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»Normalerweise ließen ja die Bad Boys die Herzen der Mädchen höherschlagen. Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich noch nie etwas mit dieser toxischen Sorte Mann anfangen können.« Paris – mit dem Abi in der Tasche steht der achtzehnjährigen Alina ein aufregendes Jahr als Au-pair bevor. Als jedoch der große Bruder ihres Schützlings seine Hilfe bei der Kinderbetreuung anbietet, gerät ihr Vorsatz, sich in der Stadt der Liebe keinesfalls zu verlieben, ins Wanken. Denn Maxims strahlend blaue Augen und die Croissant-Grübchen des Akrobaten lassen ihr Herz höherschlagen. Das Leben in der Hauptstadt Frankreichs könnte perfekt sein – wäre Maxim nicht nur zu Besuch und müsste bald wieder auf Tournee. Denn eines weiß Alina ganz sicher: Sie hasst Abschiede und Fernbeziehungen sind nicht ihr Ding – oder vielleicht doch?
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Impressum
Kapitel 1
Berlin – Hauptbahnhof – Gleis 1
Kapitel 2
Paris – Gare du Nord – Gleis 8
Kapitel 3
Cirque de Demain –
Place du Cardinal Lavigerie
Kapitel 4
Cirque de Demain – Backstage
Kapitel 5
Unterwegs in Montmartre
Kapitel 6
Zuhause in der Rue Cortot
Kapitel 7
Vom Louvre zum Place de la Concorde
Kapitel 8
Zurück in der Rue Cortot
Kapitel 9
Auf dem Père Lachaise
Kapitel 10
Im Wohnzimmer in der Rue Cortot
Kapitel 11
Zuhause in der Rue Cortot
Kapitel 12
Elysée Montmartre bei Mal Élevé
Kapitel 13
Im Studio in der Rue Cortot
Kapitel 14
Im Parque Monceau
Kapitel 15
Zurück in der Rue Cortot
Kapitel 16
Le Cinq – Four Seasons Hotel George V
Kapitel 17
Vor dem Lido – Varieté
Kapitel 18
In meinem Zimmer im Haus der Cadieuxs
Kapitel 19
An der Mur des je t’aime
Danke
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Inhalt
MAYBE IN PARIS
von
Sina Müller
Über das Buch
»Normalerweise ließen ja die Bad Boys die Herzen der Mädchen höherschlagen. Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich noch nie etwas mit dieser toxischen Sorte Mann anfangen können.«
Paris – mit dem Abi in Tasche steht der achtzehnjährigen Alina ein aufregendes Jahr als Au-pair bevor. Als jedoch der große Bruder ihres Schützlings seine Hilfe bei der Kinderbetreuung anbietet, gerät ihr Vorsatz, sich in der Stadt der Liebe keinesfalls zu verlieben, ins Wanken. Denn Maxims strahlend blaue Augen und die Croissant-Grübchen des Akrobaten lassen ihr Herz höherschlagen. Das Leben in der Hauptstadt Frankreichs könnte perfekt sein – wäre Maxim nicht nur zu Besuch und müsste bald wieder auf Tournee. Denn eines weiß Alina ganz sicher: Sie hasst Abschiede und Fernbeziehungen sind nicht ihr Ding – oder vielleicht doch?
Impressum
1. Auflage 2024
Titelgestaltung: Creator Johanna
Lektorat: Tanja Neise
Buchsatz: Designstudio Ihmsen Illustration: © Tati auf Adobe Stock
© 2024 Sina Müller
Kontakt: www.sina-mueller.eu
Sina Müller
Bauhöferstraße 47
D-79115 Freiburg
www.sina-mueller.eu
www.facebook.com/sinamuellerautorin
www.instagram.com/sinamuellerautorin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Tanja,
ohne die es dieses Buch
nicht geben würde.
Kapitel 1 Berlin – Hauptbahnhof – Gleis 1
»Wo bleibt Leo nur?« Hannah drehte sich suchend im Berliner Hauptbahnhof um und mein Herz wurde ganz schwer. Betreten blickte ich zu Boden und richtete meine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Stein, der sich dorthin verirrt hatte. Angestrengt rollte ich ihn mit meinen Sneakers ein Stückchen nach vorne und wieder zurück.
»Er kommt nicht. Wir haben gestern ...«
Abrupt drehte sich meine beste Freundin um, ihr Ausdruck schwankte zwischen Entsetzen und Unverständnis.
»Wie meinst du das: Er kommt nicht?« Fassungslos hob sie ihre Arme und schüttelte den Kopf. Ihr dunkelbrauner lockiger Bob wackelte lustig hin und her, ihre braunen Augen hatte sie fragend aufgerissen. »Ich meine ... Du fährst nach Paris! Für ein Jahr. Ein verdammtes ganzes Jahr! Ist es da zu viel verlangt, dass dein Freund hier auftaucht und dir eine ganz romantische Abschiedsszene schenkt? Mit Tränen, Herzschmerz und einem Geschenk? Eine Kette vielleicht. Ein Ring! Für die Ewigkeit.« Hannah hatte nicht nur das südländische Temperament ihrer Mutter geerbt, sondern auch das Aussehen. Sie sah immer aus, als käme sie frisch aus dem Urlaub. Dagegen sah ich mit meiner hellen Haut und den straßenköterblonden langen Haaren beinahe langweilig aus. Einzig meine Augen mochte ich, denn die Mischung aus Blau und Grün fand selbst ich ganz ansehnlich.
Bei ihren Worten wurde mir ganz schwer ums Herz.
»Ex-Freund«, verbesserte ich sie kaum hörbar. Diese zwei Buchstaben, die den Unterschied machten, schmeckten bitterer als jede Pille. Dabei war ich es doch gewesen, die diesen Schlussstrich gewollt hatte. Fernbeziehungen waren nichts für mich. Leonard würde zum Studieren in die USA gehen. Und ich – ich würde ein Jahr als Au-pair in Paris arbeiten. Da wollte ich nicht ständig vor Sehnsucht vergehen. Mich nicht fragen, was er gerade tat. Mit wem er redete, sich verabredete. Nein! Es war besser so. Auch wenn es mir das Herz in tausend Einzelteile gerissen hatte, ihn von mir zu stoßen. Leo – mein bester Freund seit dem Kindergarten. Leo – der Kerl, der mich besser kannte, als ich mich selbst. Ich konnte es mir gar nicht vorstellen, dass wir ab heute getrennte Wege gehen würden. Atmen. Ich musste unbedingt weiteratmen.
»Alina«, stammelte Hannah hilflos. Ihre Stimme wackelte und bescherte mir damit einen dicken Kloß im Hals. Dabei wollte ich doch gar nicht traurig sein. Aber offensichtlich überrumpelte sie die Nachricht komplett und sie war nicht dazu in der Lage, ihre Verblüffung über diese Nachricht zu überspielen. Wahrscheinlich konnte sich niemand vorstellen, dass Leo und ich nicht mehr zusammen waren. Seit wir denken konnten, gab es uns nur zusammen im Doppelpack. Erst als beste Freunde. Und irgendwann war es klar gewesen, dass wir ein Paar wurden. Werden mussten. Es hatte einfach nicht anders sein können. Er und ich. Unzertrennlich. Bis jetzt.
»Es ... es musste sein«, sagte ich tapfer und presste meine Lippen zu einem schmalen Lächeln zusammen. »Wir können immer noch Freunde sein.« Ich zuckte unsicher mit den Schultern, während ich die Worte wiederholte, die ich gestern auch an Leo gerichtet hatte. Es fühlte sich seltsam an, dass er nicht da war, um mich zu verabschieden. Ich vermisste seine blond verstrubbelte Mähne, seine sanften grauen Augen und das liebevolle Lächeln, das er immer für mich übrig gehabt hatte. Ich vermisste ihn. Ob das lange anhalten würde?
Weil ich mich in diesem Moment so einsam fühlte, schlang ich meine Arme um den Hals meiner besten Freundin. »Hey, lass uns die letzten Minuten nicht mit Gequatsche über Leo verschwenden. Versprich mir lieber, dass du dich regelmäßig meldest.« Ablenkung, das half doch immer, oder? Vielleicht!
Hannah würde wie ich ein Jahr als Au-pair arbeiten. Sie hatte eine zuckersüße Familie in London gefunden und so sehr es mich schmerzte, dass ich nun ohne meine Freundin auskommen musste, so sehr gönnte ich es ihr, in ihre Herzensstadt zu ziehen und dieses Abenteuer zu bestreiten. Während ich Französisch als Leistungsfach gewählt hatte, lagen ihre Prioritäten ganz und gar auf Englisch. Same, same – but different, sagten unsere Freunde immer über uns. Wir taten oft dasselbe – nur eben anders. So auch jetzt.
»Jeden Morgen und jeden Abend, wie wir es ausgemacht haben. Und wir müssen videochatten!«, verlangte Hannah.
»Und uns Postkarten schicken.«
»Und Süßigkeiten!«
»Und Fotos.«
»Von Jungs?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Ich meine, jetzt wo du ...« Sie knallte ihre Hand vor den Mund und ein entschuldigender Ausdruck überschwemmte ihre wunderschönen großen braunen Augen, die von dunklen Wimpern eingerahmt waren.
Es war süß, dass sie so rücksichtsvoll war. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um in Tränen auszubrechen, das konnte ich noch im Zug tun. Oder in Paris. Oder gar nicht. Deshalb verdrehte ich die Augen und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Es fühlte sich nicht einmal verkehrt an.
»Auch von Jungs. Natürlich! Ich kann dir doch die süßen Franzosen nicht vorenthalten.« Die letzten Worte säuselte ich mit einem gekünstelten französischen Akzent und brachte Hannah damit zum Lachen. »Ich glaube, ich sollte jetzt langsam los.«
Ich nickte zu meinen Eltern, die etwas abseits standen, um Hannah und mir die Gelegenheit zu geben, uns zu verabschieden. Sie wussten, wie viel mir meine beste Freundin bedeutete und wie schwer es uns fiel, dass wir beide nun zwar eine ähnliche Zeit vor uns hatten, aber räumlich so weit getrennt waren. Und das für ein ganzes Jahr! Zwölf Monate. Zweiundfünfzig Wochen. Dreihundertfünfundsechzig Tage! Ich verbot mir, die Stunden, Minuten und Sekunden auszurechnen. Die pure Anzahl würde mich sonst erschlagen und in Panik verfallen lassen.
Ich zupfte noch einmal am Gurt meiner Gitarrentasche herum, den ich mir über die Schulter gelegt hatte, und schlenderte eingehakt bei meiner Freundin zu meinen Eltern. Von ihnen hatte ich mich bereits zu Hause ausgiebig verabschiedet.
Dennoch überkam mich die Wehmut. Für Abschiede schien ich einfach nicht gemacht. Meine Angst, verlassen zu werden, schien übermächtig. Dabei war es doch ich, die ging. Und das noch nicht einmal für immer!
»Tja, ich schätze, jetzt ist es so weit.« Ich breitete meine Arme aus und zog nacheinander meine Mama und meinen Papa in eine innige Umarmung. Küsse landeten auf meinem Gesicht, gute Wünsche, Ermahnungen und Ratschläge prasselten über mich. Ich nickte und lachte und wischte mir ein paar Tränen verstohlen von der Wange. Dann löste ich mich von meinen Eltern, drückte Hannah einen letzten Kuss auf die Wange und strahlte alle an. Zumindest hoffte ich, dass sie nicht sahen, wie schwer es mir fiel, zu gehen. »Ich hab euch lieb! À bientôt!«
Mit pochendem Herzen griff ich nach der schweren Reisetasche und lief zur Zugtür. Mein Vater folgte mir mit dem Trolley und hob ihn die Stufen in den Zug hoch. Vollbepackt warf ich einen letzten Blick auf meine Lieben. Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen und fühlte sich dennoch ganz weich, ganz weit an. Bereit für die Zeit, die vor mir lag. Bereit mit allem, was hinter mir lag, abzuschließen. Und dennoch war ich mir in diesem Moment sicher: Ich hasste Abschiede.
Kapitel 2 Paris – Gare du Nord – Gleis 8
Nervosität fraß sich durch meinen Körper, breitete sich in jeder Verästelung meiner Nerven aus. Je näher ich Paris kam, desto fahriger wurde ich. Tausend Fragen wirbelten in meinem Kopf herum. Verdrängten das Heimweh, den Liebeskummer, der sich so schmerzhaft in mein Herz schnitt. Ich hatte stille Tränen vergossen, die schönsten Momente, die ich mit Leo geteilt hatte, vorüberziehen lassen, während sich die Landschaft, durch die ich fuhr, verändert hatte.
Es war schmerzhaft gewesen. Und auf eine beinahe perverse Art wunderschön. Kilometer um Kilometer hatte ich die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit in mein Herz geschlossen. Hatte ihnen Raum gegeben, damit sie für immer in mir bleiben konnten. Als Vergangenes, als etwas, das vorüber war. Ende.
Ich hatte dieses eine Wort akzeptiert, das ich zwar längst ausgesprochen hatte. Das aber noch nicht gänzlich in mein Bewusstsein gedrungen war. Nun war ich bereit, nach vorne zu schauen. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, verspürte ich, als der Zug in den Gare du Nord einfuhr, sogar ein kleines bisschen Erleichterung. Erleichterung darüber, dass ich nun frei war. Für dieses Abenteuer, das vor mir lag. Für all die Menschen, denen ich begegnen würde. Für all das Neue, das auf mich wartete.
Manchmal musste man etwas loslassen, um bereit für etwas Neues zu sein. Eine Erkenntnis, die zwar nicht neu war, die sich aber in diesem Moment als absolut wahr anfühlte.
Ich kramte meine Sachen zusammen, packte meinen E-Book-Reader, die Kopfhörer und die Wasserflasche in die Reisetasche und steckte das Handy in meine Hosentasche. Es war nicht das erste Mal, dass ich nach Paris kam. Aber das erste Mal, dass ich länger als nur ein paar Tage in der Stadt meiner Träume bleiben würde. Ich war so irre gespannt darauf, wie es war, hier zu leben.
Bevor ich zu meiner Gastfamilie ziehen würde, standen erst einmal zwei Tage an, die von der Au-pair-Agentur organisiert worden waren. Ich würde andere Au-pairs kennenlernen und die Stadt erkunden. Ankommen, sich etwas eingewöhnen und erste Kontakte knüpfen – das waren wohl die Ziele dieser Aktion. Und ich war sehr gespannt darauf, wie die anderen wohl sein würden. Ob ich Freundinnen in ihnen finden würde? Menschen, mit denen ich im kommenden Jahr zusammenwachsen konnte?
In Paris empfing mich der ganz typische Trubel. Reisende drängten sich auf den Bahnsteig, versuchten, den Zug zu erwischen, und nahmen keine Rücksicht darauf, dass ich mit meinem Gepäck hilflos überladen war. Irgendwie schaffte ich es zu der U-Bahn, die mich zu dem Hotel bringen würde, in dem ich die nächsten Tage verbringen würde.
Ein breites Grinsen saß in meinem Gesicht und ich sog all die Eindrücke, die diese Stadt zu bieten hatte, in mir auf. All die unterschiedlichen Menschen, die sich in die U-Bahn drängten. Die in dieser Sprache plapperten, die ich so sehr liebte. Obwohl ich hier fremd war, fühlte es sich ein kleines bisschen wie Nachhausekommen an. Und in diesem Moment war ich mir sicher, dass dies das beste Jahr meines Lebens werden würden. Wenn ich es dazu machte!
***
Lilljan, Adele, Vicky, Suse und ich fielen uns noch einmal in die Arme und versprachen uns, in Kontakt zu bleiben. Spätestens beim agentureigenen Sprachkurs würden wir uns wiedersehen. Aber auch so wollten wir uns über den neuen Alltag, der vor uns lag, austauschen. Die Mädels waren allesamt nett gewesen, auch wenn keine so lustig und herzlich gewesen war wie Hannah. Aber meine beste Freundin war eben etwas Besonderes und ich war keinesfalls auf der Suche nach Ersatz.
Mit klopfendem Herzen und viel zu viel Gepäck trat ich vor die Tür des Hotels. Ich wusste, dass draußen meine Gastfamilie warten würde. Die Hauptperson würde Émile sein, ein Dreijähriger, der auf den Fotos einfach nur niedlich ausgesehen hatte. Mit dunkelbraunen, glatten Haaren, die sein fein geschnittenes Gesicht umspielten. Er hatte ausdrucksstarke dunkle Augen und ein zauberhaftes Lächeln. Während des Videochats, den wir geführt hatten, um uns kennenzulernen und zu entscheiden, ob das funktionieren würde, war er sehr schüchtern gewesen und hatte sich allzu oft hinter seiner Maman versteckt. Camille. Sie war das Herz der Familie und selbst noch sehr jung.
Ich würde sie auf höchstens Mitte bis Ende zwanzig schätzen. Sie stand kurz davor, ihre eigene Modemarke herauszubringen, und arbeitete quasi Tag und Nacht an ihrer ersten Kollektion. Keine Frage, dass sie Unterstützung brauchte. Zumal ihr Mann – Albert – viel unterwegs und nur selten in Paris war. Ihn hatte ich bislang nur auf Fotos gesehen. Ein wie es schien erfolgreicher Geschäftsmann, der nicht nur einen maßgeschneiderten Anzug trug, sondern auch einen ernsten Gesichtsausdruck. Ich hatte ihn auf dem Bild auf mindestens fünfzig geschätzt, aber vielleicht war er darauf auch nur unvorteilhaft getroffen.
Ich blickte mich um, auf der Suche nach dem modelmäßigen Gesicht von Camille – sie hatte tatsächlich früher gemodelt, bis sie einen anderen Weg in der Modebranche eingeschlagen hatte. Etwas abseits stand die schlanke Frau mit den blonden langen Haaren, die ihr glatt über einen kamelbraunen Wollmantel fielen. Auf ihrer Nase saß eine riesige dunkle Sonnenbrille und wie sie mit dem Handy in der Hand telefonierte, sah sie unglaublich erfolgreich und weltgewandt aus. Mein Blick glitt etwas nach unten und da sah ich ihn. Den süßesten kleinen Jungen, den ich je gesehen hatte. Er selbst trug einen dunkelblauen Dufflecoat und schmale Jeans und sah darin wie ein Mini-Model aus. Mein Herz machte einen Satz und ich spürte, wie sich meine Mundwinkel automatisch nach oben schoben.
Ich ruckelte noch einmal mein Gepäck zurecht und steuerte auf die beiden zu. Als mich Camille entdeckte, lächelte sie mich mit ihren rot geschminkten Lippen an und hob eine Hand zum Gruß. Im nächsten Moment verstaute sie das Handy, beugte sich zu Émile und zeigte in meine Richtung. Der Kleine versteckte sich hinter ihren Beinen und linste schüchtern dahinter vor.
»Alina! Willkommen, ich bin Camille!« Sie öffnete ihre Arme und hauchte mir schon Bisous – die obligatorischen drei Begrüßungsküsschen – auf die Wange. »Émile sag Hallo!«
Ich lächelte sie an und ging in die Knie, um mein Au-pair-Kind zu begrüßen. Neugierig aber auch abwartend schaute er hinter den schwarzen Hosenbeinen hervor. »Hallo Émile. Ich bin Alina und komme aus Deutschland. Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.«
Ich grinste ihn verschwörerisch an. Eines meiner Babysitterkinder war ebenfalls schüchtern gewesen und ich wusste daher, dass er einfach etwas Zeit brauchte. Zeit, um mich kennenzulernen. Zeit, um mit der neuen Situation klarzukommen.
»Unser Taxi steht da drüben. Brauchst du Hilfe mit deinem Gepäck? Ich kann etwas tragen.«
Ich dachte an die manikürten Fingernägel, die Stilettos, in denen ihre Füße steckten und fragte mich, ob ihr Angebot ernst gemeint war.
»Oh, das wäre nett. Du könntest vielleicht meine Gitarre nehmen.« Schon ließ ich mein Instrument von meiner Schulter rutschen und streckte es ihr entgegen. Sie wollte freundlich sein und ich – ich wollte nicht in irgendwelchen Vorurteilen versinken, nur, weil sie wie aus einem Modekatalog aussah. Das war schließlich ihr Job, bedeutete aber nicht, dass sie nicht auch anpacken konnte.
»Wie waren deine Reise und deine ersten Tage in Paris?«, plauderte sie drauflos, während wir zu einem Taxi liefen.
Ich war froh, dass sie ein lupenreines Französisch sprach und die Worte nicht verwusch, wie es in manchen Gegenden Frankreichs üblich war. Zwar hatte ich mein Abi in dieser Sprache gemacht und schon zahlreiche Bücher, Filme, Hörbücher in der Sprache inhaliert, aber die Angst war geblieben, dass ich meine Gastfamilie schlecht verstehen würde, weil sie irgendeinen Dialekt sprachen, an den ich mich erst gewöhnen musste. Diese Angst hatte sie mir mit ein paar wenigen Worten genommen. Es war, als hätte ich nie etwas anderes gehört und ich wusste von meinem Austausch vor zwei Jahren, dass es nicht lange dauern würde, bis ich in der Sprache dachte, träumte. Bis sie mir wie selbstverständlich über die Lippen kam.
»Richtig gut, Danke! Ich freue mich jetzt aber, euch endlich kennenzulernen und dir bei allem mit Émile helfen zu dürfen.« Während der Einführungsveranstaltung wurde uns eingeschärft, uns nicht als billige Putzkraft einspannen zu lassen. Natürlich gehörten Aufgaben im Haushalt dazu und man unterstützte die Familie, wo es ging. Aber es gab Grenzen. Und je eher man diese setzte, desto besser klappte das Zusammenleben.
»Oh, wir freuen uns auch, dass du da bist. Émile ist schon ganz gespannt darauf, ob du deutsche Kinderlieder kennst. Nicht wahr, mein Schatz?«
Ich lächelte den Kleinen an und nickte freudestrahlend. »Ich kenne ganz viele und werde dir alle beibringen, wenn du magst, Émile.«
Wir waren am Taxi angekommen und der Fahrer hievte mein Gepäck in den Kofferraum. Während der Fahrt zeigte mir Camille immer wieder ein paar Sehenswürdigkeiten, Geschäfte, in denen ich unbedingt einkaufen sollte, Émiles Kindergarten und Orte, die sie besonders mochte. Ich hatte den Eindruck, dass meine Gastmutter ebenso nervös war wie ich, was sie mir sehr sympathisch machte.
Ich klebte förmlich an der Autoscheibe, als wir in die Rue Cortot einbogen. Die Reifen ruckelten über das Kopfsteinpflaster und wir wurden etwas durchgeschüttelt. Ich war schon durch diese Straße gelaufen, hatte die alten herrschaftlichen Häuser am Fuße des Montmartre bewundert. Damals hätte ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen erträumt, hier einmal zu wohnen. An einem Eckhaus blieb das Taxi stehen. Neugierig ließ ich meinen Blick an dem efeubewachsenen Klinkerbau entlanggleiten. Das dreigeschossige Haus war imposant und schlich sich bereits in den ersten Sekunden in mein Herz.
Camille bezahlte den Fahrer, öffnete die Gurte des Kindersitzes und schon kletterte Émile aus seinem Sitz auf den Schoß seiner Maman. Der Fahrer hievte mein Gepäck vor die Tür und stellte den Kindersitz daneben ab. Immer wieder schaute Émile neugierig zu mir und ich schnitt hinter dem Rücken seiner Mutter Grimassen, um mich mit ihm anzufreunden.
»Wir haben dich im Untergeschoss untergebracht. Das ist viel schöner, als es klingt«, entschuldigte sich Camille, die die Tür aufschloss. »Auf der Hangseite, wo dein Zimmer liegt, hast du einen direkten Zugang zum Garten. Und du bist ungestört. Allerdings haben wir im Moment noch Besuch. Maxim ist Alberts Sohn aus erster Ehe, aber er ist nur selten zu Hause. Du wirst ihn kaum zu Gesicht bekommen, er ist Künstler und viel unterwegs.« Sie lächelte sanft. »Aktuell ist er sehr mit einem Projekt beschäftigt und übernachtet momentan auswärts. Er wird dich nicht weiter stören.«
Ich nickte und war gespannt darauf, mein Zimmer zu sehen. Mit diesem Maxim würde ich schon klarkommen. Da er kaum zu Hause war, würde er wohl auch keine Partys feiern und mir damit den Schlaf rauben. Mit allem anderen konnte ich mich arrangieren.
Das Innere des Hauses empfing mich mit einem geschmackvollen Interieur. Alles sah aus, als wäre es der aktuellsten Ausgabe von Schöner Wohnen entsprungen und ich brauchte nicht viel Fantasie, um zu erahnen, wie viel diese Inneneinrichtung gekostet hatte.
Camille führte mich durch die Wohnräume und lief schließlich eine Holztreppe nach unten. Sie öffnete die Tür zu einem erstaunlich lichtdurchfluteten Zimmer. Es war in Weiß- und hellen Beigetönen eingerichtet und vereinzelt standen ein paar liebevoll ausgesuchte Dekoelemente herum. Eine riesige Fensterfront gab den Blick auf den Garten frei. Er glich einem verwunschenen Märchengarten, war verwildert und doch perfekt gepflegt. Sicher hatte hier ein begnadeter Gärtner Hand angelegt.
Ich drehte mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu Camille. »Es ist wunderschön!«
Erleichterung spiegelte sich in ihrem Gesicht und machte Platz für das ehrlichste und wunderschönste Lächeln, das ich je gesehen hatte. Mein Herz hüpfte, denn ich war mir in diesem Moment sicher, dass Camille und ich gut miteinander auskommen würden. Ein unschlagbares Team, wenn es um das Wohl ihres Sohnes ging.
»Prima. Dann lassen wir dich erst einmal ankommen und auspacken. Fühl dich ganz wie zu Hause, Alina. Wenn etwas ist: Wir sind oben. Komm, Émile, wir kümmern uns jetzt um dein Puzzle.«
Schon verschwanden die beiden aus meinem Zimmer, ließen mich allein mit all den überschwänglichen Emotionen, die durch meine Adern strömten und mich kaum zur Ruhe kommen ließen.
Ich zückte mein Handy, weil ich dieses Glück mit jemandem teilen wollte. Doch als mein Finger ganz automatisch über dem Kontakt von Leo schwebte, hielt ich inne und spürte, wie sich all die guten Gefühle zurückzogen und Platz machten für ein anderes Gefühl. Eines, das sich nicht so warm und weich anfühlte. Das kantig war und für einen winzigen Moment in mein Herz schnitt. Leo hatte immer Anteil an meinem Leben genommen. Selbst wenn wir einmal räumlich voneinander getrennt gewesen waren, hatten wir stundenlang miteinander gechattet, getextet, uns Fotos hin- und hergeschickt. Dass diese Selbstverständlichkeit nun Vergangenheit war, traf mich hart. Daran musste ich mich definitiv erst einmal gewöhnen.
Stattdessen nahm ich ein erstes Selfie auf und schickte es an meine Eltern und Hannah, die sicher darauf warteten, dass ich mich endlich bei ihnen meldete.
Als ich den ersten Teil meiner Sachen im Kleiderschrank verstaut und mich etwas eingerichtet hatte, ging ich die Treppe nach oben. Noch fühlte ich mich wie ein Gast, ein Eindringling, der nicht zur Familie gehörte. Ich hörte freudiges Geplapper aus dem Raum, der die Küche sein musste, und lief zielstrebig darauf zu.
»Ah, Alina, wie schön! Albert ist gerade gekommen. Albert, das ist Alina.« Camille deutete zwischen einem dunkelhaarigen Mann, in dessen Schopf sich ein paar graue Strähnen geschlichen hatten, und mir hin und her. Ich musste zugeben, dass Albert wirklich attraktiv war. In natura wirkte er nicht ganz so streng, ein leises Lächeln umspielte sogar seine Lippen, als er einen Schritt vortrat und mir geschäftsmäßig die Hand reichte.
»Willkommen in Paris, Alina«, sagte er steif.
»Ich freue mich, hier zu sein.« Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und hoffte, dass sich die Distanz bald legen würde, wenn ich mich etwas eingelebt hatte.
»Zur Feier des Tages werden wir heute essen gehen«, eröffnete mir Camille. Ich wäre lieber zu Hause geblieben, hätte im ungezwungenen Rahmen gerne Émile kennengelernt, aber das war nun mal nicht meine Entscheidung.
»Gerne. Gibt es einen Dresscode?« Ich wollte in kein Fettnäpfchen treten. Offensichtlich lebten Camille und Albert in einer anderen Gehaltsklasse als das, was ich von zu Hause gewohnt war. Da war Essengehen ein Synonym von wir gehen in die Pizzeria um die Ecke.
»Du siehst bezaubernd aus, Liebes«, sagte Camille und schenkte mir ein warmes Lächeln, das ich bereitwillig erwiderte.
»Danke. Haben wir noch etwas Zeit, damit ich noch mit Émile spielen kann? Ich habe ihm ein Geschenk mitgebracht.«
»Natürlich. Ihr könnt ja ins Wohnzimmer gehen. Émile, magst du Alina mal deinen Platz zum Spielen zeigen?« Sie nickte dem Kleinen aufmunternd zu und ich folgte dem Jungen ins Wohnzimmer. In seinen eigenen vier Wänden schien er nicht mehr ganz so schüchtern zu sein, was mich wirklich freute.
Ich setzte mich auf den beigefarbenen hochflorigen Teppich, der wirklich kuschelig war, und streckte Émile das etwas zerknautscht aussehende Päckchen entgegen. Ich hatte mich für ein Kostüm von Marshall aus Paw Patrol entschieden. Wie ich aus dem Video-Chat mit Camille wusste, war er großer Fan des etwas tollpatschigen Dalmatiners und als ich das Feuerwehrkostüm im Paw-Patrol-Look gesehen hatte, war es um mich geschehen. Ich hoffte sehr, er mochte es, sich zu verkleiden. Zumindest meine Babysitterkinder in Berlin liebten es, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen.
Als Émile das Papier aufgerissen und mit großen staunenden Augen sein Geschenk inspiziert hatte, sprang er auf und lief freudestrahlend zu seiner Maman, um ihr das Kostüm zu zeigen. Sie fiel mit ihm in seine Entzückungsschreie ein und kam mit dem aufgeregten Jungen wieder zurück.
»Woher wusstest du, dass Émile ein Verkleidungskind ist?« Sie half dem Kleinen bereits, in das Kostüm zu schlüpfen. Freude, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte, durchströmte mich.
»Ich hatte gehofft, dass er es mag. Ich liebe Rollenspiele! Sollen wir auf ein kleines Abenteuer gehen, Marshall?« Ich zwinkerte dem Jungen im Feuerwehr-Rettungshunde-Kostüm zu und erntete ein glückliches Nicken. Das Eis war offensichtlich gebrochen und die nächste Stunde verbrachte ich damit, gemeinsam mit Émile aka Marshall, der Rettungshund, imaginäre Feuer zu löschen und seine Kuscheltiere zu retten.
Kapitel 3 Cirque de Demain – Place du Cardinal Lavigerie
Ich war dankbar, dass sich Camille die ersten Tage, die ich in der Familie Cadieux verbracht hatte, weitestgehend hatte freinehmen können. So hatte ich Émiles Alltag hautnah miterlebt, war hineingewachsen in meine Aufgaben und hatte dennoch genügend Zeit, um mich mit Émile anzufreunden. Wir kamen gut miteinander aus und inzwischen schien der kleine Wirbelwind Vertrauen zu mir gefasst zu haben. Wir hatten Spaß miteinander, aber er respektierte mich auch als weitere Erziehungsperson. Obwohl ich niemals so weit gehen würde, mich als Mutterersatz zu bezeichnen. Das würde ich niemals sein – und wollte es auch gar nicht.
Émile rutschte ungeduldig auf meinem Schoß herum. Er war völlig übermüdet und hatte viel zu viele Süßigkeiten gegessen. Dann wurde er immer zappelig, wie ich inzwischen wusste. Aber wer war ich, Camille und Albert Vorschriften machen zu wollen. Wenn sie schon einmal gemeinsam Zeit mit ihrem Sohn verbringen konnten, wollten sie ihn verwöhnen. Das konnte ich gut verstehen. Und ich hatte es sehr schön gefunden, dass sie mit ihm in den Circus wollten. Wenn ich an meine Circusbesuche in der Kindheit dachte, erinnerte ich mich an den Geruch von Zuckerwatte, an Clowns in bunten Kostümen und an den Duft von Sägespäne in der Manege. Wir hatten immer die billigsten Plätze gehabt, die, die ganz hinten im Zelt lagen, von wo aus man aber einen tollen Blick über das gesamte Zelt hatte.
Nun saßen wir in der Samstagabend-Vorstellung des Cirque de Demain, einer Show, die aus den Nummern berühmter Nachwuchs-Preisträger aus der ganzen Welt zusammengestellt war. Circuskunst in seiner hochkarätigsten Form. Für Émile wäre eine für Kinder arrangierte Circus-Vorstellung sicherlich die bessere Wahl gewesen. Mit lustigen Clowns in bunten Kostümen und ein paar winzigen Ponys, die mit wehender Mähne über ein paar Hindernisse sprangen. Wobei ich selbst eine eher ablehnende Haltung zu Tieren in Circussen hatte – aber das war ein ganz anderes Thema.
Ich selbst mochte den modernen sehr künstlerischen Circus, der so anders war, als alles, was ich bislang gesehen hatte. Es war wie eine neue Welt, in die man eintauchte, sobald man das klimatisierte Circuszelt betrat. Die Gäste waren edel gekleidet, als würden sie eine Gala besuchen. Überall glitzerten und schimmerten die edlen Stoffe und ich war froh, dass ich dank Camilles kleiner Andeutung zu einer schmalen schwarzen Hose das schwarze Glitzeroberteil angezogen hatte, das aus ihrer eigenen Kollektion stammte und sie mir eigens für solche Anlässe geschenkt hatte.
»Jetzt müsste gleich Maxim kommen«, flüsterte Camille ehrfurchtsvoll in unsere Richtung. Ich wusste nicht, ob sie die Worte an ihren Sohn gerichtet hatte, oder an mich. Jedenfalls wurde Camille ganz aufgeregt und klatschte wie ein Kind in die Hände. Albert war das wohl zu kindisch und so nahm er ihre Hand in seine und verschränkte die Finger mit ihren. Ich mochte es nicht, dass er Camille immer bevormundete und ihre überschwängliche Freude im Keim erstickte. Wenn es nach ihm ginge, würde sie wohl immer nur charmant lächeln. Aber ich liebte das mädchenhafte Lachen, das aus ihrem übergroßen Herz herauszusprudeln schien. Ich mochte es, dass sie voller Emotionen war und sich nicht scheute, diese auch zu zeigen.
»Maxim!«, wiederholte Émile den Namen viel zu laut und brüllte ihn in die Stille hinein. Ich hielt ihm schnell den Mund zu, weil ich nicht wollte, dass Albert missbilligend mit der Zunge schnalzte und die Stimmung damit verdarb. Bisher hatte er wenig mit der Familie unternommen, seit ich in Paris war. Er war oft tagelang unterwegs und arbeitete auch sonst sehr viel. Bestimmt hatten er und Camille sich deshalb Hilfe in Form eines Au-pair-Mädchens geholt.
Selbstverständlich hatten wir die besten Plätze in einer Loge nahe der Manege. Erste Reihe sozusagen. Mir hätte es nichts ausgemacht, etwas weiter hinten zu sitzen, weil man dann einen besseren Überblick über das Geschehen hatte. Und weil dann die Eindrücke für Émile nicht so erdrückend gewesen wären. Aber Albert hatte es sich nicht nehmen lassen, die teuersten Plätze zu buchen. Als wollte er damit zeigen, dass er es sich leisten konnte. Dass er sich alles leisten konnte.
Maxim. Ich kramte in meinem Kopf, ob Camille und Albert ihn schon einmal erwähnt hatten. Hatten sie, wenn ich mich recht erinnerte. In den ersten Tagen war alles so verdammt viel gewesen, verwirrend gewesen. Unmöglich hatte ich mir alles merken können. Aber war Maxim nicht derjenige, der irgendetwas mit den Stangen in dem Fitnessraum zu tun hatte? Der Kerl, der angeblich bei uns wohnte, aber den ich bislang noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, obwohl ich viel Zeit in dem pompösen Haus am Fuße des Montmartre verbrachte? Er war Alberts Sohn aus erster Ehe, der Künstler, von dem die beiden so gut wie nie sprachen. Als wäre er das schwarze Schaf der Familie. Das ungewollte Kind.
Ich richtete den Blick wieder nach vorne, verwirrt, was dieser mysteriöse Kerl mit dem Circus zu tun hatte, in dem wir gerade saßen. Künstler. Ich hatte erwartet, dass sich dahinter jemand verbarg, der metergroße Leinwände mit Farbe bekleckste, oder ein Bildhauer, Fotograf, Videokünstler ... Konnte es tatsächlich sein, dass er ein Artist war? Nein. Wahrscheinlich hatte ich mich verhört. Es ging bestimmt um einen weltberühmten Artisten, der zufällig genauso hieß. Maxim war zwar kein Allerweltsname, aber auch nicht so ungewöhnlich, als dass das unmöglich wäre.
Im Schutz der Dunkelheit wurde umgebaut und aus den Lautsprechern waberte eine mystische Stimme, die in einer mir fremden Sprache zu ganz ungewöhnlichen Klängen etwas rezitierte. Es klang wie ein Gebet, ein Mantra, das sich immer und immer wieder in einer leichten Abwandlung wiederholte. Ich wusste, wenn ich mich umschaute, würde ich irgendwo im Zelt jemanden sehen. Illuminiert. Angestrahlt. Als Erscheinung, die sich aus dem Dunkeln hervorhob. Also reckte ich meinen Hals, flüsterte Émile zu, dass er mir helfen sollte, die Figuren zu finden, die immer in den Umbaupausen im Publikum saßen oder standen. Mal jonglierten sie mit durch Schwarzlicht erhellten Bällen, mal vollführten sie einen Tanz, der dank der Dunkelheit und der mystischen Klänge geheimnisvoll und wie von einem anderen Planeten anmutete.
Émile fand die Frau, die lange Bänder in die Luft schwang, zuerst. Erleuchtet vom Schwarzlicht sahen die Fäden wie riesige Schlangen aus, die miteinander tanzten. Es war ein inniger Tanz, ein zärtlicher und ich konnte die Augen kaum davon abwenden.
»Schau, wie schön das ist«, flüsterte ich und spürte, dass Émile ebenso fasziniert von dem Schauspiel war wie ich. Ich verlor mich in den fließenden Bewegungen, ließ mich davon in eine andere Welt ziehen, begleitet von den Klängen, die so anders waren als alles, was ich bisher gehört hatte. Lieblich, klangvoll, verheißungsvoll. Ich schlang die Arme fester um Émile, wollte alles festhalten. Den Moment, ihn, diese Stimmung. Es war einfach wunderschön atmosphärisch.
Als die Umbaupause vorüber war und damit die mystischen Klänge in der Circuskuppel verklangen, wurde es ganz dunkel im Zelt. Und still. Nur das Rauschen der Heizlüfter durchschnitt die Stille. Und vereinzelt räusperte sich jemand oder hustete verhalten. Ansonsten lag eine Spannung in der Luft, die auch mich ganz nervös machte.
Ich liebte diese Momente, bevor eine neue Nummer startete. Das Ziehen im Bauch, weil man nicht wusste, was einen erwartete.
Dann knisterte es in den Lautsprechern und die bereits von den vorherigen Nummern bekannte Stimme drang daraus hervor.
»Meine Damen und Herren, hochverehrtes Publikum. Begrüßen Sie mit mir den diesjährigen Goldmedaillen-Preisträger des Cirque de Demain. Bereits mit sechzehn Jahren durfte sich der gebürtige Pariser Weltmeister an der Spinning Pole und Vizeweltmeister im Double nennen. Seither hat er unzählige Preise gewonnen und das zu Recht. Seine Darbietungen scheinen einer anderen Welt zu entstammen. Dieser junge Mann kennt keine Schwerkraft, seine Choreografien bestechen durch eine Intensität der Ausstrahlung, die Ihnen den Atem rauben wird. Es ist mir eine besondere Ehre, Ihnen Maxim Cadieux an der Spinning Pole anzukündigen. Lassen Sie sich verzaubern von der außergewöhnlichen Kombination aus ästhetischem Tanz an der Stange und kraftvoller Akrobatik.«
Meine Augen weiteten sich für einen kleinen Augenblick. Maxim Cadieux. Dann war er doch Émiles großer Bruder! Ein Artist – das hätte ich ganz sicher nicht erwartet. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Manege. Ein kleiner Spot wurde auf die ansonsten abgedunkelte Bühne geworfen. Das Licht war weich und beleuchtete ein Knäuel Mensch, das am Boden lag, zusammengekauert, ganz klein. Und dennoch konnte man bereits sehen, wie sich die Muskeln unter der nackten Haut abzeichneten.
Als die ersten Klänge einer lieblichen Melodie einsetzten, kam Bewegung in das Häuflein. Die gezielten Bewegungen sahen aus, als würden Wellen durch diesen muskulösen Körper schwappen. Größer, immer größer wurden die Bewegungen, bis der junge dunkelhaarige Kerl schließlich auf seinen nackten Füßen stand. Bekleidet in nichts mehr als schlichten schwarzen Shorts, die seine muskelbepackten Beine umspielten, wirkte Maxim einerseits zerbrechlich und doch so kraftvoll.
Seine Hände schlossen sich fast schon liebevoll um den silbrig glänzenden Edelstahl einer Stange, die zwischen Boden und einer Traverse unter der Kuppel verspannt war. Ich hielt überrascht die Luft an, als Maxim die Stange mit einer Leichtigkeit grazil emporkletterte, dass es nach einem Tanz aussah und nicht nach einer kräftezehrenden Akrobatik. Es war, als gäbe es für ihn kein unten und oben. Scheinbar schwerelos kreiselte er um die Stange.
Das hatte mit dem Pole-Dance, der in zwielichtigen Clubs zum Vergnügen sabbernder, alter, bierbäuchiger Männer dargeboten wurde, nichts zu tun. Das hier war Kunst. Eine athletische Meisterleistung. Ein Affront gegen die Schwerkraft. Jede Bewegung von Maxim sah aus, als würde er in der Vertikalen tanzen, schwerelos, losgelöst von allem Irdischen. Es war ästhetisch. Es war kraftvoll. Es war wunderschön. Er schwang sich die Stange hoch, drehte sich in einer rasenden Geschwindigkeit und vollführte Posen, die so ansprechend aussahen, dass ich kaum wusste, wie er das anstellte. Ich ertrank in diesem Anblick, ertrank in der Musik, die er mit seinem absolut traumhaft gestählten Körper in aller Perfektion interpretierte, mit der er verschmolz und zu einer untrennbaren Einheit wurde. Arme, Beine, Bauch und Kopf, ich hatte längst aufgehört, seine Körperteile sortieren zu wollen. Er war so beweglich, seine Glieder und Muskeln so geschmeidig. Der Mann ein einziges Kunstwerk. Mein Mund klappte auf.
Wie durch eine Nebelwand nahm ich wahr, dass Camille neben mir gerührt aufschluchzte und immer und immer wieder in die Hände klatschte. »Das ist Maxim, das ist mein Sohn«, flüsterte sie, ganz als könnte sie selbst nicht glauben, dass dieser Kerl zu ihrer Familie gehörte. Dabei war Maxim nur ihr Stiefsohn und stammte aus Alberts erster Ehe. Aber das schien in diesem Moment nebensächlich zu sein. Er verzauberte sie. Er verzauberte mich. Er verzauberte alle, die in diesem Circuszelt saßen mit seiner Präsenz. Seiner zarten und gleichzeitig kraftvollen Sinnlichkeit. Seiner stählernen Männlichkeit. Niemals hätte ich erwartet, dass Pole-Dance so einzigartig und atemberaubend sein könnte. So ästhetisch und faszinierend.
Muskeln, so viele Muskeln, die im inzwischen kalten harten Scheinwerferlicht zum Vorschein traten, als wäre Maxim eine marmorne Statue. Ich konnte an diesem Mann kein Gramm Fett erkennen und wie er sich an der Stange bewegte, mit welcher Kraft und Präzision, war es auch nicht verwunderlich, dass sein Körper so gestählt war. Ich würde nicht eine Einzige dieser Posen vollbringen können, ohne danach sterbend auf eine der Matten zusammenzubrechen, die unter der Stange lagen. Was für eine Ausdauer musste dieser Kerl haben, was für eine Kondition und Fitness, um diesen Auftritt durchstehen zu können und allen hier im Zelt zu suggerieren, es wäre ein Spaziergang, diese Übungen durchzustehen? Mit diesem sanften Lächeln auf den Lippen, das ich zu gerne einmal von Nahem sehen würde. Ohne, dass er im Scheinwerferlicht stand.
»Oh, er ist so gut«, flüsterte ich an Camille gewandt, »so gut.«
»Das ist er.«
Er hatte eine Ausstrahlung, eine Präsenz, die seinesgleichen suchte. Ich hatte heute Abend schon einige Künstler gesehen, die herausragend waren. Die hochdekoriert waren und zu den besten Circuskünstlern der Welt zählten. Keiner hatte mich derart in seinen Bann gezogen, und ich ging mal davon aus, dass der Familienbonus hier nicht galt. Denn erstens gehörte Maxim nicht zu meiner Familie. Und zweitens hatte ich ihn bis zu diesem Tag kein einziges Mal live und in Farbe gesehen. Meine Begeisterung war echt und sie fühlte sich wirklich groß an.
Ich erwachte aus meinem Paralleluniversum, in dem Maxim nur für mich tanzte, als die Ränge regelrecht bebten. Das Publikum klatschte begeistert in die Hände, stampfte mit den Füßen auf den Holzplankenboden. Selbst Albert war aufgestanden und pfiff auf zwei Fingern, was ihn so viel sympathischer und menschlicher erscheinen ließ, als ich ihn bislang erlebt hatte.
Maxim strahlte gelöst über das ganze Gesicht. Sein Atem ging schwer, ließ seinen muskelbepackten Bauch auf und ab tanzen. Er wirkte so viel jünger, wenn er lachte, fast schon jugendlich, dabei wusste ich von Camille, dass er schon beinahe zwanzig war. Ich hob Émile auf meine Hüfte und erhob mich ebenfalls. Seine kleinen Händchen patschte er vergnügt aneinander und rief unentwegt Maxims Namen.
Maxim verbeugte sich galant, nahm den Applaus glücklich entgegen. Dann wanderte sein Blick in unsere Richtung. Für einen winzigen Augenblick gefror das gelöste Lächeln. Er nickte Albert kaum wahrnehmbar zu, bevor er Camille einen Luftkuss zuwarf. Als er Émile erblickte, hob er die Hand und winkte. Nur einen winzigen Augenblick huschte sein Blick in meine Richtung. Aber der genügte, um das Feuer in Maxims Augen zu sehen. Die Intensität, das Leben, das darin wohnte.
Ich schluckte und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Ein Lächeln, das Maxim erwiderte. Ein Lächeln, das mich erzittern ließ, weil es sich so ehrlich anfühlte. So intensiv. So echt. Dann wandte er sich ab, winkte in die Menge und verabschiedete sich von seinem Publikum.