Mathilde Möring - Theodor Fontane - E-Book

Mathilde Möring E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Die junge Mathilde lebt mit ihrer verwitweten Mutter in bescheidenen Verhältnissen. Mit dem Untermieter Hugo Großmann, einem empfindsamen Jurastudenten, zieht die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg ein. Als Hugo an den Masern erkrankt, übernimmt Mathilde aufopferungsvoll die Pflege und erhält den begehrten Heiratsantrag. Der Traum von einem besseren Leben scheint sich zu erfüllen… – Theodor Fontane erzählt in »Mathilde Möhring« die Geschichte einer Frau, die im Berlin des Kaiserreichs selbstbewusst ihr Schicksal in die Hand nimmt.

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Theodor Fontane

Mathilde Möhring

Fischer e-books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Erstes Kapitel

Möhrings wohnten Georgenstraße 19 dicht an der Friedrichsstraße. Wirt war Rechnungsrat Schultze, der in der Gründerzeit mit dreihundert Talern spekuliert und in zwei Jahren ein Vermögen erworben hatte. Wenn er jetzt an seinem Ministerium vorüberging, sah er immer lächelnd hinauf und sagte: »Gu’n Morgen, Exzellenz.« Gott, Exzellenz. Wenn Exzellenz fiel, und alle Welt wunderte sich, dass er noch nicht gefallen sei, so stand er, wie Schultze gern sagte, vis-à-vis de rien, höchstens Oberpräsident in Danzig. Da war er besser dran, er hatte fünf Häuser, und das in der Georgenstraße war beinah schon ein Palais, vorn kleine Balkone von Eisen mit Vergoldung. Was anscheinend fehlte, waren Keller und natürlich auch Kellerwohnungen, statt dessen lagen kleine Läden, ein Vorkostladen, ein Barbier-, ein Optikus- und ein Schirmladen in gleicher Höhe mit dem Straßenzug, wodurch die darüber gelegene Wirtswohnung jenen à-deux-mains-Charakter so vieler neuer Berliner Häuser erhielt. War es Hochparterre oder war es eine Treppe hoch. Auf Schultzes Karte stand: Georgenstraße 19 I, was jeder gelten ließ mit Ausnahme Möhrings, die, je nachdem diese Frage entschieden wurde, drei oder vier Treppen hoch wohnten, was neben der gesellschaftlichen auch eine gewisse praktische Bedeutung für sie hatte.

Möhrings waren nur zwei Personen, Mutter und Tochter; der Vater, Buchhalter in einem Kleider-Exportgeschäft, war schon sieben Jahre tot und war am Palmsonnabend gestorben, einen Tag vor Mathildens Einsegnung. Der Geistliche hatte daraufhin eine Bemerkung gemacht, die bei Mutter und Tochter noch fortlebte. Ebenso das letzte Wort, das Möhring Vater an seine Tochter gerichtet hatte: »Mathilde, halte dich propper.« Pastor Neuschmidt, dem es gesagt wurde, war der Meinung, der Sterbende habe es moralisch gemeint, Schultzes, die auch davon gehört hatten und neben dem Geld- und Rechnungsrat-Hochmut natürlich auch noch den Wirtshochmut hatten, bestritten dies aber und brachten das Wort einfach in Zusammenhang mit dem Kleider-Exportgeschäft, in dem sich der Gedankengang des Alten bewegt habe; es solle soviel heißen wie: »Kleider machen Leute«.

Damals waren Möhrings eben erst eingezogen, und Schultze sah den Tod des alten Möhring, der übrigens erst Mitte vierzig war, ungern. Als man den Sarg auf den Wagen setzte, stand er am Fenster und sagte zu seiner hinter ihm stehenden Frau: »Fatale Geschichte. Die Leute haben natürlich nichts, und nu war vorgestern auch noch die Einsegnung. Ich will dir sagen, Emma, wie’s kommt, sie werden vermieten, und weil es eine Studentengegend ist, so werden sie’s an einen Studenten vermieten, und wenn wir dann mal spät nach Hause kommen, liegt er auf dem Flur, weil er die Treppe nicht hat finden können. Ich bitte dich schon heute, erschrick nicht, wenn es vorkommt, und kriege nicht deinen Aufschrei.« Als Schultze diesen Satz geendet, fuhr draußen der Wagen fort.

Die Befürchtungen Schultzens erfüllten sich und auch wieder nicht. Allerdings wurde Witwe Möhring eine Zimmervermieterin, ihre Tochter aber hatte scharfe Augen und viel Menschenkenntnis, und so nahmen [sie] nur Leute ins Haus, die einen soliden Eindruck machten. Selbst Schultze, der Kündigungsgedanken gehabt hatte, musste das nach Jahr und Tag zugeben, bei welcher Gelegenheit er nicht unterließ, den Möhrings überhaupt ein glänzendes Zeugnis auszustellen. »Wenn ich bedenke, Buchhalter in einer Schneiderei, und die Frau kann doch auch höchstens eine Müllertochter sein, so ist es erstaunlich. Manierlich, bescheiden, gebildet. Und das Mathildchen, sie muss nu wohl siebzehn sein, immer fleißig und grüßt sehr artig. Ein sehr gebildetes Mädchen.«

Das war nun schon wieder sechs Jahr her, und Mathildchen war nun eine richtige Mathilde von dreiundzwanzig. Das heißt, eine so ganz richtige Mathilde war sie doch nicht, dazu war sie zu hager und hatte einen grisen Teint. Und auch das aschblonde Haar, das sie hatte, passte nicht recht zu einer Mathilde. Nur das Umsichtige, das Fleißige, das Praktische, das passte zu dem Namen, den sie führte. Schultze hatte sie auch mal ein appetitliches Mädchen genannt. Dies war richtig, wenn er sie mit dem verglich, was ihm an Weiblichkeit am nächsten stand, enthielt aber doch ein bestimmtes Maß von Übertreibung. Mathilde hielt auf sich, das mit dem »propper« hatte sich ihr eingeprägt, aber sie war trotzdem nicht recht zum Anbeißen, was doch das eigentlich Appetitliche ist, sie war sauber, gut gekleidet und von energischem Ausdruck, aber ganz ohne Reiz. Mitunter war es, als ob sie das selber wisse, und dann kam ihr ein gewisses Misstrauen, nicht in ihre Klugheit und Vortrefflichkeit, aber in ihren Charme, und sie hätte dies Gefühl vielleicht großgezogen, wenn sie sich nicht in solchen kritischen Momenten eines unvergesslichen Vorgangs entsonnen hätte. Das war in Halensee gewesen an ihrem siebzehnten Geburtstag, den man mit einer unverheirateten Tante in Halensee gefeiert hatte. Sie hatte sich in einiger Entfernung von der Kegelbahn aufgestellt und sah immer das Bahnbrett hinunter, um zu sehn, wieviel Kegel die Kugel nehmen würde, da hörte sie ganz deutlich, dass einer der Kegelspieler sagte: »Sie hat ein Gemmengesicht.« Von diesem Worte lebte sie seitdem. Wenn sie sich vor den alten Stehspiegel stellte, dessen Mittellinie ihr grad über die Brust lief, stellte sie sich zuletzt immer en profil und fand dann das Wort des Halenseer Kegelschützen bestätigt. Und durfte es auch; sie hatte wirklich ein Gemmengesicht, und auf ihre Photographie hin hätte sich jeder in sie verlieben können, aber mit dem edlen Profil schloss [es] auch ab, die dünnen Lippen, das spärlich angeklebte, aschgraue Haar, das zu klein gebliebne Ohr, daran allerhand zu fehlen schien, alles nahm dem Ganzen jeden sinnlichen Zauber, und am nüchternsten wirkten die wasserblauen Augen. Sie hatten einen Glanz, aber einen ganz prosaischen, und wenn man früher von einem Silberblick sprach, so konnte man hier von einem Blechblick sprechen. Ihre Chancen auf Liebe waren nicht groß, wenn sich nicht jemand fand, dem das Profil über alles ging. Sie hatte deshalb auch den gebildeten Satz akzeptiert und operierte gern damit: »In der Kunst entscheidet die Reinheit der Linie.« Rechnungsrat Schultze hatte sich anfangs durch diesen Satz blenden lassen.

Als er ihn aber nochmals gehört hatte, merkte er die Absicht und wurde verstimmt und sagte zu seiner Frau: »Ich bin mehr fürs Runde.« Das tat der Rechnungsrätin wohl, denn es war das Einzige, was sie hatte.

Zweites Kapitel

Die Sonne schien, und eine milde Luft ging, und jeder, der in die Georgenstraße einbog und die Bäume sah, die hier und da noch ihre vollbelaubten Zweige über einen Bretterzaun streckten, hätte auf Anfang September raten müssen, wenn nicht vor mehreren Häusern und auch vor dem Rechnungsrat Schultzeschen Hause ein großer Riesenwagen gestanden hätte mit einem Leinwandbehang und der Inschrift Möbel-Transport von Fiddichen, Mauerstraße 17. Die Seitenwände mehrerer auseinandergenommener Bettstellen waren schräg an den Wagen gelegt, und auf dem Straßendamm stand ein Korb mit Küchengeschirr und an den Korb gelehnt ein Bild in Barockrahmen: hohes gepudertes Toupet und geblümtes Mieder, soweit sich davon sprechen ließ, denn das wichtigste Stück, soweit die Dezenz in Betracht kam, hatte der Maler zu malen unterlassen und der sich darin bergenden Natur freien Lauf gelassen. Alles in allem, es war Ziehzeit, also nicht Anfang September, sondern Anfang Oktober, Ziehzeit, wodurch die Georgenstraße sehr gewann; solchen Wagen und solch Porträt sah man in der Georgenstraße nicht alle Tage, weshalb etliche Menschen und eine ganze Anzahl Kinder den Wagen und das Bild umstanden.

Unter denen, die das Bild mit Interesse musterten, war auch ein junger Mann von etwa sechsundzwanzig. Sein Alter zu bestimmen war nicht leicht, weil zwischen dem Ausdruck seines Gesichts und seinem schwarzen Vollbart ein Missverhältnis war, der Ausdruck war jugendlich, der Bart plädierte für Mann in besten Jahren. Aber der Bart hatte unrecht, er war erst sechsundzwanzig, etwas über mittelgroß, breitschultrig, Figur und Bart nach ein Mann und überhaupt so recht das, was gewöhnliche Menschen einen schönen Mann nennen. Er hätte sich sehen lassen können.

Als er mit seiner Musterung des Bildes fertig war, nahm er seine eigentliche Aufgabe wieder auf und begann über den Straßendamm weg die an der andern Straßenseite stehenden Häuser zu mustern. Er war nämlich auf der Wohnungssuche. Die Götter waren mit ihm, und kaum dass sich sein Blick auf das Haus gegenüber gerichtet hatte, so las er auch schon an einem über der Haustür angebrachten Zettel: »Drei Treppen hoch links ein elegant möbliertes Zimmer zu vermieten.« Er nickte, wie wenn er zu sich selbst sagte: »Scheint mir; hier will ich Hütten baun.« Und gleich danach ging er über den Damm und stieg die drei Treppen hinauf; oben angekommen, war er ein wenig unwirsch, dass es eigentlich vier waren. Er klingelte und hatte nicht lange zu warten; Frau Möhring öffnete.

»Ist es bei Ihnen?«

»Wegen des Zimmers? Ja, das ist hier. Wenn Sie sich’s ansehen wollen …«

»Ich bitte darum.«

Und nun trat Frau Möhring in ein einfenstriges Mittelzimmer zurück, das als Entree für rechts und links diente und drin nichts stand als ein einreihig besetzter Bücherschrank mit einem Vogelbauer darauf. Der im Sommer gestorbne Zeisig war noch nicht wieder ersetzt worden. Sonst nur noch zwei Stühle und ein weißer Leinwandstreifen als Läufer und am Fenster eine Aralia mit einer kleinen Gießkanne daneben. Alles dürftig, aber sehr sauber. Und nun öffnete Frau Möhring die Tür, die rechts nach dem zu vermietenden Zimmer führte. Hierher hatten sich alle Anstrengungen konzentriert: ein etwas eingesessenes Sofa mit rotem Plüschüberzug und ohne Antimakassar, Visitenkartenschale, der Große Kurfürst bei Fehrbellin und das Bett von schwarz gebeiztem Holz mit einer aus Seidenstückchen zusammengenähten Steppdecke. Die Wasserkaraffe auf einem großen Glasteller, so dass es immer klapperte.

Der schöne Mann mit dem Vollbart sah sich um, und wahrnehmend, dass die beiden Dinge fehlten, gegen die er eine tiefe Aversion hatte, Öldruckbilder und Antimakassars, war er sofort geneigt zu mieten, vorausgesetzt, dass er Aussicht hatte, für seine kleinen Bequemlichkeiten seitens der Wirtin gesorgt zu sehn. Gegen den bescheiden bemessenen Preis hatte er keine Einwendungen zu erheben, Portierfrage, Hausschlüssel, alles war geregelt, und er frug eben nach dem Hausschlüssel, als Mathilde Möhring vom Entree her eintrat. »Meine Tochter«, sagte Frau Möhring, und Mathilde und der schöne Mann begrüßten sich und musterten einander, sie eindringlich, er oberflächlich.

»Ich nehme an, dass ich die Kleinigkeiten, die man so braucht, ohne viel Umstände zu machen, haben kann: Frühstück, Kaffee und mal ein Ei, Tee, Sodawasser, ich brauche viel Sodawasser und dem Ähnliches.«

Mathilde, die wie selbstverständlich das Wort nahm, versicherte, dass man das alles im Hause habe und dass von Umstände keine Rede sein könne. So was gehöre ja wie mit dazu, das Haus sei ruhig und anständig, ohne Musik, der Wirt, ein sehr liebenswürdiger Herr, nähme keinen ins Haus, der Klavier spiele.

»Das trifft sich gut«, lächelte der mit dem Vollbart. »Nun, im Laufe des Tages komme ich noch mit heran und bringe Ihnen bestimmten Bescheid.«

Und bei diesen Worten nahm er wieder seinen breitkrempigen Hut aus weichem Filz und empfahl sich von Mutter und Tochter.

Mathilde begleitete ihn bis an die Flurtür. Als sie wieder zurückkam, hatte sich die Mutter auf das Plüschsofa gesetzt, was sie für gewöhnlich ungern tat, und strich über ein kleines seidnes Rollkissen hin, drauf gelbe Sterne aufgenäht waren.

»Nun, Thilde, was meinst du. Die Stube steht nu schon seit den Ferien leer. Es wird Zeit, dass wir einen Mieter finden. Er, will sich noch besinnen und uns dann einen bestimmten Bescheid bringen. Das ist so Rückzug; das sagen alle die, die nicht wiederkommen wollen.«

»Der kommt wieder.«

»Ja, Thilde, woher weißt du das? Dann hätte er doch gleich mieten können.«

»Freilich. Das hätt er gekonnt, aber so einer sagt nie gleich ja, der besinnt sich immer. Das heißt, eigentlich besinnt er sich nicht, er schiebt nur so bloß ein bisschen raus, gleich ja oder nein sagen, das können nicht viele, und der schon gewiss nicht.«

»Gott, Thilde, du sagst das alles so hin wie’s Evangelium und weißt doch eigentlich gar nichts.«

»Nein, alles weiß ich nicht, aber manches weiß ich. Und wenn ich sage; ›Mutter, so und so‹, dann ist es auch so. Der kommt wieder.«

»Ja, Kind, warum soll er wiederkommen?«

»Weil er bequem ist, weil er keinen Muck hat, weil er ein Schlappier ist.«

»Ach, Thilde, sage doch nur nicht immer so was. Du hast so viele Wörter, die du nicht in den Mund nehmen solltest.«

»Ja, Mutter, warum nicht?«

»Weil es dir den Ruf verdirbt.«

»Ach, was Ruf. Mein Ruf ist ganz gut und muss auch; ich weiß, wo Bartel Most holt, und weil ich’s weiß, pass ich auf. Ich passe ganz schmählich auf. Mir soll keiner kommen. Und was die paar Redensarten sind, na, Mutter, die lass man ruhig. Da halt ich mich dran fest, die tuen mir wohl, und wenn ich so höre, dass einer immer so fromm und faul drum rumgeht, da wird mir ganz schlimm.«

»Ganz schlimm. Das ist nun auch wieder so. Na, rede, wie du willst, ändern kann ich dich doch nicht, du hast immer deinen Willen gehabt von klein an, und Vater hat immer gesagt: ›Laß man; die wird gut, die frisst sich durch.‹ Ja, das hat er gesagt, aber wenn es man wahr ist. Und warum hat er denn keinen Muck? Ich meine den Herrn, von dem du sagst, er wird schon wiederkommen. Und warum wird er denn wiederkommen?«

»Du siehst auch gar nichts, Mutter. Hast du denn nicht seine Augen gesehn? Und den schwarzen Vollbart und or’ntlich ein bisschen kraus. Soviel musst du doch wissen, mit solchen ist nie was los. Ich will dir was sagen, so ganz hat es ihm nicht gefallen, aber es hat ihm auch nicht missfallen, und weil Wohnungsuchen und Treppensteigen langweilig ist und einem Mühe macht, so denkt er bei sich: Gott, eine Wohnung ist wie die andre. Und ruhig ist es und kein Klavier da und die bunte Steppdecke … warum soll ich da nicht mieten. Und ich will dir auch sagen, wie er nun seine Zeit hinbringt, von Suchen und Sichumtun ist keine Rede, dazu ist er viel zu bequem. Er ist nu hier rübergegangen nach dem Bahnhof, da isst er ein deutsches Beefsteak oder vielleicht auch bloß eine Jauersche und trinkt ein Kulmbacher. Und dann geht er noch in Café Bauer, und wenn ihm das schon zu unbequem ist, denn er geniert sich nicht gern und sitzt nicht gerne grade, was man da doch muss, dann geht er nach den Zelten und trinkt seinen Kaffee und sieht zu, wie sie Skat spielen oder Schach, und lacht so ganz still vor sich hin, wenn ein reicher Budiker mit seinem Wagen vorfährt und seinem Pferd ein Seidel geben lässt. Und wenn er damit fertig ist, dann schlendert er so durch den Tiergarten hin bis an den Schiffbauerdamm ran, und dann kommt er über die Brücke und steigt die drei Treppen rauf und mietet. Ich will keinen Zeisig mehr im Bauer haben, wenn es nicht so kommt, wie ich sage.«

Mathilde behielt recht. Ob der Mann mit dem Vollbart in den Zelten gewesen war, entzieht sich der Feststellung, aber so viel steht fest, dass er zwischen fünf und sechs wieder oben bei Möhrings war und mietete.

»Meine Sachen stehen noch auf dem Bahnhof hier drüben. Hier ist meine Karte. Sie können vielleicht jemand rüberschicken und sagen lassen, dass ein Kofferträger oder ein Dienstmann sie rüberbringt. Ich will noch einen Freund besuchen, und wenn ich wiederkomme, hoff ich alles vorzufinden.«

Frau Möhring versprach alles. Als er fort [war], sagte Mathilde: »Siehst du, Mutter. Wer hat recht? Du wirst auch noch hören, dass er in den Zelten war.«

Drittes Kapitel

Die Sachen kamen, ein Koffer und eine große Kiste, und als Mutter und Tochter die Kiste bis dicht ans Fenster geschoben, den Koffer aber auf einen Kofferständer gestellt hatten, zogen sie sich in ihr an der linken Seite des Entrees gelegenes Wohnzimmer zurück. Es sah sehr ordentlich darin aus und auch nicht ärmlich. Vor dem hochlehnigen Kissensofa lag ein Teppich, Rosenmuster, und neben dem Stehspiegel mit dem Riss in der Mitte standen zwei Ständer, in die Blumentöpfe, ein roter und ein weißer Geranium, gesetzt waren. Auf einem Mahagonischrank stand ein Makart-Bouquet, neben dem Schrank eine Hänge-Etagere mit einer geschweiften Perlenstickerei. Der weiße Ofen war blank, die Messingtür noch blanker, und zwischen Ofen und Tür an einer Längswand, dem invaliden Sofa gegenüber, stand eine Chaiselongue, die vor kurzem erst auf der Auktion eines kleinen Gesandten erstanden war und nun das Schmuckstück der Wohnung bildete. Daneben ein ganz kleiner Tisch mit einer Pendeluhr darauf, die einen merkwürdig lauten Schlag hatte.

Mathilde stellte sich vor den Spiegel, um sich den Scheitel etwas glattzustreichen, denn ihr Haar war sehr dünn und hatte eine Neigung, sich in Streifen zu teilen, Mutter Möhring aber setzte sich auf das Sofa, grad aufrecht, und sah nach der Wand gegenüber, wo ein Pifferaro auf einem Felsen saß und, seinen Dudelsack blasend, einfältig und glücklich in die Welt sah. Mathilde sah im Spiegel, wie die Mutter so steif und aufrecht dasaß, und sagte, ohne sich umzudrehn: »Warum sitzt du nu wieder auf

dem harten Sofa und kannst dich nicht anlehnen. Wozu haben wir denn die Chaiselongue?«

»Na, doch nicht dazu.«

»Freilich dazu. Freilich, und war noch dazu gar kein Geld. Und nu denkst du gleich, du ruinierst es und sitzt ein Loch hinein. Ich hab es mir gespart und habe mich gefreut, als ich dir’s aufbaun konnte.«

»Ja, ja, Thilde, du meinst es gut.«

»Und Rückenschmerzen hast du immer und klagst in einem fort. Und doch willst du nicht drauf liegen. Und wenn du noch recht hättest. Aber es ruiniert nicht, und wovon sollt es auch, du wiegst ja keine hundert Pfund.«

»Doch, Thilde, doch.«

»Und wenn auch; je eher das Ding eine kleine Sitzkute hat, desto besser; so steht es bloß da wie geliehn und als graulten wir uns, uns draufzusetzen. Und so schlimm ist es doch nicht, wir haben ja doch unser Auskommen und bezahlen unsre Miete mit’m Glockenschlag. Also warum machst du dir’s nicht bequem. Und dann sieht es auch besser aus, wenn man so sieht, es ist in Dienst. Der Spiegel ist alt, und das Sofa ist alt, und da darf die Chaiselongue nicht so neu sein. Das passt nicht, das stört, das ist gegen’s Ensemble.«

»Gott, Thilde, sage nur nicht so was Franzö’sches; ich weiß dann immer nicht recht. Zu meiner Zeit, da war das alles noch nicht so, und mein Vater wollte von Schule nichts wissen. Na, du weißt ja. Wohin man kuckt, immer hapert es. Sieh mal hier seine Karte. Hugo Großmann. Na, das versteh ich, aber nu kommt sein Titel oder was er ist, und da weiß ich nicht, was soll das heißen Cand. jur.?«

»Das heißt, dass er Kandidat ist.«

»Soso, na, das ist gut, dann ist es ein Prediger oder wird einer.«

»Nein, dieser nicht. Dieser is bloß ein Rechtskandidat. Das heißt soviel als wie, er hat ausstudiert und muss nun sein Examen machen, und wenn er das gemacht hat, dann ist er ein Referendarius. Er ticktackt jetzt so hin und her zwischen Student und Referendarius.«

»Na, wenn er nur bleibt. Glaubst du, dass er bleibt?«

»Natürlich bleibt er.«

»Ja, du bist immer so sicher, Thilde. Woraus willst du wissen, dass er bleibt?«

»Ach, Mutter, du siehst auch gar nichts. Wo der mal sitzt, da sitzt er. Der ist bequem. Und eh der wieder auszieht, da muss es schon schlimm kommen. Und schlimm kommt es bei uns nicht. Wir sind artig und manierlich und immer gefällig und laufen alle Gänge und sehen bloß, was wir sehen wollen.«

»Glaubst du, dass er …«

»I, Gott bewahre. Der is wie Gold. Mit dem kann man drei Tage und drei Nächte fahren. Einen so Anständigen haben wir noch gar nicht gehabt. Und dann musst du bedenken, er is vorm Examen, und wir haben kein Klavierspiel. Auf dem Hof das bisschen Leierkasten, das hört er nicht. Und ich will dir noch mehr sagen, Mutter; der bleibt nicht bloß, der bleibt auch lange. Denn sehr anstrengen wird er sich nicht. Er sieht so recht aus wie ›Kommst du heute nicht, so kommst du morgen.‹ Und vielleicht morgen auch noch nicht.«

 

Hugo Großmann, der noch keine Schlüssel hatte, war drei Minuten vor zehn nach Hause gekommen und [hatte] für alles, was ihm noch angeboten wurde, gedankt; er sei sehr müde, vorige Nacht unterwegs, und sei auch noch soviel andres. Mutter Möhring, die sich noch einen Augenblick im Entree zu schaffen machte, hörte noch, dass er das Streichhölzchen strich, und sah den Lichtschimmer, der gleich danach unter der Tür weg bis in das Entree fiel. Dann hörte sie, dass er sich die Stiefel mit einem raschen Ruck auszog, wie einer, der schnell ins Bett will, und keine Minute mehr, so war es wieder dunkel.

Der nächste Tag war so schön wie der vorige. Möhrings waren Frühaufs, und heute waren sie schon um sechs auf, weil sie doch nicht wissen konnten, ob ihr Mieter nicht ein Frühauf sei.

»Ich glaube nicht, dass er ein Frühauf ist«, sagte Mathilde, »aber man kann doch nicht wissen. Und in der ersten Nacht schlafen viele so unruhig.«

Es war wohl schon acht, als Mathilde das aussprach und hinzusetzte: »Du sollst sehn, Mutter, der hat einen Bärenschlaf. Um den brauchst du dir die Nacht nicht um die Ohren zu schlagen, und von Weckeraufziehn is nu schon gar keine Rede mehr. Na, mir recht. Wenn erst Winter ist, schlaf ich auch gern aus und warte lieber mit meinem Kaffee. Bloß, dass man um acht die ausgesuchten Semmeln kriegt.«

Unter diesen Worten stand sie auf und sah nach der kleinen Pendeluhr. Es war schon ein paar Minuten über halb neun. »Mutter, ich werde doch wohl klopfen müssen. Ich hatte ihn so auf neun Stunden taxiert, aber nun ist es schon zehn und eine halbe. Was meinst du?«

»Versteht sich; es kann ihm ja auch was passiert sein.«

»Gewiss, kann. Aber es wird wohl nicht.«