Mäßige dich! - Kurt E. Becker - E-Book

Mäßige dich! E-Book

Kurt E. Becker

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Beschreibung

Was hat die "Mäßigung", eine der vier Grundtugenden abendländischen Denkens seit Sokrates, mit einem guten Leben zu tun? Diese Frage beschäftigt den philosophischen Schriftsteller Kurt E. Becker schon seit vielen Jahrzehnten. Die Antworten in seinem neuen Buch überzeugen durch ihre Stringenz in Theorie und Praxis, reichen sie doch von der exemplarisch abschreckenden Maßlosigkeit eines Doktor Faust in Goethes gleichnamiger Tragödie über die Probleme mit der bürokratischen Regulatorik der einschlägigen Klimaverordnung in der Politik bis hin zu der Tatsache, dass eine Weltbevölkerung von zehn Milliarden Menschen eine neue Sicht auf unser aller Existenz nötig macht. Fraglos: eine erkenntnisreiche Lektüre mit großem praktischen Gewinn für die eigene Lebensführung!

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Dr. Phil. Kurt E. Becker, Jahrgang 1950. Studium der politischen Wissenschaften, Soziologie, Psychologie, Philosophie und Pädagogik in Freiburg / Breisgau und Stuttgart. Publizist, Autor und Herausgeber von mehr als 40 Büchern. Kommunikationsberater, Medien- und Executive-Coach von Führungskräften der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens. Initiator von Veranstaltungs- und Gesprächsreihen wie „Frankenthaler Gespräche“, „Futurion“, „Preis für humanes Bauen“, „PROM des Jahres“, „Bildungsinitiative Energie“, „ENRESO 2020“, „Andreasstift-Gespräche“. Zahlreiche Publikationen zum Thema „Corporate Communicative Responsibility“. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Du darfst Acker zu mir sagen, Roman, Landau, 1982 (als Taschenbuch: „Unerlaubte Entfernung“, Frankfurt a. M., 1985); Pais Paizon, Erzählung, St. Michael, 1982; Anthroposophie – Revolution von innen: Leitlinien im Denken Rudolf Steiners und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Frankfurt a. M., 1984 (1985, 1986, 1988, 2015); Der römische Cäsar mit Christi Seele: Max Webers Charisma-Konzept. Eine systematisch-kritische Analyse unter Einbeziehung biographischer Fakten, Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris, 1988; Charisma. Der Weg aus der Krise, Bergisch Gladbach, 1996; Der Charisma-Faktor. Glücklich sein mit Sisyphos, Frankfurt a. M., 2016; Als Paulus kam nach Stutensee, Bretten, 2018; Der behauste Mensch. Von vier Wänden und einem Dach über dem Kopf. Im Dialog mit 77 Persönlichkeiten von Aristoteles bis Stefan Zweig, Ostfildern, 2021; Die entkoppelte Kommunikation. Warum wir immer mehr wissen, aber immer weniger verstehen, Bretten, 2022; Behaust-Sein und Hausen. Ein mensch(heit)liches Dilemma: Apokalypse inklusive?, Bretten, 2022; Der Charisma-Effekt. Trump, Thunberg, die Folgen und der Klimawandel oder: Einfache Antworten in einer komplexen Welt? Bretten, 2023.

Kurt E. Becker

Mäßige dich!

Ein Selbstgespräch über das gute Leben: Das Allzeit-Alles im Allzeit-Jetzt?

LINDEMANNS

Für Hans Peter Schreiner

In memoriam einer Freundschaft

Medén ágan: Nichts im Übermaß

INSCHRIFT AM APOLLOTEMPEL ZU DELPHI

Jedenfalls ist es unleugbar, dass selbst für den Blick des einfachen Biologen nichts so sehr einem Passionsweg gleicht wie der abenteuerliche Weg der Menschheit.

PIERRE TEILHARD DE CHARDIN

So haben die Dinge der Politik im Abendland ein Extrem erreicht, in dem, weil jedermann den Verstand verloren hat, schließlich alle glauben, ihn zu besitzen. Nur daß dann der Verstand, den ein jeder hat, nicht der seinige ist, sondern der, den der andre verloren hat.

JOSÉ ORTEGA Y GASSET

Das allgemeine Leiden ist die Entfremdung von sich selbst, von den Mitmenschen und von der Natur, das Bewußtsein, daß uns das Leben wie Sand durch die Finger läuft, daß wir sterben werden, ohne gelebt zu haben, daß wir im Überfluß leben und doch ohne Freude sind.

ERICH FROMM

Inhalt

Cover

Titel

Eine Art von Vorwort

Eine Art Einleitung

Mein Selbst im Spiegel der Mäßigung

Das Allzeit-Jetzt

Das Allzeit-Alles. Oder: Darf’s ein bisschen mehr sein?

Der dunkle Ernst des Bevölkerungsproblems

Faust, der Maßlose

Kants vier Fragen

Mein „Es“ im Spiegel von „Ich“ und „Über-Ich“

Die Zehn Gebote

Verantwortung als Glücksprinzip. Oder: Sisyphos und das „Wir“

Der Geist des Internet

Governance des eigenen Selbst

Der Geist der Mäßigung in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik: ESG

Kranker Mensch auf kranker Erde

Amor fati. Oder: Nietzsches Übermensch und die ewige Wiederkunft des Gleichen. Ein Brief an Fritz

Editorische, biografische und bibliografische Notizen

Bibliografie

Namens- und Personenregister

Impressum

Eine Art von Vorwort

Mit dem Thema „Mäßigung“ schlage ich mich schon seit vielen Jahrzehnten herum – aus vielerlei Gründen, rein philosophischen und ganz persönlichen. In einer kafkaesken Welt der Maßlosigkeit suchte und suche ich nämlich nach Orientierung. Und das nicht erst seitdem wir hierzulande gelernt haben, über den Klimawandel und dessen Folgen zu „schwadronieren“. Den Begriff „schwadronieren“ wähle ich sehr bewusst, weil mir alles, was wir als Gemeinschaft der sogenannten „Ersten Welt“ faktisch und praktisch gegen das wohl nicht mehr wegzudiskutierende Phänomen unternehmen, wenig konsequent erscheint, und Änderungen auch in unserem persönlichen Verhalten eher rudimentär daherkommen. Diese Inkonsequenz betrifft demzufolge das Individuum und die Spezies in gleichen Maßen. Trotz aller moralischen Appelle, trotz aller politischen Interventionen, trotz aller bürokratischen Regulatorik, trotz aller wissenschaftlichen Forschungs- und Überzeugungsarbeit.

Auch ich hatte mich unlängst mit einer anmaßenden Aufforderung am Ende meines letzten Buchs mit dem Titel „Der Charisma-Effekt“ und einer radebrechenden Frage im Untertitel „Einfache Antworten in einer komplexen Welt?“ lauthals nicht zuletzt zu diesem Thema zu Wort gemeldet. Peinlich, peinlich. Denn eben zu einer einfachen Antwort hatte ich mich mit der bereits erwähnten Aufforderung verstiegen: „Gestalten wir die Mäßigung als elementares Lusterlebnis …“

Was ist mir „peinlich“ an dieser Aufforderung? Das „wir“ natürlich, nicht als Pluralis Majestatis zu Papier gebracht, sondern als eine Art halb garer Imperativ. Letztlich hätte ich nämlich genauso gut schreiben können: „Mäßigt Euch!“, den moralischen Zeigefinger in selbstgewisser Besserwisserei empor reckend. Dabei weiß ich doch, offen gestanden, gar nichts besser, plappere letztlich nur nach, was mir, wie mir scheint, respektive eingeredet wird, wissenschaftlich überzeugend präsentiert wird. Überzeugend? Na ja: „Und sehe, dass wir nichts wissen können“, um Goethes Faust zu zitieren, in ein Horn tutend mit Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“.

Ach ja, die Wissenschaft. Für mich ein Buch mit sieben Siegeln, auf Annahmen basierend und, folgen wir Karl R. Popper und seiner Wissenschaftstheorie, immer auch die Falsifikation ihrer eigenen Hypothesen und Theorien im Blick. Darauf wollte ich meine Aufforderung zur Mäßigung gründen? Eine Anmaßung meinerseits. Ganz fraglos. Deswegen nun die angemessene Reduktion auf mich selbst, mein eigenes Selbst: „Mäßige Dich!“ Ein Imperativ fürs Selbstgespräch. Aus Sorge um mein Selbst. Und aus Fürsorge für die anderen. In meiner Nähe. Und in der Ferne. Vielleicht zur Formulierung einer Theorie, auf jeden Fall zum Austesten des Möglichen in der Praxis. Nicht nur morgens nach dem Aufwachen beim ersten noch verschlafenen Blick in den Spiegel, sondern hellwach zu jeder Zeit und in jeder Lebenslage. Die Mäßigung als permanenter Prüfstand des eigenen Denkens, Kommunizierens, Schaltens, Waltens und Hausens in dieser Welt, - diese Welt, behaust zur nächsten Jahrhundertwende von zehn Milliarden Menschen, den Prinzipien der allgemeinen Menschenrechte folgend, alle mit den gleichen Rechten ausgestattet, nicht zuletzt dem gleichen Recht auf Wohlstand und Glück. Auf diesen, dem Anspruch nach ubiquitären Prinzipien gründet zumindest die in Teilen der westlichen Hemisphäre noch immer geltende Idee menschlichen Zusammenlebens. Diesen Prinzipien zum Trotz aber werden die Menschen in großen Teilen der Welt von Kriegen, Vertreibung und Hunger heimgesucht, menschengemachte Katastrophen also, zu denen auch der Klimawandel zu zählen ist, begleitet darüber hinaus von Naturkatastrophen von für die Betroffenen im Einzelfall apokalyptischen Dimensionen. Was heißt das alles für mich ganz persönlich? Für mein Denken, Kommunizieren, Verhalten und Handeln? Welche Auswirkungen haben diese Schreckensszenarien auf mein eigenes Leben? Wie gehe ich damit um? Wie kann ich meinerseits gegebenenfalls mäßigend auf diese Entwicklungen Einfluss nehmen? Wofür muss ich mich im Einzelfall verantwortlich fühlen? Und wie gehe ich mit dieser Verantwortung um?

Trotz aller real existierenden Schrecken verbinde ich den Gedanken der Mäßigung mit dem Anspruch des Lusterlebnisses und der Möglichkeit eines guten Lebens. Bestärkt in diesem Ansatz werde ich vom I Ging, dem Weisheitsbuch der Chinesen, dem ältesten seiner Art in der Menschheitsgeschichte überhaupt: „Nur ist auch in der Beschränkung Maßhalten nötig. Wollte man seiner eigenen Natur allzu bittere Schranken auferlegen, so würde sie darunter leiden. Wollte man die Beschränkung der anderen zu weit treiben, so würden sie sich empören. Darum sind auch in der Beschränkung Schranken nötig.“

Das lese ich gern, ist es doch Wasser auf meine Mühlen. Ebenso ein Bonmot Michel de Montaignes. Auch er springt mir bei der Mäßigung der Mäßigung zur Seite: „Man sieht sehr gewöhnlich, dass gute Absichten, wenn sie ohne Mäßigung durchgesetzt werden, die Menschen zu sehr fehlerhaften Handlungen verleiten.“

Dennoch oder gerade deswegen ist es eine Herausforderung der besonderen Art, die gemäßigte Mäßigung mit Leben zu erfüllen. Ohne Frage. Wie gehe ich die Herausforderung am besten an? Sinnvollerweise, indem ich von vorn beginne. „Von vorn“ heißt im konkreten Fall: beim Begriff, bzw. den Begriffen. In medias res also.

Eine Art Einleitung

Trotz aller Vorbehalte, auf die ich zurückkommen werde, ist es im digitalen Zeitalter quasi zur Selbstverständlichkeit geworden, zunächst „Google“ zu befragen. Das tue ich und werde beim Begriff „Mäßigung“ verwiesen auf 619.000 Ergebnisse, beginnend mit einem Blick ins Wörterbuch. Dort lerne ich, dass es sich bei der Mäßigung um ein Substantiv handelt und dieses Substantiv feminin ist. Als ähnliche Begriffe werden mir zum Beispiel angeboten: „Abmilderung“, „Abschwächung“, „Dämpfung“, „Drosselung“, „Einschränkung“ etc. In einer zweiten Reihe mit ähnlichen Begriffen tauchen „Bändigung“, „Beherrschung“, „Bezähmung“, „Bezwingung“, „Meisterung“, „Zügelung“ etc. auf. Auf einige dieser Begriffe und ähnliche andere werde ich zu späteren Zeitpunkten in meinem Selbstgespräch zurückkommen. Auffallend ist das Suffix „ung“ in allen Begriffen, das sich in der deutschen Hochsprache als universelles Mittel zur Substantivierung von Verben entwickelt hat. Es steht heute aber auch als Bestandteil eigenständiger Substantive wie etwa beim Begriff „Mäßigung“. Als eigenständige Substantive konnotiere ich mit diesen Begriffen in allen Fällen keinen Endzustand, nichts Abgeschlossenes also, sondern einen Prozess des Wandels weg von einem Zustand A, hin zu einem Zustand B. Indem ich mich mäßige, setze ich also etwas in Bewegung, ein Zustand verändert, wandelt sich, ich wandle mich. Zumindest in punkto meiner Selbstvergewisserung und Bewusstseinsbildung im Blick auf mein konkretes Erkenntnisinteresse. Aber auch in Sorge um mein spezifisch eigenes Selbst als individuelle Komponente einer Selbstkultivierung spätestens seit Sokrates. Auf die sorgenmotivierte Selbstkultur werde ich später zurückkommen.

Was mir in diesem Zusammenhang erwähnenswert erscheint, ist, dass ich das Verb fast ausschließlich reflexiv verwende. Und zwar jeweils im Bezug auf mich selbst. Dies anzumerken ist mir deswegen wichtig, weil ich nicht erneut auf den Fehler verfallen möchte, andere zu maßregeln. Ansprechpartner in meinem Selbstgespräch bin ich – niemand sonst. Beste Voraussetzungen also für eine Zwiesprache mit mir selbst zum Thema „Mäßigung“. In doppelter Hinsicht. Gesprächsweise bringe ich meine Gedanken voran einerseits und verändere gleichzeitig mein Bewusstsein im Blick auf mein Thema andererseits. Dass ich im Dialog mit mir selbst andere zitiere, ist dabei kein Widerspruch. Im Gegenteil. Mein Selbst, mit dem ich spreche, ist ja letztlich nichts anderes als die Summe aller Erfahrungen eines gelebten Lebens zum einen und das Ergebnis dessen, was ich von anderen im Laufe dieses Lebens unter anderem lesend gelernt habe bei der Durchforstung tausender Bücher im Gefolge eines lebenslangen Lernens. Wie schreibt Plinius: „… ich unterhalte mich allein mit mir und mit meinen Büchern.“ Das Selbst, mein Selbst, ist eben ein Konglomerat aus zahlreichen unterschiedlichsten Facetten, dominiert fraglos von jenen drei Instanzen der Psyche, die Sigmund Freud, der Begründer und Übervater der Psychoanalyse, als „Über-Ich, Ich und Es“ identifiziert hatte. Auf dieses Instanzenmodell werde ich in meinem Selbstgespräch immer wieder zurückkommen (müssen). In Bezug auf das „Es“ selbstredend auch auf Georg Groddeck. Auf jeden Fall ist das „Ich“ also letztlich ein „Wir“ – im tatsächlichen und im übertragenen Sinn des Wortes. Mehr dazu später.

An zweiter Stelle bei Google folgt der interessante Eintrag bei Wikipedia. Wo sonst? Dort springt mir zunächst der Hinweis ins Auge, dass es sich bei der Mäßigung um eine der vier platonischen Kardinaltugenden handelt, mit gewissen Abweichungen davon bei Aristoteles. Genau dieser Hinweis stellt die Verbindung her zu meiner eigenen Biografie, den ersten Semestern meines Philosophie-Studiums, in denen ich mich unter anderem mit ebendiesen vier Grundtugenden befasst hatte. Bei deren Bestimmung unterscheide ich nicht zwischen Platon und Aristoteles, denn bei dieser Unterscheidung geht es letztlich um für mein Selbstgespräch irrelevante philosophische Nuancen. Als Grundtugenden mögen demzufolge „platonisch aristotelisch“ gelten: Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung – und Gerechtigkeit. Letztere die drei erstgenannten einhegend und das gesamte Modell letztlich allerdings auch disqualifizierend. Denn disqualifiziert in unserem heutigen Verständnis allgemeiner Menschenrechte wurde das altgriechische Tugendmodell durch die Tatsache, dass es ausschließlich auf den freien Bürger gemünzt war, mehr noch: auf den männlichen (!) freien Bürger, der darüber hinaus die Existenz von Unfreien und Sklaven als Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung des sozialen Systems erachtete. Ungeachtet dieser Disqualifikation lohnt es dennoch, diesen Begriffen nachzugehen und ihre Relevanz im Blick auf unsere heutige Welt und deren so und nicht anders Gewordensein zu überprüfen. Denn verbunden mit diesen vier Grundtugenden ist auch eine höchst einprägsame Definition vom „guten Leben“: Das gute Leben ist ein tugendhaftes Leben!

Auf den Zusammenhang von gutem Leben und Mäßigung verweist auch der dritte Eintrag bei Google, auf das DWDS, das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache zurückgreifend. Explizit heißt es dort, Aristoteles plädiere für ein (gutes, Ergänzung KEB) Leben nach der rechten Mitte beziehungsweise dem rechten Maß. Außerdem lerne ich, dass Mäßigung in allen fünf Weltreligionen eine große Rolle spielt. Exemplarisch werde ich in meinem Selbstgespräch auch diesem Hinweis immer wieder folgen.

Die „Quasi“-Einleitung zu meinem Selbstgespräch abschließend, sei auf dessen methodische und formale Besonderheiten verwiesen. Methodisch orientiere ich mich an dem zu Recht berühmten Aufsatz Heinrich von Kleists über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: „Die Idee kommt beim Sprechen …“ – im konkreten Fall beim Sprechen mit mir selbst, meinem Selbst. Indem ich mir, meinem Selbst Fragen stelle, horche ich in mich hinein, werde zum Geburtshelfer meiner Antworten ganz im Sinne des sokratisch mäeutischen Erkenntnis-Dialogs, meine Gedanken frei assoziierend in Anlehnung an Sigmund Freud. Formal werde ich mein Selbstgespräch essayistisch assoziativ anlegen, wissenschaftliche Gepflogenheiten und einen damit verbundenen Duktus weitestgehend vermeidend. Geleitet wird mein selbstkritischer Diskurs auf jeden Fall von der Sorge um meine Existenz und der Einsicht, dass bereits in meinem Fragen Wesentliches einer Antwort vorweggenommen wird, weil ich nolens volens in das Wie, Was und Warum meines Fragens meine kulturell gebundene subjektive Weltsicht hineintrage. Initiiert werden meine Fragen und möglichen Antworten durch eine generelle Charakteristik meiner von mir so und nicht anders wahrgenommenen und erlebten Welt in unserer Hemisphäre und den Menschen in ihr, soweit ich einen irgendwie gearteten Bezug zu ihnen entwickelt habe – und sei es auch nur durch die Lektüre ihrer Texte und Bücher. Nun also: Zurück auf Start.

Mein Selbst im Spiegel der Mäßigung

Es ist der 1. Januar eines neuen Jahres, ich beginne mein Selbstgespräch. Ein treffliches Datum unter dem Gesichtspunkt meines Themas – und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen wegen meines bereits seit Jahren währenden Verzichts auf jedwede Silvester-Böllerei, zum anderen aufgrund meiner am ersten Tag nach Weihnachten in der Rauhzeit beginnenden und jedes Jahr seit mehr als zwei Jahrzehnten bis Aschermittwoch dauernden Alkoholabstinenz.

Der Böllereiverzicht war ursprünglich motiviert von der Rücksicht auf meine vierbeinigen Gefährten. Der aktuelle, der erst kürzlich dem Welpenalter entwachsene, heißt Plato, stammt aus dem Sauerland und ist ein Rauhaardackel, genau wie seine beiden Vorgänger, Boncuk und Dagobert, die beide über 15 Jahre alt geworden waren. Dagobert wurde sogar sechzehn Jahre, drei Monate und achtundzwanzig Tage alt. Ein biblisches Alter, ohne Frage. Aber dennoch auch verbunden mit einem abrahamitischen Schmerz, als müsste ein Sohn geopfert werden, als ihm die Todesspritze gesetzt werden musste, um ihm unnötige Qualen beim Sterben zu ersparen. Halt, Hanni darf nicht unerwähnt bleiben, eine Dandie Dinmont Terrier-Dame, ein Muster an Freundlichkeit und als vielfache Mutter Erzieherin von Dagobert, in fortgeschrittenen Jahren von einer guten Freundin umständehalber mit Dankbarkeit und Freude übernommen. Denn Boncuk hatte sich nach 15 Jahren, 10 Monaten und 28 Tagen in die ewigen Jagdgründe verabschiedet. Ein erstes schmerzliches Abschiednehmen von einem Vierbeiner, mit dem das Bett (nicht der Tisch) zu teilen eine Selbstverständlichkeit war. Speziell an Silvester war eben das Bett der ultimative Zufluchtsort vor der Böllerei. Das gilt und galt für alle meine Vierbeiner. Der durch die Silvester-Böllerei jährlich angerichtete Umweltschaden war und ist ein erst deutlich später hinzugekommenes rationales Argument für den Verzicht. Mäßigend auf die Gesamtbilanz des Umweltschreckens und -schadens durch die Böllerei wirkt mein Verzicht zwangsläufig nur höchst bescheiden. Aber ein wenig Mäßigung und Relativierung ist besser als gar keine. Wobei ich es selbstverständlich jedem Menschen überlasse, ob er böllert oder nicht. Irgendwie geartete Verbote würden schwerlich Abhilfe schaffen können. Denn wer sollte deren Beachtung in der Praxis kontrollieren?

Der zweite saisonale Aspekt meiner Verzichtsregularien ist ganz und gar persönlicher Natur: eine zeitlich begrenzte Alkoholabstinenz. Warum Alkoholabstinenz? Ich vergewissere mich einmal jährlich, dass ich auf den Genuss von Alkohol verzichten, in der Rauhzeit den (bösen?) Geistern der Zwischenwelten durch Enthaltsamkeit Einhalt gebieten kann. Speziell an Silvester und über die Faschingstage, wenn der Alkohol in der Regel in Strömen fließt, entsage ich der Sauferei. Der Verzicht zeitigt in meiner Gesundheitsbilanz nachweisbar einen positiven Effekt: Meine Blutwerte nach der Verzichtsperiode sind exzellent, einhergehend darüber hinaus, je nach Dauer der Abstinenz, mit einer Gewichtsreduktion von mindestens fünf Kilogramm. Immer wieder erstaunlich, wie viele Kalorien ich mir mit dem Genuss von einer Flasche Rotwein zum Mittagessen täglich zuführe. Im Ergebnis wirkt die Verzichtsperiode naturgemäß nur bedingt mäßigend, weil zeitlich begrenzt. Relevant für mich ist denn auch die Erkenntnis an sich, auf Alkohol gänzlich verzichten zu können und damit einen inneren Orientierungsmaßstab zu haben, der mir Selbstgewissheit verleiht: Ich bin nicht abhängig! Dieses Gefühl der Unabhängigkeit ist ein Wert an sich für mich, zeigt er mir doch für mich immer wieder aufs Neue bedeutsame Aspekte meiner Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und Selbstdisziplinierung. Meine in diesem Zusammenhang immer wieder vorgetragenen Anleihen beim religiösen, aber auch magischen rauhzeitlichen Ritus, indem ich von der Zeit meiner Alkoholabstinenz von meinem persönlichen „Ramadan“ oder meiner ausgedehnteren Rauhzeit spreche, hat durchaus eine Qualität des außeralltäglichen Lebens- und sogar Lusterlebnisses, von denen auch die heiligen Bücher der großen Weltreligionen handeln: Verzicht kann im Ausloten der eigenen Willenskraft Freude bereiten und dem Körper unter Stimulans auch des seelischen Wohlbefindens dabei Gutes tun. Nicht von ungefähr gehört denn auch das Fasten unabrückbar in den Katalog ritueller Gepflogenheiten sowohl der Erlösungs- als auch der Virtuosen-Religionen. Wie lässt mich Kungfutse wissen? „ … Freude an Schwelgerei: das ist vom Übel.“ Und Laotse assistiert: „ … wo man heikel ist im Essen und Trinken und Güter im Überfluss sind: da herrscht Verwirrung, nicht Regierung“ – und das nicht nur im Sozialen, sondern auch im persönlich Individuellen. Der Absenz in der Fähigkeit der Selbstbeherrschung kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. So wie der Ritus der kleinste Baustein des Rituals ist, ist die Selbstbeherrschung das wichtigste Mosaiksteinchen im Gefüge einer demokratisch verfassten Gesellschaft, in der der Souverän von der Mehrheit seiner Bürger geprägt wird. Ich werde diese Überlegung in meinem Selbstgespräch zu einem späteren Zeitpunkt in einem anderen Zusammenhang noch einmal aufgreifen. Unsere als Selbstverständlichkeit wahrgenommene Überflussgesellschaft jedenfalls bedarf bei der politischen Willensbildung der ordnenden Hand durch die individuelle Einsicht in die Notwendigkeit der Mäßigung in allen Belangen unseres Zusammenlebens. Die Art und Weise unseres Konsumierens spielt dabei sicherlich eine gewichtige Rolle.

Ebenfalls in die dunkle Jahreszeit fällt mein Totalverzicht auf Fernreisen, in früheren Jahren immer im Spätherbst und über die Faschingszeit zelebriert, nach dem Motto: zur Sonne, zum Licht. Dieser Verzicht gründet tatsächlich in der rationalen Einsicht in die Umwelt- und Klimaschädlichkeit dieser Art Reisen mit Flugzeug oder Schiff. In diesem Zusammenhang bemühe ich in meinem Selbstgespräch bewusst keinerlei Statistiken zu den vielfältigen Aspekten der durch die Reiserei verursachten Schäden, die können andernorts nachgelesen werden, bekenne mich stattdessen lieber zu meiner ganz persönlichen Flugscham – nicht zuletzt im Blick auf meine