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Ein epischer Fantasyroman über einen von Odins größten Helden. Tyr, Gott des Krieges und älterer Bruder von Thor, geht auf eine Reise, um sich seinen Platz an Odins Seite zu sichern. Unterstützt vom jungen Bjorn Wolfbane und der betörenden Lorelai, macht sich das Trio auf, um ein Stück vom Schwert des Feuerriesen Surtur zu stehlen, mit dem dieser eines Tages Ragnarök heraufbeschwören und Asgard zerstören wird. Doch das feurige Muspelheim ist voller Vulkantrolle, Lavakraken und Surturs Brut mörderischer Krieger. Tyr muss all dem trotzen, denn sonst wird er die Apokalypse auslösen und sein Name auf ewig verflucht sein.
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Seitenzahl: 399
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EIN ROMAN VON
C. L. WERNER
INS DEUTSCHE ÜBERTRAGENVON STEPHANIE PANNEN
FOR MARVEL PUBLISHINGVP Production & Special Projects: Jeff YoungquistAssociate Editor, Special Projects: Caitlin O’ConnellManager, Licensed Publishing: Jeremy WestVP, Licensed Publishing: Sven LarsenSVP Print, Sales & Marketing: David GabrielEditor in Chief: C B Cebulski
Special Thanks to Will Moss
© 2022 MARVEL
Die deutsche Ausgabe von DAS SCHWERT DES SURTUR
wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Stephanie Pannen; verantwortlicher
Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild;
Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Grant Griffin;
Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.
Titel der Originalausgabe:
THE SWORD OF SURTUR
First published by Aconyte Books in 2021
Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd
German translation copyright © 2022 MARVEL.
Print ISBN 978-3-96658-606-1 (Januar 2022)
E-Book ISBN 978-3-96658-607-8 (Januar 2022)
WWW.CROSS-CULT.DE
Für Gary und seine Leute bei LoneWarrior Comics für ihre Geduld und Nachsichtgegenüber einem dickköpfigen Kind, wann immereine neue Ausgabe von G. I. Joe herauskam.
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
EPILOG
Das Licht Tausender Fackeln ließ die goldenen Wände von Odins Halle wie die Sonne erstrahlen und trotzte dem Einbruch der Nacht über dem Reich Asgard. Gelächter und Jubel hallte von der Gewölbedecke hoch über den Köpfen der Feiernden wider. Köstlicher Bratenduft des sich immer wieder regenerierenden Ebers Sährimnir erfüllte die Halle, während aus der Küche Teller um Teller voll des saftigen Fleischs serviert wurde. Und aus den Vorratskellern trugen Diener unaufhörlich Fässer, damit den Feiernden der Met nicht ausgehen würde.
Hunderte Asen waren an den Dutzenden langen Tafeln in der Halle versammelt. Nicht nur jene, die in der großen Stadt selbst lebten, sondern auch getreue Anhänger aus den entlegensten Regionen des Landes hatten sich für die Feier versammelt. Die wüstengeküssten Skornheimer und die mürrischen Gymirsgardianer saßen neben Jägern aus Gundersheim und Mystikern aus Ringsfjord. Ein kräftiger Krieger aus dem Königreich Harokin tauschte mit einem weißbärtigen Kapitän aus dem drachenverseuchten Nastrond Geschichten aus.
In jeden entlegenen Winkel des Reiches war Odins Dekret gesendet worden und aus jedem Winkel waren sie gekommen, um Asgards mächtigstem Krieger Tribut zu zollen.
Der Blick aus Tyrs blauen Augen wanderte streng über die Feiernden. Jedes Lachen, jedes Lächeln sorgte mehr dafür, dass er sich fehl am Platze fühlte. Ihm war nicht nach solchen Frivolitäten und nach dem Anlass für sie noch viel weniger. Hätte ihn sein Vater nicht herbeordert, hätte er sich so weit wie möglich von dieser Feier ferngehalten. Aber den Allvater ignorierte man nicht, selbst wenn man selbst der Gott des Krieges war.
Auf einem erhöhten Podest an einem Ende der Halle stand Odins Tisch. Tyrs Vater wirkte immer noch wie ein Mann in den besten Jahren, trotz des schneeweißen Barts, der ihm bis fast zur Taille reichte. Sein verbliebenes Auge funkelte voller Fröhlichkeit und mit der Energie eines viel jüngeren Asen. Das andere, das Odin geopfert hatte, um größere Weisheit als jeder andere Ase zu erringen, war mit einer goldenen Augenklappe bedeckt, die wie ein Stück glimmende Kohle glühte. Tyr fand, die Opferung seines Auges, um das Volk von Asgard besser führen und sie vor Schaden bewahren zu können, war nur ein Grund unter vielen, warum seinem Vater die Rolle des Herrschers zustand. Auch wenn es Zeiten wie diese gab, in denen ihm Odins Befehle zuwider waren, hatte er zu viel Respekt vor ihm, um seiner Autorität zu trotzen. Solche Launenhaftigkeit überließ er lieber seinem Halbbruder Loki.
Auf der mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Rückenlehne von Odins Stuhl saßen seine Spione, die Raben Hugin und Munin. Ihre klugen Augen verfolgten die Feier und bekamen selbst das kleinste Detail mit, um es dem Allvater später ins Ohr zu flüstern, nachdem die Feiernden gegangen waren. Gelegentlich bot Odin einem der beiden Vögel ein Stückchen Fleisch an und dieser unterbrach kurz seine Aufmerksamkeit, während er es gierig verschlang, doch er kam nie auf die Idee, beide zur gleichen Zeit abzulenken. Oft spürte Tyr den scharfsinnigen Blick der Raben auf sich und fragte sich, was sie seinem Vater später erzählen würden.
Unter dem Tisch lagen zwei Tiere, die Tyr noch viel mehr verabscheute als die spionierenden Raben. Die Wölfe Freki und Geri kauten auf Eberknochen herum und schleckten Blut aus silbernen Schüsseln zu Füßen ihres Herrn. Diese riesigen, wilden und stolzen Kreaturen waren Odins loyalste Beschützer, die ihn auf seinen Reisen durch die Neun Welten begleiteten. In der Prophezeiung von Ragnarök wurde vorhergesagt, dass Freki und Geri bei dem Versuch sterben würden, Odin vor dem Großen Wolf Fenris zu verteidigen.
Der Gedanke an Fenris ließ Tyr sein Trinkhorn mit Met in das goldene Gestell absetzen, das eigens diesem Zweck diente. Dann umklammerte er seine linke Hand. Oder zumindest die Metallabdeckung, die sie ersetzte. Wieder betrachtete er die Feiernden um sich herum, doch ihr Frohsinn und Gelächter klangen bitter in seinen Ohren. Einst hatten sie den Gott des Krieges dafür gefeiert, dass er Asgard vor der Gefahr gerettet hatte, die sie alle zu verschlingen gedroht hatte. Der Große Wolf, dieses monströse Kind Lokis, war so mächtig geworden, dass sich kein Gott mehr gegen ihn hatte durchsetzen können. In seiner Wildheit hätte Fenris das ganze Reich in Schutt und Asche legen können und jeden Tag hatte ihn sein gieriger Appetit mehr dazu getrieben. Jede Art Kette war ausprobiert worden, um die Bestie zu fesseln, doch selbst jene aus Uru, dem magischen Metall Asgards, konnten sie nicht zurückhalten. Es wurde für den Großen Wolf eine Art Spiel, die Götter versuchen zu lassen, ihn zu fesseln, eine Demonstration seiner wachsenden Macht. Und er wusste, sie würde dafür sorgen, dass ihn alle fürchteten.
Schließlich hatte Odin die Zwerge damit beauftragt, einen unzerreißbaren magischen Faden namens Gleipnir anzufertigen. Der schlaue Fenris hatte jedoch die List gewittert, als er die scheinbar fragile Leine sah, und nur zugestimmt, sich damit fesseln zu lassen, wenn die Götter schworen, ihn wieder freizulassen, sollte es ihm selbst nicht gelingen. Um sicherzugehen, dass sie ihr Versprechen hielten, hatte der Große Wolf verlangt, dass einer von ihnen eine Hand in sein Maul legte.
Tyr wusste nicht, ob es das Vorbild seines Vaters war, das ihm als Inspiration gedient hatte, doch in jenem Moment, als der Mut der Götter ins Wanken geriet, war er es gewesen, der vorgetreten war und die Herausforderung des Großen Wolfs angenommen hatte. Gleipnir war es wie vorgesehen gelungen, die Bestie zu fesseln, und als sie sich nicht befreien konnte, war ihr Kiefer zugeschnappt. Sofort war Tyrs Hand verschwunden, heruntergeschluckt vom hintergangenen Fenris. Doch Asgard war erlöst von der Bedrohung durch das Monster. Zumindest bis zum Beginn Ragnaröks, denn die Prophezeiung besagte, dass dann selbst Gleipnirs Magie nicht mehr in der Lage sein würde, den Großen Wolf zurückzuhalten.
Tyr hob den Blick wieder zu Odins Tisch. Zur Linken des Allvaters saß seine Königin, die Wanin Frigga. Während Odin lachend und prahlend am wüsten Gelage teilnahm, strahlte Tyrs Mutter königliche Distanziertheit und Selbstbeherrschung aus. Ähnlich wie die Raben beobachtete sie alles, ohne sich jedoch selbst den Frivolitäten anzuschließen. Die anderen mochten feiern, doch sie hielt sich sowohl beim Essen als auch beim Met zurück, der um sie herum in Strömen floss. Immer wieder wanderte ihr Blick zum strahlenden Balder, ihrem Lieblingssohn und gleichzeitig Mittelpunkt ihrer mütterlichen Sorge. Tyr verstand seine Mutter gut, denn auch sein Tod war vorhergesagt worden, und dies lastete schwer auf Frigga.
Zur Rechten Odins saß der Held, zu dessen Ehren dieses Fest abgehalten wurde. Mit einem Stirnrunzeln betrachtete Tyr Asgards gefeierten Krieger, seinen jüngeren Halbbruder Thor. Der Gott des Donners kam äußerlich eher nach seiner Mutter als nach seinem Vater, denn er hatte nur wenig mit Tyr gemein. Tyrs Haare waren schwarz, während Thors Haupt goldblond war. Im Gegensatz zu Thors überschwänglicher Ausgelassenheit wirkten Tyrs Züge hart und streng. Nur in ihren Augen war die Verwandtschaft zu erkennen, denn diese hatten bei beiden das gleiche stechende Blau.
Der mächtige Hammer Mjölnir ruhte auf dem Tisch neben Thors Teller und neben der Waffe lag die Trophäe, die der Anlass dieses Fests war. Ein großer grauer Eisblock, der sich selbst in der Wärme der Halle zu schmelzen weigerte. Als er zu dem wunderlichen Gegenstand aufblickte, hörte Tyr die dröhnende Stimme seines Vaters über das Gelage ertönen.
»Asen! Asen und Wanen und Freunde aus der Ferne!« Odin erhob sich und prostete der Menge zu. Dann legte er Thor eine Hand auf die Schulter. »Seht ihn euch an, meinen Sohn, auf den ich sehr stolz bin. Ganz allein hat er die gefrorene Ödnis Niflheims überwunden, um dem König der Eisriesen in seinem eigenen Palast die Stirn zu bieten!« Er deutete auf den weißlichen Brocken auf dem Tisch. »Seht nur, ein Büschel von Ymirs Bart!«
Lauter Jubel dröhnte durch die Halle wie Thors Donnerblitze. Krieger erhoben sich und schlugen rhythmisch Waffen gegen Schilde. Viele stampften mit den Füßen auf, bis die Wände von den Vibrationen zu erzittern begannen. Immer und immer wieder wurde ein Name gerufen: »Thor! Thor! Thor!«
Odin zog seinen Sohn auf die Beine. »Heute feiern wir die Niederlage Ymirs. Morgen wirst du mir vielleicht sogar Surturs Schwert bringen, um es neben den Bart des Eisriesens zu legen!«
Thor klopfte seinem Vater auf den Rücken, während die beiden Götter wieder Platz nahmen.
Tyr hob sein Trinkhorn und prostete seinem jüngeren Bruder zu, doch mehr auch nicht. Die Menge war auch ohne seine Teilnahme schon stürmisch genug. Natürlich war Thor eine kühne Heldentat gelungen, aber zu welchem Zweck und mit welcher Absicht? Hatte er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um Asgard zu beschützen, oder war es um der Bewunderung willen gewesen, in der er sich nun sonnte? Thors Taten waren heldenhaft, keine Frage, und doch kamen sie Tyr häufig waghalsig und wenig durchdacht vor. Er wusste, dass ein heutiger Triumph einer morgigen Niederlage vorausgehen konnte, doch er fragte sich, ob sein Bruder die gleiche Vorsicht walten ließ, wenn er in seine Abenteuer gegen die Riesen zog.
»Du wirkst beunruhigt.« Die Stimme, die diese Worte gesprochen hatte, war kaum mehr als ein Flüstern und doch konnte Tyr sie trotz des Tumults in der Halle klar und deutlich hören. Er wusste, dass sie dafür mit Magie durchdrungen sein musste. Darüber hinaus erkannte er den Sprecher, noch bevor er sich umdrehte.
»Loki«, sprach Tyr den Mann an, der plötzlich neben ihm saß. Er konnte nicht sehen, was aus der rothaarigen Walküre geworden war, die sich zuvor auf diesem Platz befunden hatte, doch nun saß dort die schmale Gestalt seines dunkelhaarigen Bruders in einem grünen Gewand mit goldenem Mantel. Vielleicht hatte es sich nur um eine von Lokis Verkleidungen gehandelt, denn der schelmische Gott liebte es, seine Gestalt zu verändern. Tyr fragte sich oft, ob es genau diese Magie war, die Lokis Nachkommen verdarb und dazu führte, dass er Monster wie Fenris und die Weltenschlange Jörmungandr zeugte. »Wie mutig von dir, dich nach dem Ärger, den du mit den Steintrollen vom Zaun gebrochen hast, in der Halle deines Vaters zu zeigen.«
Lokis markanter Mund verzog sich zu einem verschmitzten Lächeln und seine grünen Augen funkelten amüsiert. Tyr war immer wieder fasziniert davon, wie reptilienartig diese Augen wirkten. Vielleicht war es doch nicht so seltsam, dass er Jörmungandr gezeugt hatte. »Es gibt doch immer Ärger mit den Steintrollen. Ich habe ihrer Boshaftigkeit nur ein Ziel gegeben und sie dorthin gelockt, wo ihnen Brunnhilde und die Tapferen Drei entgegentreten konnten. Die Trolle werden nun eine Weile Ruhe geben und es wurde kein Schaden angerichtet. Odin wird das schon bald einsehen.« Er seufzte und zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, bis dahin bin ich hier nur geduldet.« Er deutete auf das eisige Stück von Ymirs Bart auf Odins Tisch. »Es sind die Heldentaten unseres Bruders, die dafür verantwortlich sind, dass mich selbst Odins momentane Unzufriedenheit mit mir nicht fernzuhalten vermag. Kannst du dir den Mut vorstellen, den diese Aufgabe gekostet haben muss?«
Tyr ließ einen großen Schluck Met seine Kehle hinabrinnen. Mit dem linken Arm wischte er sich über den Mund. »Es war eine mutige Tat«, stimmte er Loki zu. Ihm gefiel Thors Leichtsinn nicht, doch seinen Mut würde er niemals infrage stellen. Jede Unterhaltung mit Loki war mit Unterstellungen gespickt, in denen man sich verfangen konnte wie in einem Dornengebüsch. Einige Asen fanden sein trickreiches Auftreten amüsant, doch Tyr gehörte nicht zu ihnen.
»Natürlich bewundere ich, was unser Bruder getan hat«, beeilte sich Loki versöhnlich zu sagen. »Kein Feigling wagt sich nach Niflheim.« In dieser Bemerkung schwang eine gute Menge Stolz mit, denn Loki selbst war schon oft in verschiedenen Verkleidungen in das Reich der Frostriesen gereist. »Es ist wahrhaftig eine gefährliche Sache, Ymir herauszufordern.«
Wieder erschien dieses reptilienhafte Funkeln in Lokis Augen, als er innehielt und Tyr einen Moment lang anstarrte. »Und doch sage ich erneut, dass du in keiner besonders feierlichen Stimmung zu sein scheinst. Und ich frage mich, warum das wohl so ist.« Er tippte ihm gegen die Brust. »Ich gebe zu, dass es Zeiten gab, in denen ich mit unserem Bruder in Streit lag, doch ich kann mich trotzdem für ihn freuen, wenn er einen großen Sieg errungen hat. Ganz Asgard kann ruhig schlafen, in dem Wissen, dass der König der Eisriesen besiegt wurde und nun erst einmal seine Stärke zurückgewinnen muss.«
»Es ist ein großer Sieg«, sagte Tyr, doch trotz seiner Vorsicht wusste er, dass Loki die Verbitterung in seiner Stimme wahrgenommen hatte.
»Asgard wird sich an diesen Tag erinnern.« Loki nickte. »Ja, denn Asgard vergisst seine Helden nicht.«
»Genauso wenig wie seine Schurken«, entgegnete Tyr. Lokis Seitenhieb hatte ihn wie ein Speer getroffen und sich geradewegs ins Zentrum seiner düsteren Stimmung gebohrt. Neid. So kleinlich und unangebracht das Gefühl auch sein mochte, war Tyr dennoch davon erfüllt. Es hatte Lokis ärgerliche Worte gebraucht, um sich darüber klarzuwerden, doch er war in der Tat neidisch auf Thors Ruhm. Er fühlte sich von dieser Bewunderung für seinen Bruder in den Schatten gestellt.
»Ich habe nur versucht, Verständnis aufzubringen«, protestierte Loki, erhob sich und verschwand in der Menge. Das zufriedene Lächeln in seinem Gesicht verlieh seinen Worten jedoch eine ganz andere Bedeutung. Tyr war sicher, dass Loki genau diese Wirkung beabsichtigt hatte. Das Problem bestand darin, dass Tyr gegen diese unbewusste Missgunst machtlos war, obwohl er genau wusste, wie Loki sie geschürt hatte.
Erneut hob Tyr den Blick zu Odins Tisch. Eine Reihe von Asen ging daran vorbei, um einen genaueren Blick auf den Eisbart zu werfen und sich bei Thor für seinen Sieg über Ymir zu bedanken. Je länger Tyr der Prozession zusah, desto größer wurde sein Missmut. Schließlich brachte ihn seine Wut dazu, sich zu erheben, zum Podest zu gehen und sich an den anderen Asen vorbeizuschieben. Er betrachtete Ymirs Bart und spürte, wie dessen unheimliche Kälte die Wärme der Halle vertrieb. Selbst dieses kleine Stück des Riesen strahlte eine unheilvolle Macht aus. Es machte das Ausmaß von Thors Triumph unbestreitbar und Tyrs Neid nur noch schlimmer.
»Eine schöne Trophäe, nicht wahr, Bruder?«, prahlte Thor freudestrahlend.
Tyr runzelte die Stirn. »Es schmeckt ein wenig nach Hochmut, den ganzen Weg nach Niflheim zu reisen, nur um Barbier zu spielen.«
Die beißende Erwiderung erstaunte die Umstehenden. Vom Podest aus breitete sich eine Welle des Schweigens in der Halle aus. Das Gelächter erstarb, während Anspannung die Luft erfüllte. Jeder begann, dieser Unterhaltung zwischen Odins Söhnen zu lauschen.
Thor versuchte, Tyrs Bemerkung als Scherz abzutun, obwohl er in den Augen seines Halbbruders die Kränkung erkennen konnte. »Wenn der Bart aus Eis besteht, ist ein Hammer besser als eine Schere«, tönte er und klopfte auf Mjölnir.
Doch in Tyrs gegenwärtiger Stimmung hatte Thors Fröhlichkeit keine Wirkung auf ihn. »Eine Waffe ist niemals ein Spielzeug«, rügte er den Gott des Donners.
Ein gequälter Ausdruck blitzte in Thors Gesicht auf, dann lief es vor Wut rot an. »Weil wir Brüder sind, vergebe ich dir dein Reden«, warnte Thor.
»Weil wir Brüder sind, rede ich mit dir, wie du es verdienst«, entgegnete Tyr und warf Thor einen ebenso finsteren Blick zu wie dieser ihm.
»Genug!« brüllte Odin so wütend, dass die Wölfe unter dem Tisch hervorkamen und die Raben aufflogen. Er musterte seine beiden Söhne, doch es war Tyr, auf den sich sein wütendes Auge richtete. »Du wirst dich für deine Unhöflichkeit entschuldigen«, verkündete er.
Trotz stieg in Tyrs Herz auf. Er wich vor dem Zorn seines Vaters nicht zurück. »Aber jemand muss meinen Bruder doch an seine Pflichten erinnern.« Er drehte sich zur Menge um und hob die Stimme. »An seine Verantwortung gegenüber Asgard. Waghalsige Abenteuer bringen jene in Gefahr, die er zu beschützen geschworen hat.« Er deutete auf Mjölnir. »Was, wenn Ymir gewonnen hätte und dir dein Hammer genommen worden wäre?«
»Nur der Würdige kann ihn schwingen«, erwiderte Thor mit Stolz in der Stimme.
»Genau das meine ich«, beharrte Tyr. »Wenn dich die Eisriesen besiegt hätten, wäre eine mächtige Waffe in Asgards Arsenal verloren gewesen. Dies hätte die Verteidigung des Reichs geschwächt.«
»Niflheim hat seit Langem geplant, Asgard zu überfallen«, rief Odin Tyr ins Gedächtnis. »Doch nun wird Ymir lange brauchen, um sich von dieser Niederlage zu erholen.«
Tyr schüttelte den Kopf. »Niflheims Pläne wurden lediglich verzögert. Hätten wir die Eisriesen im Kampf vereint besiegt, hätten wir sie dazu bringen können, ihre Pläne ganz aufzugeben. Ihnen gezeigt, wie aberwitzig es ist, sich gegen uns aufzulehnen.« Er wandte sich an Thor: »Stattdessen wurde Ymir eine weitere Kränkung zugefügt, über die er grübeln kann, während er seine Rache plant.«
»Du wagst es, den Wert der Errungenschaften deines Bruders anzuzweifeln?« Odins Stimme war zu einem wütenden Knurren geworden.
Tyr schlug mit seinem Stumpf auf den Eisbrocken. Die Abdeckung aus Uru ließ Stücke von Ymirs Bart in alle Richtungen fliegen.
»Eine Errungenschaft ohne Opfer führt zu Arroganz.« Er hob seinen linken Arm, sodass alle in der Halle ihn sehen konnten. »Der Große Wolf ist immer noch in Varinheim gefesselt und sein Schatten fällt endlich nicht mehr über Asgard.«
»Doch er fällt über dich«, entgegnete Thor. »Du hältst an den Siegen der Vergangenheit fest und kannst dich nicht zu neuen aufraffen. Darum sind dir meine Taten zuwider, weil du selbst nämlich den Mut verloren hast, neue Triumphe für dich zu beanspruchen!«
Tyr ballte seine Faust, bereit, über den Tisch zu springen und seinen Bruder dazu zu zwingen, seine Worte zurückzunehmen. Thor war sichtlich bereit, seine Herausforderung anzunehmen, doch Odins Arm senkte sich zwischen sie und schob den Jüngeren vom Älteren fort.
»Musst du Tyrs ungerechten Worte mit deinen eigenen begegnen?«, fragte Odin Thor. »Es war sein Opfer, das es uns ermöglicht hat, Fenris zu unterwerfen …«
»Und was hat er in letzter Zeit für Asgard getan?«, konterte Thor gereizt. Fast sofort darauf zeigte sich Zerknirschung in seinem Gesicht. Tyr wusste, dass sein Bruder die wütenden Worte zurückgenommen hätte, wenn ihm das möglich gewesen wäre. Aber es war zu spät. Reumütig oder nicht, der Hieb war ausgeführt und hatte ihm das Herz durchbohrt.
»Ich werde ganz Asgard meinen Wert ins Gedächtnis rufen«, sagte Tyr. Er drehte seinem Vater und Bruder den Rücken zu und verließ das Podest. Einer der Wölfe sprang ihm in den Weg, doch ausnahmsweise hütete sich das Tier, die Zähne zu fletschen. Ein einziger Blick genügte, um es dazu zu bringen, den Schwanz einzuziehen.
Die Asen wichen Tyrs Zorn so schnell aus, wie der Wolf es getan hatte. Vor ihm tat sich ein Pfad in der Menge auf, während er Odins Halle verließ. Nur eine Stimme rief ihm nach, die eines jungen Jägers aus Varinheim namens Bjorn Wolfsbane. Tyr ignorierte Bjorns Versuch, ihn zum Bleiben zu bewegen, und ging weiter.
In seinem Herzen schwelte neue Entschlossenheit. Sein kleiner Bruder mochte Tyr den Rang von Asgards größtem Helden streitig gemacht haben, doch er würde Thor seinen Mut ins Gedächtnis rufen. Und er würde Odin zeigen, dass der Gott des Krieges immer noch zu großen Taten fähig war.
Die große Stadt lag viele Meilen hinter Tyr, als er den Grünfest erreichte, den stillen Wald auf der Ebene von Ida. Oft schon hatte ihn sein Weg auf der Suche nach Ruhe hierhergeführt, doch heute lasteten seine brütenden Gedanken so schwer auf ihm, dass ihn selbst hier alles zu stören schien. Weder der frische Duft der Kiefern noch das fröhliche Zwitschern der Vögel konnten ihn aufheitern. Alles kam ihm vor wie eine Einmischung in seine Probleme statt einer Zuflucht vor ihnen.
Er sah sich zwischen den Bäumen um. Sein Blick fiel auf ein Reh, das hinter einem Busch stand und bereit war, beim kleinsten Anzeichen von Aggression das Weite zu suchen. Er sah einen Dachs, der Erde aus seinem Bau schob und die Nase zuckend in die Höhe streckte, als er seinen Geruch witterte. Ein Aufblitzen von Farbe und er erhaschte einen Blick auf einen Fuchs, der in einem umgestürzten hohlen Stamm verschwand. Genau dies, dachte Tyr, war der Grund, warum es ihm so leichtfiel, Thor seinen stetig wachsenden Ruhm zu missgönnen. Sein Bruder war tapfer und ehrenhaft, doch er dachte zu wenig darüber nach, was ihm anvertraut worden war, wenn er auf seine kühnen Abenteuer ging. Asgard bestand nicht nur aus seinem Volk, sondern auch den Wäldern und Flüssen, den Bergen und Wiesen, den Bäumen und Tieren. Das alles gehörte zu Odins Reich und daher lag es in seiner Pflicht, es zu verteidigen. Tyr sorgte sich, dass sich Thor zu sehr darauf konzentrierte, was er durch seine Streifzüge durch die Neun Welten gewinnen konnte, und nicht genug darauf, was sie verlieren könnten.
Das Geräusch schneller Schritte riss Tyr aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und sah jemanden, der durch den Wald auf ihn zu eilte. Der Mann war einen Kopf kleiner als der Gott, stämmig gebaut und mit breiten Schultern. Beim Laufen zeichneten sich seine Muskeln unter seiner Lederhose und dem Wams ab. Seine hellblonden Haare waren zu einem langen Zopf geflochten, genau wie der Bart, in den zusätzlich noch die scharfen Reißzähne der großen Wölfe aus Varinsheims Wäldern eingearbeitet waren. Das schwarze Fell eines dieser riesigen Raubtiere bildete den Umhang, den er trug, und der präparierte Kopf diente ihm gleichzeitig als Kapuze und Helm. Von seinem Gürtel hingen zwei Wurfäxte und auf dem Rücken trug er eine große doppelköpfige Streitaxt.
»Ich folge deiner Spur schon seit Stunden«, sagte der Mann und blieb keuchend vor ihm stehen.
Tyr lächelte und schüttelte den Kopf. »So schwierig kann mein Pfad doch nicht zu verfolgen gewesen sein, dass er die Ausdauer eines Bjorn Wolfsbane strapazieren würde.« Rügend wackelte er vor dem Jäger mit einem Finger. »Du hast wohl eher in Odins Halle zu sehr dem Met gefrönt und dadurch deine Kondition geschwächt.«
Bjorn lachte. »Wenn das stimmen sollte, bedeutet es, dass ich alt werde. Dann wirst du vielleicht endlich aufhören, mich einen Welpen zu nennen.«
»Genau das würde ein Welpe sagen«, stellte Tyr fest. Er betrachtete den Jäger einen Moment lang. »Dein Bart ist länger geworden, doch ich sehe immer noch den Jungen vor mir, der in die Stadt kam und mich anbettelte, ihn in meinen Dienst zu nehmen. Denjenigen, der geschworen hat, den Griff seiner Axt mit Haaren aus dem Schwanz des Großen Wolfs zu umwickeln.«
»Und du hast gesagt, eines Tages würdest du mich nach Varinheim bringen und mir zeigen, wo die Bestie angekettet ist.«
Die Erwiderung ließ das Lächeln verschwinden, das sich für einen kurzen Moment auf Tyrs Gesicht geschlichen hatte. »Sei nicht so eifrig, Monster aufzustöbern. Früher oder später neigen sie dazu, von sich aus zu dir zu kommen.«
Bjorn schwieg einen Moment. Als er wieder sprach, war es über das Thema, wegen dem er Tyr gefolgt war. »Dein plötzlicher Aufbruch hat Odin und Frey verärgert. Sie sagen, es sei eine schwere Beleidigung gegenüber deinem Bruder, die nicht so schnell vergessen sein wird. Frigga sprach sich für dich aus und erinnerte den Allvater daran, dass deine Worte vielleicht schlecht gewählt waren, die Empfindung dahinter jedoch aufrichtig.«
So viel hatte Tyr schon vermutet. Odin war weise, doch er hatte auch ein hitziges Gemüt, das seine Weisheit oftmals übertrumpfte. Wäre er geblieben, hätte es die Situation nur schlimmer gemacht und alle Beteiligten wären noch wütender geworden. Dass ihn seine Mutter verteidigt hatte, überraschte ihn genauso wenig wie die Tatsache, dass sich der Wane Frey und viele der anderen Götter auf Odins Seite stellten. Dennoch entlockte ihm die Neugier eine Frage. »Hat noch jemand anders für mich gesprochen?«
Bjorn nickte. »Ja. Dein Bruder.«
»Welcher?«, fragte Tyr. »Balder? Hermod? Vidar?« Er glaubte nicht, dass es sich um Loki handelte, denn inzwischen war ihm klargeworden, dass er es gewesen war, der Tyr zu der Provokation an Odins Tisch angestachelt hatte. Sollte Loki die Sache weiterverfolgen, konnte das nur bedeuten, dass er einen größeren Plan hatte.
»Nein. Es war Thor, der versucht hat, den Zorn eures Vaters zu besänftigen«, sagte Bjorn. Die Überraschung, die Tyr empfand, musste ihm anzusehen gewesen sein, denn schnell fügte der Jäger hinzu: »Er hat Odin daran erinnert, was du für Asgard getan hast und dass du dir das Recht verdienst hast, so zu reden, wie du es getan hast.«
Tyr runzelte die Stirn und wandte sich ab. Diese Anständigkeit von Thor nach ihrem hitzigen Streit sorgte nur dafür, dass sich Tyr nun noch schlechter fühlte, als er es ohnehin schon tat. Nicht nur dafür, den Sieg seines Bruders schlechtgeredet zu haben, sondern auch, weil es das erste Mal war, dass er sich gefragt hatte, ob es nicht vielleicht richtig war, dass der Gott des Donners den Gott des Krieges als Asgards größten Helden ablöste. Noch ein weiterer Grund, Thor den Sieg über Ymir zu missgönnen. Es war ein makelloser Triumph.
»Es ist nur recht, dass ich die Stadt verlasse«, sagte Tyr. »Ich bin nicht mehr der Krieger, den unser Volk braucht.«
Bjorn sah ihn betroffen an. Der Wolfsjäger aus Varinheim verehrte Tyr und hatte ihm oft gesagt, dass er alles darstellte, was ein Ase anstreben sollte. Nun tat er es erneut und versuchte, ihn seiner Größe zu versichern. »Asgard wird dich immer brauchen. Wer unter den Göttern widmet sich in solchem Maße der Verteidigung des Reiches wie du? Wer hat unsere Krieger ausgebildet, als Armee zu kämpfen und nicht als chaotische Horde? Wer hat durchgesetzt, nach dem Krieg gegen die Wanen neue Mauern um die Stadt zu errichten, und die Verteidigung gegen die Riesen Jotunheims geplant?« Er ballte seine Hand zur Faust, bis seine Knöchel knackten, um zu betonen, was er für die größte Errungenschaft überhaupt hielt – den Grund, warum er Tyr so verehrte. »Es war deine Hand, die im Maul des Fenris-Wolfs lag, während sich all die anderen Götter davor gescheut haben. Du wusstest, was es bedeutet, was es dich kosten würde, aber du bist vor dem Opfer nicht zurückgeschreckt.«
Tyr sah Bjorn ernst an. »Es ist diese Tat, die mich mehr als alle anderen geschwächt hat«, sagte er. Diese Gedanken hatte er noch nie zuvor vor Bjorn ausgesprochen. Als der Jäger einen Blick auf die Metallabdeckung des Stumpfs warf, wusste Tyr, dass seine Absicht missverstanden worden war. »Ich meine nicht den Verlust meiner Hand. Auch wenn ich seitdem nicht mehr der beste Bogenschütze in ganz Asgard bin, habe ich mit meinem Schwert geübt, bis ich damit so unschlagbar war, wie ich es zuvor mit Pfeil und Bogen gewesen bin.« Er ließ seine Hand auf den goldenen Griff des Schwerts sinken, das von seinem Gürtel hing.
»Es ist ein anderer Makel, der die größte Tat meines Lebens besudelt«, fuhr Tyr fort. Nun, wo er so weit gekommen war, hatte er vor, Bjorn alles zu erklären. »Die mutigste Sache, die je ein Gott in Asgard getan hat, abgesehen von meinem Vater, als er vom Weltenbaum hing. Es gibt niemanden, der mir diesen Akt der Tapferkeit nehmen kann.« Tyr runzelte die Stirn und zupfte am Griff seines Schwerts. »Nein, in diesem Moment lag großer Mut. Doch auch entsetzliche Schande. Eine Schande, die nicht ungeschehen gemacht werden kann, denn dies würde den Untergang Asgards bedeuten.«
Bjorn schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht«, gab er zu. »Wie kann eine Tat gleichzeitig tapfer und schändlich sein?«
»Die Fesselung des Großen Wolfs«, erklärte Tyr, »beruhte auf Verrat.«
Der Gott des Krieges schloss seine Augen und rief sich den Moment ins Gedächtnis, der sich für immer in seine Seele gebrannt hatte.
Der Große Wolf ragte über den Göttern auf und seine Augen funkelten vor Boshaftigkeit. Die Bestie strahlte ein arrogantes Selbstvertrauen aus, eine grausame Verachtung für die Welt und alles darin. Sie war so mächtig, dass es niemanden gab, der sich ihrer Stärke entgegenstellen konnte. Die Seher raunten sich untereinander zu, dass Fenris eines Tages sein Maul weit aufreißen würde, um Sonne und Mond zu verschlingen, so gewaltig würde seine Macht eines Tages werden.
Der Wolf hatte sich in einem schmalen Tal in den schneebedeckten Bergen von Varinheim seine Höhle eingerichtet. Odin hatte ihn schon vor Jahren dorthin verbannt, als Fenris zu riesig geworden war, um weiter bei den Göttern in der Stadt Asgard zu leben. Obwohl die Bestie ihre Größe und bis zu einem gewissen Grad auch ihre Gestalt verändern konnte, bevorzugte sie ihre Riesenform, um besser ihre stetig wachsenden Kräfte zur Schau stellen zu können. Nach einem Angriff auf die Göttin Idunn hatte der Allvater entschieden, dass der Wolf zu gefährlich geworden war, um sich frei in der Stadt zu bewegen. Haakun der Jäger, der eingegriffen und Idunn vor dem Angriff des Wolfs gerettet hatte, war damit beauftragt worden, die Bestie nach Varinheim am Rande Asgards zu bringen. Doch die Zeit hatte das Monster nur noch mächtiger gemacht und es wurde allgemein angenommen, dass es sein Exil eher aus freien Stücken akzeptierte denn aus Respekt gegenüber Odins Autorität. Eines Tages würde es sich Odins Befehl widersetzen und ganz Asgard in Schutt und Asche legen.
Tyr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er zu dem Großen Wolf aufsah. Fenris war seit dem letzten Mal, als er ihn gesehen hatte, noch gigantischer geworden. Der Wolf war inzwischen über dreißig Meter hoch, zehnmal größer, als er es beim Verlassen der Stadt gewesen war. Damals war er bereits stark genug gewesen, um einen Riesen mit seinen Kiefern entzweizureißen und die Wurzeln eines Bergs mit seinen Pfoten auszugraben. Tyr hatte gesehen, wie er eine ganze Rinderherde in einer einzigen Mahlzeit verschlungen und danach einen Teich in eine bloße Pfütze verwandelt hatte, um seinen Durst zu stillen. Einmal hatte es alle von Odins Söhnen gemeinsam gebraucht, um den Wolf zu Boden zu ringen, als sie mit der Bestie gespielt hatten, und selbst ihre kombinierte Stärke hatte Fenris kaum zurückhalten können. Wie viel größer war seine Kraft seitdem geworden?
Das Tal des Wolfs war mit Beweisen übersät. Aus dem Schnee ragten die zersplitterten Überreste Hunderter Ketten. Fesseln aus Eisen, Stahl und Uru, selbst ein langer Strick aus geschmolzenem Granit und ein Kabel aus geschmiedetem Obsidian lagen zerstört vor der Höhle des Wolfs. All dies war mit der ausdrücklichen Absicht geschaffen worden, Fenris zu fesseln, doch nichts davon hatte sich der Stärke der Bestie als würdig erwiesen. Andere Mitglieder von Lokis monströser Brut waren von den Göttern unter Kontrolle gebracht worden. Die große Schlange Jörmungandr war in den Meeren Midgards gefesselt und die unheimliche Hela war ins Totenreich geschickt worden, um dort über die Geister zu herrschen, doch der Große Wolf hatte sich bis jetzt allen Versuchen, ihn zu zähmen, widersetzen können.
Der Wolf amüsierte sich über dieses Versagen der Götter. Er trug die zerbrochenen Ketten wie Ehrenabzeichen und ihre Glieder waren gerade noch im dichten grauen Fell sichtbar, das seinen gewaltigen Körper bedeckte. Sie waren eine sichtbare Erinnerung daran, wie stark die Bestie war und wie leicht sie Odins Willen trotzen konnte. Tatsächlich war der Wolf nur noch mächtiger geworden, seit er nach Varinheim ins Exil geschickt worden war. Nun verschlang er nicht mehr allein Rinder- und Schafherden, sondern die Hirten gleich mit. Ganze Dörfer waren von der mörderischen Bestie massakriert worden. Dies war ihre Art, die Götter herauszufordern, sie aufzuhalten.
»Kaum vorstellbar, dass wir uns früher über dieses Ding lustig gemacht haben.« Es war Balder, der dies sagte, doch der zitternde Tonfall war ganz und gar untypisch für sein ansonsten so fröhliches Wesen. Tyr drehte sich zu seinem Bruder um und sah, dass ein Schatten über sein Gesicht gefallen war.
»Jetzt macht sich die Bestie über uns lustig«, pflichtete ihm Thor bei und verstärkte seinen Griff auf Mjölnir. Er war zu erschüttert darüber, wie gigantisch Fenris geworden war. Skeptisch betrachtete er seinen Hammer, eine Waffe, die mehr Riesen als jede andere in Asgards Arsenal getötet hatte. Tyr fiel es leicht, die Gedanken seines Bruders zu erraten. Würde sein berühmter Hammer die Macht haben, den Großen Wolf zu verletzen, sollte es nötig werden? Odin hatte einen Kampf streng verboten, also war klar, dass ihr weiser Vater überzeugt war, wer eine solche Auseinandersetzung gewinnen würde.
Tyr schüttelte den Kopf. Odin hatte noch mehr getan, als Thor zu verbieten, gegen Fenris vorzugehen. Er hatte befohlen, dass kein Gott, sei er Ase oder Wane, gegen den Großen Wolf kämpfen durfte. Denn das würde die Bestie nur provozieren. Solange sie sich damit zufriedengab, in Varinheim zu verblieben, war der Rest Asgards vor ihren mörderischen Streifzügen sicher.
»Zumindest amüsiert sich Fenris immer noch über uns«, bemerkte Tyr. Er nickte seinen Brüdern grimmig zu. »Ich denke, er weiß genau, wie mächtig er geworden ist. Er bleibt nur hier, weil er das selbst will.« Er runzelte die Stirn und schlug seine Faust gegen die Innenfläche der anderen Hand. »Oder er wartet nur auf den richtigen Augenblick. Wartet, bis er so stark geworden ist, dass ihn keiner von uns mehr im Kampf schlagen kann.« Tyr bemerkte, wie ein Ohr des Wolfs zuckte, und ihm kam es so vor, als würde sich sein Mundwinkel zu einem grausamen Lächeln verziehen.
»Du solltest aufpassen, was du sagst. Der Große Wolf hat scharfe Ohren.« Die Ermahnung kam von jemandem, der es wissen sollte, nämlich dem Vater des Monsters. Loki seufzte und deutete auf die gigantische Bestie. »Es ist niemals klug, einen Gegner zu unterschätzen.«
Zwei Dutzend Götter Asgards hatten sich auf die Reise nach Varinheim begeben, die gleiche Anzahl wie stets für den jährlichen Wettstreit mit Fenris. Odin fand, dass eine größere Gruppe das Reich einer zu großen Gefahr gegenüber den Riesen und anderen Eindringlingen aussetzen würde, eine kleinere jedoch nicht ausreichen würde, um den Wolf einzuschüchtern und dafür zu sorgen, dass er ihnen wenigstens ein Mindestmaß an Respekt zeigte. Dennoch war es bis auf den Allvater selbst immer eine andere Zusammenstellung. Dies war erst das zweite Mal, dass der unberechenbare Loki für diese Reise ausgewählt worden war.
Tyr sah zu dem auf Sleipnir sitzenden Odin, der mit Fenris sprach. Seine goldene Rüstung funkelte in der Wintersonne. Der König von Asgard war der einzige Ase, dem sich der Wolf noch fügte, und seine Stimme war die einzige, die noch ein wenig Autorität über die Bestie ausübte. Tyr, der dies wusste, fragte sich, warum ihr Vater Loki gebeten hatte, sich ihnen diesmal anzuschließen. Obwohl er Fenris selbst gezeugt hatte, waren die Tage lange vorbei, in denen der Wolf seinem Vater gegenüber irgendeine Art von Verpflichtung verspürt hatte. Warum dann hatte Odin solchen Wert darauf gelegt, Loki mitzubringen? Die Weisheit, die er durch die Opferung seines Auges an den Wurzeln Yggdrasils erworben hatte, führte ihn wahrlich zu seltsamen Entscheidungen.
»Sind deine Worte für uns oder deine Brut?«, fragte Thor Loki.
»Ich habe so wenig zu gewinnen wie jeder andere hier, sollte sich Fenris entscheiden, sein Territorium über Varinheims Grenzen hinaus zu erweitern«, konterte Loki. »Er ist eine sture Bestie und hört auf mich ebenso wenig wie auf euch.« Er nickte in Odins Richtung. »Dass ihm unser Vater auch nur ein kleines Maß an Gehorsam entlocken kann, ist wahrlich ein Zeugnis seiner Macht.«
»Vielleicht liegt es daran, dass euer Vater Fenris mit Respekt begegnet.« Friggas Tonfall klang traurig. In ihrem Gesicht lag kein Vorwurf, als sie Loki ansah, nur ein Ausdruck schmerzvoller Reue. »Ein Kind, das mit Liebe genährt wird, kann Großes erreichen. Doch ein Kind, das mit Hass aufwächst, ist durch eine stärkere Kette gefesselt als jede, mit der wir den Wolf zu binden versuchen.«
Tyr hasste es, anderer Meinung zu sein als seine Mutter, doch ihm war, als ließe sie sich in dieser Hinsicht von Idealismus blenden. Er dachte daran, wie sehr sie Loki verwöhnt hatte und wie boshaft er trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser Zuneigung geworden war. Manche Leute trugen einfach eine Dunkelheit in sich, eine Dunkelheit, die durch Mitgefühl nicht vertrieben wurde, sondern in der Liebe anderer einfach nur etwas sah, das man ausnutzen konnte. In dieser Hinsicht war Fenris seinem Vater gar nicht so unähnlich.
»Mutter, dein Mitleid für Fenris ist fehl am Platz«, sagte Tyr. »Selbst wenn es einst eine Zeit gegeben hat, in der er darauf eingegangen wäre, ist sie längst vorbei. Als er Idunn angegriffen und versucht hat, ihr die goldenen Äpfel zu stehlen, hat der Wolf seine wahre Natur gezeigt. Es war ein Test, um zu sehen, ob wir die Stärke haben, ihn aufzuhalten. Er reagiert nur auf Stärke. Odin weiß das, genau wie er weiß, dass der Große Wolf eines Tages stärker sein wird als wir alle.« Tyrs Hand schloss sich um den Griff seines Schwerts, während er erneut das kolossale Tier musterte. »Wenn es das nicht bereits ist.«
»Ich trachtete nur danach, Asgard zu beschützen«, sagte Loki. Seine Stimme imitierte Friggas reumütigen Tonfall, ob nun aufrichtig oder geheuchelt. »Ich wollte Fenris zu einer Waffe gegen die Riesen machen, um uns vor den Gefahren zu schützen, die uns aus Jotunheim drohen. Mein Versagen bestand darin, dass ich in dieser Hinsicht zu zielstrebig war. Ich lehrte den Wolf, wie man stark ist und kämpft, jedoch nicht, warum er kämpfen sollte. Zu spät erkannte ich diesen Fehler.« Sein Blick ging zu den anderen Göttern, während er seine Entschuldigung vorbrachte. »Ich brachte den Wolf nach Asgard und versuchte, ihn dazu zu bringen, unsere Stadt so zu lieben, wie wir es tun, doch zu diesem Zeitpunkt war sein Herz schon zu sehr mit Wildheit erfüllt, um noch Platz für solche Empfindungen zu haben.«
Tyr fragte sich, wie viel von Lokis Reue mit seiner Unfähigkeit zu tun hatte, Fenris für seine eigenen Pläne einzuspannen, oder ob er überhaupt welche empfinden würde, wenn ihm die Bestie weiterhin gehorchen würde. Dennoch lag vielleicht ein Körnchen Gutes in dem, was sein Bruder zu tun versucht hatte. Die von Fenris gezeugten Welpen waren zu loyalen und anhänglichen Kreaturen geworden, stark und nobel auf ihre wölfische Art. Odin und Frigga zogen sie auf und vermieden dabei sorgfältig die Fehler, die den großen Wolf so grausam gemacht hatten.
»So weit ist es nun also gekommen«, sagte Frigga. In ihren Händen hielt sie den von den Zwergen in Nidavellir erschaffenen magischen Faden. Er hatte den Namen Gleipnir erhalten und laut den Zwergen war er aus so obskuren Materialien geschmiedet worden wie den Wurzeln eines Bergs, dem Bart einer Frau und dem Atem eines Fischs. Tyr kannte die geheimnistuerische Art der Zwerge gut und wusste, dass sie die genaue Herstellungsart niemals verraten würden, nicht einmal dem Allvater selbst.
»Sei nicht so verdrießlich, Mutter«, riet Balder. »Wenn es dir so zuwider ist, Fenris zu binden, erinnere dich einfach daran, dass der Wolf mächtigere Fesseln als diese zerbrochen hat.« Er lächelte, während er dies sagte, doch Tyr bemerkte seinen ausdruckslosen Blick. Wie sie alle jagte ihm die Vorstellung, dass sie vielleicht niemals einen Weg finden würden, um die Bestie zu zähmen, entsetzliche Angst ein.
»Die Zwerge müssen verzweifelt sein, Odin einen solchen Zwirn anzubieten«, sagte Thor. »Gleipnir sieht viel zu schwach aus, um ein Schaf zu halten, ganz zu schweigen vom Wolf der Wölfe.«
Tyr schüttelte den Kopf. »Es ist für sie eine Frage der Ehre geworden«, erklärte er Thor. »Unser Vater hat sie damit beauftragt, eine Fessel anzufertigen, die Fenris halten kann. Bis ihnen das gelingt, sind ihre vielen Fehlschläge wie eine Schande für ihr Volk. Sie werden bis an die Grenzen ihres Wissens gehen, um ihren Eid zu erfüllen.« Er legte seine Hand auf Gleipnir und spürte die seidige Glätte seiner Windungen. »Er mag zerbrechlich aussehen, doch die Zwerge vertrauen auf seine Stärke, genau wie Odin.«
»Auch wenn er halten sollte, bleibt es dennoch ein grausamer Trick«, seufzte Frigga. »Sollte das Exil nicht reichen?«
»Der Wolf wird sich nicht für immer damit zufriedengeben, in Varinheim zu bleiben«, warnte Tyr. »Und selbst wenn, würde das bedeuten, die Menschen dieses Landes seinem Hunger zu überlassen. Ihn nach Niflheim oder Muspelheim zu bringen wäre ebenfalls sinnlos, selbst wenn es uns gelänge. Ohne ein Werkzeug, um den Wolf zurückzuhalten, würde er einfach zurückkommen, wann immer ihm danach ist.« Tyr richtete seinen Blick wieder auf das Monster im Tal. »Nein, die Abrechnung zwischen uns muss hier stattfinden.«
Fenris warf den Kopf in den Nacken und ein langes Heulen hallte durch das Tal. Odin führte Sleipnir fort von der Bestie und zurück zu den anderen Göttern. Das Gesicht des Allvaters wirkte grimmig, als er vor ihnen zum Stehen kam. In seinem Auge lag eine düstere Vorahnung.
»Das hat länger gedauert als üblich, mein König«, sagte Frigga mit Sorge in der Stimme.
»Der Große Wolf will diesmal Zugeständnisse. Er will sein Territorium erweitern. Ab sofort wird er auch Nornheim, Nastrond und Gundersheim durchstreifen.«
Tyr starrte seinen Vater entsetzt an. »Damit wird ein Viertel von Asgard durch die Plünderungen des Wolfs heimgesucht! Fenris hat jede Fessel abgeworfen, die wir ihm je angelegt haben. Bist du dir so sicher, dass Gleipnir halten wird, dass du dich auf ein solches Abkommen mit dem Wolf einlässt?«
Wut blitzte in Odins Gesicht auf und in einem Anfall von Zorn warf er seinen Helm in den Schnee. »Es gab kein Abkommen«, zischte er. »Fenris hat Forderungen gestellt. Er wollte sich in halb Asgard frei bewegen können, alles südlich von Alfheim und östlich von Nidavellir. Ich habe mit der Bestie diskutiert, damit sie sich mit weniger zufrieden gibt.« Er warf einen Blick zurück zu dem mörderischen Koloss, dessen Wolfsaugen starr auf ihn gerichtet blieben, während er mit den anderen Göttern sprach. »Fenris hat sich über mich lustig gemacht … über mich, den Allvater und König von Asgard! Er hat nicht mal versucht, seinen Spott über meine Bemühungen zu verbergen, seine Forderungen einzuschränken. Jedes Zugeständnis, das ich ihm entlockt habe, glich einem Spielzeug, das man einem Kind zuwirft. Und er denkt, dass er mir alles, was er gab, mit Leichtigkeit wieder entreißen kann, wenn ihm danach ist.«
»Wenn wir Lokis Köter dieses Land als Territorium geben, was wird ihn davon abhalten, schon bald ganz Asgard zu verlangen?«, fragte Thor.
»Wie willst du ihn denn aufhalten?«, blaffte Loki. »Willst du den Großen Wolf mit deinem Hammer erschlagen? Du hast mit dieser Waffe viele Riesen ausgelöscht, Bruder, doch glaube ja nicht, dass du damit alle Feinde überwinden kannst. So mächtig Mjölnir ist, hat er doch seine Grenzen.«
Thor empörte sich über die Schelte, doch Tyr konnte sehen, dass ein Hauch von Zweifel in seinem Gesicht aufblitzte.
»Erzwinge nie einen Kampf, wenn du dir unsicher bist, ob du ihn gewinnen kannst«, sagte Odin. »Fenris ist so viel stärker geworden, seit er von Haakun nach Varinheim gebracht wurde.« Er nickte dem Jäger in seiner Rüstung zu, um seine historische Tat anzuerkennen. »Wenn wir den Wolf in eine Schlacht treiben, ist es ein Wettstreit, den wir gewinnen müssen. Denn zu verlieren würde Fenris die Freiheit geben, ganz Asgard mit Schrecken zu überziehen, ohne befürchten zu müssen, dass ihn jemand aufhält.«
Tyr hörte die Anspannung in der Stimme seines Vaters. Es war eine entsetzliche Bürde – die Verantwortung, Asgard vor dem Monster zu beschützen, selbst wenn das bedeutete, Teile davon Fenris zu überlassen. Varinheim musste seit Langem die Gier des Wolfs erleiden, damit andere Länder frei von dieser Gefahr sein konnten. Die Entscheidung, weitere Regionen der zweifelhaften Gnade der Bestie zu überlassen, war etwas, zu dem Odin nur bereit war, wenn ihm wirklich gar keine andere Wahl blieb. Tyr verstand, dass ein guter Anführer niemals einen Kampf provozieren würde, über dessen Ausgang er sich ungewiss war.
Aber es gab noch einen anderen Grund. Die Götter kannten die Prophezeiung von Ragnarök, der letzten Schlacht, wenn die Mächte des Guten und des Bösen über das Schicksal der neun Welten entscheiden würden. Die meisten behaupteten, dass Odin bei diesem Kampf durch Dämmerung, das flammende Schwert des Feuerriesen Surtur sterben würde, doch es gab auch ein paar andere, die ein anderes Ende für den Allvater voraussahen. Dass der König von Asgard von einem riesigen Wolf verschlungen werden würde, ein Omen, das erst verstanden worden war, als Loki Fenris gezeugt hatte und die Bestie immer wilder geworden war. Da wurde dieser Aspekt der Prophezeiung klar: Der Große Wolf war das Monster, das die Seher vorhergesagt hatten. Tyr fragte sich, ob diese Wahrsagung auf seinem Vater lastete und ihn zögern ließ, gegen die Bestie in den Kampf zu ziehen. Prophezeiungen waren schwierig einzuschätzen. Wenn diese hier zutraf, machte sie Odin dann bis Ragnarök gegenüber Fenris unverwundbar oder sagte sie voraus, dass er in einer Auseinandersetzung mit dem Wolf sterben würde, ganz egal wann sie sich zutrug? Und wenn er diesen Konflikt mied, konnte er damit auch der Prophezeiung entgehen? Tyr wusste es nicht, nahm aber an, dass es sein Vater in seiner großen Weisheit tat. Eine weitere Bürde auf Odins Schultern, denn es ging nicht nur um sein eigenes Leben, sondern um die Herrschaft über Asgard, die verloren sein würde, sollte ihn der Wolf besiegen.
Ein weiteres Heulen hallte durch das Tal. Fenris machte ein paar Schritte auf die versammelten Götter zu. Seine Lippen zogen sich zurück und entblößten in einem wölfischen Grinsen seine scharfen Zähne. Ein Knurren entrang sich seiner Kehle, tierische Laute in der Sprache der Wölfe. Dank des Allsprechs, durch den die Asen die Sprache der Zwerge, Elfen, Trolle und Riesen verstehen konnten, wurden auch diese Klänge in Tyrs Ohren verständlich. Beeilt euch und bindet mich mit eurer Fessel, sagte Fenris. Ich kann es kaum erwarten, durch meine neuen Gebiete zu streifen.
Odin runzelte die Stirn über die Impertinenz des Wolfs. »Bringt mir Gleipnir«, forderte er.
Balder nahm Frigga den Faden ab. Von allen Asen war Balder derjenige, der am meisten geliebt wurde, und selbst Fenris hatte einen Eid geschworen, ihm nicht zu schaden. Er allein konnte sich der Bestie nähern, ohne seine Zähne fürchten zu müssen. Und doch sah Tyr, wie das Monster den dünnen Zwirn und das schwere Halsband in den Armen seines Bruders musterte. Sofort schlich sich Misstrauen in den Blick des Wolfs, er wich ein wenig zurück und knurrte.
Was ist das für eine List? Fenris schwang den Kopf herum und starrte Odin an. Was für eine Fessel ist das, dass ihr denkt, mich damit binden zu können?
»Die stärksten Ketten in Asgard waren deiner Macht nicht gewachsen«, erklärte Odin dem Wolf. »Also versuchen wir es nun mit der schwächsten.«
Fenris trat einen weiteren Schritt zurück und knurrte Balder mit gebleckten Reißzähnen an. Bleib, wo du bist. Ich habe geschworen, dir nicht zu schaden, aber prüfe meinen Eid nicht zu sehr. Als Balder stehen blieb, machte der Große Wolf einen Satz nach vorn. Tyr fand, sein Bruder hatte sich seinen Titel »der Tapfere« wahrhaft verdient, denn er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sich die Schnauze des Monsters an ihn presste und an Gleipnir schnüffelte. Ein Biss und er wäre im Schlund der Bestie verschwunden.
Es stinkt nach Magie. Der Wolf richtete den Blick seiner funkelnden Augen erneut auf Odin. Hast du darum meinen Bedingungen zugestimmt?
In diesem Moment sah Tyr etwas, das ihm Hoffnung gab. Jedes Mal, wenn sie zuvor versucht hatten, Fenris zu fesseln, war der Wolf unverschämt selbstsicher gewesen. Nun war er nervös. Er spürte in Gleipnir eine Bedrohung. »Der Große Wolf hat doch wohl keine Angst, unser Spiel fortzusetzen?«, rief Tyr der Bestie zu. Er erinnerte sich an all die Male, in denen das Monster lachend seine Fesseln abgeworfen hatte. »Wo ist dein Mut geblieben, Wolf der Wölfe?«