Maskenscherz - Klaus Mann - E-Book

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Klaus Mann

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Beschreibung

Erstmals erscheinen alle frühen, bis 1933 geschriebenen Erzählungen Klaus Manns in einem Band. Es sind Geschichten von meist jungen Menschen, die auf der Suche sind nach der Liebe, nach dem Abenteuer, nach einem Sinn in ihrem Dasein. Die Erzählungen sind ein ungeschminkter Spiegel des Lebens und der Sehnsüchte der "verlorenen Generation" der zwanziger Jahre. "Da um uns herum alles barst, woran hätten wir uns halten, nach welchem Gesetz uns orientieren sollen ? ... Wir konnten nicht von einer sittlichen Norm abweichen: Es gab keine solche Norm", schrieb der Schriftsteller rückblickend über diese Zeit.

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Klaus Mann

Maskenscherz

Die frühen Erzählungen

Ihr Verlagsname

Herausgegeben von Uwe Naumann

Über dieses Buch

Erstmals erscheinen alle frühen, bis 1933 geschriebenen Erzählungen Klaus Manns in einem Band. Es sind Geschichten von meist jungen Menschen, die auf der Suche sind nach der Liebe, nach dem Abenteuer, nach einem Sinn in ihrem Dasein. Die Erzählungen sind ein ungeschminkter Spiegel des Lebens und der Sehnsüchte der «verlorenen Generation» der zwanziger Jahre. «Da um uns herum alles barst, woran hätten wir uns halten, nach welchem Gesetz uns orientieren sollen? … Wir konnten nicht von einer sittlichen Norm abweichen: Es gab keine solche Norm», schrieb der Schriftsteller rückblickend über diese Zeit.

Über Klaus Mann

Klaus Mann, geboren 1906 in München als ältester Sohn von Katia und Thomas Mann, begann seine literarische Laufbahn als Enfant terrible in den Jahren der Weimarer Republik. Nach 1933 wurde er ein wichtiger Repräsentant der von den Nazis ins Exil getriebenen deutschen Literatur. Seine bedeutendsten Romane schrieb er in der Emigration: «Symphonie Pathétique» (1935), «Mephisto» (1936) und «Der Vulkan» (1939). Im Mai 1949 starb Klaus Mann in Cannes an den Folgen einer Überdosis Schlaftabletten.

Sämtliche Werke von Klaus Mann erscheinen im Rowohlt Verlag.

Die Gotteslästerin

Eine Skizze

Szene: Irgendein Salon irgendwo in Schwabing. Sagen wir in der Elisabethstraße. Teebesuch. Um einen runden Tisch sitzen Leute. Die Hausfrau trägt ein eng anliegendes Seidenkleid. Sie gießt Tee ein; und lächelt gelangweilt und höflich. Eine Stockung im Gespräch tritt ein. Die Hausfrau betrachtet ihre Hände. Sie sind rötlich, die Nägel zugespitzt und poliert. Sie sind schmal und lang. Sie denkt plötzlich an irgend welche Hand, die sie irgendwo gesehen hat. Sie vergißt, daß sie gerade irgend etwas Geistreiches sagen wollte. Sie lächelt gelangweilt. Sie vermutet, daß irgendwer einen Witz gemacht habe. Sie mußte also lächeln.

Da sagte irgendeine Dame (groß) hager, rötliche Haare (wie Roßhaare), spitze Nase, dürre, graue Finger: «Und was halten Sie von den jetzigen Zeiten?» Sie sieht sich triumphierend um! «Nun habe ich aber den Nagel auf den Kopf getroffen», denkt sie – die Kuh!

Die Gäste sind ärgerlich. Mein Gott – nun wird wieder über Politik gesprochen.

Die Frau Geheimrätin horcht auf. Sie hat gerade noch ihre Hände betrachtet. «Ach so – die Zeit. Die Bolschewisten und so.» Sie blickt zur Decke. Was soll sie nur sagen? Jawohl. Also: Sie findet alles ganz schrecklich. Natürlich! Wer nicht? Wer hat darunter nicht zu leiden? Unter dieser Schreckensherrschaft der Bolschewisten. Mein Gott, ja – man müßte eben abwarten, nicht wahr, sagte die Geheimrätin, «und auf Gott» (sie gießt Tee ein), «was ich nur sagen wollte? vertrauen! Ja natürlich – auf Gott vertrauen.» «Ja, natürlich, da haben Sie recht», sagt die Dame mit den Pferdehaaren. Ihre hageren, langen, grauen Hände liegen unerfreulich wie Spinnenarme auf der Tischdecke. Nein, wie ärgererregend diese Hände sind! Die Kuh!! Warum hatte sie auch von Politik zu reden! – Die Kuh!! Nein, da kann man sich auch ärgern! Schließlich die Leute, die kennen doch alle ihre Ansichten zur Genüge! Schauder vor den Bolschewisten, Furcht und Gottvertrauen. Warum muß man sich denn all diese Sachen so oftmals sagen? So amüsant sind sie doch nicht! – Nein, wie dieses Weib mit den Pferdehaaren hassenswert ist! Sie trägt auch eine gelbe Seidenbluse. Wenn man sie nur ohrfeigen dürfte. Mitten auf die Wellen träumerischer Locken – dann würden ihre hellblauen, wimperlosen Augen in Tränen stehen. Sie würde dann sogar wahrscheinlich aufstehen und hinausgehen, man sprach also über die Politik, man entsetzte sich also pflichtschuldigst über den Geiselmord. Man sagte: «Ach Gott, ja, der arme Geheimrat Döderlein!» Und da wirft die verhaßte Dame mit den Pferdehaaren dazwischen: «Es soll ja gar nicht wahr sein!» – Ein Herr mit riesengroßer, bläulicher, feuchter Nase sieht sie grimmig an. Er wendete dann kalt den Blick von ihr ab und sagte zu seiner Gattin: «Es gibt doch immer Leute, die alles besser wissen müssen.» Und er hüstelte streng. Die Dame starrte aus ihren wimperlosen Augen streng auf des Herren bläuliche Nase. «Ja – es wird doch auch viel geschwatzt», sagte sie und fügte hinzu: «Ich glaube, daß die Spartakisten sich nicht so entsetzlich benommen haben, wie getan wird. Der Geiselmord natürlich, das war eine widerliche Abscheulichkeit, doch vermute ich, und will diese Meinung niemandem aufdrängen, daß dieses nur die Schuld einzelner barbarischer Soldaten war!» Der Herr mit der feuchten Nase erhob sich. «Auf Wiedersehen, gnädige Frau. Ich trinke nicht mit Spartakisten Tee.» Er zog seine braunen Lederhandschuhe an und ging mit starken wuchtigen Schritten, seine Frau am Arm, ab. – Stille! – Alle haben bleiche, entsetzte Gesichter, die Hausfrau erhebt sich. «Aber Frau Geheimrat!» – Die Hausfrau weist mit dürren Fingern nach der Türe. Sie geht geknickt. Mit schlaffen Armen und trübseligen Augen. Die Gotteslästerin, die Spartakistin!! Pfui!!

Vor dem Leben

Auf der Wiese drüben übten sich die kleineren Jungen im Wettlauf. Wie aufgezogene kleine Automaten rasten ihre weißen Gestalten über das Grün der Fläche. Bisweilen trug der Wind, halb zerpflückt und spielerisch entstellt, die hellen Schreie, mit denen sie sich gegenseitig zu höchster Leistung anfeuerten, bis hinüber zum Hauptgebäude.

Am Portal dort standen ein paar der größeren Schüler diskutierend beisammen. Es waren solche, die in den nächsten Wochen schon die Reifeprüfung bestehen und dann fort, in die großen Städte und, aus dem pädagogischen Frieden des Erziehungsheimes hinaus, in den Betrieb des Lebens sollten. Sie dachten viel nach, und sie sprachen auch viel unter sich über das, was nun würde. Mancher von ihnen hatte ein Ziel, das erreicht, ein Ideal, das verwirklicht sein wollte, und sie liebten es, das, was ihnen zeitig und notwendig schien, den Andersgesinnten mit schwungvollschönem Wort zu preisen. Manche freilich schwiegen auch still.

«Wunderbar ist es», rief jetzt der eine, der Wandervogel war und mit Enthusiasmus schwur auf die Regeneration, auf die «neue Epoche» und am begeistertsten auf die «Überwindung der décadence», «schön ist es ja wohl, wenn man's weiß, welche Rolle man spielt in der Geschichte der Welt – wenn man's gefühlt hat, zutiefst begriffen, daß man gestellt ist an die Wende der Zeit – daß man erwählt, berufen ist, zusammenschaffend mit Kameraden und Genossen, das Alte umzugestalten zum kraftvollen Neuen.» Er hatte die Eigenart, bei jedem Wort fast sich das dunkle Haar, das strähnig in die braune Stirn hing, mit einer kurzen, leidenschaftlichen Geste zurückzuwerfen. Seine Bewegungen waren heftig, er reckte kindlich-rhetorisch den ganzen Arm, es war ein großes Leuchten in seinem Blick. Aber ein anderer unterbrach ihn, er hob ernst, wie zu einer Beschwörung, die Hand. «Sprich nicht von derlei!» sagte er langsam und sah strenge an ihm vorbei. «Wende der Zeit. – Was weißt du wohl davon? Du sprichst von der Regeneration und trägst leinene Kittel. Sei es darum, suum cuique. Sprich aber, ich bitte, von dem nicht, was mit dem Gesetze des Kosmos zusammenhängt. Daß die Zeit sich erfüllt hat und warum, wissen nur wir.» Er sah schräg aus dunklen, feuchten Augen zur Erde. Er schwieg still, wie solche schweigen, die möglichst aufdringlich bedeuten möchten, daß sie gar mancherlei noch zu äußern imstande wären. Er war Mitglied der anthroposophischen Gesellschaft. Über diesen Überfall an traurigster Verachtung war der Wandervogel ein wenig verdutzt zunächst und etwas eingeschüchtert. Aber er schüttelte bald den Kopf, er drohte sogar. «Ach», sagte er drohend, «das ist ja Unsinn – davon verstehe ich nichts. Und ob wir es wissen, daß heute das Neue erwacht. Wir bringen es ja am Ende. Wir sind's ja, zum Teufel.» Und er stand froh, lachend, gläubigen Herzens in seinem buntleinenen Kittel.

Junge Mädchen kamen aus dem Haus gelaufen. Es waren Wirtschaftsschülerinnen, sie trugen weiße und hellblaue Kleider. «Ihr philosophiert», lachten sie, «ach, ihr weisen, weisen Philosophen –», und sie liefen barfuß davon, in langer Kette, und sie schüttelten ihr weißblondes Haar. «Ach, ihr Klugen», höhnten die Entlaufenden, «ihr Neunmal-Gescheiten!» Und ihre hellen Gestalten verschwanden rasch um die Ecke.

Ein junger Mensch, der ungemein zierlich gekleidet war, hatte dem Gespräch des Wandervogels und des Theosophen über das Neue und über die Wende der Zeit unter mancherlei Äußerungen der Nervosität und der Ungeduld gelauscht. «Ach», sagte er endlich und schüttelte mehrmals heftig den Kopf, als ärgerten ihn unangenehme Fliegen, «wie ihr so sprechen möcht' –, daß ihr euch gar nicht ein bißchen geniert. Was macht ihr so gewaltigen Wesens mit eurem ‹Neuen›? Was wollt ihr denn nur? Das Neue», sagte der zierlich Gekleidete, und er machte viele spitze kleine Handbewegungen, im Drange den Zuhörern ein wenig doch verständlich zu werden, «das Neue ist nichts, als daß wir immer feinnerviger werden, auf jeden Farbton, jedes Geräusch, das uns trifft, immer schmerzlicher und immer lustvoller zugleich reagieren – der ganz logischen Entwicklung der Dinge zufolge wird das, was uns von der vorigen Generation unterscheidet, eine nicht neue eigentlich, eine ungeahnte differenzierte Art sein, das Weltbild in uns aufzunehmen – eine Art, mit der verglichen alles Frühere plump und wie geschmacklos erscheinen wird.» Er verstummte. Er hatte ein merkwürdig kleines Gesicht, und er lächelte traurig und spitzfindig über das sommerheiße Land. «Wir werden es nicht gerade leichter haben auf solche Art», begann er von neuem, «dafür kennen wir aber auch Wonnen, kleine, kleine süße Sensationen, mit denen verglichen Baudelaire plump, Wilde ordinär erscheint. Ich sehe zum Beispiel da Jungen spielen – das sah man früher nun auch, und man fand es gut und ganz recht so. Aber diese Farben da, diese Bewegung – dies Weiß, das wie ein Funke über das Grün springt – das macht mich wahrhaftig zittern am ganzen Leibe – ich leide so unter dieser Sensation, ich ergötze mich so intensiv an ihr, daß mir ganz einfach die Tränen in die Augen steigen – das ist aber das Neue –.» Der Wandervogel, dem vermutlich der Sinn des Gesagten wie auch der vielen kleinen Handbewegungen nicht so ganz klar geworden war, rief aus freudigem Herzen und während er erregt die Haare schüttelte: «Ich sehe Jungen spielen – daß sie aber spielen, daß sie ihres Leibes endlich wieder froh geworden, gerettet aus krankhafter Überzivilisation, wiedergegeben der großen Natur, heitere Träger einer neuen, strahlenden Ethik sein müssen – das, das ist das Neue!!» Und da er, hochatmend von seinem Bekenntnis, glückstrahlend still schwieg, klang schon, bedeutungsvoll umdunkelt, wie aus geheimnisvollen Tempelhintergründen die Stimme des jungen Theosophen: «Daß diese Knaben», verkündete er langsam, «ohne es freilich ahnen zu können, hingestellt sind in den dritten, großen Wendepunkt der Weltgeschichte, daß jeder von ihnen, un- und unterbewußt, für seinen kleinen, kleinen Teil dazu beitragen muß, das unabänderlich-kosmische Gesetz zu erfüllen – nur das ist das Wesentliche, nur hierauf kommt es wohl an –.»

Und dazwischen klangen, von der Wiese herüber, die Schreie der spielenden Jungen, die der Wind willkürlich verwehte.

Einer unter denen, die beisammen standen, schwieg still. Er dachte nach über das, was die anderen sagten. Er nahm alles entgegen, und er wußte es selbst nicht, was ihn so traurig machte daran. «Der eine», dachte der Schweigsame, «meint nun, die décadence sei prächtig abgetan und nackt, in strahlender Reinheit, nahe das Neue, getragen vom Fittich der Wandervogelbewegung. Der andere ist auch nicht eben bescheiden, fühlt sich eingeweiht in die dunkelsten Kulte, glaubt über unser aller Schicksal genau orientiert zu sein, ein Mitwisser um das Geheimnis des Kosmos – der Dritte muß weinen vor Angst und vor Freude, und eine pathologische Überverfeinerung des Nervensystems scheint ihm das Hauptziel der Zeit. – Wie uns doch seltsam ist – –.»

Der Wandervogel reckte und dehnte sich stark in der Sonne. Der Theosoph sah schräg und dunkel zur Erde, aus Augen, die ganz feucht waren vom großen Ernste. Der Zierliche fächelte und hatte viel damit zu tun, seine kleine hellblaue Krawatte zu ordnen. – So standen sie beieinander.

«Das ist doch seltsam», dachte der Schweigsame, «so gehen wir denn hinaus. – War es so sonderbar und kurios wohl immer bei denen, die vor dem Leben standen, wie's heute ist? – Wie vielgestaltet ihre Sehnsucht ist. – Und was soll nun daraus werden? – Es müßte einer ja da sein, in den sie alle mündeten, die Sehnsüchte und die Ziele. – Wie es um den dann freilich bestellt wäre – –?»

Der kleine Zierliche mit den gar zu sensiblen Fingerspitzen lächelte ihm plötzlich zu. «Du schweigst?» sagte er. «Ei, ja, ja – du denkst dir dein Teil – –.»

Die Wettläufer kamen im lautem Zuge von der Wiese her. Sie hatten kurze Sporthosen an, ihre Gesichter waren ganz braun gebrannt, wie weiß erschien das hellblonde Haar gegen die dunkle Haut. Schwatzend zogen sie weiter.

«Ob es wohl immer so seltsam war, unter den Jungen?» dachte der Schweigsame. «Wende der Zeit – Wende der Zeit – –. Wer schwach genug sein könnte, allen diesen Strömungen ganz sich hinzugeben, stark genug dann wieder, aus dieser Hingabe sich selbst zu gewinnen. – Wie wird das wohl enden? Wie denkt sich's der liebe Gott?»

Und plötzlich – die anderen waren zunächst ganz verdutzt – sagte er laut und sah sie der Reihe nach an: «Nun, irgendwie wird es schon werden –.» Und sie lachten alle mitsammen. Die einen, weil sie nicht wußten, was sein Spruch denn gemeint; er vielleicht nur, um der Trauer Herr zu werden, die in ihm groß geworden war.

So lachten sie laut an der Schwelle des Lebens.

Die Jungen

Denn es ist eine sonderbare Zeit,

und sonderbare Kinder hat sie: uns.

Hugo von Hofmannsthal

1.

Nach und nach hatten sich alle gesetzt.

Die Schüler saßen in einem weiten Halbkreis, der abgeschlossen wurde durch den langen Tisch, an dem das Kolleg der Lehrer und Lehrerinnen seinen Platz hatte. Den Mittelpunkt dieses Tisches bildete der Stuhl des Professors, der, ein wenig stattlicher als alle andern Stühle im Raum, gewichtig und thronartig erschien, schwer geschnitzt und aus dunklem Holz. Der Professor selbst war noch nicht anwesend, aber Frau Elsbeth, seine hagere Gemahlin, nahm bereits ihren Sessel ein, der rechts von dem des Professors stand. Sie streckte auf diese Weise, die ungehörig und allzu mondän für die Gelegenheit wirkte, ihre schmalen Rennpferdbeine in grauen Seidenstrümpfen von sich und tauschte zischelnde kleine Bemerkungen mit Dr. Fehr, der ihr anderer Nachbar war.

Die größeren Schüler saßen beieinander und spotteten.

Johann saß mit übereinandergeschlagenen Beinen, trug an seinen braunroten Negerlippen wie an einer kleinen Last und sprach, in seinem weichen, etwas gebrochenen Deutsch, gedämpft und eifrig auf Sibylle ein. «Daß du es nicht merkst, wie unwichtig das alles ist. – Was geht es uns an? Was hat es denn mit der Entwicklung der menschlichen Seele nur irgend zu tun?» Aber Sibylle saß ein wenig gebückt in ihrem schweren gestrickten Kleid neben ihm und antwortete mit einer entfernten kühlen Herzlichkeit, die zugleich beglückte und weh tat, während ihre braungoldenen Augen stille von ihm ab und dunkelnd durch den Raum glitten. –

Neben ihr saß Martha, die sehr schlicht gekleidet war und den unbedingten Eindruck erweckte, als ob sie nach Schweiß röche – was aber nur an der biederen Uneleganz ihres Auftretens und der plumpen Form ihrer Beine in den schwarzen Wollstrümpfen lag. Blaue tiefe Augen und braunes Haar, das schwer herabhängend ihr Gesicht umrahmte, machten sie fast schön. Zwar war ihr Gesicht reich an Pickeln und kleinen Unreinlichkeiten, aber dadurch schien sie sich nicht weiter behelligen zu lassen. – Adele brütete mit feuchten schwarzen Augen vor sich hin, war untersetzt und schwer, immer in trüben Nöten, immer in schwierigen Verwicklungen und tiefen Ängsten. – Der nächste war Harald. Er trug einen Leinenanzug von einem merkwürdigen Graugrün, gegen das die Haut seiner Wangen und seines Halses mattweiß schimmerte. Liebevoll und wie man zu einem Kinde spricht, redete er auf Maria ein, die in einem hellgrünen, kleingefalteten Kleide steif aufgerichtet und leicht zitternd neben ihm saß. Der letzte war Adolf. Er saß mit verschränkten Armen, ganz in sich zusammengekauert, das Kinn in den Hemdkragen vergraben, den er bis zum Halse eng zugeknöpft trug. Sein Haar war völlig kurzgeschoren. Marthas Augen ruhten auf seinen nackten, sehnigen Knien. Es geschah, daß sie dabei dem Blicke Sibyllens begegneten, der, im stillen Gleiten durch den Raum, eine Sekunde länger auf Adolf haftenblieb.

Ihnen gegenüber saßen die kleinen Buben, ließen ihre nackten braunen Beine baumeln und lachten.

«Siehst du, Sibylle», sagte Johann gedämpft, «unter allen Umständen war es falsch von Doktor Fehr, diese Schulgemeinde einzuberufen. In der Situation, in der wir uns befinden, kann es nur schaden, wenn an einer einzelnen ein Exempel statuiert wird. – Es bringt uns nicht weiter. An andern Stellen müßte angepackt werden. Liebe Sibylle», sagte er eindringlich, «die menschliche Entwicklung –»

Aber Sibylles braungoldne Augen glitten von ihm ab, dunkelnd durch den Raum. «Ja», sagte sie und hob leicht die eine Schulter. «Derlei bleibt peinlich –»

Harald sagte lächelnd zu der kleinen Maria: «Habe nur keine Angst. Den Kopf, weißt du, beißen sie dir nicht ab – –» Marias seltsam inhaltsleere, bläuliche, kleine Händchen, die so hilflos in ihrem Schoße lagen, rührten ihn so sehr, daß er sich herbeiließ, sie mit solchen Redensarten zu trösten. Sie schaute mit grauen, viel zu großen Augen gerade vor sich hin. «Nein, nein», sagte sie und lächelte mit ihrem kleinen entzündeten Munde.

Der Professor trat ein. Als allerletzter, wie der Dirigent an sein Pult tritt, wenn die Aufführung beginnen soll.

Adolf richtete sich langsam auf und sah ihn aus stahlblauen Augen durchdringend an, als wollte er ihn wägen, mit diesem Blick einen heißen, grimmigen Gerichtstag halten.

Sibylle ließ ihre stillen Augen auf ihm ruhen und lächelte ein wenig.

Johann betrachtete ihn von unten her, mit prüfendem Hundeblick.

Der Professor ging mit unklaren Augen an seinen Platz, behindert und gebückt unter den vielen Blicken. Seine Hände hingen schwer, rot und wohlmeinend aus den Manschetten.

Spott und Kritik lagen wie etwas Körperliches in der Luft.

Maria neigte sich einen Augenblick ganz nahe zu Harald hin. «Hör doch, wie mein Herz klopft», sagte sie, die Hand auf der Brust, und schloß für eine Sekunde tief die Augen. Aber Harald sah an ihr vorbei, zu den kleinen Jungen hinüber, die mit weit und ehrfurchtsvoll aufgerissenen Augen auf den Professor schauten. Da richtete sich Maria wieder auf, kerzengerade, und während sie mit ihren mageren Kinderschultern leicht erschauerte, lachte sie, leise und klingelnd, in die eingetretene Stille hinein, wie eine kleine, irre Silberschelle.

Der Professor hatte sich erhoben. Er stand in seinem uneleganten, schwarzen Anzug am Tisch und sah mit unklar gekränktem Blick in der Runde umher. Sein Gesicht war etwas dick, mit schweren Backen und einem kleinen blonden Schnurrbart.

«Trotzdem Doktor Fehr die Schulversammlung einberufen hat», sagte er langsam, während seine magere Frau lauernd die Augen über die Schüler wandern ließ, um die Wirkung seiner Worte zu erprüfen, «möchte ich vorher noch ein paar Worte an die Gemeinde richten.» Er sprach mit schwerer Zunge und etwas stockend, immer vor sich hin auf seine Hände blickend. «Noch nie ist es mir so schwergefallen, euren Kreis zu betreten, als heute. Der Fall, von dem wir nachher sprechen müssen, ist kein Einzelfall. Allerorten höre ich Klagen. Gerade die ‹Großen›», sagte er und hob jetzt den Blick, «wollen sich dem Sinne unserer Gemeinschaft nicht fügen, stehen in einer unfruchtbaren, verdammenswerten Opposition. Wißt ihr es denn nicht», rief er und hob ungeschickt rhetorisch die schwere Hand, «begreift ihr es denn nicht, worauf es hier ankommt? Daß ich euch in Freiheit erziehen will zur Selbstzucht, daß die Hauptmitgift, die ich der neuen Jugend, wie ich sie ersehne, mitgeben will, die Selbstverantwortung sein soll, das Wissen um das, was jedem einzelnen für sich gut ist und nützlich. Aber ihr seid ja keine Jugend. Oft kommt es mir vor, als hätte ich es gar nicht mit jungen, sondern mit ganz alten, seltsamen Leuten zu tun.» Die Großen lauschten ihm in tiefem Schweigen. Sie hörten zu, wie er ihnen, langsam und stockend, zuweilen überraschend und kindlich rhetorisch gesteigert, die Lehre von der neuen Jugend vorsprach, von der Regeneration, von der Überzivilisation des Westens, die erlöst sein will zur neuen, großen Kultur. Auf ihren Gesichtern regte sich kein Muskel.

Endlich brach der Professor ab. Es war, als habe er einen sehr wirksamen Schluß auswendig gelernt, aber nun versage ihm das Gedächtnis, und vorzeitig müsse er seine Rede enden. Noch einmal hob er die bäuerische Rechte, als wolle er, unter gewaltigen Anstrengungen, eine wuchtige Schlußpointe in den Saal schleudern. Aber es kam nichts mehr, er setzte sich nur, und sein Gesicht war ganz rot und verschwollen. Mit unklaren Augen sah er um sich.

Eine Pause entstand. Niemand regte sich. Nur Maria schauerte ab und zu leicht zusammen und lächelte irr mit dem entzündeten Munde. Adolf ließ seine Augen nicht vom Professor.

Plötzlich stand Dr. Fehr auf. Sein Altweibermund bebte vor Erregung. Er trug seinen hellen englischen Anzug wie eine Offiziersuniform, und herausfordernd sah er im Kreise umher.

Harald dachte daran, wie er hinterher, wenn solches Theater zu Ende war, zusammenklappen konnte. Weinend lief er dann von einem zum andern, und kläglich, mit zitterndem Munde, klagte er aller Welt sein unwürdiges Leid. Aber die haben es wohl auch nicht am leichtesten, dachte Harald, die sich retten müssen zu solchen Albernheiten. Adolf saß, seit der Professor seine traurige Rede beendet hatte, sehr steif aufgerichtet, eng eingeknöpft in sein Hemd – seine Hemden waren so häßlich, aus dickem rauhen Flanellstoff –, und beobachtete unter dicht zusammengezogenen Brauen den Doktor. – «Der kleine Napoleon», sagte er durch die Zähne hindurch.

Kleine Gekicher wurden laut. Maria erbebte plötzlich in einem hysterischen Lachkrampf. Das Kollegium überhörte es.

Dr. Fehr begann zu sprechen. «Lange schon wollte ich Einspruch erheben», sagte er scharf, «gegen das Unwesen, das eine der Schülerinnen unserer Gemeinschaft unter uns treibt. Ich spreche von Maria. Nicht nur, daß dieses Mädchen den Ideen gegenüber, die der Professor unter euch großziehen will und über die ich hier nicht debattieren möchte, als absolut aufnahmeunfähig sich erwiesen hat – sie verfehlte sich auch immer und immer wieder gegen die äußerlichsten Satzungen unserer Gemeinschaft. Nicht nur geht dieses Mädchen selbst niemals rechtzeitig zu Bett, nein, durch abendliches Geschrei stört sie die anderen. Fast regelmäßig erscheint sie zu spät zum Unterricht; ungemein liederlich sind ihre Schularbeiten angefertigt; träge und weichlich benimmt sie sich beim Sport. Kurzum – ihr Benehmen ist nicht derart», rief zornbebend der Doktor und schleuderte jedes Wort wie einen Hieb durch den Raum, «ihr Benehmen ist nicht so, wie wir es von einem Mitglied unserer Gemeinschaft fordern und erwarten dürfen. Ich stelle also einen Strafantrag», sagte er bebend und stand hochaufgerichtet mitten im Saal. «Ich stelle einen Strafantrag für drei Tage Stubenarrest.» Und während er sich schon setzte, fügte er noch mit einer Sachlichkeit, die sich mühsam beherrschte, zwischen den Zähnen hindurch hinzu: «Man kann zur Abstimmung übergehen.»

Maria blickte fröstelnd gerade vor sich hin. Harald sann still den Worten des Professors nach. Mit grüblerischem Hundegesicht überdachte Johann von allen Seiten den Sachverhalt.

Aber Adolf stand langsam auf und sagte mit einer seltsam belegten Stimme, während er mit runden brennenden Augen im Kreise umhersah, bis sein Blick auf dem Professor haftenblieb: «Ich bitte um das Wort.» Da niemand antwortete, begann er zu sprechen, langsam, ingrimmig und ohne die Augen von dem tieferrötenden Antlitz des Professors zu wenden. «Was Herr Doktor Fehr von der Disziplinlosigkeit sagte, bezieht sich, wie ich als selbstverständlich annehme, wohl nicht nur auf den Fall Marias, sondern letzten Endes auf uns alle.» Der Professor nickte ermunternd und wie bestätigend mit dem Kopf und wurde immer röter. «Ich weiß nicht», sagte Adolf und trug seinen kahlgeschorenen Kopf kerzengerade, «ob Doktor Fehr oder ob Sie, mein verehrter Herr Professor, imstande sind zu erfassen, worauf an sich geringfügige Symptome, wie eben diese sogenannte Disziplinlosigkeit, im Grunde zurückzuführen sind.» – Aber hier fuhr Dr. Fehr in die Höhe. Er zischte und speichelte vor Erregung. «Geringfügige Symptome?» fauchte er. «Mäßige deine Unverschämtheit! Wie willst du grüner Bursche – –?» Aber da eine Erregung, wie ein zitternder elektrischer Funke, durch die Reihe der Schüler ging, hob der Professor abschließend die Hand, lächelte bestürzt und sagte stockend, daß das wohl über das unbedingt Notwendige hinausginge. Adolf setzte sich starr und mit dicht zusammengezogenen Brauen. Man nahm die Abstimmung vor.

Drüben erhob sich ein kleiner blonder Junge. Er wurde dunkelrot bis zum Haar hinauf und sagte ganz leise: «Können wir sie nicht noch einmal laufenlassen?»

Alle lachten. Nur Dr. Fehr blieb sehr ernst und sah streng ins Leere. Maria lächelte auf ihre bläulichen kleinen Hände hinunter.

Harald hatte sich weit vorgebeugt. Plötzlich war eine tiefe und weiche Dunkelheit in seine Augen gekommen.

Als die Heiterkeit sich gelegt hatte, wurde der Professor, der aus Höflichkeit auch ein wenig mitgelacht hatte, wieder sehr ernst und ließ abstimmen.

Die Großen waren selbstverständlich alle für eine Freisprache Marias, bis auf Adele, die aus einem unergründlich dunklen Pflichtbewußtsein heraus gegen die eigene Freundin stimmte, die sie sehr liebte. Auch die kleinen Jungen wollten, daß Maria ihre Strafe bekäme. Sie selbst mußten ja auch rechtzeitig zu Bett gehen, und außerdem fanden sie Maria «affektiert». Der blonde Junge allein, der vorhin die erheiternde Bemerkung gemacht hatte, gab seine Stimme für sie ab. Er hieß Uto und war dreizehn Jahre alt.

Dr. Fehrs Antrag wurde mit einer kleinen Stimmenmehrheit angenommen.

Der Professor sah die Stimmzettelchen durch und sagte mit einem kleinen Triumph: «Ja, Maria, nun bist du verurteilt.» – Er lachte ein wenig, aber dann schickte er sich zu einer Moralpredigt an. «Ich hoffe», sagte er und stand wieder in seiner ungelenken Rednerpose am Tisch, «ich hoffe –» Aber da stand Maria auf und verließ mit kleinen trippelnden Schritten den Saal. Sie hielt ein zierliches weißseidenes Taschentuch vor den Mund gepreßt. – Eine große Unruhe ging durch die Schüler. Adolf schüttelte erregt den kahlen Kopf und machte kleine Bewegungen, die wie Schläge waren. Sibylle sah still und aufmerksam Dr. Fehr an, der schon anfing, in sich selbst zusammenzufallen. Adele schluchzte laut in ein großes rotes Taschentuch. Nur Harald regte sich nicht. Er saß ganz still – so still, wie man nur ist, wenn einem eine große Lust geschieht oder ein großes Weh oder beides in einem – und sah Uto an. Uto erwiderte fest seinen Blick. Mitten in der nervösen Erregung des Aufbruchs trafen sich tief ihre Augen.

Der Professor sagte nur: «Na –» und wurde wieder ganz rot. Dann löste er die Schulgemeinde auf.

Die Schüler drängten ins Freie. Als Sibylle an Dr. Fehr vorbeiging, sagte sie mit ihrer dunklen, klingenden Stimme: «Nun, Herr Doktor, das war ja sehr sympathisch, wie Sie sich vorhin benahmen.» Dr. Fehr starrte ihr entsetzt ins Gesicht. «Wieso», sagte er, und sein Gesicht verfiel ganz vor Angst. Aber sie ging kühl und fremd davon. Sie hatte merkwürdig magere, knabenhafte Arme. Dr. Fehr sah ihr fast weinend nach. «Wieso», sagte er noch einmal, ohne daß Sibylle es noch hören konnte. «Wieso meinen Sie das?» Dr. Fehr liebte Sibylle.

Draußen sprach Harald leise mit Uto. «Ja», sagte Harald, und seine Stimme war ein wenig verschleiert, «da möchte ich wohl gern einmal hinkommen, wo du wohnst.» – Uto sah lachend zu ihm hinauf. Er hatte überraschend große blaue Augen mit ganz schwarzen Brauen und Wimpern zu seinem hellblonden Haar. Er trug einen hellgrünen Leinenanzug mit roter Borte am Halsausschnitt. «Ich denke mir euer weißes Haus so hübsch», sagte Harald. «Und die Mutter reitet am Morgen also spazieren?» – «Mit Großmutter zusammen reitet sie», sagte Uto und schüttelte sich das Haar aus der Stirne, das ihm in hellen Strähnen ins Gesicht fiel. «Oh, Großmutter ist eine kluge Frau, Großmutter ist schrecklich klug.» Harald wandte sich zum Gehen. Er pfiff eine kleine süße Melodie und ging langsam davon. Er hatte etwas von einem Jüngling aus der Zeit der Renaissance, wie er, in nicht ganz gerader Haltung, die Augen seltsam verschleiert und grau gekleidet, seines Weges ging.

Er wollte noch zu Maria.

2.

Draußen auf der Landstraße vorm Haus standen die Großen beisammen. Maria fehlte, auch Adele und Harald, die bei ihr sein mochten.

Es begann zu dämmern. Weiße Nebel stiegen über den Wiesen auf, die sich weit und stille vor den Schulgebäuden ausdehnten. Ein leichtes Frösteln ging durch die Bäume, die sich zu entlauben anfingen. Vom Dorfe her läuteten Glocken durch den einbrechenden Abend.

«Wie kühl es schon ist», sagte Sibylle leise. Sie hob leicht die Schulter. Adolf stand gerade aufgerichtet mit hochgeschlagenem Hemdkragen und verschränkten Armen. Sein Blick forschte heiß und ruhelos über die weiten, dunkler werdenden Wiesen.

Johann, der einen häßlichen Gummimantel angezogen hatte, weil ihn fror, grübelte mit feuchtem Hundeblick der Entwicklung der menschlichen Seele nach, dem, was nebensächlich war, und dem, was wesentlich. Johann neigte der Anthroposophie zu, und die Bildung seines Seelenlebens beschäftigte sehr seine Gedanken. Braun und mager wuchs sein Hals mit dem stark hervortretenden Adamsapfel aus dem Klappkragen des grauen Gummimantels. An einem breiten Riemen trug er in einem ledernen Etui ein Fernglas um den Hals hängen.

Martha lehnte still und schlicht an der Mauer in ihrem blaukarierten Leinenkittel und sah Adolf an.

So standen sie beieinander.

Adolf zog die Brauen zusammen und sagte wütend: «Die ganze Schulgemeinde über wünschte ich heute eine Handgranate bei mir zu haben, um sie auf diesen Herrn, diesen Professor schleudern zu können. – Was will er?» rief Adolf, «was will dieser Herr von uns, was sollen uns seine Redensarten?» und zuckend hob er die Hand wie zu einem Schlage.

Sibylle lachte leise und dunkel vor sich hin.

Im Hause begann jemand Klavier zu spielen. Es war Griegs Walzer in a-Moll. Sibylle wiegte leicht den Kopf nach dem Takte der Melodie. Schmal und schön stand sie mit ihren Knabenarmen in der Dämmerung.

Aus den dunklen Fenstern tönte Lärm. Da balgten sich die kleinen Jungen, und in unentwirrbaren Knäueln wälzten sie sich auf der Erde. Eine magere Lehrerin trat aus dem Haus, den Zwicker auf der spitzigen Nase, und lief mit trippelnden Schritten die Landstraße hinunter dem Dorfe zu.

Adolf sah wie scharf nachdenkend von einem zum anderen. Er hielt den Kopf ein wenig schief und sagte ganz langsam, jedes Wort betonend, während sein blutigroter Mund sich schief verzerrte: «Ja, ja – wir Jungen – –»

Die anderen standen regungslos in der Dunkelheit.

Johann wollte augenscheinlich etwas sagen. Mühsam regte er den schwerhängenden Mund. Aber Adolf kam ihm zuvor. Er verneigte sich halb vor Sibylle, und mit einer Stimme, als wolle er sie verspotten, sagte er: «Gehen wir noch ein wenig spazieren, meine Holde?»

Sibylle war burschikos, aufgeräumt und laut. «Warum denn nicht, mein Sohn», rief sie und lachte. Sie wandte sich noch leichthin an Johann: «Wolltest du nicht gerade etwas sagen?» fragte sie ihn. Aber Johann blickte bekümmert und schief zur Erde. «Ich wollte dich um dasselbe bitten», sagte er leise.

Sibylle ging mit Adolf in das Dunkel hinein.

Martha neigte still das Gesicht.

Johann grübelte in seinem unschönen Gummimantel vor sich hin.

Sibylle plauderte entfernt und lachend an Adolfs Seite. Sie erzählte Anekdoten, sie ahmte Bekannte nach, und zuweilen verstellte sie ihre Stimme, so daß sie ordinär und quiekend wurde. Sie sang auch unanständige kleine Couplets, wobei sie zum Takte mit den Fingern schnalzte, so daß es wie Kastagnetten klang. Aber dazwischen schwieg sie auch und ging still neben ihm her mit ihren rührenden Armen. Es war, als müsse sie sich zu all den Kunststückchen, zu den Couplets sowohl als zu der Fremdheit ihres Schweigens, retten, aus Angst, der andere könne gar zu nahe an sie herankommen. Was in ihr Sehnsucht war, verbarg sich unter solchem Spiel und solchem Schweigen. So gingen sie nebeneinander, und jeder war allein. Adolf sprach wenig. Er hatte die Hände tief in die Taschen vergraben. Er trug den Kopf aufrecht. Mit zusammengezogenen Brauen schien er über allerlei nachzusinnen.

Sie standen auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe und blickten sprachlos über das dunkle Land. Mit vielen kleinen Lichtern glänzten die Gebäude der Schule.

Plötzlich sagte Adolf, und sein Mund verzerrte sich: «Ja – ich gehe jetzt noch zu Martha.» – Und er lief rasch und grußlos den Hügel hinunter.

Sibylle sah ihm mit dunkler werdenden Augen nach. Als seine enteilende Gestalt verschwunden war, senkte sie nur den Kopf. Ihr schweres braunes Haar lastete auf ihr wie eine köstliche Krone. –

Adolf trat, noch keuchend vom Lauf, in Marthas Zimmer. Hier war es sehr sauber aufgeräumt und roch nach Feldblumen. Martha saß still am Fenster und sah dem Eintretenden durch das Halbdunkel entgegen. «Guten Abend», sagte sie. Adolf stand hochaufgerichtet mitten im Zimmer. Ein Zittern lief seinen ganzen Körper hinunter.

Sie aber stand auf und kam ihm entgegen. Beim Gehen schwankten die schweren Brüste unter dem Leinen des Kleides. Schlicht und schön war ihr Gesicht, gerahmt von den hängenden Zöpfen. Wie im Traume griffen seine Hände nach ihr. Es war, als suchten sie tastend einen Ruhepunkt. Sie hatten beide, mitten im dunklen Zimmer sich gegenüberstehend, die Augen tief geschlossen.

3.

Harald trat ins Zimmer, wo Maria und Adele zusammen hausten. Es bot einen seltsamen Anblick. Tische, Stühle, Betten und der ganze Fußboden waren bedeckt mit Kleidungsstücken aller Art, mit Bildern, Büchern, spitzenbesetzten Seidenhemdchen, und in der Mitte des Zimmers stand groß und gähnend ein offener schwarzer Koffer. Adele lief mit großen, feuchten Augen hin und wider und warf planlos, wie in einer Angst, alles, was ihr in den Weg kam, in den Koffer hinein. Sie stapfte auf dicken Sohlen durch das Zimmer, und ihre Stirne war umwölkt von allerlei tiefen und unergründlichen Sorgen.

Zwischen all dem Wust saß Maria am Schreibtisch über ein Telegrammformular gebeugt, den Kopf in die Hände gestützt. Sie trug ein zierliches rosa Ballettkleidchen, sie hatte sich die Beine weiß gepudert, und das etwas spärliche Haar hing ihr in wirren Löckchen um das geschminkte Gesicht. Harald blieb an der Schwelle stehen und lachte. «Hier sieht es ja amüsant aus!» sagte er und trat zu Maria hin.

Maria wandte sich und reichte ihm das Telegrammformular. Harald las: «Komme sofort nach Hause. Bin in beleidigender Weise in Schulgemeinde wegen Kleinigkeit bestraft. Eure tiefunglückliche Maria.» Und darunter hatte Adele noch geschrieben, damit es mehr Eindruck mache: «Die arme kleine Maria muß unbedingt fort von hier.»

Harald lächelte nicht. Er stand ganz still, während Maria ihn mit ihrem bebenden Munde fragte: «Ich habe doch recht so gehandelt, nicht?» Harald antwortete nur leise. «Ja, ja», sagte er und schien nachzudenken.

Da fing Maria an zu weinen. Sie warf sich über den Tisch und wurde ganz geschüttelt vom Schluchzen. Harald sah auf ihre mageren zuckenden Schultern herab, die sich, weiß gepudert unter der rosa verschlissenen Seide, zusammenzogen. «Ach», schluchzte sie, «es ist so furchtbar. – Ich weiß ja selbst nicht, warum. – Nun muß ich also auch von hier weg. – Und niemand mag mich auf dieser Welt.» – Sie richtete sich auf. Ihr geschminktes kleines Gesicht war tränenüberströmt. Wirr umhingen es die spärlichen Locken. «Andere haben doch ihre Eltern», sagte sie und lachte ohne Anlaß silberig und irr. «Aber meine Eltern sind auch so widerlich. Dein Vater, den denke ich mir angenehm», wandte sie sich plötzlich an Harald, «deinen Vater möchte ich gerne kennenlernen. Ist er – ist er auch so wie du?» sagte sie und lächelte ihm heiß und kokett entgegen. Harald senkte den Kopf. «Mein Vater», sagte er ganz leise, «ist ein sehr geachteter Mann.» – Haralds Vater war hoher Offizier. «Mein Vater», sagte Harald noch leiser, «liebt mich nicht sehr. Er hat es so leicht, abzulehnen.» Aber er brach ab und senkte nur tiefer noch das Gesicht. Adele stand nahe bei ihm. Sie trug eine Porzellanschale in der Hand, und Harald bemerkte plötzlich mit einem Seitenblick, wie dick und unangenehm muskulös ihre Arme waren. Sie war gepreßt und unglückselig, erfüllt von dunklen und traurigen Konflikten, erfüllt vor allem von einer großen Liebe zu allem, was lebte, die sie unterdrückte und die sich Luft machte in feuchter Schwermut.

Harald sah sich im Zimmer um. «Es ist gut, daß du dich rasch zur Abreise entschlossen hast. Wann willst du fahren?» – «Heute abend noch», sagte Maria, als sie aufgestanden war. «Aber jetzt tanze ich dir noch vor.» Ihr Tränen waren getrocknet. Sie stand geziert und lächelnd nahe bei Harald. Mit vielen kleinen und nervösen Gesten ordnete sie ihr Haar. «Was – du willst noch tanzen?» sagte Harald, «und mußt dich doch gleich zur Abreise fertigmachen.» – «Oh», meinte Maria und schüttelte lachend ihr Haar, «einmal mußt du mich noch tanzen sehen.» – Sie war geschäftig. Sie lief eilig umher; das Licht mußte verdunkelt, Parfüm gesprengt werden. Ein kleines Reisegrammophon wurde herbeigeschafft. Fiebernd wählte sie unter den Platten. – «Ich tanze einen Boston», sagte sie, während Adele das Grammophon aufzog. – Dann stand sie ganz still und leicht zitternd mitten im Raum, während das Grammophon, süß und gezogen, die ersten Rhythmen laut werden ließ. Es roch sehr stark nach Parfüm. Harald hielt die Augen halb geschlossen. Dann begann Maria zu tanzen. Sie zierte sich lächelnd, sie warf kleine Handküsse und wußte nicht, was sie mit ihren armen bläulichen Händen anfangen sollte. Kokett warf sie die weiß gepuderten Beine. Neckisch und mit spitzen Fingern hob sie das rosa Gazeröckchen. – Adele atmete schwer im Hintergrund. – Maria aber sah beim Tanzen nur Haralds Gesicht, das still und weiß im Dunkel stand. Die Nase sprang etwas stark hervor. Das Haar war von unbestimmter Farbe, merkwürdig aschblond, mit einem Stich ins Graue, fast Grünliche. Es neigte dazu, in weichen Strähnen in die Stirne zu fallen. Maria glaubte, daß sein Mund ihr zulächle.

Sie brach den Tanz plötzlich ab. Mit fröstelnden Schultern stand sie mitten im Zimmer. «War es schön?» sagte sie und schüttelte lachend ihr Haar. Adele zündete Licht an. Blinzelnd stand sie an der Türe. «Aber jetzt müssen wir packen», sagte sie mit gepreßter Stimme. Maria meinte, daß sie sich erst umziehen wolle. Harald fragte, ob er gehen müsse, aber sie entschied, er könne ja ans Fenster treten. Er stand am Fenster und blickte in die Nebel des Herbstabends. Er pfiff leise die Melodie, auf die Maria getanzt hatte. Draußen spielten die kleinen Jungen noch Schlagball bis zum Abendessen. Man hörte ihre sich überschlagenden Schreie, ihren enthusiastischen Lärm durch das feuchte Halbdunkel des nebligen Abends. Harald sah, wie Uto spielte, und stand regungslos am Fenster, um ihm zuzusehen. In seinen Augen war jenes Dunkel, süß und unergründlich. – Als Maria ihn anrief, hörte er nicht, wandte sich ihr erst, als sie ihn von hinten neckisch in die Schulter puffte, zu und war auch dann noch nervös und verwirrt.

Maria hatte jetzt ein graues, hochgeschlossenes Reisekleid angelegt mit einer schmalen hellroten Borte am Halse. «Ach», rief sie und schlug silberig auflachend die Hände über dem Kopf zusammen, «ich bin unendlich aufgeregt. – Was wird Mama sagen? Mama schreit vor Schrecken. – Wenn ich ankomme, wird sie zunächst wahnsinnig. Die Frau wird wahnsinnig», rief sie lachend in das chaotisch unordentliche Zimmer hinein, während Adele ihr in den Mantel half. «Du mußt ja weg», bat sie die Freundin gepreßt. «Maria, du versäumst uns noch den Zug.» Und sie strich ihr liebevoll den Kragen glatt. Maria stand in ihrem Reisemäntelchen, einen schwarzen Kapotthut tief in die Stirne gedrückt, mitten im Zimmer und redete fortwährend sinnlos und mit zitterndem Munde. «Ihr bringt mich natürlich an die Bahn», sagte sie und knöpfte ihren Mantel zu, «daß ihr zu spät zum Abendessen kommt, schadet wohl nichts weiter. Grüßt den Professor von mir. – Ich verabschiede mich von niemand. Sie waren ja alle zu abscheulich zu mir.» – Tränen stiegen in ihre Stimme. Plötzlich beugte sie sich über Haralds Hand, und während er ihren heißen kleinen Mund für eine Sekunde auf seiner Haut brennen fühlte, flüsterte sie: «Ach, Harald, daß ich weg von dir muß.» – Harald spürte, wie ihre Tränen heiß über seine Hand flossen. Es war ein warmes salziges Bad. Er blickte über ihren zerzausten zuckenden Kopf hinaus, wie in eine weite Ferne.

Dann gingen sie zu dritt die Landstraße hinunter. Adele zog keuchend in einem lärmenden Leiterwagen den Koffer hinter sich her. Maria sah Harald von der Seite an, wie er im weißen Herbstnebel neben ihr ging. Mit einem kleinen Schrecken konstatierte sie bei sich, daß Harald sich schminke. Der Mund war von einem tiefen künstlichen Rot. Er muß Schreckliches erlebt haben, dachte sie, während sie in ihrem Kapotthut neben ihm hertrippelte. Auf halbem Wege begegnete ihnen Adolf. Er kam die Landstraße hinauf und strebte der Schule zu. Martha war bei ihm. Adolf erweckte einen merkwürdig betrunkenen Eindruck. Seine Augen flackerten wie in einem trockenen harten Feuer. «Ach», sagte er, als er Marias ansichtig wurde, «das süße Viehchen, unser Mariechen.» Seine Zunge lallte. Aber da er den Koffer bemerkte, wurde er plötzlich von einem clownhaft-starren Ernst, er zog die Brauen dicht zusammen und sagte, jedes Wort nachdrücklich betonend: «Du reist? Ich wünsche dir alles Glück. Ich hoffe, daß wir uns wiedersehen werden.» Er gab ihr die Hand, während er sich halb seitlich vor ihr verneigte und ihr, zerstreut zugleich und übermäßig konzentriert, tief ins Auge blickte. «Ich hoffe es», wiederholte er langsam. «Es war doch schön, daß wir alle hier so beieinander waren.» Maria dachte, daß sein Kopf etwas von einem Totenschädel an sich habe, wie er so nahe und starr mit den tiefliegenden Augen und den weißen eingefallenen Wangen im Nebel vor ihr stand. Der Mund schien wie etwas nachträglich und künstlich Aufgesetztes, viel zu rot und viel zu blutig in diesem Gesicht. – Maria schloß die Augen und lächelte fremd und süßlich. Dann trennten sie sich. Martha hatte während des ganzen Vorgangs still und ohne sich zu regen im Dunkeln gestanden. – Keuchend zog Adele nun wieder an ihrem Leiterwagen.

Am Bahnhof gab es die schlimmsten Komplikationen, bis das Billett gelöst war und der Koffer aufgegeben. Adele bewährte sich trefflich und hantierte mit muskulösen Armen am Gepäckschalter.

Währenddem saß Harald bei Maria, die herzzerbrechend in ihr Spitzentüchlein schluchzte. «Ach, ach», flüsterte sie immer nur unter heißen Tränen, «ach, ach, ach.» –

Aber Harald saß neben ihr und tröstete sie. «Weine doch nicht», sagte er, «wir sehen uns ja bald wieder. Ich besuche dich, weißt du, und dann reisen wir zusammen. Wir fahren nach Paris, und dann tanzt du. – Du tanzt öffentlich auf den Boulevards und hast ein Kleidchen an aus meergrüner Seide. Der Präsident der Republik kommt selber in einem goldenen Frack und schenkt dir unwahrscheinlich schöne Schmuckgegenstände. – Liebe Maria, weine doch nicht. – Wir reisen nach Rom und besuchen den Papst. Der Papst sitzt alt und prächtig in seinem Vatikan, er segnet uns beide, erst dich und nachher auch mich.» –

Der Zug brauste um die Ecke. Männer trugen Marias Gepäck über den Perron. Adele trat gepreßt und mit feuchten Augen zu der Weinenden und zu dem, der sie tröstete. Sie sagte düster, daß Maria einsteigen müsse, nur zwei Minuten habe der Zug Aufenthalt.

Maria schluchzte krampfhaft in ihr Tüchlein. Liebevoll half ihr Adele beim Einsteigen ins Kupee.

«Der Papst hat eine goldene Krone», erzählte Harald ins Dunkle hinein. «Immer sind viele junge Mönche bei ihm.» –

Maria stand hochaufgerichtet am Kupeefenster. «Adieu», rief sie, «liebe Adele, ich danke dir auch für alles.» –

Langsam setzte der Zug sich in Bewegung. Und wie zu einem letzten Aufschrei neigte Maria sich weit aus dem Fenster. Aber sie brachte kein Wort mehr hervor und sah nur, während eine seltsame Verzerrung auf ihrem Gesicht vor sich ging, aus dem davonfahrenden Zuge zum letztenmal Harald an.

Dann verschwand der Zug um die Ecke.

Harald und Adele standen still am Perron nebeneinander. Harald sagte leise und als entführe ihm etwas, was er nicht hatte aussprechen wollen: «Ja, jetzt stirbt sie wohl bald.» – Aber, als fühle er die Pflicht, seiner Nachbarin etwas Liebenswürdiges zu sagen, wandte er sich höflich und lächelnd an Adele, die klein und gedrungen neben ihm stand. «Wir sehen uns doch noch ab und zu, auch jetzt, wo Maria nicht da ist?» sagte er und neigte sich mit einer leichten Verneigung zu ihr hinunter. Aber sie empfand nichts als den dunklen Drang, diesen Knaben da neben ihr innig in die Arme zu schließen und seinen Leib, seinen ganzen Leib, mit tastenden und greifenden Händen zu streicheln.

Sie hob den feuchten Blick zu ihm. «Ach, wozu?» sagte sie leise.

4.

«Wir sind nicht auf der Welt, um uns zu freuen, sondern um das Gute zu tun», sagte der Professor. Dann setzten sich alle, wobei sie laut mit den Stühlen scharrten. Vor dem Essen pflegte hier ein ernster Spruch gesagt zu werden, eine Art weltliches Tischgebet.

Es gab ein ziemlich unerfreuliches Nudelgericht. Überhaupt schien die Stimmung eher gedrückt. Das Wachstuch, das den Tisch bedeckte, war klebrig und schmutzig. Statt des Porzellans benützte man etwas beuliges Blechgeschirr.

Sibylle saß oben beim Professor, sie aß wenig und sah mit dunklen Augen durchs offene Fenster in die Nacht hinaus. Ihr gegenüber saß Dr. Fehr, der krank und verfallen aussah, und sah sie die ganze Mahlzeit über mit sehr traurigen Augen an. Er hatte wohl schlimme Stunden hinter sich. Das Buch, an dem er schrieb, wollte nicht vonstatten gehen. Lange quälte er sich so in unfruchtbaren Kämpfen. Mit zitterndem Munde und wehleidigen Augenaufschlägen erbat er sich dann Hilfe bei Sibylle. Aber sie verhielt sich dunkel und unnahbar.

Unten am Tische erklärte Johann der mageren Lehrerin die Grundregeln der Anthroposophie. «Glauben Sie an ein Fortleben im Jenseits?» fragte er und sah sie ernst aus seinen Hundeaugen an. «Nun, dann hätten wir also das Wesentlichste. Es handelt sich beim Ganzen um die Fortentwicklung der menschlichen Seele nach dem Tode.» –

Haralds und Adelens Plätze waren leer. Auch Adolf und Martha waren nicht zum Essen gekommen. – Der Professor zeigte einen fast beunruhigenden Appetit. Stumm löffelte er in sich hinein, und sein Blick war getrübter denn je. Er mochte über die Regeneration und die neue Jugend nachdenken.

Als die Mahlzeit schon fast zu Ende war, kamen Harald und Adele. Sie gingen, wie es Sitte war, zum Professor, um sich zu entschuldigen, und Adele sagte, tief zu ihm hinabgebeugt, so daß ihr Atem unfrisch seine Wange berührte: «Wir haben die kleine Maria zur Bahn gebracht.» Der Professor fuhr auf. «Was?» rief er. Er kaute gerade an einem großen Bissen. «Ja», sagte Adele, «sie ist fort.» Der Professor wandte sich um. Hinter ihm stand Harald. Er sah an ihm vorbei und unterhielt sich leise mit Sibylle über des Professors Kopf hinweg. Der Professor wurde rot vor Ärger. Sein Gesicht schwoll an, und seine Augen verkleinerten sich. «Setzt euch», stieß er hervor, «wir sprechen uns später noch.»

Sie saßen still und schweigsam beieinander und aßen. Sie waren wie junge Mönche, wie Mitglieder eines frommen Konvents. Der Speiseraum war dunkel und schlicht getäfelt. Kleinere Jungen bedienten und liefen schmal und eifrig mit den großen Schüsseln umher. Hinter den offenen Fenstern stand die Nacht. Stumm und mit rotem Kopfe kaute der Professor. Johann sprach leise von Christus und den Theosophen.

Man stand bald auf. Als die Schüler schon anfingen, den Speisesaal zu verlassen, kamen Adolf und Martha von draußen herein. Marthas Haar war verwirrt. In schweren Flechten hing es um ihr Gesicht. Ihr Blick war verschleiert.

Sibylle stand noch mit gesenkten Augen am Tisch und spielte mit ihrer Silberkette. Dr. Fehr schien erregt auf sie einzureden. Johann stand mit schräg geneigtem Kopf im Hintergrunde und wartete auf sie. – Adolf aber grüßte sie nicht, als er an ihr vorbei zum Professor ging. Der Professor war furchtbar zornig. «Was fällt euch ein», rief er und stampfte sogar mit dem Fuß. «Warum seid ihr nicht zum Abendessen erschienen?» Aber Adolf entgegnete ihm ruhig und während er ihn durchdringend ansah: «Wir waren spazieren.» – «Was heißt das», brauste der Professor auf, «gibt euch das ein Recht – – –?» Aber Martha sagte, und ihre verschleierten Augen machten, daß der Professor schamrot den Blick senkte: «Wir hatten es ja so nett.» – Und ehe der Professor zu Worte kommen konnte, fügte Adolf noch, weit vorgebeugt, so daß sein spöttisch verzogenes Pierrotgesicht dem Professor ganz nahe war, hinzu: «Auch erschien uns unsere Beschäftigung ersprießlicher, als in Ihrer Nähe Nudelgerichte zu verzehren.» Er trat, halb tänzelnd, einen Schritt zurück und wartete grinsend der Antwort. Der Professor war zusammengefahren. Angst kam über ihn angesichts dieser seiner Schüler. Er ist wahnsinnig, dachte er. So wie er sind nur Wahnsinnige. Er sagte rasch und mit unklaren Augen Adolfs Blick meidend: «Haltet euch vorläufig auf euren Zimmern. Ihr hört weiter von mir. Ab.» Die beiden zogen sich lächelnd zurück.

Dann winkte er Harald zu sich heran. Harald kam langsam, in seiner trägen, etwas schleppenden Gangart. Unwillkürlich fiel es dem Professor auf, wie kindlich sein Gesicht noch sei. Er stand ernst, in einer Art von hochmütiger Demut, vor ihm.

Der Professor fing an zu reden. Er sprach stockend, ohne hinreißen zu können, wie vorhin in der Schulgemeinde. Unverantwortlich sei Marias Benehmen, rücksichtslos gegen die Mutter, abscheulich in jeder Hinsicht. Noch schlimmer, ja geradezu verdammungswürdig müsse es genannt werden, einem so exaltierten, unzurechnungsfähigen Geschöpf noch beizustehen, ihm bei seinen unsinnigen Plänen hilfreich zur Hand zu sein. «Statt mir alles zu melden», sagte er, zornig werdend, «statt mir die fürchterlichen Gedanken dieses Kindes eilig anzugeben, auf daß ich imstande gewesen wäre, sorgsam wieder alles einzurenken – anstatt so zu handeln, sah es dir so recht ähnlich, aus deinem trägen Hochmut heraus, der nie an andere, sondern nur an das dir im Augenblick Genehmste denkt, selbständig jene Tat zu befürworten, womöglich die Törichte noch dazu anzustacheln, ohne zu bedenken, daß Maria selber am meisten wird darunter leiden müssen.» – Harald hörte ihm kaum zu. Er sah dieses rote erregte Gesicht vor sich, mit den trüben, verschwommenen Augen, und dachte nur das eine: Anders müßte der sein, der wirklich Führer sein könnte einer neuen Jugend. Der müßte wohl ganz anders sein. –

«Was würde dein Vater dazu sagen?» rief der Professor. «Du weißt, daß ich mit ihm befreundet bin, wie soll ich ihm dein Betragen rechtfertigen?»

Da hob Harald den Blick und lächelte.

Und zum zweitenmal an diesem Abend erschrak der Professor. Angst ergriff ihn, und er atmete schwer. Was ist das für ein Gesicht? dachte er unter Keuchen. Künstlich und tiefrot lächelt der Mund – in weichen Strähnen fällt ihm das Haar in die Stirn. – Das ist eine Art von kindlicher Verderbtheit. – Zum Teufel, dachte er, als wolle er sich zornig auf den Boden der Tatsachen zurückversetzen, das ist ja ein Lustknabengesicht. Was, du lieber Gott, habe ich für Schüler – der eine ist wahnsinnig, der andere schminkt sich, und trotzdem er der Sohn eines Generals ist, könnte man ihn für etwas ganz anderes halten. –

Er sah in den Saal hinunter. Er hörte ein kleines französisches Mädchen girrend auflachen. Er sah, wie Uto schmal und mit dunklen Wimpern an der Mauer lehnte. Er sah auch Dr. Fehr mit bebendem Munde auf Sibylle einreden. Und wie verschleiert Marthas Augen gewesen waren. – Sie aßen schweigsam zu Abend wie die Mitglieder eines frommen Konvents. Aber sie waren also auch anders. – Ihm wurde heiß und schwindelig. Was habe ich angerichtet, dachte er, was ist aus der Schule geworden, die ich erträumte? Eine seltsame und gefährliche Mischung, eine Mischung aus Kloster und Bordell. Und dann ging er eilig davon. Mit schweren plumpen Schritten lief er aus dem Saal, wie ein ungeschickt Fliehender.

Drüben sagte Dr. Fehr zu Sibylle: «Wenn auch Sie mir noch verlorengingen – was bliebe mir dann noch zu tun? Ihre harmonische Ruhe allein kann mir helfen. Sie wissen es ja, wie schwer ein Künstler es hat. Wie konnten Sie mich heute morgen so kränken?» – «Ach», sagte sie und spielte immerzu mit ihrer Kette, «so arg war das ja nicht gemeint, Herr Doktor. Ich fand nur Ihre Rede ein bißchen unangenehm.» – Sie wollte niemanden kränken. Aber gar zu sehr zu erfreuen, das, glaubte sie, war anderseits auch nicht zu wagen für sie. «Wenn Sie heute abend noch zu mir kommen könnten», sagte der Doktor. «Das wäre so schön. – Ich koche Ihnen schwarzen Kaffee.» – «Ja», sagte Sibylle und lachte, «schwarzer Kaffee ist gut, aber ich werde wohl kaum Zeit dazu finden.» – «Sie wissen doch, wie gemütlich es bei mir ist», klagte der Doktor. «Mein Sofa ist da, und Lumpi ist da.» – Lumpi war sein seidiger Dackel, den er über alle Dinge auf Erden liebte.

Harald trat hinzu und sagte: «Wollen wir nicht noch ein bißchen zu Adolf hinaufgehen, Sibylle?» Sibylle bedachte sich und sah ernst vor sich hin. Dann lachte sie und sagte: «Dagegen spräche wohl wenig.» Und immer noch lachend, verabschiedete sie sich von Dr. Fehr. «Gute Nacht, Sibylle», sagte er und schüttelte mit Inbrunst ihre Hand. Er suchte ihren Blick, sie aber sah fort. «Es ist also alles wieder gut zwischen uns», fügte er gedämpfter hinzu und lächelte mit seinem Munde, der aussah, als wäre er zahnlos. Er hatte spärliches Haar, das sonderbar und wie Federn sich sträubte. – Johann nickte den Hinausgehenden trübsinnig zu.

Harald und Sibylle gingen nebeneinander die dunkle Treppe hinauf. Harald sagte wie nebenbei: «Adolf hatte eine so seltsame Art, mit dem Professor zu sprechen; der gute Herr war ganz erschrokken.» – «Ach ja», sagte Sibylle, langsam Stufe für Stufe hinaufschreitend und den Blick ihres Begleiters meidend. «Er war ja so lange mit Martha spazieren.» – Sie sprach weiter, als könnte sie sich durch Worte vor etwas schützen. «Früher stand er doch so gut mit dem Professor», sagte sie. «Aber so ist er wohl immer. Wütend wirft er sich auf die Menschen, als seien sie seine letzte Rettung, und dann – läßt er sie fallen.» – Harald dachte nur: Wie sie ihn lieben muß.

Sie kamen an der Tür zu Utos Zimmer vorüber. Drinnen sang Uto, und sie lauschten seiner Stimme, die sich bisweilen herb und schmerzvoll im Diskant überschlug. Es war ein altes Volkslied.

«Mein Ringlein ist zerbrochen,

Mein Freund ist lange tot»,

klagte die Stimme, knabenhaft hell sich brechend. Sibylle und Harald gingen langsam weiter.

5.

Sibylle und Harald traten in Adolfs Zimmer. Adolf saß in sich zusammengekauert auf der Fensterbank. Es war dunkel. Sibylle blieb an der Tür stehen.

Nach einer kleinen Stille sagte sie und lächelte: «Du hast Krach mit dem Professor gehabt?» – «Krach?» sagte Adolf, «wieso? Dieser Herr fängt an, mir gleichgültig zu werden.»

Sibylle sagte: «Übrigens wird er nach den Ferien hier oben doch wohl Schluß machen müssen. Von uns kommt ja keiner wieder.» Es war, als spräche sie nur, damit nicht wieder jene Stille auf sie käme. Harald sagte leise und mit einer vagen Geste, in der Verfall und Absterben war: «Ja – merkwürdig – alles bröckelt ab.» – Sibylle stand an der Tür und sprach, ohne daß jemand ihr antwortete, ins Dunkle hinein: «Was er dann wohl tun wird, wenn hier oben Schluß wird? Zum Selbstmord findet so einer den Mut nicht. – Man ist gläubig ans Leben aus Stumpfheit – weil man ein Tier ist, weil es bequemer ist, ‹seinem Ideal treu zu bleiben›, stumpfsinnig weiterzuwursteln.» Ihre Worte füllten klingend und tönend den Raum. Sie kamen prunkvoll daher, aber ihr Schall hielt nicht aus, bog sich, entweichend, im letzten Augenblick zurück.

Adolf saß schweigend in sich zusammengekauert. Wie ein Totenschädel schimmerte sein runder, weißer und kahler Kopf. Plötzlich hob er die Hand, wie zu einem Schlage. «Ich glaube», sagte er langsam, und sein Mund verzerrte sich, «ich glaube, es wäre vorteilhafter, wenn diese edle Jungfrau sich zurückzöge.» Sie schwiegen alle eine Sekunde ganz still. Sibylle regte sich nicht. Sie sah an Adolf vorbei und ins Dunkel. Dann wandte sie sich still und ging hinaus.

Adolf kauerte stumm und das Kinn in den Hemdkragen vergraben, als litte er Frost. Dumpf und belegt klang seine Stimme aus dem Dunkel. «Ja», sagte er, «so ist das nun – so gehen sie von uns. – Mit dir sollte ich es auch nicht anders machen», schrie er plötzlich Harald an, der weit von ihm entfernt stand. «Was bist du denn?! Was soll mir deine Wollust und deine Melancholie. – Du bist nichts, du bist nichts. – Du bist ein mißglückter Freudenjunge. – Du bist nichts, und wir alle sind nichts.» – Harald antwortete ihm nicht. Adolf sprach weiter, wie in einem Fieber. Sein unwahrscheinlich roter Mund stieß aus diesem weißen Gesicht wie ein blutiger Schalltrichter die Worte. «Deinen Vater», sagte er und zog die Brauen zusammen, «den möchte ich kennenlernen. Den denke ich mir gut und respektabel. Der dient dem Leben und dem menschlichen Staate, und so soll es sein.» – «Ja», sagte Harald leise, «der spart mit sich, der hat es wohl gut.» Aber Adolf richtete sich kerzengerade auf. «Ach was», sagte er und hob zuckend die Hand, «ich halte zu ihm.» Harald wandte leicht das Gesicht von ihm ab. «Dann wünsche ich dir Glück», sagte er. «Es ist schön für die, die zu ihm halten können; auch der Professor wird sich darüber freuen.» Adolf schüttelte zornig den Kopf. «Denn wir», rief er aus, «wie sind denn wir? Ich möchte es wahrhaftig wissen, wo unsere Berechtigung zu leben liegt. Wir sind zu zerrissen und zu traurig, um Gegenpol und Ruhehafen irgendwo zu finden. – Und wer die Ruhe nicht hat, der kann dem Leben nicht dienen. Und wer dem Leben nicht dient, der ist ruchlos und sollte sterben.» Er schleuderte wütend die Worte, seine Augen brannten sich heiß wie eine trockene harte Flamme in das Dunkel. «Der eine von uns wird wahnsinnig», schrie er, «der andere begeht Selbstmord, der dritte wird Lustjunge, der vierte ergibt sich der Anthroposophie.» Und wie in einer großen Erschöpfung sagte er nochmals: «Ich – möchte es – wirklich wissen, – wo unsere – Lebensberechtigung – liegt.» – Und Harald erwiderte ihm, nahe bei der Nacht am offenen Fenster stehend: «Aber einmal sterben wir doch – und daß man stirbt, das ist vielleicht schon genug ‹Recht zum Leben›.» – «Ja», sagte Adolf. «Und worauf es ankommt», fuhr der andere fort, «das Dunkelste, weißt du, das können wir ja vielleicht auch ahnen, denn wir haben ja die Liebe. – Und in der Liebe ist auch der Tod. – Ich glaube aber, wer die Erkenntnis des Todes hat, der hat auch die Erkenntnis des Lebens – hat sie besser vielleicht und tiefer als die Ruhigen und Würdigen, die dem menschlichen Staat dienen und dem Leben.» Adolf sagte noch einmal, fast tonlos diesmal: «Ja.» Es war, als wollte Harald noch weitersprechen. Aber er schwieg still. Er schüttelte den Kopf, und dann sah er wieder ins Dunkle hinaus. «Was willst du eigentlich einmal tun?» fragte Adolf plötzlich und sah ihn mißtrauisch an. «Ach», sagte Harald und lächelte, «die Welt ist weit. – Ich gehe ans Kabarett, ich spiele Theater, ich schreibe Gedichte. – Das Leben ist nicht langweilig, da ja immer der Tod an seinem Ende steht.» – Adolf ließ den Blick nicht von ihm. «Dein Vater würde das liederlich nennen», sagte er, und es war, als wenn er angestrengt nachdächte. Aber Harald sagte langsam und feierlich, wie ein Mönch das Bekenntnis seines Glaubens spricht: «Es wird entschieden werden dort drüben. – Gott wird entscheiden, wer von uns beiden recht hatte – er oder ich. Die Welt auf jeden Fall», fügte er hinzu und lächelte traurig, «die Welt entschied sich für ihn.»

Adolf gab ihm die Hand. Er reichte sie ihm, während er aufstand und sich halb seitlich steif und clownhaft-ernst vor ihm verneigte. «Gute Nacht also, schlaf schön. – Hübsch war es auf jeden Fall, daß wir uns alle hier oben getroffen haben, diese ganz seltsam-bunt zusammengewürfelte Gesellschaft. Jetzt reisen wir ja bald. Was dann freilich werden soll, weiß ich nicht.» – Er sprach langsam und feierlich, als kopiere er höhnisch einen Festredner. «Erinnere dich meiner», sagte er, «vergiß mich nicht. – Es sind derer sowieso nicht viel, die an uns denken. – Und was deinen Herrn Vater betrifft», und er ließ plötzlich mit einem Auflachen seine Hand fallen, «dein Herr Vater möge weiterhin seine Uniform in Würde tragen – mag er uns liederlich nennen – uns geht er nichts an.» – Und abrupt abreißend, wie das seine Art, sah er ihn noch einmal den Bruchteil einer Sekunde lang durchdringend an und wandte sich dann. «Gute Nacht», sagte er.

Harald ging hinaus.

Allein saß Adolf auf dem Rande seines Bettes. Seine Hände tasteten über das weiße Laken. Er hatte schmale bräunliche Hände mit einem spitz geschliffenen blauen Stein am Ringfinger der Linken. Sie suchten und tasteten.

Martha kam herein. Sie hatte ihr Haar gelöst. Mit gelöstem Haar und barfuß trat sie hin zu ihm. – Als er sie kommen sah, senkte er das Gesicht und weinte. Seine Augen füllten sich langsam mit Tränen, verschwammen ganz und wurden wie Kinderaugen, sie wurden wie die Augen eines blinden traurigen Kindes.

Martha streckte ihm beide Hände entgegen. Da griff er nach ihr und zog sie zu sich aufs Bett hinab.

 

Harald ging einen langen Gang hinunter. Im Hause war es ganz still. Gleichmäßig erklang Atmen hinter den geschlossenen Türen. An einer Türe blieb Harald stehen. Vor tiefgeschlossenen Augen erstand ihm für einen Augenblick die Vision all der Menschen, die in diesem Hause und um ihn lebten. Er sah sie wie weitgeöffnet, er sah ihnen bis auf den Herzensgrund.

Da war Maria und saß im dahinrasenden Eilzug, und ihr entzündeter kleiner Mund empfand nichts als die Sehnsucht nach dem seinen. Wirr und spärlich hingen Locken um ihr armes Gesicht.

Da war Sibylle und war herb und dunkel, erzählte lachend Anekdoten, damit der andere ihr nicht zu nahe käme, und neigte dann einsam das fremde Gesicht. Jetzt war wohl Johann bei ihr, um ihr von der Entwicklung der menschlichen Seele zu sprechen. Wie schwer er an seinen Lippen trug, wie feucht und bedächtig er von unten schaute. Viel lieber wäre es Sibylle gewesen, sie hätte allein sein können und schlafen.

Der Professor grübelte mit unklarem Idealismus an seinem Schreibtisch über die Regeneration und die neue Jugend.

Dr. Fehr rang mit seinem Buche und weinte bitterlich auf das Fell seines Seidendackels.