei anfühlen, weil Sie den Job stinklangweilig finden?»
«Darauf muss ich nicht antworten.» Breitenreiter verschränkte die Arme und presste die Lippen aufeinander.
«Stimmt, müssen Sie nicht.»
Die Stille, die sich nun ausbreitete, setzte Breitenreiter zu, was Marconi daran erkannte, dass er nervös seine Fingernägel traktierte und die Nagelhaut in Streifen abzog.
«Bin ich etwa verdächtig?» Ihm schien zu dämmern, dass die harmlos gestartete Unterhaltung in eine gewisse Richtung zu gehen schien. «Ich hab das doch alles schon deinen Kollegen erzählt.»
Marconi überlegte kurz, ob er den Irrtum richtigstellen sollte und beschloss dann, ihn zu übergehen. Im weitesten Sinne waren die Flensburger schließlich seine Kollegen.
«Wie kommen Sie darauf, dass Sie verdächtig sind?», fragte er freundlich, um der Unterredung gar nicht erst den Anschein einer Vernehmung zu geben.
«Na, weil du so … merkwürdige Fragen stellst.»
Breitenreiter wich Marconis Blick aus.
«Herr Breitenreiter … Enno, ich darf Sie Enno nennen? Auch wenn es Ihnen schwerfällt, wir müssen darüber reden, was passiert ist.»
«Ich habe nichts gesehen.»
«Mich interessiert, warum nicht, bei all den Kameras.»
Marconi konnte regelrecht sehen, wie es in Ennos Hirn arbeitete.
«Ich war auf Klo.»
Marconi nickte verständnisvoll.
«Wann hat Ihre Schicht denn angefangen?»
«Gestern Abend, Viertel vor elf.»
«Die Ablösung kommt morgens, gegen halb acht?»
Breitenreiter nickte.
«Wann waren Sie auf Toilette?»
«Keine Ahnung, sechs oder so.»
«Wie lange?»
«Wie lange was?»
«Wie lange waren Sie nicht im Kontrollturm?»
«Viertelstunde ungefähr.»
«Und dann kamen Sie zurück, vom Klo, und haben den Toten gesehen?»
Breitenreiter stieß einen Seufzer aus, der wohl suggerieren sollte, dass er das doch alles schon mal erzählt hatte. Als Marconi nicht reagierte, ließ sein Gegenüber einen weiteren Seufzer folgen, ehe er antwortete. «Ja. Das heißt, nein.»
«Verstehe.»
«Ja?»
«Nein, Sie?»
Irritiert sah Breitenreiter von der Tischplatte auf, offenbar nicht sicher, was sich hier gerade abspielte. «Ist das eigentlich ein Verhör?»
«Nein, warum sollte es? Vernommen werden nur Verdächtige. Und Sie sind doch ein Zeuge. Dachte ich jedenfalls.»
Marconis Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Er warf einen Blick aufs Display:
Hast du dich verlaufen?
Verlaufen? Hielt ihn Eva für senil?
«Gegen sechs gingen Sie auf Toilette», nahm er das Gespräch wieder auf. «Kamen nach fünfzehn Minuten zurück. Und was geschah dann?»
«Dann hab ich Kaffee gekocht, mich auf den Bürostuhl gesetzt und irgendwann fiel mir auf, dass die Funkanzeige geblinkt hat.»
«Weil jemand Kontakt aufnehmen wollte?»
«Ja», sagte Breitenreiter, schüttelte aber den Kopf.
Marconi suchte nach einer Erklärung dafür, warum sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Obwohl er den Mann nicht für einen Mörder hielt, verhielt er sich eindeutig verdächtig.
«Ja oder nein?»
«Die Funkanzeige blinkt, wenn ein Bootsführer versucht hat, Kontakt aufzunehmen, aber im Kontrollturm niemand erreicht hat.»
«Wie ein Anrufbeantworter?»
«Ja, das heißt nein. Ohne Nachricht, nur als Benachrichtigung.»