Materialismus - Terry Eagleton - E-Book

Materialismus E-Book

Terry Eagleton

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Beschreibung

In seinem neuesten Werk setzt sich der bekannte britische Autor und Literaturwissenschaftler Terry Eagleton mit dem Verhältnis von Philosophie und Alltagserfahrung auseinander. Er bietet eine humanistische, für das praktische Zusammenleben der Menschen taugliche Variante des Denkens. Angesichts einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich weitgehend als "materialistisch" definieren und eines von emanzipatorischen Inhalten befreiten "New Materialism" an den Universitäten hält Eagleton an einer "Politik der Materie" fest, die für die Veränderung der Umstände eintritt. In einem Streifzug durch die Ideengeschichte des Materialismus, von Demokrit über Aristoteles bis hin zu Sigmund Freud, verteidigt der Autor die materialistische Gesinnung auch gegen aktuelle Trends der "Cultural Studies" und postmoderner Strömungen. Eagleton bringt in diesem Buch drei bekannte Materialisten und ihre Lehren zusammen: Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein und Karl Marx. In einem eindrucksvollen Vergleich ihrer Theorien spannt er einen weiten Bogen, von der Sprache über die Geschichte, von der Ideologie zur Ethik, bis hin zu ästhetischen und politischen Fragen. All dies gelingt Eagleton mit viel Witz und Polemik, in lockerer Sprache, die jahrhundertealte philosophische Diskussionen auch einem damit nicht vertrauten Publikum näherbringt. Für Eagleton ist es die "Anti-Philosophie" und ihr bekanntester Exponent Karl Marx, die er als Ausdruck eines gelungenen materialistischen Weltbilds ansieht. Und so zitiert er in seinem Werk auch Marx' Ausspruch: "Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt." In dieser Tradition des kritischen Denkens, dem Humor nicht fremd ist, schlägt Eagleton mit "Materialismus" ein neues Kapitel auf.

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Seitenzahl: 207

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Terry EagletonMaterialismus

© 2018 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Kraft

ISBN: 978-3-85371-859-9 

(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-433-1)

Fordern Sie unsere Kataloge an: Promedia Verlag Wickenburggasse 5/12 A-1080 Wien

E-Mail: [email protected] Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Über den Autor

Terry Eagleton geboren 1943 in Salford (England), lehrt englische Literatur an der Universität von Lancaster. Zuvor unterrichtete er unter anderem in Oxford, Manchester, Duke und Yale. Seine marxistisch inspirierte Philosophie und Literaturtheorie legte er in über 40 Büchern nieder, von denen viele auch im deutschsprachigen Raum zu Bestsellern wurden, darunter »Einführung in die Literaturtheorie« (1988), »Die Illusionen der Postmoderne« (1997), »Der Sinn des Lebens« (2008) und »Warum Marx recht hat« (2012).

Inhalt
Kapitel Eins: Materialismen
Kapitel Zwei: Haben Dachse eine Seele?
Kapitel Drei: Die Sinne befreien
Kapitel Vier: Übermut
Kapitel Fünf: Der raue Boden
Anmerkungen
Der Promedia Verlag im Internet

Vorwort

In diesem Buch geht es unter anderem um den Körper. Aber nicht um die Art von Körper (zumindest hoffe ich das inständig), der derzeit in den Cultural Studies so angesagt ist und der als Diskussionsgegenstand zu einem engen, ausgrenzenden und ermüdend oft wiederholten Begriff wurde. Meine Studie trägt zudem einen polemischen Unterton, soweit sie darauf abzielt, die Formen der menschlichen Kreatürlichkeit zu untersuchen, die die postmoderne Orthodoxie großenteils an den Rand gedrängt hat und die auf alle menschlichen Körper zutreffen, ungeachtet beispielsweise von Gender und ethnischer Zugehörigkeit. Hoffentlich erweist sich dieser unverfrorene Universalismus als anstößig genug für die Kommissare des gegenwärtigen kulturellen Diskurses.

Es scheint heutzutage so, als würden Postgraduate-Studenten überall auf der Welt, die sich nicht mit Vampiren oder Graphic Novels beschäftigen, über den Körper forschen – aber dabei einige fruchtbare Ansätze ausschließen. Jene, die ein Loblied auf die I­nklusivität anstimmen, ignorieren wie üblich hartnäckig, was ihr eigener bevorzugter Fachjargon alles ausspart. So beschäftigen sich die Cultural Studies vorwiegend mit dem ethnischen, dem gegenderten, dem queeren, dem hungernden, dem konstruierten, dem alternden, dem verzierten, dem behinderten, dem kybernetischen, dem biopolitischen Körper – dem Körper als Objekt sexueller Blicke, als Ort von Genuss oder Schmerz, dem Macht, Disziplin und Lust eingeschrieben ist. Im Gegensatz dazu ist der menschliche Körper, der in diesem Buch behandelt wird, von primitiverer Bauart. Er ist in erster Linie kein kulturelles Konstrukt. Was ich über ihn zu sagen habe, gilt sowohl in Kambodscha wie in Cheltenham und betrifft belgische Frauen ebenso wie srilankesische Männer. Wenn etwas auf Hillary Clinton zutrifft, dann trifft es auch auf Cicero zu. Nur jene postmodernen Dogmatiker werden von so einer Vorgehensweise schockiert sein, für die erstaunlicherweise alle universellen Ansprüche unterdrückerisch sind, ausgenommen dieses einen universellen Anspruchs.

Die Cultural Studies haben einige wertvolle Einblicke in den Körper gegeben, aber sie scheinen sich in dieser Hinsicht nicht ihrer eigenen, eher betrüblichen politischen Vergangenheit bewusst zu sein. Eine der wichtigsten Quellen für dieses Thema sind die Arbeiten von Michel Foucault, dessen Schriften auch für eine Krise der revolutionären Linken im Anschluss an die späten 1960er-Jahre stehen. Zu jenem Zeitpunkt, als einige ehrgeizigere Spielarten radikaler Politik ins Stocken gerieten, und von machtvollen rechten Kräften zurückgedrängt wurden, machte der historische Materialismus dem kulturellem Materialismus Platz – und das Interesse am Körper nahm Fahrt auf. Dieses Interesse diente dazu, eine linke Politik zu hinterfragen, die sich allzu vergeistigt von den Sinnen abgewandt hatte. Aber es trug auch bei, sie zu verdrängen. Wie jeder Fetisch dient dieser spezielle Körper nämlich dazu, eine Lücke zu schließen. Das Verhältnis zwischen dem Körper und sozialistischer Politik wurde von einigen richtungsweisenden Strömungen des Feminismus weiter auf die Tagesordnung gesetzt; aber schon in den 1980er-Jahren wichen die Gespräche über Sozialismus jenen über Sexualität, und eine kulturelle Linke, die größtenteils betreten über den Gegenstand des Kapitalismus schwieg, äußerte sich immer lautstarker über die Frage der Körperlichkeit. Wir werden jedoch im Laufe dieses Buches sehen (wenn wir uns den Schriften von Karl Marx zuwenden), dass diese zwei Dinge keine Alternativen sein müssen.

Ich bedanke mich bei den zwei anonymen Lesern, die wertvolle Kommentare zu einer frühen Version dieses Buchs beisteuerten, nicht zuletzt für den brutalen Vorschlag, ich solle doch die ersten 40 Seiten streichen. Meines Erachtens steht das Buch nach dieser Amputation wesentlich besser da.

T. E.

Kapitel Eins

Materialismen

Der Materialismus ist in verschiedenen Geschmackssorten erhältlich. Es gibt hartgesottene Varianten und weichgekochte. In Anbetracht der beängstigenden Größe des Gegenstands, ganz zu schweigen von meinen eigenen intellektuellen Beschränkungen, werden jedoch nur einige der Strömungen des materialistischen Denkens in diesem Buch behandelt. Mir geht es nicht um die äußerst technischen Fragen von Monismus, Dualismus, Eliminativismus oder dem Leib-Seele-Problem im Allgemeinen. Sondern um Arten von Materialismus, die im weiteren Sinne gesellschaftlich oder politisch sind – und von denen die Neurowissenschaftler nichts Spannendes zu berichten wissen.

Wenn Sie zu jenen Materialisten zählen, die davon überzeugt sind, dass die materiellen Bedingungen in den menschlichen Beziehungen den Ton angeben, dann werden Sie vielleicht diese Bedingungen verändern wollen – in der Hoffnung, dass Sie damit die Weise ändern, in der die Leute denken und handeln. Wenn Ihr Materialismus von der deterministischen Sorte ist, der Menschen als komplett von ihrer Umwelt konditioniert ansieht, könnte dies ein vielversprechendes Projekt für Sie sein. Das Problem ist nur: Wenn Individuen nichts weiter sind als die Funktionen ihrer Umgebung, dann muss das auch auf Sie zutreffen. Und wie können Sie daraufhin diesen Kontext verändern, wenn Sie doch selbst ein Produkt davon sind? Trotz dieser verstörenden Fragen war der Materialismus traditionell (wenn auch nicht exklusiv) mit einem radikalen politischen Denken verbunden. Empirische Materialisten wie die englischen Denker des 18. Jahrhunderts David Hartley und Joseph Priestley waren überzeugt, dass der Geist aus Sinneseindrücken besteht. Sie glaubten daran, dass die Sinneseindrücke aus der Umwelt abstammen würden und dass, wenn man diese Umwelt nur so umgestalten könnte, damit sie die »richtigen« Sinnesdaten liefere, man das menschliche Verhalten dramatisch verbessern könnte.1 Politisch gesprochen war dies kein fortschrittliches Vorhaben. Wie Marx später ausführen sollte, diente die besagte Veränderung den Bedürfnissen und Interessen des Herrschers. Mit gewohntem Scharfsinn erkannte Marx die politischen Ideen, die in dieser Erkenntnistheorie steckten.

Zur Zeit des Englischen Bürgerkriegs gibt es eine Verbindung zwischen radikalem Denken und Materialismus in so manchen linken Gedankengängen, etwa in den Arbeiten von Baruch Spinoza und den philosophes der französischen Aufklärung. Dieses Erbe ging auf Marx und Engels über und taucht in der heutigen Zeit in den Schriften von so dissidenten Theoretikern wie Gilles Deleuze auf. (Darwin, Nietzsche und Freud sind auch radikale Materialisten, aber keine Theoretiker der radikalen Linken.) Obwohl das Wort »Materialismus« im 18. Jahrhundert geprägt wurde, stammt die Lehre aus der Antike2. Einer ihrer frühesten Vertreter, der griechische Philosoph Epikur, war das Thema der Doktorarbeit von Karl Marx. Marx bewunderte Epikurs Leidenschaft für Gerechtigkeit und Freiheit, seine Abneigung gegen das Anhäufen von Reichtum, seine aufgeklärte Haltung zu Frauen und den Ernst, mit der er die sinnliche Natur der Menschheit erfasste. Für Marx waren diese Haltungen verbunden mit Epikurs philosophischen Ansichten. Materialismus bedeutete für Epikur, wie für die Aufklärung, die Befreiung von der Priesterschaft und vom Aberglauben.

Isaac Newton und seinen Kollegen galt die Materie als rohe, träge Masse (Newton nannte sie auch »dumm«), und als solche musste sie von der äußeren Macht des göttlichen Willens bewegt werden. Ein Punkt, der für den menschlichen Körper von Bedeutung ist. Denn wer den Körper als Leichnam betrachtet, verspürt wahrscheinlich den Drang, ihm irgendein geisterhaftes Wesen an die Seite zu stellen, das ihn wachrüttelt. Er wird sich kaum selbst beleben, so schwerfällig und plump, wie er gebaut ist. Deshalb sind körperlose Geister und Seelen unter anderem ein Versuch, die Unfertigkeiten des mechanischen Materialismus auszugleichen. In einer weniger mechanistischen Sicht auf die Materie wären sie überflüssig. Wenn Geist und Natur voneinander getrennte Bereiche sind, dann ist ersterer dazu in der Lage, seinen Einfluss über letztere auszuüben. Folglich regieren bei Newton die spirituellen Kräfte über die Natur wie Monarchen und Despoten über ihre Staaten.

Im Gegensatz dazu gibt es im radikalen Denken seit Spinoza keinen Bedarf an erhabenen Autoritäten. Die Materie selbst ist lebendig, und sie ist nicht nur lebendig, sondern auch selbst-bestimmt wie die Bevölkerung eines demokratischen Staates. Um sie in Gang zu bringen, braucht es keine höhere Macht. Wer sich der materiellen Welt ernsthaft widmen will, und dem materiellen Wohlergehen der darin lebenden Menschen, der glaubt nicht an Geister. Es gibt somit auch keine himmlischen Ablenkungen von der Aufgabe, Armut und Ungerechtigkeiten abzuschaffen. Die Herrschaft der Kirche ist gebannt, denn wenn der Geist sich rund um uns befindet, kann die Priesterschaft auch kein Monopol darauf erheben. Deshalb können wir von einer Politik der Materie sprechen.

Ein Materialist verleiht Menschen einen Grad an Würde, indem er sie als Teil der materiellen Welt versteht, die identisch ist mit dem Allmächtigen – so sah es zumindest der pantheistische Spinoza. Materialismus und Humanismus sind daher natürliche Verbündete. Ebenso könnte man die etwas konservativeren Humanisten kritisieren, für die eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Menschheit und dem Rest der Natur besteht. Eine derartige philosophische Arroganz lässt sich ins Wanken bringen, wenn man auf den alltäglichen Zustand der Menschheit verweist, die demütig mit der materiellen Welt und ihren Artgenossen auskommt. Die Menschheit ist nicht der Gott der Schöpfung, sondern Teil seiner Gemeinschaftlichkeit, unser Fleisch und unsere Sehnen sind gewebt aus demselben Stoff wie die Kräfte, die die Wellen aufwühlen und die Kornfelder reifen lassen. Friedrich Engels bemerkte in seiner Dialektik der Natur, dass

wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.3

Kurz bevor Engels diese Zeilen schrieb, legte Darwin unsere Herkunft offen. Er wies einer Menschheit, die viel lieber aus besserem Hause gestammt hätte, ihren Platz in einem wenig glanzvollen Geflecht aus materiellen Vorgängen zu.

Schließlich gibt es auch eine ethische Dimension des Materialismus, und ebenso eine politische. Statt humanistischer Überheblichkeit setzt er auf unsere Solidarität mit den gewöhnlichen Dingen der Welt und kultiviert so die Tugend der Bescheidenheit. Er macht unsere Abhängigkeit von der Umwelt deutlich und zeigt sich bestürzt über das Hirngespinst, dass Menschen voll und ganz selbst-bestimmt wären. »Die anfängliche Hilflosigkeit des Menschen«, schreibt Sigmund Freud, »ist die Urquelle aller moralischen Motive.«4 Was uns zu moralischen Wesen macht, ist nicht unsere Autonomie, sondern unsere Verletzlichkeit, nicht unsere Verschlossenheit, sondern unsere Unabgeschlossenheit. Im Geiste dieser materialistischen Überzeugung schreibt der marxistische Philosoph Sebastiano Timpanaro davon, wie

die Resultate der wissenschaftlichen Forschung uns lehren, dass der Mensch eine unbedeutende Rolle im Universum einnimmt; dass lange Zeit kein Leben auf der Erde existierte, und dass sein Ursprung von sehr speziellen Bedingungen abhängig war; dass menschliches Denken durch bestimmte anatomische und physiologische Strukturen bedingt ist und durch bestimmte pathologische Veränderungen dieser Strukturen getrübt wie auch beeinträchtigt wird.5

Ein Materialismus dieser Art resultiert nicht im Nihilismus, sondern im Realismus. All unsere Errungenschaften müssen sich wie in einer Tragödie unsere Fragilität und Endlichkeit eingestehen, wenn sie auf festem Boden stehen sollen. Materialistisches Denken birgt auch noch andere moralische Vorteile. Es weiß, wie hartnäckig die Materie ist, und setzt sich für den Respekt des Andersseins und der Integrität der Welt ein – im Gegensatz zum postmodernen Narzissmus, der nichts als Abbilder der menschlichen Kultur erblickt, wohin er auch schaut. Für die Postmoderne ist die Wirklichkeit nur Ton in unseren Händen, den der herrschaftliche Wille ausrollt, in Streifen schneidet, weichklopft und anschließend ummodelt. So eine Position ist nichts weiter als eine spätkapitalistische Version der alten gnostischen Ablehnung der Materie.

Marxisten wie Timpanaro sind auch Vertreter des sogenannten historischen Materialismus, auf den wir später noch ausführlich zu sprechen kommen.6 Einige von ihnen (heutzutage allerdings eine verschwindende Schar) sind auch Verfechter des dialektischen Materialismus, manchmal auch nur marxistische Philosophie genannt.7 Wie der Name besagt, ist der historische Materialismus eine Theorie der Geschichte, während der dialektische Materialismus und seine grundlegende Schrift DialektikderNaturvon Friedrich Engels eine weitaus ehrgeizigere Vorstellung der Wirklichkeit anbietet. Sein theoretischer Horizont ist nichts weniger als der Kosmos selbst – das ist fraglos einer der Gründe, warum er in unseren pragmatischen Zeiten unten durch ist. Von den Ameisen zu den Asteroiden ist die Welt ein dynamischer Komplex ineinandergreifender Kräfte, in dem alle Phänomene zusammenhängen. Nichts steht still, Quantität schlägt um in Qualität, es gibt keine absoluten Standpunkte mehr, alles ist ständig dabei, sich in sein Gegenteil zu verkehren und die Wirklichkeit entwickelt sich durch die Einheit der widerstreitenden Gewalten. Wer diese Lehre bezweifelt, wird als Metaphysiker beschimpft, der fälschlicherweise annimmt, dass Phänomene stabil, autonom und getrennt verlaufen, dass in der Wirklichkeit keine Widersprüche vorhanden sind und jedes Ding es selbst ist und kein anderes Ding.

Was soll man mit der Behauptung anfangen, dass alles mit allem anderen verbunden ist? Es gibt wenig Gemeinsamkeiten zwischen dem Pentagon und einem plötzlichen Anstieg sexueller Eifersucht, außer, dass beide nicht Fahrrad fahren können. Einige Gesetze, die der dialektische Materialismus in der Welt vorfindet, überschreiten die Grenze zwischen Natur und Kultur. Dadurch gerät er in eine gefährliche Nähe zum bürgerlichen Positivismus, den der Marxismus ablehnt. Wie es ein Bekannter von mir, ein marxistischer Arbeiter, einmal triumphierend ausdrückte: »Teekessel kochen, Hunde wedeln mit dem Schwanz und Klassen kämpfen.« Es gibt allerdings viele Marxisten, für die der dialektische Materialismus entweder eine getarnte Form des Idealismus darstellt oder philosophischen Nonsens. Letzteres war die Meinung einer Gruppe von sogenannten analytischen Marxisten vor einigen Jahren, die gerne T-Shirts mit der Aufschrift »Marxisme sans la merde de taureau« (»Marxismus ohne Bockmist«) zur Schau trugen.8

Es ist anzumerken, dass historische Materialisten keine Atheisten sein müssen, obwohl viele von ihnen diese Tatsache ignorieren. Die meisten historischen Materialisten lehnen den religiösen Glauben ab. Sie erkennen aber nicht, dass es keine logische Verbindung zwischen diesen beiden Dingen gibt. Der historische Materialismus ist nicht ontologisch ausgerichtet. Er behauptet nicht, dass alles aus Materie gemacht wurde und es deshalb keinen Gott gebe. Er ist auch keine Weltformel, wie es der dialektische Materialismus von sich behauptet. Der historische Materialismus weiß nichts Interessantes über den Sehnerv zu berichten, oder wie man das flaumigste Soufflé zubereitet. Seine Ansprüche sind viel bescheidener – er sieht den Klassenkampf, gemeinsam mit dem Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, als Dynamik eines entscheidenden historischen Wandels an. Und er betrachtet die materiellen Tätigkeiten von Männern und Frauen als Ursprung ihrer sozialen Existenz. Um diese Ansicht zu teilen, muss man kein Marxist sein. Es gibt keinen Grund, warum ein religiöser Jude wie Walter Benjamin oder ein Anhänger der christlichen Befreiungstheologie sich nicht dieser Position anschließen sollte – oder auch ein gläubiger Moslem. Theoretisch könnte man dem unausweichlichen Sieg des Proletariats freudig entgegen sehen, während man mehrere Stunden am Tag vor einer Marienstatue kniet. Es ist um einiges schwieriger, Materie für das einzig Existente zu halten und an den Erzengel Gabriel zu glauben.

Manche behaupten, der dialektische Materialismus zähle zu einer Strömung des vitalistischen Materialismus, der von Demokrit und Epikur zu Spinoza, Schelling, Nietzsche, Henri Bergson, Ernst Bloch, Gilles Deleuze und eine Reihe anderer Denker reicht. Wer dieser Glaubensrichtung folgt, der kann dem Geist einen Platz zuweisen, ohne als verabscheuungswürdiger Dualist zu gelten, weil der Geist in Form von Leben oder Energie in die Materie selbst eingeschlossen ist. Andererseits gilt der dialektische Materialismus aber auch als irrational. Die Wirklichkeit ist ihm zufolge flüchtig, launenhaft und in ständiger Veränderung begriffen, und der Verstand, der dazu neigt, die Welt in recht undeutliche Kategorien zu zerstückeln, kann nur schwer mit dem andauernden Wandel Schritt halten. Das Bewusstsein ist zu unbeholfen und schwerfällig, um mit den Komplexitäten der Natur umzugehen. Nicht mehr das Gedächtnis überholt die untätige Materie, sondern die Materie das Gedächtnis mit rasender Geschwindigkeit.

Es gibt Abkömmlinge des Vitalismus, die die Materie allzu gerne idealisieren und vergeistigen. Statt sich mit dem widerspenstigen Kern9 der Materie herumzuschlagen, entscheiden sie sich für ein schmerzloses Vorgehen. Materie ist laut dieser gutartigen Diagnose nicht mehr das, was die Schmerzen verursacht, was unsere Vorhaben vereitelt und unsere Ziele durchkreuzt – sondern stattdessen die gesamte Feinheit und Geschmeidigkeit des Geistes übernimmt. Es handelt sich um eine seltsam immaterielle Ausgabe des Materialismus. Slavoj Žižek bemerkt, wenn der sogenannte New Materialism, der diese Ansichten propagiert

noch als eine Form des Materialismus betrachtet werden kann, dann in dem Sinn, in dem die fiktive Region Mittelerde in der Welt J.R.R. Tolkiens materialistisch ist: als eine verzauberte Welt voller magischer Kräfte, guter und böser Geister und so weiter – aber seltsamerweise ohne Götter; es gibt im Tolkien’schen Universum keine transzendenten göttlichen Wesen, alles Magische ist der Materie immanent, wie eine spirituelle Kraft, die unserer irdischen Welt innewohnt.10

Wie bei Tolkien handelt es sich dabei in erster Linie um eine heidnische Vorstellung. Oder wie die Herausgeber eines Bandes mit dem Titel NewMaterialisms es ausdrücken: »Die Materialität ist immer mehr als ›bloße‹ Materie: Sie ist ein Übermaß, eine Kraft, Lebendigkeit, Relationalität oder Differenz, die die Materie zu etwas Aktivem, Selbsterschaffendem, Produktivem und Unvorhersehbarem macht.«11

Ein anderer Aufsatz im selben Buch beschreibt die Materie als »ein lebendiges Prinzip, das uns und unseren Fantasien innewohnt«,12 was ihr einen pseudo-metaphysischen Status verleiht. Und ein anderer Autor schreibt: »Das dekonstruktivistische Verständnis der Materialität zeigt eine Kraft an, die für eine Unmöglichkeit steht, etwas, das noch nicht und nicht mehr der Ordnung des Gegenwärtigen und Möglichen angehört.«13 Mit dem Derrida’schen Schlagwort der »Unmöglichkeit« scheint sich der Materialismus auf schnellstem Wege in die Richtung des Appophatischen und Unsagbaren zu begeben. Rey Chow fordert »einen erneuerten Materialismus, der vor allem als Signifikation und Subjekt-im-Werden definiert wird«.14 Er könnte auch die erneuerte Idee eines Nashorns fordern, das vorrangig als Hase definiert wird. Warum sollten »Signifikation und Subjekt-im-Werden« als Paradebeispiel des Materialismus gelten?

Kurz gesagt, die Materie muss vor ihrer Schmach bewahrt werden, Materie zu sein. Stattdessen sollen wir sie als eine Art von Materialität ohne Substanz verstehen, ebenso fluid und wandelbar wie der poststrukturalistische Begriff der Textualität. Die Textualität wie die Materie sind unbegrenzt, unbestimmt, unvorhersehbar, vielschichtig, diffus, freischwebend, heterogen und nicht totalisierbar. Eric Santner beschreibt diese Angelegenheit treffend als »eine Art von Multikulturalismus auf der zellulären Ebene«.15 Bei der Lektüre von New Materialisms zeigt sich deutlich, dass die Spielart des Materialismus, für die dieses Buch plädiert, in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Poststrukturalismus im Wolfspelz. Wo Denker wie Jaques Derrida von »Text« sprechen, sprechen die Neomaterialisten von »Materie«. Sonst hat sich nicht viel geändert.

Wie so viele andere angebliche Neuheiten ist auch der New Materialism keineswegs so neu, wie es scheint. Er teilt das poststrukturalistische Misstrauen gegenüber dem Humanismus – gegenüber der Überzeugung, dass der Mensch eine bevorzugte Stellung in der Welt einnimmt –, und er versucht diese Ansicht zu diskreditieren, indem er materielle Kräfte ins Spiel bringt, die bereitwillig durch das Reich der Menschen wie der Natur strömen. Aber man kann das Einzigartige der Menschheit nicht abtun, indem man alles um sie herum zum Leben erweckt. Die Materie mag lebendig sein, aber sie ist nicht auf dieselbe Weise lebendig wie die Menschen. Die Materie kann nicht verzweifeln, veruntreuen, morden oder heiraten. Auch wenn der Mond in gewissem Sinn ein Lebewesen ist, so kann er nicht lieber Schönberg hören als Stravinsky. Die Materieteilchen bewegen sich nicht in einer Welt der Bedeutungen. Menschen schon. Menschen können eine Geschichte haben. Mohnblumen und Dudelsäcke nicht. Die Materie kann selbsttätig sein, aber das ist nicht dasselbe, wie auf die eigenen Ziele hinzusteuern. Die Materie hat keine Ziele, die sie erreichen will.

Der Vitalismus will keine körperlosen Geister zum Leben erwecken und sieht daher die Materie nicht als rohe, empfindungslose Masse. Wenn man menschliche Körper auf den Status von Couchtischen reduziert, muss man ihnen möglicherweise eine unfassbare Seele anheften, damit vieles von dem, was sie so treiben, einen Sinn ergibt. Der mechanische Materialismus kann daher in sein Gegenteil umschlagen. Entgegen seiner eigenen Absichten macht er den Weg frei für einen einzigartigen spirituellen Status der Menschheit. Der Vitalismus weist zurecht die falsche Dichotomie zwischen stummer Materie und unsterblichem Geist zurück. Aber weil er dabei behauptet, dass jegliche Materie lebendig sei, erhebt er Couchtische auf die Stufe von Menschen. In Wahrheit sind Menschen weder von der materiellen Welt abgetrennt (wie es der idealistische Humanismus behauptet), noch sind sie bloße Teile der Materie (wie der mechanische Materialismus meint). Sie sind tatsächlich Teile der Materie, aber Teile einer besonderen Materie. Oder, wie Marx es ausdrückte: Die Menschen sind Teil der Natur, sodass wir die beiden als untrennbar denken können; aber wir können von ihnen auch als »zusammenhängend« sprechen, um auf ihre Differenz hinzuweisen.16 Einige vitalistische Materialisten befürchten, dass man mit dem Hervorheben der Differenz zwischen den Menschen und dem Rest der Natur eine ungerechte Hierarchie etabliert. Aber in der Tat sind Menschen in mancher Hinsicht kreativer als Igel. Sie sind auch unvergleichlich zerstörerischer, aus ein und denselben Gründen. Wer ersteres bestreitet, der ignoriert letzteres.

Die Menschen sind Sprösslinge der materiellen Welt, aber sie unterscheiden sich sehr wohl von Fliegenpilzen. Nicht weil sie spirituell sind und Fliegenpilze materiell, sondern weil sie Beispiele für jene einzigartige Form der Materialität sind, die wir als Tier bezeichnen. Menschliche Wesen haben darüber hinaus einen einzigartigen Status im Tierreich, was keineswegs heißen soll, dass sie einen eindeutig »höheren« Status besitzen. Im Gegensatz dazu hält der Neomaterialismus die Aussage von der speziellen Natur der Menschheit für Arroganz oder Idealismus. Er ist eine postmoderne Ausgabe des Materialismus. Weil er Angst vor einer Sonderstellung hat – vor der Teilung zwischen den Menschen und dem Rest der Natur – läuft er Gefahr, solche Unterscheidungen im Geiste eines kosmischen Egalitarismus einzuebnen und gleichzeitig die Materie selbst zu pluralisieren. Dadurch landet der Neomaterialismus bei jener beschaulichen Sicht auf die Welt, die (wie wir später sehen werden) Marx an Feuerbach kritisiert. Man verlässt diesen Standpunkt nicht, indem man lieber alles als lebendig und dynamisch ansieht statt als mechanisch und träge.

Wenn sich der reduktive Materialismus also schwer damit tut, dem menschlichen Subjekt einen Platz einzuräumen, nicht zuletzt dem Subjekt als Handelndem, so geht es der »neuen« Version dieser Lehre genauso. Während der mechanische Materialismus annimmt, menschliches Handeln wäre eine Illusion, will der vitalistische Materialismus dem vollständig souveränen Subjekt einen dezentralen Platz im Netz der materiellen Kräfte zuweisen, die es konstituieren. Er vergisst dabei manchmal, dass man autonom handeln kann, ohne wie durch Zauberhand frei von Vorherbestimmung zu sein. Autonomie zeichnet sich dadurch aus, wie man mit solchen Determinierungen umgeht. Selbstbestimmt zu leben bedeutet nicht, sich von der Welt rund um uns unabhängig zu machen. Tatsächlich können wir erst durch Abhängigkeit (etwa von jenen, die uns großziehen) einen Grad an Unabhängigkeit erreichen. Das autonome Subjekt, das von den meisten postmodernen Theorien errichtet wird, ist nur ein Strohmann. Wer von allen Determinierungen befreit ist, kann nicht frei sein. Wie könnte jemand ein Tor für Real Madrid schießen, wenn seine Beine nicht auf eine von der Anatomie bedingte, verlässlich vorhersagbare Weise funktionieren?

Im Buch New Materialisms springen, wie bei den meisten Formen des Vitalismus, Begriffe wie »Leben« und »Energie« zwischen dem Deskriptiven und dem Normativen. Indem sie bestimmte dynamische Kräfte benennen, verleihen ihnen die Autoren auch einen Wert – obwohl man wirklich nicht alle Erscheinungsformen von Leben, Kraft und Energie loben sollte. Nicht jede Dynamik ist bewundernswert, wie die Karriere von Donald Trump beweist. Wer die Materie als wandelbar, mannigfaltig und diffus begreift, wird vielleicht auch »einengende« gesellschaftliche Institutionen und politische Organisationen ablehnen. Vom Neomaterialismus zum Anti-Marxismus ist es dann nur ein kurzer Sprung.

Einige der schlimmsten Unarten des Vitalismus finden sich in den Arbeiten von Gilles Deleuze, einem Vollblutmetaphysiker, für den das Sein aus einer immanenten, unbegrenzten und absoluten Kreativität besteht, deren höchster Ausdruck der reine Gedanke ist.17 Im gnostischen Universum von Deleuzes Logik des Sinns, Anti-Ödipus und Differenz und Wiederholungwird diese virtuelle, unergründliche Kraft von Subjekten, Körpern, Organen, Handelnden, Diskursen, Historien und Institutionen (eigentlich: der Wirklichkeit an sich) blockiert. Das erinnert an die traditionelle Annahme, der Körper wäre das Gefängnis der Seele. Zumeist bewertet Deleuze Einschränkungen als negativ, eine Sichtweise getreu der Ideologie des Marktes, die er ansonsten verwerflich findet. Geschichte, Ethik, Gesetz, Eigentum, Gebiet, Bedeutung, Arbeit, Familie, Subjektivität, Alltagssexualität und politische Massenorganisationen sind im Großen und Ganzen normalisierende, kastrierende, regulierende, kolonisierende Mächte. Auch Deleuzes Bewunderer Michel Foucault ist im Großen und Ganzen dieser Meinung. Misstrauisch sollen wir sein gegenüber Einheit, Abstraktion, Mediation, Signifikanz, Relationalität, Innenleben, Interpretation, Repräsentation, Intentionalität und Versöhnung. Für diese entfremdeten Intellektuellen hat das alltägliche gesellschaftliche Dasein wenig Sinnvolles zu bieten. Stattdessen wird uns durch ein paar Klauseln eine banale Antithese angeboten, zwischen dem Lebendigen, Kreativen, Begehrlichen und Dynamischen (das eindeutig gutgeheißen wird) und den unterdrückerischen stabilen materiellen Formen (die implizit verteufelt werden). Der kosmische Vitalismus von Deleuze ist ein virulenter Antimaterialismus. »Leben« ist für ihn eine ätherische Kraft, blind gegenüber den körperlichen Menschen, deren größtmögliche Leistung darin besteht, sich ihrer Kreatürlichkeit zu entledigen, um ein fügsames Medium für diese Kraft zu werden. Die Kardinalfrage lautet: Wie können wir uns selbst loswerden? Es gibt so manche, die mit Deleuzes Projekt übereinstimmen, aber schockiert sind, wenn sie darauf in anderer Aufmachung in den Schriften von D.H. Lawrence stoßen.18