Die tote Millionärin
Der Herbststurm peitschte den Regen an die Windschutzscheibe. Der Wischer arbeitete auf Hochtouren. Nore Brand spähte durch den nassgrauen Vorhang auf die Straße, die sich zwischen den Felsen hindurch ins Simmental zwängte. Zur Linken stand die Burgfluh wie ein Torwächter, düster und drohend. Im Hintergrund gab der Niesen Deckung.
Das graue Alltagsgesicht dieser Gegend kannte sie nicht. Als Kind hatte ihr Vater sie zum Schlitteln und zum Skifahren mitgenommen. Die Bilder der Erinnerung zeigten nichts als leuchtende Schneelandschaften und tiefe, verschneite Hausdächer links und rechts von der Straße. Und eine unendliche Anzahl Kurven.
Diese Kurven waren zu viel für den kindlichen Magen. Ihr Vater hielt an und versuchte mithilfe von Schnee, die Spuren von ihren und seinen Kleidern zu entfernen. Sie selbst, die Kleine, stand hilflos da und fühlte sich elend.
»Bald sind wir oben«, tröstete er sie. »Wenn du einmal groß bist und selbst am Steuer sitzt, passiert das nicht mehr. Du wirst schon sehen.«
Genauso war es auch geschehen.
Als Kind hatte sie ihren Vater für einen Propheten gehalten, weil er immer zum Voraus wusste, was geschah, und ihre Kindheit endete genau an dem Tag, als er die Familie verließ.
Noch eine lange Kurve zwischen Bäumen und hoch aufragenden Felsen und dann musste ›Der Tannenhof‹ auftauchen.
Sie hatte Hunger. Sie musste essen. Jetzt brachte auch die größte Eile nichts mehr. Der Dorfpolizist habe nicht den geringsten Verdacht gehabt. Man war davon ausgegangen, dass die Frau ertrunken sei. Ein dummer Unfall, nichts weiter. Das hatte der Chef ihr mitgeteilt.
»Du musst diesen Fall übernehmen, Nore«, hatte er gesagt, und dabei kaum vom Bildschirm aufgesehen, »Bärfuss leidet seit ein paar Tagen an einer schweren Erkältung.«
Ihr Chef war kein Polizist. Eher ein heimlicher Archivar. Er ordnete mit Hingabe alte und uralte Akten. Er sicherte, was das Zeug hielt, und bevor er den Computer herunterfuhr, kontrollierte er alle gesicherten Dokumente. In keinem Büro brannte das Licht länger als bei ihm. Zweifellos wurde er nachts von grauenvollen Alpträumen heimgesucht, in denen sämtliche Computerkabel von gummisüchtigen Stadtmardern gefressen wurden, was zu einer finalen Explosion führte, die das ganze Gebäude, das ganze Stadtzentrum und damit sämtliche Daten vernichtete.
Wer konnte so noch ruhig schlafen?
Aus dieser Perspektive betrachtet, war Sisyphus nicht einmal so übel dran gewesen.
Auch Bastian Bärfuss war kein Polizist. Er putzte seine Pfeife und pflegte Pflanzen in seinem Büro und achtete darauf, dass die antike Zuckerdose aus Silber, die seinen Schreibtisch zierte, frei von Staub blieb. Wo waren sie geblieben, die richtigen Polizisten? War es ein Jugendtraum, die Welt zu ordnen, für das Recht einzustehen? Vergaß man diese Träume, sobald man begriff, dass alles viel komplizierter war, als man es sich je hätte vorstellen können? Erwachte man eines Morgens und wusste nicht mehr, was richtig und falsch war? Begann man an genau jenem Morgen, die Büropflanzen zu hegen und zu pflegen, oder endlos Archive zu sichten und Ordner zu ordnen? Und heimlich alle Alpträume im Tagebuch zu notieren?
»Eleonora, was willst du bei der Polizei? Die Welt ist so, wie sie ist, und auch du wirst sie nicht ändern können«, hörte sie ihre Mutter rufen. Nore Brand sah ihre Mutter in der Küche herumwirbeln, mit fliegenden Haaren, geröteten Wangen und Knoblauch unter den Fingernägeln. La Mamma.
Sie parkte den Wagen und starrte eine Weile in den dunklen Tannenwald, der sich hinter dem Gasthof steil den Berg hinaufzog.
Als wissenschaftliche Mitarbeiterin hatte sie angefangen, vor vielen Jahren. Damals, als die Polizei sich um Statistiken bemühen musste; die Menschheit rief plötzlich nach Fakten und Zahlen. Nore Brand hatte genug von der Arbeit im Röntgeninstitut und meldete sich bei der Polizei. Die Arbeit in der Abteilung Statistiken langweilte und empörte sie. Sie hatte nicht gewusst, dass der größte Teil aller Verbrechen ungeklärt blieb. Sie bekam dann die Gelegenheit, gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt etwas zu unternehmen, weil der Prophet mit Bastian Bärfuss zusammen die Schulbank gedrückt hatte.
Vielleicht war es wirklich so, dass man eines Morgens aufwachte und nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, was richtig und was falsch war. Sie hatte sich geschworen, an genau diesem Tag den Dienst zu quittieren, auf dem Nachhauseweg im Farbwarengeschäft haltzumachen und mit den neuen Errungenschaften den grauen Wänden ihrer Wohnung den Garaus zu machen. Auf diesen Tag war sie vorbereitet. Auf ihrem Nachttischchen lag unter einem Stapel Comics ein Buch über harmonische Farben für das schöne Zuhause. Den letzten beruflichen Tiefschlag hatte sie mit Himbeerrot verarbeitet. Diese Farbe stand dem alten Briefkasten ausgezeichnet. Doch nun stand der nächste Fall an und die Tage als Innendekorateurin schienen ihr fern.
Dem Tonfall ihres Chefs hatte sie entnommen, dass diesem Todesfall nicht viel Bedeutung beigemessen wurde. Dorfgerede. Eine Frau, immerhin Millionärin, Kurgast seit vielen Jahren, war offenbar ertrunken, weit über 80, in idyllischer Umgebung, im Lenkersee. Das traurige Ende einer Frau, die sich frühmorgens aufgemacht hatte, um in der frischen Luft gesund zu werden. Es war früh gewesen, zu früh vielleicht für sie, ein leichter Schwindelanfall und schon war es geschehen. Die Erben hatten den geringsten Grund, sich über dieses abrupte Ende zu beklagen.
Doch irgendjemand wusste plötzlich mehr. Wie oft hatte sie das erlebt. Also musste man der Sache nachgehen, jedenfalls war der Dorfpolizist plötzlich dieser Ansicht, denn alles müsse seine Ordnung haben. Die späte Einsicht ihres Kollegen war sonderbar, sie war eigentlich das Sonderbarste an diesem Fall.
Der Regen hatte etwas nachgelassen.
Nore Brand dachte an Nino Zoppa.
Er würde die Fahrt im alten Rüttelzug verwünschen. Und im besten Fall nie mehr unpünktlich sein.
Als sie aus dem Wagen kletterte, blies ihr ein kalter Wind entgegen. Sie zog die Daunenjacke enger um die Schultern und lief über den leeren Parkplatz, um einen Blick in den tosenden Bergbach zu werfen. Eisiger Wasserstaub prickelte auf ihrem Gesicht.
›Frische Forellen und gutbürgerliche Küche‹, verkündeten schwungvolle Kreidebuchstaben auf einer verwitterten schwarzen Tafel vor der Treppe, die zum Eingang des Gasthofs führte.
In der dunklen Gaststube war es warm. Ein Geruch von Fisch, Bier, Rösti und Kaffee umfing sie.
Eine halbe Stunde später verließ sie den Gasthof und steuerte den Wagen weiter das Tal hinauf. Die gewaltige Portion Tannenhof-Rösti mit Schinken, Ei und Käse überbacken lag schwer wie ein Felsbrocken in ihrem Magen. Immerhin hatte es inzwischen zu regnen aufgehört und ein heftiger Bergwind schob die Regenwolken über die Berge ins Wallis hinunter.
Die Vorfahren ihrer Mutter, die Familie Fonte von Brescia, waren über diese Berge gekommen. Die Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben hatte sie über unwegsame Pässe nach Norden getrieben und unempfindlich gemacht gegen die Kälte, mit der sie von Land und Leuten empfangen wurden. Ihre Mutter hatte sie unablässig daran erinnert. Doch das war längst vorbei; Nore war eine der ihren geworden. Nur diese Sehnsucht nach einer besseren Welt, um die man unablässig kämpfen musste, hatte sie ihrer Tochter hinterlassen.
In der Ferne sah sie die weißen Spitzen der Berge, die das Tal abschlossen, die schroffen Felsgrate, Wasserfälle, die wie silbrig glänzende Fäden an den grauen Felsmassen hingen, tiefer dann die Baumgrenze und noch tiefer die Weiden mit den Hütten und Bauernhöfen. Ganz hinten in der Talmulde erkannte sie die ersten Häuser und die zwei Kirchtürme des Dorfes. Etwas abseits vermutete sie das Grandhotel Belvedere. Und nicht weit davon entfernt, von hohem Schilf umgeben, der Lenkersee und dahinter der Wildstrubel.
»Wildstrubel heißt der größte Berg dort hinten. Siehst du ihn?«
»Mhm«, sagte die Kleine.
Der Name gefiel ihr. Sie dachte an den Struwwelpeter.
Die Kleine sah so viele Berge, so viele Felsen. Aber wo hörte ein Berg auf und wo begann der nächste?
Von da an stellte der Prophet jedes Mal, wenn sie ins Simmental fuhren, die gleiche Frage. »Weißt du, wie der riesige Berg dort hinten heißt?«
»Wildstrubel«, sagte sie dann und wusste, dass der Prophet zufrieden war mit ihr.
Was hatte dieser Berg wohl angestellt, dass er so hieß?
»Früher lag das ganze Tal unter einem großen Gletscher«, hörte sie seine Stimme.
»Wie viel früher?«
Der Prophet machte unerträglich lange Denkpausen. »Stell dir vor, wie lange es geht, bis dein Schneemann geschmolzen ist und der ist nur aus Schnee. Nicht aus Eis. Wenn Mama den Eisschrank auftaut, um ihn zu putzen, muss sie ihn über Nacht offen stehen lassen, damit das Eis am Morgen Wasser geworden ist. Als der Gletscher das Tal ausfüllte, brauchte es viele, viele Jahre, bis er geschmolzen war.«
Die Kleine runzelte die Stirn. »So lange?«
»Ja, so lange«, wiederholte der Prophet.
Die Kleine reckte den Hals, um bis zu den Bergspitzen zu sehen. So viel Eis und das war nun weg.
»Inzwischen ist das halbe Tal im Ozean, auch die Berge werden mit der Zeit dort enden.«
Die Kleine schaute den Wolken nach. Die Lehrerin hatte eine bunte Zeichnung an die Wandtafel gemalt, um zu zeigen, wie das Wasser verdunstete und zu Wolken wurde. Dann hatte sich die ganze Klasse um den Wasserkocher gestellt und zugeschaut, wie das kochende Wasser dampfend aus dem Gefäß stieg. Die Lehrerin war jung, schön und sie duftete nach Parfum und die Kleine glaubte ihr alles. Sogar die Geschichte vom See, der sich in eine federleichte Sommerwolke verwandeln konnte.
Nore Brand sah ihren Vater vor sich sitzen mit seinem schmalen Nacken und den dünnen Haaren oben auf dem Kopf. Aber er hatte einen dichten Bart, so wie der Prophet in ihrer Kinderbibel.
»Deine Mutter hat mich nie wirklich gebraucht, Eleonora.«
In ernsthafteren Situationen hieß sie Eleonora. Für den Alltag genügte Nora. Für alle anderen war sie einfach Nore. Ihre Mutter hatte bei der Geburt ihrer ersten Tochter an eine Großtante aus Sizilien gedacht und an eine hoch verehrte italienische Schauspielerin.
Eleonora. Das klang nach Federboa, verwegener Augenschminke, dramatischen Gesten und einem Schuss Hysterie. Nein, Nore genügte ihr. Dieser Name bot immerhin Entfaltungsmöglichkeiten.
Jacques nannte sie Eléonore. Mit so etwas hatte sie nie gerechnet. Sie war völlig arglos an die Klassenzusammenkunft gegangen. Vielleicht war es ein Naturgesetz, dass man mit vierzig und ein kleines bisschen mehr plötzlich wissen wollte, wie es um die anderen stand. Auch Jacques war dabei gewesen. Wie sie zum ersten Mal. Er hatte ihr verschmitzt zugelächelt, genau so wie damals, als sie ihn dabei ertappte, wie er hastig ihren Pultdeckel schloss. Die Winnetou-Postkarten waren also alle von ihm gewesen. Winnetou und seine Silberbüchse, Old Shatterhand und Tante Droll. Ein paar Tage später erhielt Jacques in der Schulbibliothek hinter einem Regal einen Kuss dafür. Das war der erste Kuss ihres Lebens gewesen. Und nun, so viele Jahrzehnte später, hatte der große Jacques von der großen Eléonore wissen wollen, ob dieser Kuss dem edlen Indianer oder dem kleinen Jacques gegolten hätte. Nore konnte nicht begreifen, dass die Antwort auf diese Frage sie in Verlegenheit brachte. Sie merkte, wie sie rot anlief, worauf sich Jacques nach all diesen Jahren den Kuss holte, der ihm längst zustand. Seiner Ansicht nach.
Kurz bevor sie das Dorf erreichte, riss der Wind den Himmel auf, er leuchtete blau und die Sonne schien auf die grünen Berghänge.
Der Bahnhof war menschenleer. Als sie die Tür zum Warteraum öffnete, sah sie ihn. Er saß in sich zusammengesunken auf einer Bank und schlief. Friedlich wie ein Engel. Seine langen dünnen Beine ragten weit in den Raum hinein. Die Hände hatte er tief in die Taschen seiner weiten Steppjacke gebohrt. Eine tiefe Steilfalte teilte die dunklen Augenbrauen. In seinen Ohren steckten schwarze Stöpsel.
»Dein Zauberlehrling«, hatte Bärfuss gespottet.
Diese Jugend kam mit technischen Geräten verkabelt auf die Welt.
Seit drei Tagen war er kahl geschoren. Er sah aus wie ein gehäutetes Robbenbaby. Sie stand einen Augenblick vor ihm. Nein, er würde kaum von selbst erwachen. Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Vergeblich. Sie packte das Gerät, das locker in seiner Hand lag, und stellte die volle Lautstärke ein. Da zuckte er wie elektrisiert hoch und riss die Stöpsel aus den Ohren.
»Scheiße. Wer?« Er stand in seiner ganzen Länge vor ihr und schaute fassungslos auf sie herab. »Frau Brand?« Er rieb sich die sausenden Ohren.
Nore Brand drehte sich wortlos um und ging auf den Ausgang zu.
Er folgte ihr, er warf sich auf den Nebensitz und riss die Autotür wütend zu. »Ich war heute Morgen nur fünf Minuten zu spät.«
»Nur fünf Minuten? Wie hätte ich das wissen sollen?«
»Bei mir sind es immer höchstens fünf Minuten. Nur ganz selten einmal länger.«
Nore Brand startete den Wagen. »Gewöhnen Sie sich einfach dran, fünf Minuten eher zu kommen. Das lässt sich bestimmt irgendwie einrichten«, sagte sie und fuhr los.
Er starrte aus dem Fenster. »Sie sind wirklich knallhart«, sagte er nach einer Weile.
»Ja.«
»Sie werden mit mir noch andere Probleme haben.«
»Das nehme ich an.«
»Ich lasse mich versetzen, und zwar so schnell wie möglich.«
»Ich werde Sie nicht daran hindern.« Sie spürte seinen fassungslosen Blick.
»Was tun wir in diesem Kaff?«, fragte er schließlich.
»Einen Fall lösen.«
Nino räusperte sich. »Meine Mutter sagte immer, ›Beim nächsten Mal setzt es etwas ab‹, wenn ich zu spät war.«
Mütter. Gab es tatsächlich nichts Neues unter der Sonne?
»Im Unterschied zu Ihnen gab sie mir immer wieder eine Chance.«
Nore Brand schwieg.
»Sie hat in einem Kurs gelernt, dass manche Menschen länger brauchten, um sich in die Strukturen der Gesellschaft einzufügen. Erziehung hängt immer ab von individuellen Entwicklungsprozessen.«
Das war also Nino Zoppa, das Wunderkind, das man ihr zugeteilt hatte.
Eine Gruppe von älteren Wanderern hastete wie eine aufgeregte Hühnerschar über die Straße, Richtung Bergbahn Betelberg.
»Erziehung?«, wiederholte sie. »Sie sind bei der Polizei und nicht in der Kindertagesstätte.«
Nore Brand spürte, wie sich eine riesige Gedankenblase über seinem Kopf auftürmte.
Dumme Kuh!, schrien die gezackten Buchstaben.
Sie fuhr auf den freien Parkplatz vor dem Polizeibüro.
In der Kantine hatte sie erfahren, dass dieses Bürschchen an ihrer Seite die beste Aufnahmeprüfung für die Polizeischule gemacht hatte. Vielleicht würde sie einmal erfahren, wie das möglich gewesen war.
Nino Zoppa hatte das Schild entdeckt. »Die haben hier oben ja selbst eine Polizei. Können die ihren Mist nicht selbst erledigen?«
Nore Brand stellte den Motor ab. »Wenn man die Straße da weiterfährt, zweigt ein kleiner Weg ab und etwa 100 Meter weiter liegt der Lenkersee. Dort wurde letzten Samstagmorgen die Leiche einer Frau gefunden. Deshalb sind wir da.«
Sie öffnete die Tür und stieg aus. Sie stand bereits auf der obersten Stufe, als Nino Zoppa beide Füße neben das Auto setzte. Der Gemeindepolizist Bucher öffnete die Tür. Er betrachtete sie misstrauisch, bevor er sie grüßte.
»Herr Bucher?«, fragte sie.
»Brand?«, fragte er mit zusammengekniffenen Augen zurück.
Sie trat einen Schritt näher, damit sie auf ihn hinunterschauen konnte. Das half manchmal.
»Kommissarin Brand?«
Sie war nicht Kommissarin, aber sie ließ ihn im Glauben. Bärfuss hatte sie bei jeder Gelegenheit als Kommissarin Brand vorgestellt. Nie hatte jemand nachgefragt und Nore Brand hatte keine Lust mehr, die Sache von A bis Z zu erklären.
»Der Chef wollte mir doch Bärfuss schicken, den Bastian.«
»Der hat sich erkältet.«
»Erkältet? Bärfuss erkältet? Hat der keine besseren Ausreden mehr?«
Sein Gesicht sah ungesund aus, gerötet und aufgedunsen. Dieser Mann hieß sie nicht willkommen, so schob sie sich an ihm vorbei in den Raum hinein.
Als Bucher die Tür hinter ihr schließen wollte, schob sich ein großer Basketballschuh zwischen Tür und Angel. Verdutzt öffnete Bucher die Türe nochmals, worauf der kahle Kopf von Nino Zoppa hoch über ihm erschien.
Bucher starrte ihn von unten herauf feindselig an.
»Das ist Nino Zoppa. Mein Assistent«, sagte Nore Brand.
»Assistent? So, für Assistenten reicht das Geld also? Und meinen Kollegen haben sie nie ersetzt.« Kopfschüttelnd wühlte er sich hinter seinen Schreibtisch, öffnete die oberste Schublade und nahm einen Autoschlüssel heraus. »Ich zeige Ihnen, wo es passiert ist.«
Buchers Büro roch nach verdorbenem Magen und Angst vor offenen Fenstern.
Im Augenwinkel sah sie, wie Nino Zoppa sich die Nase zuhielt und nach Luft schnappte.
Sie kamen vom Regen in die Traufe. In Buchers Wagen roch es nach nassem Hund. Nino Zoppa unterdrückte einen Fluch und klemmte seine Nase wieder zu.
»Es ist nicht weit«, sagte Bucher knapp. Er warf einen Blick nach hinten. »Sind Sie drin?«
Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er los. Sie waren längst auf der Straße, als Nore Brand hörte, wie Nino die Tür vorsichtig schloss.
Wenige Minuten später stand Nore Brand auf dem Holzsteg. Auf der Seite, wo Klara Ehrsam das Gleichgewicht verloren haben sollte, hatte man die Brüstung entfernt. An einer braunen Schnur hing ein Karton. Ein improvisiertes Warnschild. Polizist Bucher war ihrem Blick gefolgt.
»Das Holz war morsch. Es sollte noch diese Woche repariert werden, aber der Schreiner hatte keine Zeit. Immerhin hat er ein Seil hingehängt«, erklärte Bucher hastig.
»Wenn keine Klage kommt deswegen, dann haben Sie Glück gehabt«, murmelte Nore Brand. »Aber auch wenn hier jemand vom Steg fällt, ertrinkt er nicht.«
Bucher räusperte sich. »Vielleicht ist sie hinuntergeklettert, um die Enten zu füttern.«
Sie suchte die Stelle mit den Augen ab. Fußabdrücke von Schaulustigen. »Wo lag sie?«
»Da, rechts vorne.«
Man sah gar nichts. Kein Wunder, schließlich waren seit dem Unfall drei Tage vergangen.
»Haben Sie die Leiche im Wasser liegen gesehen?«
Polizist Bucher schaute auf den See hinaus. »Der Doktor hatte sie schon ins Hotel gebracht, als man mich benachrichtigte.« Er zupfte nervös an seiner Jacke.
»Hat man die Todesursache feststellen können?«
Bucher zuckte mit den Schultern. »Herzstillstand oder Hirnschlag. Ich weiß nicht mehr, was der Doktor gesagt hat. Etwas Tödliches eben.«
»Keine Fremdeinwirkung?«
Bucher schüttelte den Kopf. »Keine äußeren Verletzungen, nein. Hat man mir jedenfalls gesagt. Vielleicht ist sie einfach ertrunken, vielleicht war sie tot, bevor sie im Wasser war. Etwas unüblich hier draußen, wo die Luft so belebend sein soll«, höhnte Bucher.
Nore Brand schaute an ihm vorbei.
Nein, hier ertrank man nicht so einfach.
Bucher bedauerte es ganz offensichtlich sehr, um Unterstützung gebeten zu haben.
»Wo hat man sie hingebracht?«
Bucher wies mit dem Kinn zum Dorf zurück. »Ins Belvedere. Der Doktor hatte es so angeordnet. Schließlich war sie seine Patientin.«
Nore Brand schaute über den See. Blässhühner und Stockenten zogen friedlich ihre Bahnen. Sie hatten gesehen, was sich an jenem Morgen früh hier ereignete. Falls Wasservögel außer Feind und Futter überhaupt etwas von dieser Welt wahrnahmen.
Sie wandte sich wieder Bucher zu. »Ein dummer Unfall also.«
Bucher nickte.
»Um das festzustellen, hätten Sie uns nicht gebraucht.«
»Ich bin für solche Sachen nicht ausgebildet«, erwiderte Polizist Bucher aufgeregt.
Bucher holte ein großes Taschentuch hervor und schnäuzte sich heftig. »Ich habe viel zu tun. Ich kann nicht allen Sachen nachgehen. Letztes Jahr haben sie mir den letzten Kollegen weggenommen. Für dieses Dorf sei einer genug, hat mir der Chef geschrieben«, wetterte er in sein Taschentuch hinein. Sein Gesicht wurde rot vor Ärger. »Ich werde immer älter und soll immer mehr machen. Und jedes Jahr fresse ich mehr Medikamente.«
Er knüllte das Taschentuch zusammen und stopfte es in seine Regenjacke. »Am Sonntagabend hat mich eine Ausländerin angerufen. Eine Angestellte des Hotels vermutlich. Sie war aufgeregt und hat dauernd etwas von einer verschwundenen Uhr erzählt, einer Bernstein-Uhr oder so. Frau Ehrsam habe einen Schock erlitten. Plötzlich hat sie aufgehängt. Ich konnte nicht mehr nach dem Namen fragen. Es war sicher so eine aus dem Osten.«
Er schwieg und schaute auf seine Füße. »Sie hätte das dem Doktor melden können, oder etwa nicht?«
»Ja, das hätte sie. Aber aus irgendeinem Grund hat sie Sie angerufen.«
»Ich hatte den Eindruck, dass da etwas nicht ganz stimmt, deshalb habe ich die Sache dem Chef gemeldet. Frau Ehrsam soll Millionärin gewesen sein. Das habe ich nicht gewusst. Also musste man etwas tun, aber ich selbst kann mich da nicht einmischen. Wer soll dann meine Arbeit machen?«
Das ist auch deine Arbeit, dachte Nore Brand.
Immerhin hatte er für eine tote Millionärin eine Nummer gewählt. Das lief auf seinem Posten wohl unter ›bevorzugter Behandlung‹.
Sie wandte sich ab.
Er hatte ›einmischen‹ gesagt, er wolle sich nicht einmischen. Was für ein seltsames Wort in diesem Zusammenhang.
Nino Zoppa stand etwas abseits. Sie sah, wie er eine Hand über dem Wasser ausgestreckt hielt. Eine Libelle näherte sich im tanzenden Flug, berührte seine Hand und flog weiter ins Schilf. Mit leuchtendem Gesicht verfolgte er ihren Flug. Nore Brand hörte Buchers verächtliches Schnauben, dann brummte er etwas von Kindsköpfen und vergeudeten Steuergeldern.
Dieser Ort war wunderschön.