Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste - Elfriede Jahn - E-Book

Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste E-Book

Elfriede Jahn

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Beschreibung

Die siebzehnjährige Mary führte ein ganz normales Leben, bis ihr eines Nachts ein Schutzgeist erscheint. Er lässt sie wissen, dass sie auserwählt wurde, einen großen Schatz zu bergen und die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Mary weiht ihre beiden besten Freunde Larry und Doff ein und gemeinsam mit einem geheimnisvollen Fremden aus einer anderen Welt begeben sich die drei auf eine abenteuerliche Reise. Viele Heldentaten werden vollbracht, Ängste überwunden und Rätsel werden gelöst. Ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn die verborgenen Lichtstätten mit ihren prächtigen Kristallpalästen müssen gefunden werden, ehe sich das Zeittor schließt. Finstere Mächte sind den vier Gefährten auf den Fersen und eine mächtige Hexe erwartet sie in ihrer Zauberküche. Doch Mary lässt sich nicht beirren und mit der Hilfe von magischen und spirituellen Verbündeten, die ihr auf der Reise begegnen, nähert sie sich mutig und voller Vertrauen ihrem großen Ziel.

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Mary

und das Geheimnis

der Kristallpaläste

Elfriede S. Jahn

MARY

UND DAS GEHEIMNIS

DER KRISTALLPALÄSTE

ROMAN

HANS-NIETSCH-VERLAG

WIDMUNG

Dieses Buch ist meiner langjährigen Wegbegleiterin Hilde, meinen Kindern Daniela und Christian, meinen Enkelkindern und allen Menschenkindern auf diesem Planeten gewidmet.

© Hans-Nietsch-Verlag 2010

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher

Genehmigung des Verlags gestattet.

Korrektorat: Hans Jürgen Kugler

Innenlayout und Satz: Hans-Jürgen Maurer

Umschlaggestaltung: Kurt Liebig

Hans-Nietsch-Verlag

Am Himmelreich 7

79312 Emmendingen

www.nietsch.de

[email protected]

ISBN 978-3-86246-000-3

DANK

Von ganzem Herzen bedanke ich mich bei meinen Freunden Henrike, Ingrid, Lisa und Silke, die mir mit ihrer Unterstützung und Fantasie geholfen haben, den Roman ganz werden zu lassen, sowie bei all den großartigen Helfern im Hintergrund, die mir mit Geduld und Rat liebevoll zur Seite standen. Und ein besonderes Dankeschön geht auch an meinen Verleger Hans Nietsch und sein Team für die großartige Zusammenarbeit.

Mein allergrößter Dank jedoch gilt meinen lichtgeliebten Freunden aus der geistigen Welt, die mich seit jeher begleiten und führen. Ohne ihre Inspiration wäre dieses Werk nicht entstanden.

VORWORT

Zu meinem Geburtstag überraschten mich meine Kinder mit einer Reise nach Fátima in Portugal. Somit erfüllte sich mir ein Herzenswunsch, denn ich hatte schon immer einmal zu jenem spirituellen Ort reisen wollen. Er sollte meinem Leben eine große Bedeutung geben.

Im Jahr 2008 war dieser Reise der Schlüssel zu meinem ersten Buch der Reihe „Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste“. In der Stille der Kapelle von Fátima empfing ich die Botschaften, die ich in dieser Geschichte weitergebe. Es war für mich ein großes Glücksgefühl, diese Inspiration in Worte zu fassen.

Mein Wunsch für Sie, liebe Leser, ist es, dass Sie von dem Licht und den kraftvolleren Energien dieses Buches erfasst und in eine andere Welt versetzt werden.

Ein Tag wie jeder andere

Bis zu dem Tag, mit dem unsere Geschichte beginnt, hatte Mary, unsere Heldin, beinah unberührt von der großen weiten Welt, in einem kleinen Dorf in Cornwall, nennen wir es Lysardh Fount, gelebt. Das Dorf zog im Sommer viele Touristen an und auch Filmteams. Doch das war die Ausnahme. Den Rest des Jahres schien der schnelllebige Zeitgeist Lysardh Fount zu verschonen. Das Dorf lag nahe Land’s End, nicht weit entfernt von Lizard Point, wo das sagenhafte Lyoness untergegangen sein soll. Dessen Kirchenglocken, sagen die Einheimischen, könne man bei rauem Wetter unter Wasser läuten hören.

„Es ist wirklich wahr“, sagte Doff zu Mary, während Larry wie zumeist skeptisch dreinschaute.

Mary lachte. Doff und Larry waren ihre besten Freunde und selten einer Meinung. Sie saßen am Strand von Lysardh Fount, der nur über einen schmalen Pfad durch steil abfallende Klippen erreichbar war. Doff war der Jüngste von ihnen, gerade fünfzehn geworden, ein dicker, rothaariger Junge mit gutmütigen braunen Augen. Seine Familie, die im Norden Cornwalls lebte, war sehr arm. Sein Vater vertrank das Geld, das er als Bauarbeiter verdiente, weshalb seine Mutter, die fünf Kinder durchzubringen hatte, als Bedienung arbeiten musste. Niemals hatte Doff Anerkennung dafür erhalten, dass er für seine kleineren Geschwister die Vaterrolle übernahm. Seine Enttäuschung versuchte er mit Unmengen von Süßigkeiten zu überwinden. Eines Tages hatte er die viele Arbeit und den ständigen Streit der Eltern nicht mehr ertragen können und war von zu Hause ausgerissen. Nachdem er mehrere Tage gen Süden getrampt war, hatte Doff Lysardh Fount erreicht, wo sein Onkel lebte. Halb verhungert war er Larry in die Arme gelaufen, der sich seiner angenommen hatte.

Larry war zwei Jahre älter als Doff. Er wusste nur allzu gut, wie Doff sich fühlte. Einen Vater hatte Larry nie gekannt, und seine Mutter hatte ihn, weil er einen Sprachfehler hatte, im Alter von zwei Jahren in ein Heim für zurückgebliebene Kinder abgeschoben. Obwohl sie ihn, als er zehn war, wieder zu sich geholt hatte, hatte Larry niemals Liebe oder Verständnis erfahren. Stattdessen hatte es Schläge gehagelt. Und als er fünfzehn war, hatte ihn seine Mutter endgültig verlassen, um mit einem Mann, den Larry nicht ausstehen konnte, ein neues Leben zu beginnen. Seither schlug Larry sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Es machte ihm nichts aus, denn inzwischen hatte er die Leidenschaft seines Lebens entdeckt. Wie Doff Süßigkeiten in sich hineinstopfte, so verschlang Larry alles, was ihm wissenswert erschien. In dem kleinen, halb verfallenen Haus seiner Mutter, das Larry geduldig renovierte, stapelten sich überall Bücher: an den Wänden, in selbst gebauten Regalen, auf Tischen, Sesseln und sogar auf dem Boden.

Larrys blaue Augen blitzten unter dem dunklen Haarschopf hervor, als er Doff erklärte: „Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich früher Land von der Mount’s Bay nach Süden und Westen um Land’s End bis zu den heutigen Scilly-Inseln ausdehnte.“

Doff protestierte. „Bestimmt haben die Wassergeister das Land überschwemmt.“

Das saß. Mary war ebenfalls belesen. „Wenn ihr’s nicht fühlt, werdet ihr’s nie erfahren“, sagte sie lachend und stand auf. „Kommt, ihr Streithengste! Ich muss nach Hause, Laura wartet mit dem Abendessen. Ihr seid eingeladen.“

Mary war vor Kurzem siebzehn geworden. Sie war zierlich, aber hochgewachsen, hatte lange blonde Haare und graugrüne Augen. Bis vor zwei Jahren hatte sie mit ihren Eltern, die beide Lehrer waren, in einem Vorort der Hauptstadt von Cornwall gelebt. Für die Ausbildung ihrer Tochter hatten Marys Eltern jahrelang jedes Pfund, das sie entbehren konnten, beiseitegelegt. Mary wuchs zu einem hübschen Teenager heran. Sie lernte leicht und machte ihren Eltern, die sie zärtlich liebten, große Freude. Als die Zeit gekommen war, hatten sie Mary schweren Herzens in einem Internat angemeldet, das weit entfernt lag von zu Hause. Dort sollte sie sich auf ihr Abitur vorbereiten. Jeden Samstag hatten sie Mary zu sich nach Hause in ihr kleines Häuschen am Stadtrand geholt und sie am Sonntagnachmittag wieder ins Internat zurückgebracht.

An einem Novembertag, an dem ganz Cornwall unter einer dicken, undurchlässigen Nebeldecke gelegen hatte, war ihr Kleinwagen in einer uneinsehbaren Kurve mit einem zu schnell fahrenden Lastwagen zusammengestoßen. Marys Eltern waren sofort tot gewesen. Und seither lebte Mary im Geburtsort ihrer Mutter – bei Laura, ihrer Großmutter, in einem Cottage am Ende von Lysardh Fount. Dort hatte sie Larry und Doff kennengelernt. Als Mary ihre traurige Geschichte gehört hatte, schloss sie die beiden fest in ihr Herz. Und zum ersten Mal in ihrem Leben hatten Larry und Doff das Gefühl, um ihrer selbst willen gemocht zu werden. Das Schicksal hatte sie in Lysardh Fount zusammengeführt und Mary, Larry und Doff wurden unzertrennliche Freunde.

Wie jeden Nachmittag nach der Schule schlenderten sie gemeinsam durch das Dorf, vorüber am einzigen Gasthaus am Hauptplatz, in dem man Suppen und Eintopf servierte und nur in Ausnahmefällen die berühmte Cornish Pasty. Noch gab es keine Souvenirläden in Lysardh Fount und auch der alte Herrensitz am Hügel war noch nicht zu einem Hotel umgebaut worden.

Doch damit sind wir bereits beinah am Ende dieses Tags angelangt, der für Mary wie jeder andere normale Schultag begonnen hatte. Als sie zu Laura, ihrer Großmutter, gezogen war, hatte sie die höhere Schule aufgeben müssen. Seither fuhr sie an jedem Schultag mit dem Bus in den Nachbarort und zurück. Nur das erste und das letzte Stück des Weges musste sie zu Fuß gehen.

Es war ein Tag, sagen wir, kurz nach Ostern. Überall stand das Weidegras in voller Blüte. Der Himmel war bedeckt, aber hin und wieder brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken und erleuchtete die Trockenmauern. Wie blasse Runen zogen sie sich durch das leuchtende Grün der Weiden, auf denen Schafe grasten.

Als hätte jemand einen himmlischen Scheinwerfer eingestellt, präsentierte sich Mary ein aus Zeit und Raum herausgehobenes Bild, das in eine ferne Welt zu gehören schien. Doch dann schoben sich die Wolken wieder zusammen und die Vision erlosch so rasch, wie sie aufgeleuchtet war. Mary hatte ein merkwürdiges Frösteln verspürt, den Verlust von etwas Kostbarem. Oder war es eine Vorahnung gewesen? Dasselbe Gefühl hatte sie gehabt, bevor sie an jenem traurigen Novembertag im Internat in die Direktion gerufen worden war, um dort zu erfahren, dass ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Damals hatte Mary gerade an ihren letzten Besuch bei Laura gedacht.

Mary liebte diese raue Ecke Cornwalls, besonders das Seven-Stones-Riff vor Land’s End, wo sich das sagenhafte Lyoness befunden haben soll. Hier trafen die Wasser dreier Meere aufeinander und erzählten ihr Geschichten aus fernen Tagen. Immer wurde sie von Larry und Doff begleitet, denn seit jenem Novembertag nahm Mary ihre Umwelt nur noch durch einen Schleier wahr. Keine Brille half, die Ärzte standen vor einem Rätsel. Nur Laura wusste, dass sich der Blick desjenigen, für den sich die Welt verschleiert, mit wachsender Klarheit nach innen richtet.

Als Mary die Tür zu dem kleinen, schmucken Cottage öffnete, fiel einer der letzten Sonnenstrahlen des Tages auf ihr Haar und ließ es golden erglänzen.

„Du sieht aus wie deine Mutter“, sagte ihre Großmutter und küsste die Enkelin auf die Stirn.

Mary tanzte ins Zimmer und rief: „Ich hab Larry und Doff mitgebracht!“

Der Tisch im gemütlichen Wohnzimmer war gedeckt. Die Nächte waren kühl und im Kamin prasselte ein Feuer. Mary legte rasch weitere Gedecke auf und Laura brachte einen köstlich duftenden Eintopf aus Fisch, Kartoffeln und Gemüse. Nach dem Abendessen erzählte Laura ihnen auf Doffs Wunsch von den kleinen Feuerteufeln, die in ihrem Kamin wohnten und darin prasselten. Wenn Laura das Feuer achtsam hütete, waren die kleinen Feuerteufel glücklich, drohte das Feuer auszugehen, begannen sie im Haus Unfug zu treiben. Doff setzte sich vor den Kamin und versuchte, die Feuerteufel zu entdecken. Laura lachte schallend, weil ihm bereits ein kleiner Teufel auf der Nase herumtanzte und Doff es nicht bemerkte. Er war vernarrt in Legenden von Rittern, Zwergen und Ungeheuern, doch Larry, der nichts von Steinkreisen, Engeln und Krafttieren wissen wollte, verdrehte die Augen und holte Doff gern wieder auf den Boden der Realität zurück.

Zu Marys Erleichterung enthielt Larry sich heute jedes Kommentars und Doffs runde, braune Augen leuchteten. Dass diese beiden so unterschiedlichen Jungen, der lange, hagere Larry, und der kleine, dicke Doff, ihre Mary aufrichtig liebten, war nicht zu übersehen. Nachdem die beiden Jungen gegangen waren, sagte Laura zu ihrer Enkelin, während sie ihr über das glänzende Haar strich: „Deine Mutter und ich wussten schon am Tag deiner Geburt, dass du etwas ganz Besonderes bist.“

Das gefiel Mary, deren Tagträume um kühne Abenteuer kreisten, die sie eines Tages weit weg von zu Hause als Entwicklungshelferin im Ausland bestehen wollte. Damit ging dieser Tag zu Ende, der bis dahin ein Tag wie jeder andere gewesen war. Als Mary in ihrem Bett lag und sich behaglich in ihre Decke einrollte, ließ sie wie immer die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren – das Alltägliche und das Schöne, die Fantasie, ihre Wünsche und Hoffnungen und den Anfang eines guten Traums, in dem sich das Beste aus der Vergangenheit mit einer verheißungsvollen Zukunft verband. Dann schlief sie ein.

Mary erwachte durch ein Knistern, wobei es außerdem seltsam roch – nicht unangenehm, der Duft erinnerte sie an Weihrauch. Sie öffnete die Augen und starrte verblüfft auf ein Lichtwesen, das sich aus einem blau leuchtenden Nebel herauszulösen schien. Nach und nach nahm es Form an und Mary konnte die Umrisse eines Gesichts erahnen.

„Nein, du träumst nicht, Mary“, sagte das Geistwesen. „Hab keine Angst vor mir, ich bin Ernestino, dein persönlicher Schutzgeist, ein Gesandter aus einer anderen Dimension. Ich bin hier, um dir eine wichtige Botschaft zu überbringen. Deine Welt ist in Gefahr. Du bist auserwählt, um diese Welt und die Menschen vor ihrem Untergang, vor der Zerstörung des Lichts und dem Abgleiten in die Dunkelheit zu bewahren. Mach dich bereit, Mary. Schon in den nächsten Tagen wirst du nach Pakistan aufbrechen, wo dich deine erste Aufgabe erwartet. In einer tiefen Schlucht in den Bergen Pakistans lebt ein mächtiger Adler namens Rebeccus. Ihn musst du als Erstes bezwingen, um an den goldenen Schlüssel zu kommen, der die Tore zum Tempel Niube öffnet. In diesem Tempel befindet sich die Regenbogenschale, in der eine uralte heilige Schrift aufbewahrt wird. Doch das ist erst der Anfang deines großen Abenteuers. Du musst fünf verborgene Lichtstätten mit ihren prächtigen Kristallpalästen auf den fünf Kontinenten finden, ihre Rätsel lösen und sie freisetzen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, weil sich diese Geheimnisse jeweils nur an einem einzigen Tag offenbaren.“

Mary stockte der Atem. Aber sie fürchtete sich nicht. Ihre Mutter sprach wie Laura Kornisch, eine keltische Sprache, und ihr Vater war Waliser gewesen. Sie wusste, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als man träumen konnte. Doch sie träumte nicht, sondern war hellwach. Im Traum fühlt man sich allen Herausforderungen gewachsen. Doch sie hatte Zweifel: Wie sollte sie, ein siebzehnjähriges Mädchen, allein auf sich gestellt, eine derartige Aufgabe bewältigen können?

„Du wirst dich nicht allein auf den Weg machen“, versicherte Ernestino ihr, der Marys Gedanken lesen konnte. „Deine beiden Freunde werden dich begleiten. Sie werden dir beistehen und dir helfen, die Aufgaben, die vor dir liegen, zu bewältigen. Außerdem wird schon bald ein weiterer Gefährte zu euch stoßen, der euch ein helfender Wegbegleiter sein wird.“

Mary schwirrte der Kopf, sie saß bewegungslos in ihrem Bett und blickte mit weit aufgerissenen Augen in das grelle Licht, das bereits schwächer wurde. Sie hatte noch so viele Fragen, doch die Nebelwolke, in der Ernestino erschienen war, war schon wieder beinah ganz verschwunden. Noch einmal hörte sie Ernestinos Stimme: „Du wurdest erwählt, Mary, um Großes zu erfahren und zu bewirken. Vor dir liegen mehrere Einweihungen. Nach der letzten wird sich dir das Geheimnis offenbaren.“

Mit diesen Worten lösten sich auch die letzten Nebelschwaden auf und Mary blieb mit Ernestinos Botschaft zurück. Obwohl sie verwirrt war, verspürte sie ein großes Glücksgefühl. „Ja“, flüsterte sie. Sie war bereit für die Aufgabe ihres Lebens. Mary blickte sich nochmals im Raum um. Nur der schwere Duft des Weihrauchs, der noch in der Luft lag, erinnerte sie noch an das, was gerade geschehen war. Mary lag noch lange wach und dachte über diese ungewöhnliche Begegnung nach.

Die Vorbereitung

Zu ihrer eigenen Überraschung hatte Mary den Rest der Nacht gut geschlafen. Am Morgen putzte sie sich ordentlich die Zähne, packte ihre Schulsachen zusammen, trank mit Laura wie üblich eine schnelle Tasse Tee, klemmte sich ihre Bücher unter den Arm, nahm ihre Tasche und machte sich auf den Weg.

Am Gartenzaun stand Emily, ihre Nachbarin. Wie jeden Morgen, wenn Mary das Haus verließ, und jeden Nachmittag, wenn sie von der Schule nach Hause kam, machte Emily sich in ihrem Garten zu schaffen, in dem es grünte und blühte. Sie war fast so alt wie ihre Großmutter, die schon über achtzig war. Emily beherrschte wie Laura noch die alte Sprache, das Kornische. An Sonnentagen saßen die beiden alten Frauen oft gemeinsam auf der Bank vor Emilys Haus, genossen die Wärme und den Chor der Vogelstimmen und unterhielten sich in ihrer Heimatsprache, die Mary nicht verstand.

Emily wünschte Mary wie üblich einen schönen guten Morgen und Mary tat das Gleiche. Obwohl niemand im Dorf je ein Wort darüber verlor, wusste doch jeder, dass Laura im alten Wissen bewandert war. Die Großmutter war im Dorf sehr angesehen und das färbte auf Mary ab, die sich bisweilen auf Schritt und Tritt beobachtet fühlte.

Wie jeden Tag ging Laura auch heute die De-Pass Road hinauf zum Hauptplatz des Dorfes und wartete auf den Bus. Der kam auch, doch diesmal fuhr er ohne Mary ab, denn ihr wurde klar, dass sie heute einfach nicht zur Schule gehen konnte, als ob nichts geschehen wäre. Sie musste sofort mit Doff und Larry sprechen, die sie begleiten sollten und bis jetzt noch nichts davon wussten! Ohne weiter zu überlegen, lief Mary zu den Klippen. In der Nacht war Wind aufgekommen und das Meer brandete hart gegen die Felsen. Gischt schäumte hoch und zerstob in zarte Nebelschleier. Mary liebte die See bei jedem Wetter, egal wie hoch die Wellen waren. Heute bemerkte sie das Meer nicht einmal. So nahm sie nicht wahr, dass das Licht, sobald es durch die rasch vorüberziehenden Wolken brach, die ganze Bucht hell erstrahlen ließ.

Am Strand angekommen, sah sie, dass Doff wieder angeschwemmtes Treibholz gesammelt und aufgestapelt hatte, doch der Junge war weit und breit nicht zu sehen. Wenn es das Wetter erlaubte, saßen sie gern am Feuer und schmiedeten Pläne, was sie aus ihrem Leben machen wollten. Einmal hatte Doff Mary eine Schlange mitgebracht, und sie gefragt, ob sie Schlangen möge. Jeder wusste, dass Mary alle Tiere liebte. Larry war aufgesprungen und hatte Doff samt seiner Schlange davongejagt.

Sie hatte Glück! Larry schipperte soeben eines von Larkins Booten von der Anlagestelle zum Strand.

„Larry! Larry!“, rief Mary laut, um den Wind zu übertönen, und hüpfte aufgeregt auf und ab. Zu ihrer Erleichterung bemerkte Larry sie und nahm Kurs auf die Bucht.

Die Larkins waren die Fährunternehmer des Ortes. In der Hochsaison brachte Larry für sie Touristen auf die Insel St. Michael. Bis zu zehnmal am Tag fuhr er hin und wieder zurück. Weil ihn die Larkins wie einen Lehrling behandelten, verdiente er dabei kaum Geld. Im Sommer lebte Larry hauptsächlich vom Trinkgeld der Touristen. Im Winter war es dem Briefträger, der an Rheuma litt, manchmal zu kalt und Larry sprang für ihn ein. Doch nun war April und das Wetter war, obwohl rau und windig, warm genug. Für die Touristen jedoch war es noch zu kalt, und so hatte Larry nichts zu tun, außer Krähen zu zählen und vor sich hin zu träumen.

„Gott sei Dank, Larry!“, rief Mary gegen den Wind, als Larry das Boot an Land schob. „Ich drehe noch durch, wenn ich nicht sofort mit einem Freund reden kann!“

„Wieso bist du nicht in der Schule?“, rief Larry zurück. Mary fiel ihm um den Hals. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Haar tanzte im Wind und ihre Augen glänzten.

„Schon gut, schon gut“, stammelte Larry verwirrt. „Du bist ja vollkommen fertig! Jetzt sag schon, was los ist.“

Zu seiner Erleichterung lächelte Mary. Dann seufzte sie, umarmte ihn nochmals und schnupperte an seinem schwarzen Haar, das nach Meerwasser roch. Das verwirrte Larry sehr. Weil er nicht wusste, was er tun sollte, räusperte er sich.

„Komm!“, sagte er, nahm ihre Tasche und die Schulsachen und zog Mary zu den Klippen, wo sie sich in einer kleinen Höhle einen geheimen Zufluchtsort geschaffen hatten. Dort setzten sie sich auf Holzkisten, die Larry aus dem von Doff gesammelten Treibgut zusammengebastelt hatte, und zündeten Kerzen an. Mary wickelte sich in ihren dicken, grauen Pullover ein, und Larry, der seine Windjacke trug, wartete geduldig. Mary erzählte von ihrer Vision und dem Auftrag, den sie erhalten hatte.

„Was denkst du?“ Erwartungsvoll sah sie Larry an, der sich sichtlich bemühte, sie nicht zu verletzen.

„Schwer zu sagen“, stotterte er, „Keine Ahnung, eigentlich, ich meine ...“

Als er Marys Enttäuschung bemerkte, bat er: „Lass mich darüber nachdenken.“ Um Zeit zu gewinnen, wechselte er einfach das Thema. „Doff wollte auch herkommen“, sagte er und grinste. „Er ist heute nicht in der Schule. Er musste sich mit seinem Onkel treffen. Du weißt schon, mit Master Ruppy. Doff soll bei ihm so bald als möglich, am besten gleich, wenn er mit der Schule fertig ist, eine Lehre anfangen.“ Und Larry prustete heraus: „Als Leichenbestatter!“

Doffs Onkel hieß eigentlich Ruppert Master. Wie sein Neffe war er ziemlich beleibt. Seinen dicken, in feines schwarzes Tuch gehüllten Bauch trug er betont würdevoll mit sich herum. Davon abgesehen, war er ein gutmütiger Mann, der seinen Neffen gewähren ließ, solange er seine Pflichten in der Schule nicht vernachlässigte.

Mary versuchte, sich den etwas schrägen, lustigen, verfressenen und tollpatschigen Doff in der Rolle eines seriösen Bestatters vorzustellen. Doff mit seinem roten Wuschelkopf sollte einen Beruf ausüben, bei dem er einen schwarzen Anzug tragen musste und Süßigkeiten überhaupt keine Rolle spielten.

„Doff als Bestatter?!“, kicherte Mary. „Was für eine Katastrophe!“

Ihre Anspannung war wie weggeblasen, als Larry vorschlug: „Komm, wir fahren nach St. Michael.“

Mary nickte. Gut gelaunt krochen sie aus der Höhle, in der Mary ihre Schultasche und die Bücher zurückließ. Eine kalte Windböe sprang sie an und Mary fröstelte. Wortlos gab Larry ihr seine Windjacke. Als er ihr ins Boot half, versicherte er: „Das Boot hat einen ordentlichen Motor und ich bin ein guter Bootsführer.“

Dass das stimmte, wusste Mary. Sie freute sich auf St. Michael.

„Ich war schon lange nicht mehr auf der Insel“, sagte sie, während Larry das Boot mit ruhiger Hand gegen die anlaufenden Wellen lenkte.

„St. Michael ist eine sehr kleine Insel mit nur einer Kapelle“, begann Larry seine Touristenmasche, und Mary lachte hell auf. „Einige Buchten weiter gibt es zwei Leuchttürme. Von Lysardh Fount aus können Sie die schöne Insel bei fast jeder Witterung sehen. Lysardh Fount ist eine Kleinstadt, eine lose Ansammlung von Cottages, die auf der Westseite von den Klippen Cornwalls begrenzt werden, die steil ins Meer abfallen ...“

Um Mary bei Laune zu halten, redete Larry einfach weiter. „Stell dir vor: Letzte Woche, am Freitagabend, bin ich mit einem Pärchen, das unbedingt übersetzen wollte, zur Insel gefahren. Aber dann war ihnen der Wellengang zu hoch und ich musste umkehren.“ Larry kicherte. „Die waren vielleicht froh, als sie wieder aussteigen konnten. Vor lauter Freude, dass ich sie nicht hab absaufen lassen, steckten sie mir sogar ein dickes Trinkgeld zu.“

„Ja, auf dich kann man sich eben verlassen“, sagte Mary und meinte es ernst.

Den Rest der Überfahrt schwieg sie und Larry, dem nichts mehr einfiel, womit er sie ablenken konnte, begann zu grübeln: Als er zehn war, hatten die Erzieher ihn als „unzugänglich“ bezeichnet. Doch es war nicht zu übersehen gewesen, dass er deutlich besser sprechen und lesen konnte als die anderen Kinder im Heim. Deshalb hatte ihn seine Mutter wieder zu sich nehmen müssen. Bevor sie endgültig aus seinem Leben verschwand, hatte sie ihn zu den Larkins gebracht. Das waren praktische Leute. Er konnte für sie arbeiten und in ihrem kleinen Bootshaus am Landesteg des Dorfes wohnen, während er sich die Fähigkeiten aneignete, die er brauchte, um das kleine Haus seiner Mutter zu renovieren. Dann war Mary in seinem Leben aufgetaucht. Und obwohl Larry es sich selbst kaum eingestand, war Mary für ihn mehr als nur ein guter Kumpel. Sie hatte ihm von ihrer Vision erzählt und von einem Abenteuer, das sie gemeinsam bestehen sollten. So verschieden, überlegte Larry jetzt, waren ihre Vorstellungen und Wünsche gar nicht, auch wenn ihm noch nie ein Lichtwesen erschienen war. Wie das alles zusammenspielte ... es war, als ob jemand Regie führte!

Auf St. Michael machte Larry schweigend das Boot an der Anlegestelle fest.

„Du sagst ja gar nichts“, flüsterte Mary.

Der raue Wind hatte ihre Wangen gerötet. Als Larry in ihre schönen Augen sah, hätte er Mary am liebsten sofort gesagt, dass auch er weit weg wollte, und zwar mit ihr und so bald als möglich. Sie war wie er noch sehr jung, aber schöner und klüger als alle Mädchen, denen er bisher begegnet war. Etwas gemeinsam zu unternehmen, das wichtiger war, als mit einem Boot ein und dieselbe Strecke unentwegt hin- und herzufahren oder im Ort mit der Post im Kreis herumzulaufen, erschien Larry äußerst verlockend. Doch er war schüchtern, und so murmelte er nur verlegen: „Du sagst ja auch nichts.“

„Hast du über meine Erscheinung nachgedacht?“, fragte Mary, und Larry, schon bereit, alles zu erzählen, was er gerade dachte, begann: „Wenn ich ehrlich bin ...“

Mary fiel ihm ins Wort: „Ist schon okay, Larry. Wenn ich ehrlich bin, ist die Vision schon wieder so weit weg, dass ich mich frage, ob es vielleicht doch nur ein komischer Traum war.“

Unbefangen nahm sie seine Hand und Larrys Herz schlug plötzlich schneller. Widerstandslos ließ er sich von Mary den kleinen Hügel zur Kapelle hinaufziehen. Die Kapelle war verschlossen. Etwas von der alten Mary kam zum Vorschein, als sie lachend rief: „Ich will da hinein! Nachdem ich von einer anderen Dimension den Auftrag erhielt, die Menschheit zu retten, muss ich da hinein!“

Oh ja! Sie konnte sich auf ihn verlassen! Denn Larry, der auch den Küster des Dorfes mit seinem Boot nach St. Michael übersetzte, wusste, wo der Ersatzschlüssel lag. Im Nu stand die Tür offen und sie betraten die Kapelle, in der es, abgesehen von einigen Sonnenstrahlen, die durch die beiden kleinen Seitenfenster fielen, dunkel war. Sie fielen auf ein in Leder gebundenes Buch, das aufgeschlagen auf dem Stehpult vor dem Altar lag. Mary und Larry nahmen auf der letzten der fünf Bänke Platz. Von draußen drang kein Laut in die Kapelle, nicht einmal ein Vogelruf. Der schwache Duft von Weihrauch unterstrich die ruhige und friedliche Stille des kleinen Heiligtums.

„Hast du die Zündhölzer dabei?“, flüsterte Mary, und Larry kramte in seiner Jackentasche und reichte sie ihr.

„Wo muss ich hier Münzen für die Kerzen einwerfen?“, erkundigte sich Mary.

Larry, ganz Gentleman, stand schon neben ihr und es klimperte in der Spendendose. Drei Kerzen zündete Mary an. Larry warf noch etwas Geld in die Büchse, dann setzten sie sich beide wieder in die Bank. Eine Weile saßen sie nur schweigend da, dann stand Mary auf, und Larry dachte, sie wolle die Kapelle verlassen. Aber Mary, die der Weihrauchduft an Ernestino erinnerte, ging zum Altar, über dem ein großes, eindrucksvolles Bild hing. Sie konnte kaum etwas sehen, wusste allerdings, dass es den Namenspatron der Insel, den heiligen Michael, beim Kampf gegen einen gefährlichen Widersacher darstellte. Unter dem Bild standen zwei Vasen mit kümmerlichen Plastiklilien. Dann fiel Marys Blick auf das Buch, das auf dem Pult lag, vor dem sie jetzt stand. Erstaunt bemerkte sie, dass es auf der Seite aufgeschlagen war, auf der das gleiche Bild wie über dem Altar zu sehen war. Michael trug ein mächtiges Schwert – und, als Mary daraufsah, wurde es zu einem flammendem Lichtschwert, das so hell aufblitzte, dass sie geblendet die Augen schließen musste. Mary taumelte und sofort war Larry bei ihr. Er konnte das Aufflackern des Lichts gerade noch sehen, bevor es wieder erlosch. Eine Sekunde lang starrte er verblüfft auf das Schwert in der Hand des Heiligen, dann nahm er Marys Hand und gemeinsam gingen sie aus der Kapelle heraus.

„Was um Himmels willen war denn das?“, keuchte Larry, während er mit zittrigen Fingern die Tür abschloss und den Schlüssel wieder an seinem gewohnten Platz versteckte.

Mary holte tief Luft. „Ich bin so froh, dass du bei mir bist, Larry“, sagte sie und drückte fest seine Hand. „Ich würde sonst selbst glauben, dass ich verrückt bin. Das war genauso unglaublich wie die Erscheinung, die ich hatte. Glaubst du mir jetzt?“

„Ich hab dir immer geglaubt“, verteidigte sich Larry, „Es ist nur ...“

Mary schien ihn nicht zu hören. Als Larry sie ansah, stand Mary an seiner Seite und blickte aufs Meer. Sie schien ihm wie zur Salzsäule erstarrt.

„Was, was ist los ...?“, wollte Larry gerade fragen, als Mary abwinkte.

„Schhhh! Hör doch mal!“, forderte sie ihn auf.

Larry folgte ihrem Blick hinaus aufs Wasser und lauschte. Doch da war nichts, er hörte und sah nichts.

„Da ist nichts. Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte er, und Mary nickte langsam.

„Genau, da ist nichts ... es ist totenstill, viel zu still! Gerade eben war es noch windig, die Wellen klatschten gegen die Felsen und die Äste der Bäume knarrten im Wind. Und jetzt ... nichts!“

Erst jetzt fiel Larry auf, dass sie recht hatte. Kein Lüftchen war mehr zu spüren, das Meer lag plötzlich völlig ruhig vor ihnen, kein Geräusch war zu hören ... Das war merkwürdig und irgendwie unheimlich. Mary wagte kaum zu atmen, irgendetwas ging hier vor. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Es war, als wäre die Stille aus der Kapelle mit ihnen hinaus ins Freie getreten und hätte nun alles verstummen lassen. ... Plötzlich war ein Schrei zu hören. Mary fuhr zusammen und drehte sich um, um festzustellen, aus welcher Richtung der Schrei gekommen war.

„Komm mit, komm mit!“, wieder hörte sie den schrillen Ruf, und diesmal war er so laut, dass sie sich vor Schreck die Ohren zuhielt.

„Mary, was ist los, ist alles in Ordnung? Mary, sag doch was!“ Larry beunruhigte das Verhalten seiner Freundin. Er wollte sie gern hier fortbringen ... irgendetwas ging heute vor und was, das konnte er noch nicht einordnen.

„Alles in Ordnung, es war nur gerade einfach zu laut, dieser Schrei, wo ist der nur hergekommen?!“ Mary hatte sich wieder gefangen und schaute sich abermals suchend um.

„Welcher Schrei, wovon sprichst du, es ist totenstill hier.“ Larry war ganz offensichtlich verwirrt, denn er hatte nichts gehört, und Mary sah ihn erstaunt an.

„Willst du damit sagen, dass du das gerade nicht gehört hast?“, fragte Mary verwirrt und erzählte Larry von dem Schrei, den sie vernommen hatte, doch ihr Freund blieb ratlos, er hatte nichts gehört.

„So wie du es mir beschreibst, klingt das ganz nach dem Ruf eines Steinkauzes ... du weißt schon, der Totenvogel.“ Larry kannte diese Vögel, ihren Ruf und wusste, was der Volksmund über diese Tiere sagte: Ihr Ruf sei ein Zeichen dafür, dass in naher Zukunft jemand den Tod finden würde.

„Ja, du könntest recht haben, aber diese Vögel sind nachtaktiv, und ... warum habe nur ich allein ihn gehört?“, fragte sich Mary. In diesem Augenblick setzte der Wind wieder ein, die Wellen schlugen geräuschvoll gegen die Felsen und die Bäume wiegten ihre Äste im Wind. Alles war wieder genauso wie zuvor, als wäre es nie anders gewesen. Larry war noch immer etwas unheimlich zumute, doch er wollte Mary auf jeden Fall beistehen, auch wenn das heißen würde, dass künftig noch mehr solche Situationen auf ihn zukommen würden. Er betrachtete Mary aus den Augenwinkeln heraus: Ihre Wangen waren gerötet vor Aufregung und sie sah wunderschön aus. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie freundschaftlich an sich.

„Ich werde dich immer beschützen, egal was passiert!“

„Versprochen?“ Mary lächelte ihn an.

„Großes Ehrenwort! Ich lass dich nicht im Stich, egal was kommt. Und ich versprech dir sogar noch etwas: Wenn das alles geschafft ist und du deine Aufgabe erfüllt hast, werd ich dich heiraten und dann bau ich uns hier ein wunderschönes Haus mit Blick aufs Meer.“

Mary lachte und erwiderte: „Okay, ich nehm dich beim Wort.“

Larry war sich nicht ganz sicher, ob Mary ihn ernst nahm oder ob sie das für einen Scherz hielt, was er gesagt hatte. Aber das machte ihm nichts aus, er schwor sich, dass er sie eines Tages zur Frau nehmen und alles tun würde, um sie glücklich zu machen. Während er im Stillen Zukunftspläne schmiedete, war Mary ganz in Gedanken versunken, das Licht aus der Kapelle war ihr wieder eingefallen ...

„Was bedeutete dieses Flammenschwert?“, fragte sie und schüttelte den Kopf. „Ich muss mehr darüber wissen. Am liebsten möchte ich die Reise gleich beginnen.“

Ihre Augen leuchteten, als sie Larrys Hand ergriff, und sie rief: „Komm, Larry, wir müssen jetzt zurückfahren.“

Doff kaute gerade missmutig an einer langen Lakritzenschnur. Er hockte auf einem Baumstrunk in der Bucht und fühlte sich so einsam wie schon lange nicht mehr. Master Ruppy hatte ihm einen endlosen Vortrag über die stille Freude gehalten, die man empfinde, wenn man sich ganz und gar dem Beruf des Leichenbestatters widme. Danach war er ausführlich auf die Krisensicherheit seines Berufes eingegangen und hatte Doff zu dessen Entsetzen durch den Schauraum mit den offenen Särgen geschoben.

Doff schüttelte sich. Er brauchte dringend seinen Freund, aber er hatte Larry nirgendwo entdecken können, und Mary war in der Schule. Frustriert hatte er sich in dem Laden am Hauptplatz mit so viel Süßigkeiten eingedeckt, wie er sich leisten konnte, und das war nicht gerade wenig, weil ihm sein Onkel – wohl wegen der Aussicht, ihn bald unter seinen Fittichen zu haben – großzügig ein paar Pfund zugesteckt hatte.

Doff wünschte sich so weit wie möglich fort von Lysardh Fount und seinem Onkel. Während er seine Tüten leerte, starrte er trübselig in den Himmel. Danach zählte er die Krähen, doch ihr aufgeplustertes schwarzes Federkleid erinnerte ihn nur wieder an Master Ruppy. Gequält schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, leuchtete sein Gesicht. Endlich! Larrys Boot war in Sicht. Zu Doffs Überraschung war Mary auch an Bord. Das kränkte ihn, denn es bedeutete, dass sie ohne ihn auf St. Michael waren. Doch dann nahm er gerührt zur Kenntnis, dass die beiden sich ebenfalls riesig freuten, ihn zu sehen. Kaum hatten sie das Boot an Land gezogen, da stürzten sie sich auf ihn und umarmten und drückten ihn.

„Du wirst jetzt Leichenbestatter“, kicherte Mary und Doff, der gute Miene zum bösen Spiel machte, knurrte verlegen: „Nur über meine Leiche!“

„Was wolltet ihr denn auf der Insel? Und wieso war ich nicht dabei?“

Ein Blick in Marys Gesicht, das plötzlich einen ernsten Ausdruck hatte, sagte Doff, dass etwas Wichtiges vorgefallen sein musste. Auch Larry, der zu bedenken gab, dass er das Boot zum Anlegesteg zurückbringen müsse, wirkte seltsam nervös, was gar nicht seine Art war. Neugierig bestürmte Doff Mary mit Fragen, doch sie winkte ab. Mary überlegte. Heute war Mittwoch. Laura spielte wie immer mit ihren Freundinnen in Corrdall Fort Karten, also würden sie im Haus ihrer Großmutter ungestört sein.

„Wir gehen zu mir“, schlug sie vor und alle waren einverstanden. Larry stieg wieder ins Boot und Mary und Doff machten sich an den Aufstieg durch die Klippen.

Um diese Tageszeit wirkte Lysardh Fount wie ausgestorben. Nicht einmal von Emily war etwas zu sehen, doch das war gut so, weil sie so wenig Aufsehen erregen wollten wie möglich. Immerhin war es ein normaler Schultag und gute Nachbarschaft hatte den Nachteil, dass jeder alles vom anderen wusste oder wissen wollte, und Emily war dabei keine Ausnahme, wie Mary aus eigener Erfahrung wusste.

Erst nachdem sie sich in Lauras Cottage um den runden Tisch versammelt hatten, weihte Mary Doff ein.

„Gut“, sagte er, zufrieden darüber, dass sein ungesprochenes Gebet erhört worden war. „Wann soll’s losgehen? Wir müssen doch jemanden retten, oder?“ Dabei steckte er sich das letzte Stück Marzipan in den Mund.

Mary lachte. „Wenn du so weitermachst, Doff, müssen wir dich bald durch die Gegend rollen.“

In Erinnerung an einen Hinweis, den er dem sprachgewandten Larry verdankte, konterte Doff: „Besser dick als doof.“

Larry verzog gequält sein Gesicht, aber Mary dachte, dass es einer von Doffs liebenswertesten Zügen war, dass er es niemandem nachtrug, wenn er sich über seine Dickleibigkeit oder Naivität lustig machte. Selbst für jeden Spaß zu haben, war er auf eine Weise großzügig, die sie immer wieder erstaunte.

„Also, was machen wir jetzt?“, wollte Doff wissen.

„Wir warten auf den nächsten Hinweis“, sagte Mary, die selbst noch keine Ahnung hatte, wie das alles gemeint war. „Oder was denkst du?“, wandte sie sich an Larry, der zustimmend nickte.

„Was auch kommt, wir bleiben zusammen!“

„Klar“, stimmte Doff kauend zu, doch Larry murmelte undeutlich: „Wir werden sehen.“

Mary streckte ihre Hände bis zur Mitte des kleinen Tisches aus und Larry und Doff legten ihre Hände auf ihre. Mit diesem kleinen Ritual besiegelten und erneuerten sie ihre Freundschaft – doch diesmal schloss Mary dabei die Augen, hob leicht den Kopf und ließ die Schultern fallen. Doff schielte zu Larry hinüber und sah, dass auch er die Augen geschlossen hatte, schluckte das letzte Marzipanstück hinunter und tat es ihnen gleich. Ihre Hände begannen zu pulsieren. Sie spürten eine vibrierende Kraft, die durch ihre Körper aufstieg und dabei zunahm. Ein Energiekreis bildete sich, eine Art schützender Bannkreis, und sogar die Luft, die sie umgab, schien zu knistern. Sie hatten keine Ahnung, wie lange sie die Spannung halten konnten, bis sich, wie auf ein unhörbares Kommando hin, ihre Hände lösten und sie ihre Augen wieder öffneten.

„Cool!“, flüsterte Doff.

Larry murmelte leise: „Wahnsinn!“, und Mary rief: „Das war unglaublich!“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer und Laura trat ein. Sie war klatschnass.

„Ich hatte Glück! Den ersten Bus hab ich versäumt, der nächste wäre erst in vierzig Minuten gekommen. Und dann dieser Wolkenbruch. Wie aus dem Nichts. Keine Möglichkeit, mich unterzustellen, keine Autos, die ich hätte anhalten können. Dann kam irgendwann Gott sei Dank Mr Griffin mit seinem Polizeiauto vorbei und hat mich mitgenommen.“

Larry sprang auf und half Laura aus der nassen Jacke, Doff nahm ihr die Tasche ab, und Mary lief in die Küche, um den Wasserkessel aufzusetzen.

„Ein Wolkenbruch?!“, rief Mary fragend durch die offene Tür. „Sonst sieht man doch, wenn sich ein Unwetter zusammenbraut.“

„Ja, habt ihr denn nichts gemerkt?“, fragte Laura erstaunt, bevor sie im Badezimmer verschwand, um sich umzuziehen. „Es hat geblitzt. Und wie! Direkt über dem Dorf.“

„Es war wie vor einem Gewitter!“, platzte Doff heraus, „Nur stärker und wir ...“ Verwirrt verstummte er, als ihm Mary und Larry bedeuteten, den Mund zu halten.

„Was war vor dem Gewitter?“

„Nichts, Laura!“, rief Mary und schob Larry und Doff rasch in Richtung Eingangstür, wobei sie flüsterte: „Wir treffen uns jetzt jeden Tag gegen vier Uhr nachmittags in der Höhle, unserem Versteck in der Nähe vom Bootshaus. Falls einer von uns nicht kommen kann, sehen wir uns am nächsten Morgen vor der Schule.“

Erleichtert schloss Mary die Tür hinter den beiden und drehte sich um. Vor ihr stand ihre Großmutter im Bademantel und frottierte sich das Haar. Obwohl Laura schon so alt war, hielt sie sich sehr gerade, und ihr Gesicht zeigte trotz der vielen Falten immer noch die Spuren großer Schönheit. Einen Augenblick lang kam es Mary vor, als ob sie sich in den Augen ihrer Großmutter spiegelte, die nachdenklich auf ihre Enkelin gerichtet waren. Sie hatten dieselbe Farbe wie ihre Augen und die Augen ihrer Mutter, und Mary dachte traurig: „Wie die ruhige See bei schönem Wetter, aber unergründlich in ihrer Tiefe.“

„Du sollst mich nicht immer Laura nennen“, sagte die alte Dame ruhig. „Vor allem nicht vor deinen Freunden. Suchend sah sie sich um. „Wo sind sie eigentlich?“

„Die mussten heim“, antwortete Mary vage. Der Wasserkessel pfiff, und sie lief erleichtert nach nebenan, um den Tee aufzugießen. Laura folgte ihr in die Küche.

„Was ist denn los mit euch?“, fragte sie. „Ihr drei habt doch irgendetwas vor?“

Mary schüttelte den Kopf, und ihre Großmutter nahm sie fest am Arm und führte sie ins Wohnzimmer zurück.

„Setz dich, Kind“, forderte sie Mary auf, die gehorchte, dann nahm die Großmutter neben Mary Platz.

„Ich spüre doch, dass etwas passiert ist.“ Aufmerksam sah Laura ihre Enkelin an, bevor sie nachdenklich hinzufügte: „Ich sehe es doch, Mary, wenn ich dich anschaue. Du kannst mir nichts vormachen.“

Mary, die wusste, dass ihre Großmutter ihr nie böse war, seufzte unglücklich: „Ich kann es dir nicht erzählen“, sagte sie leise und versicherte dann: „Glaub mir, Großmutter, wir machen keine Dummheiten.“

Laura schwieg. Sie wusste seit heute Morgen, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Das war der Grund, weshalb sie früher als geplant nach Hause gekommen war.

„Ich hab für dich die Zigeunerkarten gelegt“, sagte Laura und schüttelte den Kopf, „doch ich konnte sie nicht deuten.“ Wieder schwieg Laura eine Weile, bevor sie fortfuhr: „Ich verstehe ihre Botschaft zwar nicht, konnte allerdings erkennen, dass uns große Veränderungen bevorstehen.“

Laura legte ihre Hand auf die ihrer Enkelin. „Versprich mir, Kind, dass du dich nicht in Gefahr bringst.“

Mary, der es wehtat, dass sie Laura nicht ins Vertrauen ziehen konnte, umarmte sie und sagte leise: „Ich hab dich sehr lieb, Großmutter.“

„Ich dich auch“, flüsterte Laura, „aber das weißt du ja.“

Dann lachte Laura und fragte: „Hast du heute noch was vor?“

Als Mary verneinte, zog Laura sie hoch. „Dann koche ich uns meinen berühmten Bohneneintopf, und während der vor sich hinköchelt, spielen wir eine Runde Karten. Ganz wie in alten Zeiten!“

Es wurde ein sehr gemütlicher Abend, an den Mary noch lange zurückdenken würde. Der Regen, der leise gegen die Fenster trommelte, der süße Duft von Bienenwachs, mit dem Laura die alten Möbel behandelte, der warme Schein der Lampen und das Knistern des Kaminfeuers: die vertraute Umgebung half Mary, sich zu entspannen. Sie gewann ihre spontane Fröhlichkeit zurück, und Laura ließ sich nicht mehr anmerken, dass sie sich Sorgen um ihre Enkelin machte. Was immer Mary erwartete, sie war überzeugt, dass sich dahinter etwas Gutes und Wundervolles verbarg. Sie hatte schon immer gewusst, dass dieses Kind im Leben eine besondere Aufgabe zu erfüllen hatte. Nun, da die Zeit gekommen war, musste sie Mary gehen lassen, so schwer ihr das fiel.

Als sie in ihrem Bett lag, dachte Mary mit großer Zärtlichkeit an ihre Großmutter und mit Wehmut an ihre Mutter, die ihr so ähnlich gewesen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie, wann immer sie als Kind bei ihrer Großmutter übernachtet hatte, auf ihrem Kopfkissen eine weiße Feder gefunden hatte. „Das ist ein Engelgruß, der dir gute Träume schenkt“, hatte Laura dann immer gesagt.

Trotz der vielen Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten, und obwohl keine Feder mehr auf ihrem Kopfkissen lag, schlief Mary in dieser Nacht tief und traumlos.

Larry und Doff übernachteten im Bootshaus beim Anlegesteg. Während Larry bereits leicht schnarchte und von Mary träumte, konnte Doff lang nicht einschlafen. Er lag in der anderen Ecke der zugigen Holzhütte auf seiner Matratze, in warme Decken gehüllt, und lauschte dem Geräusch, das die Wellen machten, die sich am Steg brachen. Noch konnte er sein Glück gar nicht fassen: War er wirklich dazu bestimmt, gemeinsam mit seinen Freunden ein außergewöhnliches Abenteuer zu erleben? Es war beinah zu schön, um wahr zu sein.

Bilder aus seiner Vergangenheit quälten Doff: die unordentliche Wohnung seiner Eltern in Townsend; seine Mutter, die im selben Pub als Bedienung arbeitete, in dem sich sein Vater jeden Abend betrank; die täglichen, lautstarken Auseinandersetzungen seiner Eltern und die Gesichter seiner Geschwister, die sich erschrocken aneinanderkauerten. Hoffentlich ging es ihnen gut!

In Doffs Vorstellung wurde Larry zum Ritter in silberner Rüstung, der auf seinen Schimmel sprang, um aus seiner untergehenden Heimat zu fliehen, und Mary zur Lichtgestalt, die sie beide leitete. Langsam lullte ihn der Rhythmus der Meereswogen ein und Doff schloss die Augen. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern ging, rosig wie eine riesige Marzipankugel, die Sonne auf. Doff lächelte selig. Er würde keine Leichen für Master Ruppy waschen, sondern stattdessen ein großes Abenteuer erleben! ... Leise begann er zu schnarchen.

Der Aufbruch

In den nächsten Tagen trafen sich die Freunde immer zur verabredeten Zeit in ihrem Versteck. Gleich neben ihrem Eingang hatte sich eine Seedohle ihr Nest gebaut, das war allerdings zu ihrer Enttäuschung das einzig Bemerkenswerte, was sich ereignete. Mary fiel es zusehends schwerer, sich auf ihre alltäglichen Pflichten in der Schule zu konzentrieren. Am Nachmittag des dritten Tages betrat sie die kleine Buchhandlung in Lysardh Fount. Sie hatte beschlossen, ein Tagebuch zu führen, in dem sie alles aufzeichnen wollte. „Ablegen der Gedanken“ nannte sie es. Heute wollte sie damit anfangen.

Die Ladenbesitzerin, Mrs Toth, begrüßte sie wie gewöhnlich überfreundlich, was Mary nicht ausstehen konnte. Sie war grellblond gefärbt, davon abgesehen allerdings eher hausbacken, was sie vergeblich durch modische Kleidung wettzumachen versuchte. Ihren neugierigen, kleinen und flinken Augen entging nichts.

„Du strahlst ja richtig, Mary“, flötete sie mit der sanften Stimme, die ihren Kunden vorbehalten war. Larry hatte erzählt, dass ihr spindeldürrer Mann, der die Bäckerei zwei Häuser weiter betrieb, diese freundliche Stimme so gut wie nie zu hören bekam. Wie immer war Mary höflich, aber reserviert. Rasch sah sie sich um, entdeckte, was sie suchte, wechselte mit Mrs Toth einige belanglose Sätze über das Wetter, bezahlte das zu teure, aber schön gebundene Tagebuch an der Kasse und ignorierte die Frage der Buchhändlerin, ob sie denn schon einen Freund habe.

Als sie auf der Straße stand, atmete Mary erleichtert auf. Mit der Hand strich sie über den Buchdeckel, den ein Rosenmuster zierte, und dachte über die ersten Zeilen nach, die sie ihrem Tagebuch anvertrauen wollte. Ihre Reise sollte nach Pakistan gehen. Mary wusste nicht viel über dieses Land. Keiner von ihnen besaß einen Computer, doch Mary hatte sich in der Schule einige Fakten herausgesucht. Zum Glück besaß ihr Lehrer einen alten Computer, den er ihr zur Verfügung stellte ...

„Ein Reiseführer wäre gut“, dachte sie, „mit Fotos und allem Drum und Dran.“ Doch den müsste sie bei Mrs Toth bestellen und das war bei deren Neugierde und Tratschsucht zu riskant.

So schlenderte sie auf dem Nachhauseweg durch den nahen Park. Es war später Nachmittag, und sie wollte sich dort auf eine Bank setzen, um in Ruhe ihre ersten Einträge über die Erlebnisse der letzten Tage zu machen. Während sie über das Gras spazierte, fiel ihr ein junger Mann auf. Er saß allein auf einer Parkbank, blickte nachdenklich vor sich hin und schien auf jemanden zu warten. Mary ging langsamer und musterte den Mann aus dem Augenwinkel. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er hatte reine klare Gesichtszüge und außergewöhnlich grüne Augen. Sein makelloses Gesicht war umrahmt von dunkelblonden langen Haaren. Marys Schritte wurden noch langsamer und, ohne es selbst bemerkt zu haben, war sie plötzlich stehen geblieben. Es war, als ob eine unsichtbare Kraft sie zu diesem Fremden hinzog. Unvermittelt hob er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Ein angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken und in diesem Augenblick ahnte sie es ... Noch ehe er ein Wort sagte, wusste sie, wen sie vor sich hatte ...

„Ich bin Troy, dein geistiger Begleiter“, sprach er und hielt ihr dabei seine Hand zum Gruß entgegen.

Er war es, der gute Geist, der Beschützer, den man ihr zur Seite gestellt hatte.

„Ich heiße Mary“, flüsterte sie leise, als sie ihm die Hand reichte. In dem Augenblick, als sich ihre Hände berührten, durchzuckte Mary ein merkwürdig vertrautes Gefühl, wie ein Blitz flammte in ihren Gedanken ein verschwommenes Bild auf. Sie sah Troy und sie sah sich selbst, es war wie eine Erinnerung aus einem längst vergangenem Leben. Sie wollte diesen Augenblick festhalten, so fasziniert war sie von ihrem Gegenüber. Die Kraft und die Liebe, die von ihm auf sie überströmten, gaben ihr ein noch nie da gewesenes Gefühl. Fasziniert sah sie in sein Gesicht. Es wirkte jung und dann doch auch wieder alt und weise. Sie fühlte sich von der ersten Sekunde an wohl in seiner Nähe.

Troy betrachtete das hübsche Mädchen, an dessen Seite ihn das Schicksal gestellt hatte, und war überrascht. Er hatte schon vieles auf Erden gesehen, eine Aura wie diese war allerdings selbst ihm noch nie begegnet. Ein strahlendes Violett umgab Mary. Troy war fasziniert von dieser Kraft, die von ihrem außergewöhnlichen Aurafeld ausging.

„Die höchste Göttliche Energie“, dachte er im Stillen. Dieser Gedanke ließ ihn unwillkürlich lächeln, und er wusste, warum gerade Mary auserwählt worden war. Langsam ließen sich ihre Hände wieder los. Troy trat einen Schritt zurück.

„Du solltest mit den Vorbereitungen beginnen“, sagte er, „wir werden uns bald wiedersehen. Bevor die Reise beginnt, werde ich wieder zu euch stoßen und dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg.“

Er lächelte Mary noch einmal warm zu, bevor er sich abwandte und davonging. Mary schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie Troy nicht mehr sehen. Sie war verwirrt und enttäuscht, weil ihre Begegnung so abrupt geendet hatte und sie noch so viele Fragen hatte, doch sie war auch ungemein erleichtert. Das war die Bestätigung, auf die sie gewartet hatte. Ihre Vision war Wirklichkeit gewesen und kein Traum!

„Was für Vorbereitungen denn?“, fragte Larry verstimmt. „Hat dieser Troy denn nichts Genaueres gesagt?“

Mary hatte die Freunde noch im Bootshaus angetroffen und überschwänglich von ihrer Begegnung mit Troy erzählt. Während Doff zufrieden wirkte, sah Larry verdrießlich aus. Mary strahlte von innen heraus und das machte ihn misstrauisch und verunsicherte ihn.

„Das ist wieder einmal typisch für dich!“, schimpfte Doff. „Hast du denn gar kein Vertrauen, Larry?“

Mary, die sich an ihre intensiven Gefühle erinnerte und an die Sprachlosigkeit, die es unmöglich gemacht hatte, Fragen zu stellen, spürte erschrocken, dass sie errötete. Das entging Larry nicht und es machte Mary selbst unsicher.

„Er wird zu uns kommen, wenn es so weit ist“, sagte sie mit mehr Nachdruck, als sie vorgehabt hatte. „Und dann erfahren wir bestimmt mehr.“

„Hoffentlich“, bemerkte Larry skeptisch und presste seine schmalen Lippen zusammen.

Doff, der sich von Larrys schlechter Laune nicht beirren ließ, gab zu bedenken: „Vielleicht hat Troy ja gemeint, dass wir unsere Dinge in Ordnung bringen sollten, bevor wir aufbrechen?“

Zu seiner Überraschung gab Mary ihm dafür einen Kuss und Doff stammelte verlegen, dass Troy ihn nicht gemeint haben könne, weil er selbst nichts in Ordnung zu bringen habe.

„Was ist mit Master Ruppy?“, widersprach Larry. „Er hat keine eigenen Kinder und du bist der einzige Nachfolger, damit seine Sargfabrik in der Familie bleibt.“

„Was heißt Sargfabrik?“, regte Doff sich auf. „Mein Onkel stellt keine Särge her, er verkauft sie.“

„Wenn schon“, beharrte Larry, „Er wird dich verfluchen, wenn du einfach verschwindest.“