Josh & Emma - Portrait einer Liebe - Sina Müller - E-Book
SONDERANGEBOT

Josh & Emma - Portrait einer Liebe E-Book

Sina Müller

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der zweite Teil der Josh & Emma Reihe! Die Zeit heilt selbst die tiefsten Wunden. Aber ein Jahr ist nicht genug. Als Josh und Emma erneut aufeinander treffen, merken sie, dass das Herzklopfen noch immer da ist. Der Start ins neue Leben scheint perfekt, doch dann holt ein Fehltritt aus der Vergangenheit die beiden ein und Emmas Leben steht wieder einmal Kopf. Ihr neuer Job sorgt für Ablenkung, bringt aber auch jede Menge Wirbel mit sich. Wohin wird Emmas Weg sie führen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 490

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kurzbeschreibung:

Die Zeit heilt selbst die tiefsten Wunden. Aber ein Jahr ist nicht genug.Als Josh und Emma erneut aufeinander treffen, merken sie, dass das Herzklopfen noch immer da ist.Der Start ins neue Leben scheint perfekt, doch dann holt ein Fehltritt aus der Vergangenheit die beiden ein und Emmas Leben steht wieder einmal Kopf.Ihr neuer Job sorgt für Ablenkung, bringt aber auch jede Menge Wirbel mit sich.

Wohin wird Emmas Weg sie führen?

Sina Müller

Josh & Emma

Portrait einer Liebe

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2020 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2020 by Sina Müller

Korrektorat: Tatjana Weichel

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-368-7

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

Inhaltsverzeichnis

Sag Ja

Ups

Zumindest ein Anfang

Nachdenken

Schlechter Deal

Sehnsucht

Fast ist nicht ganz

Tante Ulla

Geständnis

Leon

Splitter

Nebel

Durchhalten

Leben danach

Schmerz

Freizeichen

Ein Angebot

Klare Ansage

Perspektivenwechsel

Das Gleiche

Neustart

Aufatmen

Schonfrist

Alltag

Leons Reich

Loslassen

Aussprache

Wiedersehen

Neuanfang – mal wieder

Heimat

Pläne

Epilog

Wenn du ohne ihnnicht mehr du selbst bist,dann hast du ein Problem.Denn ihn zu lieben heißt zu leiden.Für immer. Vielleicht.

Sag Ja

Eine einzelne Träne kullerte aus meinem Augenwinkel. Sie sah so glücklich aus. Der kleine Stachel namens Neid bohrte sich tiefer in das kalte versteinerte Etwas, das bis vor gut einem Jahr einmal mein Herz gewesen war. Ich versuchte, tapfer zu lächeln und freute mich für sie. Wirklich. Aber ich fragte mich, ob ich jemals wieder so etwas wie Glück empfinden würde. Ich schloss die Augen. Gleich würde Hallelujah kommen, das Lied, von dem sich Liv gewünscht hatte, dass es Joshua mit seiner einzigartigen, gefühlvollen Stimme für sie singen würde.

Ich hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zu wissen, dass eigentlich er das Lied gesungen hätte, war fast genauso schlimm, als wenn er mir nun tatsächlich gegenübergestanden hätte. Ich seufzte und hoffte inständig, dass kein Laut aus meinen mit Lipgloss zugekleisterten Lippen gedrungen war.

Ich zwang mich dazu, die Augen zu öffnen, als ich die ersten Töne des Klassikers von Leonard Cohen hörte. Toms Stimme erfüllte den Innenraum der St. Anna-Kirche und hallte an den Wänden wider. Er klang wie ein gefallener Engel. Klar, verletzlich. Der Song schleuderte mich unvermittelt in meine Vergangenheit zurück. Ich erinnerte mich. An damals, als ich noch lebte. Damals, als diese Musik ein Teil von mir gewesen war. Ich schluckte, versuchte durchzuhalten und die Bilder von mir fernzuhalten. Das Strahlen der dunklen, tiefgründigen Augen. Die Grübchen. Die wuscheligen Haare, die jeden Tag anders aussahen. Die Muskeln, die sich unaufdringlich unter seinen T-Shirts spannten. Ich versuchte die Erinnerung an seine Küsse zu unterdrücken, an sein Lachen und seine sanften Berührungen. Ich erschauderte. Endlich. Applaus.

Erleichtert atmete ich durch. Ich hatte es überstanden und erhob mich, um ebenfalls zu klatschen. Mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen. Sonnenlicht sickerte wie eine klebrige Flüssigkeit durch die bunten Gläser der Kirche und ließ die Farben in ihrem Inneren tanzen.

Liv strahlte mit der Sonne um die Wette, als sie sich zu mir wandte. Ich streckte den Arm aus, um ihre Hand zu drücken. Von meinem angestammten Platz als Trauzeugin in der ersten Reihe hatte ich sogar eine realistische Chance, sie zu erreichen. Doch im nächsten Moment wurde sie von ihren Verwandten umzingelt, die allesamt mit feuchten Augen ihre Glückwünsche ausriefen.

Ich versuchte, so schnell es meine Stöckelschuhe und das enge Kleid zuließen, aus der kleinen Kirche zu stürmen, um meine Gedanken abzuschütteln. Der heutige Tag gehörte Liv und Lukas. Meine Trauer um Joshua hatte hier nichts zu suchen.

Ich stellte mich etwas abseits unter einen der alten Kastanienbäume, die den Kirchplatz säumten, und blinzelte in die Sonne. Wer bitte heiratete mitten im August? Richtig: glückliche, total verliebte Liebespaare. Ich stöhnte auf. Kinderlachen drang vom nahegelegenen Spielplatz. Es war ein schöner Tag, warum nur konnte ich nicht loslassen und im Hier und Jetzt leben? Warum musste ich heute wieder an Joshua denken? In den letzten Wochen hatte ich es doch endlich geschafft, ein Vakuum an Gefühlen zu erzeugen. Doch nun war alles wieder da. Der Schmerz hatte sich wieder durch die dichten Wände gefressen, die ich im letzten Jahr fein säuberlich aufgebaut hatte.

„Hier“, sagte die mir inzwischen vertraute Stimme. Ich lächelte ihn an und nahm ihm das Sektglas dankbar ab. In den letzten Monaten war er an manchen Tagen der einzige Kontakt zur Außenwelt gewesen. Wenn ich mich in meinem Zimmer verkrochen und meinen Tränen hingegeben hatte. Tom, der Bassist von Amblish. Tom, der Trauzeuge von Lukas. Tom, der arrogante Macho.

Er ließ es sich nicht nehmen, mich immer und immer wieder an die Verantwortung zu erinnern, die wir als Trauzeugen hatten. Schließlich sollte der heutige Tag unvergesslich für Liv und Lukas werden. Und Tom sah es als unsere Aufgabe an, genau das zu organisieren. Zuerst hatte er mich genervt. Er erinnerte mich zu sehr an meine Zeit mit Joshua. Aber nach und nach hatte er mich überzeugt. Er war nett zu mir. Und er nahm keine Rücksicht auf meine Verfassung. Nie behandelte er mich wie ein rohes Ei, und ich war ihm dankbar dafür.

Über Joshua oder die anderen Jungs von Amblish sprachen wir nie. Auch nicht über die Musik oder was bei ihnen gerade ablief. Es glich einem Eiertanz, aber Tom absolvierte ihn jedes Mal meisterhaft.

„Du denkst wieder an ihn“, stellte er ohne Umschweife fest. Ich schluckte. Für ein oberflächliches Arschloch hatte er verdammt feine Antennen. Zerknirscht verzog ich den Mund und kippte den Sekt in einem Zug hinunter. Als sich die Bläschen in meinem Magen ausbreiteten und eine wohlige Wärme nach sich zogen, fühlte ich mich ein kleines bisschen besser. Joshuas wunderschönes Gesicht verblasste langsam vor meinem inneren Auge, und ich winkte ihm im stillen Gruß hinterher. Spätestens morgen früh würden wir uns wiedersehen. Wenn all der Trubel und die Promille verflogen waren.

„Hier, iss was. Du kannst es gebrauchen“, raunte Tom und hielt mir ein Laugengebäck hin. Er musterte mich durchdringend. Ich verdrehte die Augen. Diesen Spruch hatte ich in den letzten Monaten zu oft gehört. Nicht zuletzt Liv hatte mir mit Schimpf und Schande zu verstehen gegeben, was sie davon hielt, dass ich ein paar Kilos abgenommen hatte. Sie hatte sich nach langem Hin und Her entschieden, das Brautkleid ihrer Großmutter zu tragen. Als angehende Mode-Designerin ließ sie es sich aber nicht nehmen, ein Kleid für ihre Hochzeit zu kreieren. Und ich als ihre Trauzeugin hatte die Ehre, es zu tragen. Sie hatte das hellgrüne Spitzenkleid auf meine alten Maße geschneidert, und es hatte ziemlichen Stunk gegeben, dass sie es auf den letzten Drücker enger nähen musste. Wir hatten uns einfach zu lange nicht gesehen.

Ich wusste, ich hatte mich im vergangenen Jahr nicht nur äußerlich verändert. Mit den Kilos war auch die Leichtigkeit verschwunden. Geblieben war eine drückende Schwere, eine Melancholie, die mich an vielen Tagen verbittert erscheinen ließ.

„Oh Mann, ich bin nur trainiert“, verteidigte ich mich. Ein spöttisches Lachen drang aus Toms Mund.

„Na, dann müsste man ja Muskeln sehen.“ Er nahm meinen Arm unsanft in die Hand und hielt ihn sich dicht vor die Augen. „Ich sehe nur Knochen. Und Haut.“ Er ließ meinen Arm fallen und zog einen Mundwinkel entschuldigend nach oben. Ich schlug die Augen nieder.

„Aber ...“, versuchte ich mich leise zu verteidigen. Wie sollte ich ihm nur klar machen, dass alles seinen Geschmack verloren hatte. Dass ich an Essen keinen Gefallen fand und mich das Meiste nur anekelte. Ich aß, weil ich musste. Nicht, weil es mir schmeckte. Und ab und zu vergaß ich es eben. Punkt.

„Nichts aber. Iss, sonst bist du heute Abend zu nichts mehr zu gebrauchen. Und das wäre schade.“ Er zwinkerte, und ich spürte, wie mir die Röte in den Kopf schoss. Tom flirtete aber schon über sein Sektglas hinweg mit Eleni, einer Cousine von Liv. Ich war froh über die Ablenkung.

Endlich kam das Brautpaar aus der Kirche geschritten. Liv machte in dem langen, altweißen Kleid ihrem Namen alle Ehre. Eine Elfenkönigin könnte nicht zarter, nicht märchenhafter aussehen. Mit ihrem extrem flachen Bauch brachte sie alle Gerüchte um den wahren Grund der Hochzeit zum Erliegen. Liv war gerade einmal neunzehn – und schwanger war sie jedenfalls nicht.

Ich war froh, als wir den Sektempfang auf dem Annaplatz hinter uns gebracht hatten und im Greiffenegg-Schlössle ankamen. Großmütig hatte ich mich bereit erklärt, die Kinderbespaßung zu übernehmen und war froh, dass ich für ein paar wenige Stunden keinen Small-Talk mit Livs oder Lukas’ Verwandten halten musste.

Liv hatte mich eindringlich ermahnt, die Kinder nicht in schwarz zu schminken. Schwarz – wie meine Bilder im letzten Jahr allesamt geworden waren. Schwarz – wie meine Stimmung. Schwarz. Farben ermüdeten mich. Aber brauchte man für Spiderman und kleine Hexen nicht schwarz? Ich war zuversichtlich, dass ich etwas zaubern würde, das den Kids gefiel und mir keine Kopfschmerzen bereitete. Bis ich den Schminkkasten öffnete und feststellte, dass Liv vorgesorgt hatte. Das Schwarz fehlte. Und das dunkelgrau, braun und dunkellila. Ich stöhnte auf, als mich das lustige Ensemble aus rot, gelb und grün schadenfroh anlächelte. Wie sollte ich aus diesen viel zu aufdringlichen Farben etwas halbwegs Anschauliches malen? Ich verfluchte Liv dafür.

Aber die Kinder waren Feuer und Flamme, dass ich sie in quietschebunte Schmetterlinge, gelb-grün-gestreifte Bienen und Tiger mit roten Streifen verwandelte. Und nach und nach genoss ich es ein bisschen, in die einzelnen Farben abzutauchen, auch wenn das viel zu bunte Ergebnis leichte Übelkeit in mir hervorrief.

„Immer schön anständig bleiben. Die Kids sind noch zu klein für deine Künste.“ Natürlich spielte er auf die Edding-Kritzelei an, bei der ich versucht hatte, ihm einen Penis auf die Wange zu zeichnen. Tom reichte mir ein Aperol Spritz und setzte sich neben mich auf den viel zu kleinen Stuhl. Er grinste mich zweideutig an und prostete mir zu. Ich ließ es zu, dass ich mich über seinen Besuch am Kindertisch freute. Obwohl ich bei Liv ein und aus ging, kannte ich außer Tom und der engsten Verwandtschaft des Brautpaares kaum jemanden. Die beiden heirateten im kleinen familiären Kreis, ohne ihren riesengroßen, hippen Freundeskreis, den sie für gewöhnlich um sich scharten. Eine Hochzeitsparty mit ihren Freunden würde kurz vor Weihnachten stattfinden. Dann, wenn alle ihre Familien besuchten und somit möglichst viele von ihnen in Freiburg waren.

„Soll ich dich auch noch schminken?“, fragte ich neckisch und malte ihm einen rosa Klecks auf die Nasenspitze. Ich lachte ein bisschen zu laut, aber Tom sah mich nur freundlich aus seinen strahlend blauen Augen an. Seine Haare hatte er zur Feier des Tages geschnitten. Nun trug er sie kurz. In seinem braunen Anzug, dem cremefarbenen Hemd und der karierten Krawatte sah er wirklich gut aus – objektiv betrachtet. Nur die zahllosen Ringe an seinen Fingern und die Tattoos, die sich von seinen Händen ausgehend an seinen Armen bis zum Ohr entlangschlängelten, ließen vermuten, dass er ein Rockstar war. Ohne das überhebliche Zucken um seinen Mund hätte ich ihn sogar als attraktiv bezeichnet. Aber Tom war eben Tom. Und er blieb Tom. Ich widmete mich wieder Tim – Livs kleinem Bruder – und zauberte eine fliederfarbene Glitzerlibelle auf seine Wange.

„Wenn ich mir aussuchen kann, wo und mit was, bin ich dabei.“ Er zwinkerte, als ich innehielt und ihn verdattert anschaute. Baggerte er mich gerade an? Ich schüttelte angeekelt den Kopf und widmete mich dem Schminkkasten. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich Tom umständlich von dem Kinderstuhl hochhievte.

„Ich bereite mal alles für den Film später vor.“ Tom legte eine Hand auf meine nackte Schulter. Ich erschauderte, obwohl sie sich warm anfühlte. Langsam wurde er mir doch zu vertraulich.

„Du siehst heute wunderschön aus“, flüsterte er mir ins Ohr und war verschwunden, bevor ich mich umgedreht hatte. Ich verzog den Mund. Und ich freute mich über sein Kompliment, auch wenn ich wusste, dass es gelogen war.

Tom hatte bei der Sitzordnung seine Finger im Spiel gehabt. Das vermutete ich jedenfalls, als ich auf meinen Platz zusteuerte und ihn direkt daneben sitzen sah. Er grinste mich vielsagend an und schob meinen Stuhl ein kleines Stück nach hinten. Ich lächelte zaghaft und versuchte dankbar auszusehen, er meinte es schließlich gut.

Auch den Rest des Abends wich er mir nicht von der Seite. Wahrscheinlich hatte er von Eleni einen Korb bekommen. Und außer uns gab es nur ältere Damen oder kleine Kinder. Eleni und ich waren also die Einzigen, die in sein Beuteschema passten. Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass Tom tatsächlich sein Glück bei mir versuchen würde.

Das Gesöff namens Aperol Spritz, das Tom ständig vor meiner Nase abstellte, schmeckte ausgesprochen gut. Und es machte mich lockerer. Ich ließ mich von der guten Stimmung anstecken. Lachte mit Tom. Umarmte Liv und sprach ein halbwegs ernstes Wörtchen mit Lukas, dass er meine beste Freundin gut behandeln sollte. Wir quatschten, tanzten und fast war es wie früher. Früher, als ich noch Spaß am Leben hatte.

Ich hielt inne und versuchte den Nebel zu spüren, der mich normalerweise umgab. Zumindest für den Moment schien er sich verzogen zu haben, stellte ich erfreut fest. Ich umarmte Tom und grinste Liv vielsagend an.

„Ich muss gleich los. Morgen Mittag stehen wieder Proben an. Willst du mitfahren oder bleibst du noch?“, fragte Tom und hielt die Arme weiter um mich geschlossen.

„Wohin mitfahren?“, fragte ich und zog die Augenbrauen zusammen.

„Na, nach München!“ Tom grinste, als hätte ich eine dämliche Frage gestellt. Dabei probte Amblish doch normalerweise im Bandhaus in Oberried.

„München“, flüsterte ich und überlegte krampfhaft, was Amblish in München zu suchen hatte. München. Meine neue Heimat. Ich seufzte. Nach einem dreiviertel Jahr in der selbstgewählten Isolation konnten meine Eltern meine dauernde Anwesenheit nicht mehr ertragen und schoben mich zu meinem Onkel Eric nach München ab. Sie schrieben mich für ein Probestudium in Grafik Design ein. Bis zum nächsten Semester sollte ich meine Mappe fertighaben, um mich anschließend an einer Grafik-Schule zu bewerben. Doch ich verkroch mich lieber in der winzigen Einliegerwohnung. Und litt weiter vor mich hin. Still.

Der Gedanke daran war alles andere als angenehm. Morgen würde ich wieder allein sein. Morgen wären all der Schmerz und die Erinnerungen wieder da. Erinnerungen an Joshua.

„Ich fahr mit“, beschloss ich kurzerhand. Noch ein paar weitere Stunden in Toms Gesellschaft waren allemal besser, als die nervtötende Fahrt mit Udo von der Mitfahrzentrale, der mir jedes Mal das Ohr abkaute und erzählte, wie nahrhaft die Äpfel vom Bodensee waren.

Tom lächelte siegessicher und legte seinen Arm um mich. Ich wand mich aus der Umarmung und suchte meine Sachen zusammen. Liv hob erstaunt die Augenbrauen, als ich die Party mit Tom verließ, und bedeutete mir, sie anzurufen. Das würde ich sicher tun. Aber nicht heute Nacht. Schließlich war es ihre Hochzeitsnacht. Ich umarmte sie ein letztes Mal und drückte Lukas einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Und schon saß ich in Toms Potenzschleuder. Ein 5er-BWM mit Ledersitzen, einer dicken Musikanlage und mindestens 250 PS. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wen er hier schon alles flachgelegt hatte.

Müde strampelte ich meine Stöckelschuhe von den Füßen und schaute aus dem Fenster, als die Lichter der Freiburger Nacht an mir vorbeizogen. Der viele Alkohol machte sich bemerkbar. Ich war unendlich müde. Froh, dass mich mein übliches Gedankenkarussell in Ruhe ließ, kuschelte ich mich in den Sitz ein. Mein Kleid war eigentlich viel zu kurz für solche Verrenkungen, aber damit musste Tom halt irgendwie klarkommen. Ich hoffte, dass er keinen Unfall baute, weil er auf meine nackten Oberschenkel starrte, und fiel in einen dumpfen, traumlosen Schlaf.

Als ich mit einem Ziehen im Nacken aufwachte, beschleunigte sich mein Puls von Null auf Zweihundertachtzig. Joshuas einzigartige rauchig-weiche Stimme dröhnte mir aus den Lautsprechern entgegen. Ich hielt die Augen geschlossen und versuchte, den Schock zu verdauen. Während der letzten Monate hatte ich eine grandiose Vermeidungsstrategie gefahren und immer und überall aufgepasst, dass kein Song von Amblish lief. Ich hörte weder Radio noch ging ich shoppen oder in Clubs. Alles, wobei ich mit einem Song von Amblish konfrontiert werden könnte, mied ich, als könnte ich mir dort eine lebensbedrohliche Seuche holen.

Die Wärme, die seine Stimme augenblicklich in mir auslöste, legte sich wie eine kuschelige Wolldecke über mich. Hüllte mich ein und schenkte mir das lang vermisste Gefühl der Geborgenheit. Ich ließ es zu, dass das süße Gift weiter in den Betonblock um mein Herz eindrang und erste Risse entstanden.

Ich lauschte, doch ich kannte das Lied nicht. Es musste ein neuer Song sein. Sanft und kraftvoll. Traurig und wunderschön. Ich schluckte. All die Erinnerungen, die ich so fein säuberlich verschlossen hatte, waren auf einen Schlag wieder da. Eigentlich sollte ich traurig sein. Doch ich fühlte mich gut. Ich wartete auf den erstickenden Nebel, doch er kam nicht. Ich schüttelte benommen den Kopf. Sollte ich etwa über Joshua hinweg sein? Nein, der Alkohol musste das Schmerzzentrum in meinem Gehirn betäubt haben.

„Du bist ja wach“, sagte Tom und drehte die Anlage leiser. Ich drückte mich umständlich auf dem Sitz hin und her und suchte eine halbwegs bequeme Position. Mein kurzes Kleid gab eindeutig zu viel Bein preis, aber das war mir egal. Ich gähnte herzhaft und versuchte vergeblich, die Gedanken an Joshua zu unterdrücken. Draußen dämmerte es bereits. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir an unserem Ziel angekommen sein würden.

„Yep. Mann, wie selbstverliebt muss man eigentlich sein, um ’ne CD von seiner eigenen Musik im Auto laufen zu lassen? Stehen da deine Miezen drauf? Ich wette, du hast einen ganzen Stapel Autogrammkarten im Handschuhfach“, witzelte ich und beugte mich Richtung Konsole. Tom versuchte mich aufzuhalten, hatte aber keine Chance. Ich öffnete das Fach mit einem lauten Rums und wurde von einem Berg Kondome überschüttet.

„Ups“, sagte ich und starrte die goldenen, blauen und roten Verpackungen an. Größe XL – war ja klar, dass Tom auch in diesem Bereich an maßloser Selbstüberschätzung litt. Ich nahm einen Gummi in die Hand und grinste Tom vielsagend an. Zeitgleich brachen wir in schallendes Gelächter aus.

„Allzeit bereit, my dear. Bedien’ dich ruhig. Man weiß nie, wann man sie mal brauchen kann“, raunte er und zwinkerte vielsagend. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und klappte das Handschuhfach schnell wieder zu.

„Was sind das für Songs? Die kenne ich gar nicht“, versuchte ich abzulenken.

„Die sind für das nächste Album. Wir gehen noch einmal ins Studio und nehmen sie neu auf. Josh ist unzufrieden und will es nochmal machen – mit mehr Ruhe.“ Josh. Eine kleine Nadel pikte beim Klang seines Namens in mein Herz. Ich ignorierte sie.

„Die sind doch gut.“ Ich lehnte mich ans Beifahrerfenster und musterte Tom. Er sah müde aus. Aber ohne potenzielle Zuschauer war er so viel lockerer und weniger arrogant. Fast konnte ich ihn gernhaben.

„Na, ja. Als wir sie aufgenommen haben, hatte er … er hatte ’ne schwierige Zeit. Und da wir eh erst mal alle Gigs abgesagt haben, können wir jetzt in Ruhe daran feilen.“

„Wie? Alle Gigs abgesagt?“ Plötzlich beschleunigte sich wieder mein Puls. Was bedeutete das? Was war los?

„Hast du das nicht mitbekommen?“, fragte Tom verständnislos und schaute kurz zu mir rüber.

„Was mitbekommen?“ Meine Stimme zitterte. Nichts hatte ich mitbekommen. Nichts. Ich hatte Amblish aus meinem Leben radiert und Liv gebeten, mir nichts zu sagen. Aus Selbstschutz.

„Na, Josh ist im Mai zusammengebrochen. Dachte, du wüsstest davon“, sagte er ohne Umschweife. Ich blinzelte verständnislos und spürte, wie mich eine eisige Kälte ergriff.

„Zusammengebrochen?“ Meine Stimme zitterte.

„Das letzte Jahr war für alle zu viel. Josh hat es eben zuerst erwischt. Die sensible Seele.“ Alles zu viel. Sensible Seele. In mir drehte sich alles. „Hey, keine Panik. Niemand gibt dir die Schuld. Josh am allerwenigsten.“ Ich verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln.

„Was ...“ Ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. „Was ist mit Amerika?“

„Amerika? Herzchen, wir nehmen gerade unsere zweite Platte auf, und danach sehen wir weiter. Wir wollen es eine Spur langsamer angehen lassen. Diese ständige Reiserei, Interviews, Gigs, Termine, zwischendrin ins Studio. Das hat nicht nur Josh zugesetzt. Wir alle sind ausgelaugt und brauchen ’ne Auszeit.“ Sollte das heißen, dass alles umsonst gewesen war? Dass sie nicht in Amerika gewesen waren und vorerst auch nicht gehen würden? Ich lehnte den Kopf zurück und versuchte mich selbst zu beruhigen. Nicht meine Schuld. Es war nicht meine Schuld.

„Wie geht es Joshua jetzt?“, flüsterte ich, bemüht, meine Stimme im Griff zu haben.

„Besser. Er räumt in seinem Leben auf.“ Ich zog fragend eine Augenbraue hoch. „Er war eine zeitlang in Italien bei seiner Mom. Das hat ihm echt gutgetan. Und ich glaube, vom Alkohol und den Drogen lässt er grad auch die Finger.“

„Alkohol und Drogen? Joshua?“, fragte ich fassungslos, meine Stimme überschlug sich.

„Ja, Süße, dein Supermann ist lange nicht der Saubermann, für den du ihn hältst.“

„Na, du wirst es wissen.“ Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust. Tom war sicher nicht ganz unschuldig, wenn Joshua Drogen nahm. Wie sonst kam er wohl an das Zeugs? Wahrscheinlich hatten sich die beiden sogar nach den Konzerten gemeinsam zugedröhnt.

Und wieder war es da. Das schlechte Gewissen, das mich auffressen wollte. Ich schob es beiseite. Ich konnte nichts dafür, dass Joshua zu zerbrechlich für diese Welt war.

Ich spürte die altbekannte Nebelfront auf mich zurollen, und plötzlich überkam mich die Angst vorm Alleinsein. Ich wollte nicht mit meinen Gedanken Karussell fahren, wollte nicht immer und immer wieder daran denken, dass es ein Fehler gewesen war, mit Joshua Schluss zu machen. Die Gewissheit, dass alles umsonst gewesen war, machte die Sache nicht besser.

„Hey, wir sind gleich da“, stellte Tom fest und räkelte sich auf dem Fahrersitz, als die Lichter der Stadt uns willkommen hießen.

„Mhm.“ Kalte Luft schlug mir entgegen, als Tom ohne Vorwarnung alle Fenster öffnete. Ich schnappte nach Luft und schlug Tom unsanft auf den Oberarm. „Mann, Tom.“ Er lachte schadenfroh.

„Komm schon. Eine kleine Abkühlung schadet dir nicht. Du hast es dir auf dem Sitz viel zu gemütlich gemacht. Sonst kriege ich dich gleich nicht mehr hier raus.“

„Wäre das so schlimm?“, fragte ich leise.

„Nein, ganz und gar nicht.“ Wir fuhren am Bahnhof entlang. Gelbes Licht drang durch die Fensterscheiben, und ich war froh, dass ich nicht mit dem Zug gefahren war und nun hier allein stehen musste.

„Zu dir oder zu mir?“, fragte Tom unvermittelt. Ich legte den Kopf schief und strafte ihn mit einem giftigen Blick. „Okay, okay. Einen Versuch war es wert“, sagte Tom und strubbelte mit einer Hand durch meine Haare. Ich versuchte ihn abzuwehren und fiel in sein Lachen ein. Er konnte es einfach nicht lassen.

Tom ergatterte direkt vor Onkel Erics Haus im Lehel einen Parkplatz. Ich kramte in der Handtasche nach dem Schlüssel und kämpfte mich aus dem Auto. Meine Oberschenkel klebten am Ledersitz fest und machten ein schmatzendes Geräusch, als sie sich endlich davon lösten. Beschämt blickte ich mich nach Tom um, aber der war bereits ausgestiegen und öffnete den Kofferraum.

„Darf ich dir wenigstens die Tasche reinbringen?“, fragte Tom, als ich sie ihm abnehmen wollte und hob sie außerhalb meiner Reichweite. „Ich benehme mich auch anständig. Versprochen.“ Tom zauberte sein wahrscheinlich vertrauensvollstes Lächeln auf sein Gesicht und sah dabei so ulkig aus, dass ich lachen musste und schließlich Richtung Haus nickte. Zufrieden legte Tom seinen Arm um meine Schulter. Er war fast genauso groß wie Joshua, aber er fühlte sich anders an. Steifer. Kantiger. Unpassend. Ich schluckte und eilte die drei Treppenstufen zu meiner Wohnungstür hinunter. Mein Onkel Eric ließ mich auf Bitten meines Vaters in dem Souterrain-Zimmer wohnen, das er sonst an Studenten vermietete.

„Hereinspaziert.“ Tom blieb unschlüssig stehen, während ich das Licht anknipste und den Wohnungsschlüssel an das Schlüsselbrett hing. Schon stand ich in dem kleinen Etwas, das Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche in einem war. Tom folgte mir. „Willst du noch was trinken?“, fragte ich, da er nicht den Anschein machte, sich in den nächsten Minuten zurückzuziehen. Er blickte sich interessiert um.

„Kaffee. Gerne.“ Ich hatte ja eher an ein schnelles Glas Wasser gedacht, wollte aber nicht unfreundlich sein. Schließlich hatte er mich mitfahren lassen und mir somit eine nervige Fahrt mit Udo erspart. Ich schaltete die Senseo-Maschine ein und verzog mich ins Badezimmer. Als ich wieder rauskam, hatte Tom es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht. Ich schluckte im ersten Moment, sah aber schnell ein, dass es momentan keine andere Sitzgelegenheit gab – den Schreibtischstuhl hatte ich als Ablage für meine Klamotten zweckentfremdet.

Dennoch zitterten meine Finger nervös, als ich den Kaffee mit einem Klick in eine geblümte Siebziger-Jahre-Tasse laufen ließ und sie Tom reichte – ich war Besuch einfach nicht gewohnt. Tom trank seinen Kaffee schwarz. Das wusste ich noch aus Amblish-Zeiten. Müde von dem langen Tag und der Fahrt sank ich ebenfalls aufs Bett und streckte mich genüsslich aus. Einen Moment die Augen zumachen. Nur einen Moment. Ausruhen. Tom würde es mir verzeihen.

Keine Sekunde später spürte ich ein sanftes Streicheln auf meinem Kopf. Ein Traum. Es fühlte sich gut an. Ich streckte mich – und fühlte eine Hand. Atem dicht an meinem Mund. Ich öffnete die Augen und schaute direkt in Toms blaue Augen, die mich erwartungsvoll anstrahlten. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich räusperte mich.

„Was wird das?“, fragte ich mit erstickter Stimme. Er strich mir über die Wange und lächelte sanft.

„Nach was sieht es denn aus?“ Mein Verstand sagte Nein, wollte ihn wegschieben, ihn mit Schimpf und Schande aus der Wohnung jagen. Aber ich konnte nicht. Mein Körper wollte ihn. Unbedingt.

Zu sehr sehnte ich mich danach, jemandem nahe zu sein, mich in eine weiche Wolke aus Geborgenheit fallen zu lassen. Das Gefühl, begehrt zu werden, fehlte mir. Und es fühlte sich einfach wundervoll an, wie er mich berührte.

Ups

„Was hältst du von dem ganzen Ehe-Ding? Liv und Lukas … das wird doch nicht gut gehen. Oder?“ Ich wedelte mit der Hand vor meiner Nase. Ich wollte mich lieber an ihn kuscheln, noch ein paar Momente diese Wärme spüren.

„Abwarten. Luke ist immer für ’ne Überraschung gut. Er scheint Liv wirklich gern zu haben. Und die beiden haben sich schließlich mehr als genug die Hörner abgestoßen – wenn man all den Geschichten glauben mag, die über Liv kursieren.“ Er nahm einen letzten Zug und drückte die Kippe auf einer Untertasse aus, die ich zum Aschenbecher umfunktioniert hatte. Ich blickte mich in meinem Zimmer um. Es war ein einziger Schweinestall. Ich schämte mich nicht. Sollte Tom denken, was er wollte.

Er drückte mir einen schnellen Kuss auf die Stirn und zog seinen Arm unter meinem Kopf vor.

„Ich muss los“, sagte er knapp und zog sich seine Shorts an. Ich bestaunte ein letztes Mal seinen knackigen Po, bevor er verschwinden würde. Ich bereute es nicht, dass ich mit ihm geschlafen hatte. Es war schön gewesen. Anders. Ich hatte mich gehen lassen. Dem Alkohol und Tom sei Dank.

„Warum seid ihr eigentlich ausgerechnet in München? Studios gibt’s doch überall. Warum hier?“ Die Frage beschäftigte mich, seit er mir erzählt hatte, dass sie hier ihre neue Platte aufnahmen.

„Was weiß ich. Frag das Josh. Vielleicht wegen dir?“, antwortete er leichtfertig, während er seine Lederschuhe anzog. Er würde sich noch umziehen müssen, bevor er ins Studio ging. Ich schluckte. Wegen mir?

„Sicher nicht. Ich habe keinen Kontakt zu Joshua. Schon vergessen?“ Ich zog die Decke enger um mich und verkroch mich darin.

„Whatever.“ Er setzte sich nochmal auf die Bettkante und strich sanft über meine Wange. „Rufst du an?“

„Ach, Tom. Wir wissen doch beide, dass ich nicht anrufe.“ Ich setzte mich halbwegs auf und klammerte mich an der Bettdecke fest.

„Nicht? Ich dachte, du hattest gerade Spaß.“ Er stupste meine Nase und schien alles andere als angepisst zu sein.

„Ja, das hatte ich“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Aber Spaß allein reicht halt nicht.“

„Komm schon. Es muss ja nicht immer gleich die große Liebe sein. Ich mag dich. Lass uns ein bisschen zusammen abhängen, Spaß haben.“ Er rüttelte mich am Arm. „Es ist nicht gut, dass du so viel allein bist.“ Ich verzog den Mund und verdrehte die Augen. Fehlte nur, dass er mir noch einen Vortrag darüber hielt, dass ich mehr essen sollte. Ich ließ mich tiefer ins Bett sinken und lächelte ihn matt an.

„Okay, ich überleg’s mir.“ Er nickte und küsste mich zum Abschied.

Ein leises Klicken, als die Haustür ins Schloss fiel, und ich war allein. Mit meinen Gedanken. Mit dem schlechten Gewissen, das langsam, aber sicher in mir hochkroch.

„Verschwinde – ich habe nichts falsch gemacht. Wir sind nicht mehr zusammen“, versuchte ich es zu verscheuchen und musste grinsen, als es sich tatsächlich in einen entfernten Winkel meines Herzens zurückzog.

Es war okay, dass ich anfing, mein Leben zu leben. So schwer es mir fiel, loszulassen. Vermutlich würde ich nie wieder dieses Band spüren, das mich mit einem anderen Menschen so ausnahmslos vereinte, und momentan konnte ich mir nicht vorstellen, jemals einen anderen Menschen so sehr zu lieben wie Joshua. Aber das war okay. Es war eine einzigartige Zeit gewesen. Eine Zeit, die vorüber war.

Ich beschloss, dass ich nun lange genug getrauert hatte. Ich sollte nach vorne schauen. Akzeptieren, dass Joshua für immer bei mir sein würde. In meinem Herzen. Aber er würde sich diesen Platz in Zukunft mit anderen Menschen teilen müssen.

Konnte ich es wagen und bei Liv anrufen? Ich schaute auf die Uhr. Zwölf Uhr mittags. Ihre Hochzeitsnacht hatte lange genug gedauert. Ich angelte die Tasche vom Boden, und keine zehn Sekunden später klingelte es bei der frisch gebackenen Ehefrau. Ich trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Bettdecke. Eine halbe Ewigkeit später nahm sie ab.

„Na, wie war die Hochzeitsnacht?“, begrüßte ich sie ohne Umschweife.

„Hochzeitsnacht. Du bist gut. Wir waren um fünf zu Hause und mussten um acht wieder mit der Verwandtschaft aus Hinterschnöpflingen frühstücken.“ Unausgeschlafen war sie immer zickig. Ich grinste. Geschlafen hatte ich schließlich auch nicht. „Hat dich Tom gut zu Hause abgeliefert?“

„Ja.“

„Dann ist ja gut. Hab mich schon gewundert, dass du so schnell mit ihm abgehauen bist. Alles okay?“

„Ich hab mit ihm geschlafen.“ Stille auf der anderen Seite der Leitung. Mein Herz begann zu galoppieren.

„Du hast mit Tom geschlafen?“ Livs Stimme überschlug sich.

„Psst. Lukas muss ja nicht gleich mitkriegen, dass ich dir das brühwarm erzähle.“ Das Grinsen schien auf meinem Gesicht eingemeißelt zu sein.

„Du hast mit Tom geschlafen?“ Sie schien es noch immer nicht zu glauben.

„Jep.“ Ich versuchte mein Herz zu beruhigen und presste die flache Hand darauf.

„Hast du sie noch alle? Du magst Tom doch noch nicht mal.“

„Ja, und?“ Ich tat nur so abgebrüht, und Liv wusste das natürlich.

„Erzähl! Ich will alles wissen. Mit allen schmutzigen Details. Wie war’s?“

„Es war … es war schön. Anders irgendwie. Aber gut“, gab ich leise zu.

„Und jetzt? Trefft ihr euch wieder. Seid du und Tom jetzt ...“

„Zusammen? Liebes, du kennst ihn genauso gut wie ich. Tom und ’ne Beziehung? Ne. Ne! Er will sich ab und zu mit mir treffen. Aber ich weiß nicht ...“ Eine Freundschaft, die auf Sex basierte, war nicht gerade mein Ding.

„Wie, du weißt nicht? Vielleicht wird ja was aus euch. Und dann heiratet ihr, und wir sind verwandt“, sponn Liv weiter.

„Ja, klar. Und der Storch bringt die Babys. Träum weiter.“

„Mann, Emma. Ich verstehe ja, dass du noch an Josh hängst. Aber meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, nach vorne zu schauen? Du kannst doch nicht ewig Trübsal blasen.“

„Hey, ich habe doch gerade einen ersten Schritt getan, oder? Dräng mich nicht gleich so. Wann geht denn eure Hochzeitsreise los?“, versuchte ich das Thema zu wechseln.

„Morgen. Und dann sind wir drei lange Wochen weg. Unerreichbar. Für jeden. Ach, ich freu mich.“

„Ich mich auch für euch. Und ich vermisse dich jetzt schon. Aber ich muss jetzt schlafen. Gute Reise. Und melde dich, wenn ihr zurück seid, ja? Frau Heinrich!“ Mit einem Lachen legte sie auf, und ich kuschelte mich tief in die flauschige Bettwäsche, die noch nach Tom roch. Sonne waberte in meine Kellerwohnung, verfing sich in den schmuddeligen Gardinen. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Aber die Welt musste erst einmal ein paar Stunden ohne mich zurechtkommen.

In den nächsten Tagen bombardierte mich Tom mit unzähligen SMS. Er schmeichelte mir, brachte mich zum Lachen. Und drängte immer wieder darauf, dass wir uns treffen sollten. Ich blieb standhaft. Noch.

Am Mittwoch saß ich gerade in Erics kleinem Garten und versuchte mich seit einer Ewigkeit wieder an einem Makrobild eines Blattes. In den letzten Monaten hatte ich ausschließlich Steine gemalt. Schwarze Steine. Dunkelgraue Steine. Sie waren leblos. Wie ich. Aber die Aufnahmeprüfung für das Grafik-Design-Studium mit Schwerpunkt Illustration würde ich nicht mit emotionslosen Bildern bestehen. Daher musste ich endlich anfangen, wieder mit Farbe und mehr Gefühl zu zeichnen. Es fiel mir schwer. Und das Ergebnis war alles andere als brillant.

Nur Toms SMS hatten mir bislang den Mittag etwas erhellt. Er bettelte schon wieder um ein Date, und es schmeichelte mir, dass er noch immer nicht aufgegeben hatte. Ich fragte mich, wie er im Studio so viel Zeit haben konnte, um mir die vielen Nachrichten zu schicken.

Wieder vibrierte mein Handy, und ich grinste, weil es keine Minute gedauert hatte, bis Tom auf meine Nachricht geantwortet hatte. Doch ein Blick auf das Display zeigte mir eine fremde Nummer. Wenig interessiert öffnete ich sie. Wahrscheinlich irgendeine Werbenachricht. Ich hasste diese Spam-Meldungen und war versucht, sie gleich zu löschen.

„Hallo, Emma, wollte mich schon ewig melden. Hast du am Freitagabend Zeit für mich? Würde gerne ein paar Dinge mit dir besprechen. J.“ J.? Ich kannte nur eine Person, deren Namen mit J anfing. Und der würde sich ganz sicher nicht bei mir melden. Außerdem war das nicht seine Nummer.

„Hallo, J. Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber nein, ich habe keine Zeit für dich. Sorry. E.“ Ich klickte auf Senden und legte das Telefon wieder auf den Rasen neben meinen Stuhl.

Ich versuchte mich wieder in die filigranen Linien des Blattes zu vertiefen, als das Telefon klingelte. Ich fluchte leise und angelte das Handy vom Boden. Mein Blick huschte kurz auf das Display. Es war die Nummer des ominösen J. Ich verdrehte die Augen. Ich wusste gerne, mit wem ich sprach, bevor ich annahm. Vielleicht sollte ich das Gespräch abweisen, aber wer wusste schon, ob der oder die Unbekannte sonst Ruhe geben würde.

„Ja?“, sagte ich wenig begeistert, fügte einen Strich auf dem Blatt hinzu und hielt die Zeichnung ins Licht.

„Hallo, Emma.“ Mein Herz rutschte in die Hose, um gleich darauf zu meinem Hals hochzuschnellen und wie wild geworden loszupreschen. Ich schnappte nach Luft.

„Äh, hallo, Joshua“, stammelte ich und blickte mich verwirrt um. Natürlich stand er nicht hinter mir. Ich sprang auf und lief wie von der Tarantel gestochen in dem kleinen Garten auf und nieder. Meine Knie zitterten.

„Hey, ich dachte, ich rufe kurz an. Hab ganz vergessen, dass du meine neue Nummer gar nicht hast“, hauchte die rauchig-weiche Stimme. Die Stimme, die ich so sehr vermisst hatte. Die Stimme, die meine Welt zum Wanken brachte. Noch immer. Ich krallte mich an dem kleinen Apfelbaum fest, bis das Weiß unter den Fingernägeln hervortrat.

„Mhm.“ Ich war mir sicher, dass mein erster Herzinfarkt nur Sekunden entfernt war. Scheiße, scheiße, scheiße. Was sollte das denn? Gerade erst hatte ich beschlossen, ihn endlich gehen zu lassen. Mich damit abzufinden, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Und nun das. Was wollte er von mir?

„Wie …“ Er räusperte sich. Sicher fuhr er sich gerade durch seine Haare. Wie ich diese Geste geliebt hatte. Ich verscheuchte das Bild, das sich vor meinem inneren Auge auftat. „Wie geht es dir?“

„Gut“, hörte ich mich automatisch sagen. Gut? Natürlich war das gelogen.

„Gut. Das ist schön“, sagte er leise. „Hör mal, wir sind gerade in München, und ich dachte, wir könnten uns mal treffen. Ein paar Dinge bequatschen …“ Ich schlug die Augen nieder. Er räumte mit seinem Leben auf, meinte Tom. Nun war es also an der Zeit, dass er mich beseitigte. Wie ein lästiges Problem. „Nur, wenn du …, wenn du willst.“ Er klang zaghaft. Unsicher.

„Ich weiß nicht“, sagte ich wahrheitsgemäß. War es eine gute Idee? Natürlich wollte ich ihn sehen. Und ich hatte eine Heidenangst davor, ihm in die Augen zu blicken. Wieder in dieses Loch zu fallen, aus dem ich gerade erst angefangen hatte, rauszukriechen.

„Bitte. Ich würde dich gerne sehen.“ Ich lehnte den Kopf an den Baumstamm und hoffte inständig, dass mich ein Apfel erschlagen möge. Dann müsste ich keine Entscheidung treffen. Ich seufzte.

„Okay. Wann und wo?“ Mein Puls war jenseits der messbaren Grenze, und ich war erstaunt, dass meine Adern, die in den letzten Monaten nur Gleichgültigkeit transportieren mussten, dazu in der Lage waren und nicht augenblicklich platzten.

„Freitag kannst du ja nicht. Samstag. Wie sieht es diesen Samstag bei dir aus?“ Diesen Samstag? So bald? Ich suchte verzweifelt nach einer Ausrede, die sich wie immer ganz weit weg versteckte.

„Samstag. Ja, okay. Um sieben im Eiszeit?“, hörte ich mich vorschlagen. Ich hasste das Eiszeit. Aber das war nicht verwunderlich, denn ich hasste im Moment alle öffentlichen Orte, an denen mehr als fünf Menschen gleichzeitig waren. Joshua würde es dort sicher gefallen. Und das war die Hauptsache.

„Okay, Samstag um sieben. Im Eiszeit. Ich freu mich.“ Ich verzog das Gesicht und war froh, dass das Gespräch damit beendet war. Ich war verabredet. Mit Joshua. Ich stöhnte auf und ließ mich ins Gras plumpsen. Ein kleiner Freudenschrei drang aus meinem Mund, und ein breites Grinsen stahl sich auf meine Lippen.

Egal, warum er sich mit mir treffen wollte. Alles war besser als dieses unausgesprochene Nichts, das seit über einem Jahr zwischen uns lag. Oder?

Zumindest ein Anfang

Ich tat, was ich immer tat, wenn ich nervös war und die Zeit totschlagen musste: Ich wirbelte in meinem Zimmer herum, räumte die Dreckwäsche der letzten Woche auf, putzte und schrubbte, bis der schmucklose Raum wieder annähernd sauber war. Da ich nur mit dem Allernötigsten nach München gezogen war, hatte ich keine Dekosachen oder sonstige Möglichkeiten, mein neues Zuhause etwas wohnlicher zu gestalten.

Also ging ich meinen Skizzenblock durch. Ich blieb einen Augenblick an all den Skizzen von Joshua hängen und hielt inne. Ich hatte ihn gut getroffen. Wärme stieg in mir hoch. Nach einem liebevollen Blick auf seine schön geschwungenen Lippen zwang ich mich dazu, weiterzublättern, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Ich pinnte einige meiner alten Zeichnungen an die Wände. Zeichnungen aus meinem vorigen Leben. Zeichnungen, die Leben versprühten. Und die dennoch nichts mit Joshua zu tun hatten. Ich wollte es schön haben, wenn ich später nach Hause kam. Später, wenn alles zwischen Joshua und mir geklärt sein würde und ich hoffentlich bereit für ein neues Leben war.

Ich ging in den Garten und schnitt eine Sonnenblume ab. Ein bisschen Farbe würde guttun. Die Sonne kämpfte sich durch die hohen Bäume und kitzelte mich an der Nase. Ich nieste und hörte mich selbst lachen. Heute war ein guter Tag. In ein paar Stunden würde ich Joshua wiedersehen.

Nach einem viel zu langen Blick in meinen spärlich bestückten Kleiderschrank entschied ich mich für eine Capri-Jeans und ein schlichtes maritimes T-Shirt. Für das Eiszeit war das underdressed. Aber ich wollte bei Joshua nicht den Eindruck erwecken, ich hätte mich aufgebrezelt. Außerdem hatte ich keine Alternative: Livs ausrangierte Tops hatte ich in Freiburg zurückgelassen. Wozu hätte ich sie mitnehmen sollen?

Viel zu früh machte ich mich auf den Weg. Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf, formten sich zu einem Klumpen, der sich nicht mehr auseinandernehmen ließ. Mir war es schleierhaft, wie Joshua zu mir stand. Im letzten Jahr hatten wir keinerlei Kontakt gehabt. Ich wollte ihm die Chance geben, seinen Traum zu leben. Ich wusste nicht, ob er sauer auf mich war. Ob er wütend, enttäuscht oder verletzt war. Ich vermutete, dass ihn mein Schlussstrich sehr getroffen hatte, denn er hatte mich geliebt. Aber was blieb, war die Ungewissheit, was er heute von mir wollte, und das machte mich schier wahnsinnig.

Ich hatte mir vorgenommen, alles zu ertragen. Gelassen. Würdevoll. Und auch wenn ich mir nichts mehr wünschte, als Joshua zurückzugewinnen, würde ich mich zurückhalten. Ich wusste, dass ich es verkackt hatte und Joshua keine zweiten Chancen gab. Aber vielleicht hatte ich heute endlich eine Gelegenheit, alles mit ihm zu klären. Und danach ein neues Leben anzufangen. Ohne die Fragezeichen, die ständig in meinem Kopf auftauchten.

Ich machte einen Abstecher durch den Englischen Garten und hoffte, dass mich der Anblick all der glücklichen, sonnenhungrigen Menschen nicht aus der Bahn werfen würde. Aber in Bewegung zu bleiben war allemal besser, als vor dem Eiszeit die Zeit totzuschlagen.

Ich versuchte mich abzulenken, beobachtete spielende Kinder, tobende Hunde und blickte neidisch zu all den verliebten Paaren, die lachend oder küssend auf der Wiese lagen. Den Sommer hatte ich immer geliebt. Seit letztem Jahr war alles anders. Nun verkroch ich mich lieber in meinem Zimmer, statt meine Nase in die Sonne zu strecken, starrte lieber an die Decke, statt mit Freunden den Sommer zu genießen.

Ein tiefer Atemzug, bevor ich in das kühle Glasgebäude des Eiszeit trat. Trotz des schönen Sommerwetters war es im Inneren brechend voll, und ich war froh, dass ich so umsichtig gewesen war, zu reservieren. Die Dame am Empfang führte mich an einen kleinen Zweiertisch an der Glasfront. Ein lauschiges Plätzchen, um mit Joshua in trauter Zweisamkeit zu reden, sah anders aus. Aber das Eiszeit war das einzige Lokal gewesen, in dem ich bisher war. Ich war nicht viel unterwegs. Mit wem auch? Die hippen und aufgestylten Menschen in meinem Kurs hatten Besseres zu tun, als mit diesem in sich gekehrten, viel zu dünnen Mädchen auszugehen, das sich ausschließlich auf Steine konzentrierte. Schwarze Steine. Ich konnte sie verstehen. Schließlich hatte ich mir keine Mühe gegeben, Anschluss zu finden. Die selbstgewählte Isolation kam mir ganz gelegen.

Ich blickte mich verstohlen um und zupfte an meinem viel zu schlichten T-Shirt. Vielleicht hätte ich doch etwas anderes anziehen sollen? Wie einfach es gewesen war, als Liv nur ein paar Meter von mir entfernt gewohnt hatte und immer aushelfen konnte, wenn mein Kleiderschrank nichts Passendes ausspuckte. Ich vermisste sie. Sehr sogar.

Die Bedienung brachte die Karte und lächelte mich vielsagend an. Dankbar, endlich eine Beschäftigung zu haben, schlug ich sie auf und kämpfte mich durch die unzähligen Aperitifs, deren Namen mir nichts sagten. Nervös blickte ich mich um, mein Blick huschte immer wieder Richtung Eingang. Wie würde es sein, ihn gleich wiederzusehen? Ich freute mich darauf. Und hatte unendlich Angst davor. Ich vertiefte mich wieder in die Karte und suchte nach etwas, das keinen Brechreiz in mir hervorrief. Joshua sollte sich schließlich keine Sorgen machen und denken, ich litt an einer Essstörung.

„Hey, Emma.“ Mein Puls schnellte in die Höhe, und ich stand so schnell auf, dass ich am Tisch hängenblieb und das Besteck furchtbar klapperte. Na super, das Blamieren hatte ich somit auch hinter mir. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Ich presste die Lippen aufeinander und schaute in diese sanften Augen. Plötzlich war es mir egal, ob alle im Raum mich anstarrten. Es war mir egal, was alle von mir dachten. Ich spürte nur diese unendliche Vertrautheit. Diese Wärme, die sich in meinem Körper ausdehnte, der in den letzten Monaten schockgefrostet gewesen war. Er stand einfach da und lächelte mich an.

Ich blinzelte, und mein Blick wanderte von seinen Augen zu dem schön geschwungenen Mund, der ein sanftes Lächeln preisgab. Seine Grübchen zeichneten sich tief neben den Mundwinkeln ab. Er sah gut aus, von einem Zusammenbruch war keine Spur mehr. Seine Haare waren kürzer und nicht mehr ganz so wuschelig. Dafür hatte er mal wieder genau das richtige Outfit gewählt. Eine cremefarbene Chino, die weich fiel, Flip-Flops und ein weißes luftiges Hemd. Er wirkte stylish, hip und doch gelassen.

Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, und ich bewegte mich einen halben Schritt auf ihn zu, um ihm die obligatorischen Küsschen zur Begrüßung zu geben. Ich war darauf vorbereitet, dass mich seine Nähe mit voller Wucht treffen würde und schlug sicherheitshalber die Augen nieder. Ihm zeitgleich in die Augen zu blicken, das war schon einmal schiefgegangen.

„Ich …“, stammelte ich und zeigte unbeholfen auf den Platz mir gegenüber. „Hey, Joshua“, sagte ich schließlich, da mir nicht mehr einfallen wollte, was ich eigentlich sagen wollte. Ich setzte mich hin und verknotete die Beine unter dem Tisch.

„Hast du schon was bestellt?“ Joshuas wache Augen verfolgten jede noch so kleine Bewegung von mir. Ich riss den Blick von ihm und schaute der Bedienung minder interessiert zu, wie sie Besteck und Servietten auf einem Tisch arrangierte. Das Geklapper in dem großen rechteckigen Raum war schier unerträglich, und doch schien sich die Stimmung in den letzten Minuten geändert zu haben. Das übliche Getuschel drang zu mir, die bekannten, verschämten Blicke zu unserem Tisch.

„Nein. Ich ...“ Ich atmete tief durch und zwang mich dazu, ihn anzuschauen. Schließlich konnte ich nicht den ganzen Abend an ihm vorbeiblicken, als wäre er aus Luft. „Ich habe auf dich gewartet.“ Ein nervöses Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.

„Ah. Okay.“ Joshua stand auf und streckte seine Hand nach mir aus. „Lass uns woanders hingehen. Ich weiß was Besseres.“ Und bevor ich es richtig registrierte, lag meine Hand in Joshuas. Eine Welle von Gefühlen schwappte über mich. Glück, Angst. Freude und Überforderung. Es fühlte sich vertraut an. Seine Wärme brannte auf meiner kühlen Haut und fachte ein Feuer in mir an, das ich für längst erloschen gehalten hatte.

Er zog mich zur Tür. Während ich mehr oder minder elegant hinter ihm her stolperte, starrte ich auf unsere Hände. Immer wieder betete ich mir wie ein Mantra vor, dass es nichts zu bedeuten hatte. Dass es verdammt noch mal nichts zu bedeuten hatte. Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte.

Mein Hirn war leer. Alles, was ich wahrnahm, war seine Nähe. Und dieses Gefühl war berauschend. Viel zu lange hatte ich in diesem dichten Nebel vor mich hinvegetiert. Hatte darauf gewartet, wieder etwas zu fühlen. Doch viel zu schnell löste Joshua seine Hand, und übrig blieb dieses Kribbeln in meinen Fingerspitzen.

Er öffnete gerade die schwere Glastür, als ich eine aufgeregte Stimme hinter uns hörte. „Herr Meyer, Herr Meyer, einen Moment bitte.“ Joshua hielt inne und verzog unmerklich das Gesicht. Ich spürte seine Hand nur eine Papierstärke von meinem Rücken entfernt. Ich schluckte. Ich durfte nicht zulassen, dass er mir so nahekam. Der Wunsch, ihn zurückzuerobern, war jetzt schon größer als jedes Gebäude, das die Menschheit jemals bauen würde. Die Chancen, dass dies in Erfüllung ging, war allerdings eher Unterboden-Niveau. Kellerbereich. Ich würde wieder in das schwarze Loch fallen, aber dies galt es, mit aller Macht zu verhindern. Aber diese Nähe, diese Wärme. Jede Faser meines Körpers war darauf programmiert, auf Joshua zu reagieren. Er erinnerte sich. Ich erinnerte mich.

„Herr Meyer … Ich … Mein Name ist Olchowski. Ich bin der Manager des Hauses. Ist etwas nicht nach Ihrem Geschmack? Möchten Sie vielleicht einen anderen Tisch?“ Ein drahtiger Mann mit solariumgegerbtem Gesicht stand hinter uns. Er war gut einen Kopf kleiner als Joshua und wirkte in seinem schwarzen, dreiteiligen Anzug ein bisschen fehl am Platz in dieser Sommerhitze – auch wenn es hier drinnen klimatisiert war. Er strahlte Joshua an und fand es ganz offensichtlich aufregend, dass ein Popstar in seinen heiligen Hallen anwesend war. Ich linste zu Joshua, der den Mann freundlich anlächelte und sich dann zu ihm hinunterbeugte. Joshua sprach zu leise, als dass ich hätte verstehen können, was er sagte. Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch und legte eine Hand beschwichtigend auf den Arm des Managers. Dieser nickte, und sein Blick schweifte zu mir. Schüchtern schaute ich zu Boden. Was auch immer Joshua zu ihm gesagt hatte, es hatte mit mir zu tun, das war klar.

„Ich verstehe. Es wäre schön, Sie bald wieder hier begrüßen zu dürfen, Herr Meyer. Dürfte ich …“ Er räusperte sich. „Dürfte ich Sie noch um ein Autogramm bitten? Mein … äh … meine Freundin ist ein großer Fan von Ihnen.“ Nach einem freundlichen Nicken von Joshua verschwand er im Stechschritt Richtung Theke. Entschuldigend zog Joshua die Schultern hoch. Noch immer spürte ich seine Hand, die nur Millimeter von meinem Schulterblatt entfernt lag und die Tür aufhielt. Ich war versucht, einen halben Schritt nach hinten zu tun, um den Kontakt herzustellen. Stattdessen starrte ich weiter in diese dunklen Augen, in denen sich ein unbekanntes Glitzern widerspiegelte. Es war nicht ‚mein‘ Strahlen. Aber es brachte mein Herz fast ebenso zum Stolpern.

Der Manager kam mit Stift und Block bewaffnet auf Joshua zugestürmt und konnte es kaum erwarten, sein Autogramm an sich zu reißen. Ich musste unwillkürlich lächeln, denn es war klar, dass der gute Herr mindestens ein genauso großer Fan von Joshua war.

Endlich spürte ich Joshuas Hand, die mich zaghaft durch die Tür in die Hitze schob. Ich atmete ein und stellte erleichtert fest, dass mir hier draußen das Luftholen deutlich leichter fiel. Blicke verfolgten uns, und ich war froh, als wir endlich um die Ecke bogen und aus dem Blickfeld all der Neugierigen traten.

Das Lachen über den Auftritt des schwärmenden Managers unterdrückte ich noch immer. Erfolglos. Joshua linste aufmerksam zu mir rüber und rempelte mich schließlich an.

„Was?“

„Interessant, dass wohl nicht nur Mädchen auf dich stehen.“ Nach einem Blick in Joshuas fragendes Gesicht brach ich in albernes Gelächter aus.

„Was … was hast du ihm denn gesagt?“, wollte ich wissen, als wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten. Meine Neugier hatte gesiegt.

„Ach, nur, dass wir uns lange nicht gesehen haben und er es mir sicher nicht verübeln kann, dass ich mit dir allein sein will“, antwortete er leichtfertig. Mein Magen flatterte. „Du hast ganz schön abgenommen.“ Es war kein Vorwurf, eher eine neutrale Feststellung, und ich nahm sie als solche an. Joshua würde verstehen, wie es mir ging. Das hatte er immer getan.

Wir liefen nebeneinander her, Joshuas Hand war wenige Zentimeter von meiner entfernt, und doch berührten wir uns nicht. Ich konnte seine Nähe spüren. Seine Wärme.

„Du hast deine Haare geschnitten.“

Er schaute mich mit einem leisen Lächeln an und sah dabei so traurig und einsam aus, dass ich ihn umarmen wollte. Ich spürte Tränen in mir aufsteigen. All die Tränen, die ich in den vergangenen Monaten unter dem Schleier der Gefühllosigkeit begraben hatte. Ich wendete den Blick von ihm ab und riss die Augen weiter auf, in der Hoffnung, die plötzliche Luftzufuhr würde die Tränen trocknen.

„War ein ziemlich hartes Jahr“, stellte Joshua ohne Umschweife fest. „Komm, lass uns was essen gehen. Hast du Hunger?“ Mein Magen antwortete lautstark auf Joshuas Frage. Seit über einem Jahr hatte ich diese Leere in meinem Magen nicht mehr wahrgenommen. Energisch schluckte ich die Tränen runter.

„Wohin gehen wir?“, fragte ich und versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Ich habe da neulich eine kleines somalisches Restaurant gesehen. Das sah nett aus.“

„Somalisch? Ich wusste gar nicht, dass du auf afrikanisches Essen stehst.“

„Ich auch nicht. Aber sollen wir das mal ausprobieren?“ Er legte den Kopf schief und lächelte mich aufmunternd an. Ich hielt einen Moment inne, als ich hinter seinem linken Ohr einen kleinen Stern erblickte. Erst dachte ich, es wäre eine Halluzination, aber nein, es war tatsächlich ein kleiner dunkelblauer Stern, der sich hinter seinem linken Ohrläppchen versteckte. Unauffällig. Unaufdringlich. Und doch war er da.

„Seit wann hast du ein Tattoo?“ Ich versuchte einen genaueren Blick darauf zu erhaschen.

„Eine Weile“, sagte er und schaute mir herausfordernd in die Augen. Augenblicklich tanzten die totgeglaubten Schmetterlinge wie ein wild gewordener Bienenschwarm in meinem Magen herum.

„Jedes Tattoo verdient eine gute Geschichte“, murmelte ich. Stern – Emma Stern. Vergangenheit. Ich schluckte.

„Was?“

„Ach, nichts“, antwortete ich tapfer und suchte krampfhaft nach einem anderen Thema. „Hey, hast du das von Liv mitbekommen?“, fragte ich betont fröhlich. Warum wollte sich nicht einfach diese zwanglose Verbundenheit zwischen uns einstellen? Ich gierte nach seiner Nähe, nach einer Berührung, einem Zeichen, dass er mich noch immer mochte. Zumindest mochte. Aber alles, was ich bekam, war diese beschissene Freundlichkeit. Warum schrie er mich nicht an? Warum schüttelte er mich nicht? Warum küsste er mich nicht?

Ich sollte aufhören zu denken.

„Dass sie geheiratet hat? Ja. Tom hat was davon erzählt. Krass. Was hältst du davon?“

„Keine Ahnung. Eigentlich ist sie zu jung zum Heiraten. Aber sie ist glücklich.“ Das war sie im Moment ganz sicher. Und ich wünschte ihr von Herzen, dass sie das ewig blieb.

„Glücklich. Das ist schön“, sagte Joshua und hörte sich an, als wäre er mit seinen Gedanken ganz weit weg. „Da vorne. Da ist es.“ Er deutete auf einen unscheinbaren Eingang. Es sah unspektakulär aus. Durch die bodentiefen Glasscheiben erhaschte ich einen Blick ins Innere. Es war nicht viel los. Gerade einmal zwei Tische waren belegt. Erleichtert atmete ich aus. Joshua hielt schon die Tür auf und wartete darauf, dass ich vor ihm eintrat. Im Inneren begrüßte uns eine zierliche, dunkelhäutige Frau. Sie war kaum älter als wir, hatte aber diesen wissenden Blick, der erkennen ließ, wie viel sie schon von der Welt gesehen hatte.

Sie trug ein langes, buntes Kleid. Wahrscheinlich war es typisch somalisch, das Muster und die Farbenpracht ließen jedenfalls auf Afrika tippen. Sie lächelte freundlich und führte uns zu einem kleinen Tisch am anderen Ende des verwinkelten Restaurants. Die Einrichtung war schlicht. An der Wand stand eine lange, dunkle Holzbank, davor quadratische kleine Tische. Schwarzweiß-Fotografien an den Wänden gaben einen kleinen Einblick in das Leben in Somalia. Wüste, Frauen mit gemusterten flatternden Gewändern und Tonkrügen auf dem Kopf. Kleine lachende Kinder mit nackten Bäuchen. Wie anders diese Bilder waren als die, die in den Medien gezeigt wurden. Dort sah man ausschließlich das Elend, das es mit Sicherheit auch zur Genüge gab. Doch verlor man bei all dem Leid leider aus dem Blick, dass das Land ganz sicher auch seine schönen Seiten hatte.

„Und, wie gefällt es dir in München? Was macht dein BWL-Studium?“ Joshua schaute mich interessiert an. Die hübsche Bedienung legte die Speisekarten vor uns hin und zündete eine kleine Kerze an. Ich lächelte, dankbar für die Zeit, die mir diese kleine Unterbrechung schenkte, und überlegte krampfhaft, was ich Joshua antworten könnte. Ich räusperte mich.

„Um ehrlich zu sein, bin ich erst seit ein paar Wochen hier. Und das, was ich mache, ist eher so ein Vorstudium“, druckste ich herum. Joshua kniff die Augenbrauen zusammen.

„Vorstudium? Ich dachte, du wolltest direkt letzten Herbst hierherkommen?“ Er nahm die Speisekarte in die Hand und klappte sie auf. Ich war froh, dass er nicht gleich explodiert war.

„Na ja, das war …“ Ich konnte ja schlecht sagen, dass ich ihn angelogen hatte. „Joshua, ich hatte nicht vor, nach München zu gehen. Ich habe es nur vorgeschoben, um es … um es einfacher zu machen.“ Nun war es raus. Zumindest die halbe Wahrheit.

„Einfacher zu machen? Emma, ich dachte, du hast mit mir Schluss gemacht, damit du dein Leben leben kannst. Damit du hier in München BWL studieren kannst. Mit Kevin“, presste er heraus. Die Speisekarte war ihm nun egal. Er funkelte mich zornig an. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, seine Lippen waren zu schmalen Strichen zusammengepresst.

„Ich …es tut mir leid. Ich ... ich wollte dir nicht länger im Weg stehen. Deshalb bin ich gegangen“, murmelte ich und richtete den Blick auf die Buchstaben in der Karte, die mir nichts sagten.

„Nicht länger im Weg stehen? Mensch, Emma, jetzt sprich mal Klartext!“

„Ich habe gehört, wie Carol und Tom über Amerika gesprochen haben. Damals, auf dem ZMF.“ Ich blickte Joshua herausfordernd an. Aber der Groschen fiel nicht.

„Und?“

„Carol hat erzählt, dass du einen Deal mit den Oberbossen laufen hast. Keine Übersee-Konzerte, sonst bist du raus.“ Er lachte kurz laut auf, ungläubig, und vergrub die Hände in den Haaren. Er blickte sich hilfesuchend um. In diesem kurzen Moment schien es ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Die Bedienung kam an unseren Tisch und holte Joshua in die Gegenwart zurück. Da wir gerade mit etwas anderem beschäftigt waren und beide keine Ahnung von der somalischen Küche hatten, bestellte Joshua eine Auswahl der beliebtesten Speisen. Für zwei. Und Tee.

„Und du dachtest, das hätte ich wegen dir getan“, ergänzte Joshua meine Ausführung. Ich nickte schwach und blickte in die flackernde Kerze. „Glaubst du nicht, dass du da einen Schritt zu weit gegangen bist? Selbst wenn das so gewesen wäre, diese Entscheidung hätte ich gerne selbst getroffen“, sagte Joshua tonlos.

„Ich weiß. Es tut mir leid.“ Er blickte aus dem Fenster und entfloh in ein Paralleluniversum, zu dem ich keinen Zutritt hatte. Die nächsten Minuten verbrachten wir schweigend. Ich traute mich nicht, ihn anzusprechen. Er sah so verletzt aus. So enttäuscht.

Ich drehte den Ring an meinem Finger und suchte nach den richtigen Worten. Wie sollte ich ihm klar machen, dass es ein Fehler gewesen war? Egal, was ich sagte, es würde danach aussehen, dass ich ihn zurückwollte. Das wollte ich. Mehr als alles andere. Aber ich wusste, dass ich meine Chance vertan hatte. Joshua würde mir keine zweite geben.

Die Bedienung stellte die dampfend heißen Teetassen mit Minzblättern vor uns ab. Wer war auf die Idee gekommen, bei dieser Hitze heißen Tee zu trinken? Aber vielleicht würde es die Kälte vertreiben, die sich wieder in mir einnisten wollte.

„Lucky ist schwul“, sagte er plötzlich und blickte mit einem abwesenden Blick an mir vorbei. Ich erschrak, als ich seine Stimme hörte und kippte fast das Teeglas um. Im letzten Moment hielt ich es fest.

„Ja, und?“ Lucky hatte es zwar nie direkt gesagt, aber irgendwie hatte ich immer gewusst, dass er schwul war. Ich hatte kein Problem damit. Warum auch?

„Als es damals bei uns losging mit den ganzen Gigs, der Reiserei, hatten wir ein Gespräch. Lucky war ziemlich durcheinander. Er hatte schon seit Jahren einen Freund, aber das wussten nur ganz wenige. Lucky ist ziemlich introvertiert. Er gibt nicht viel von sich preis. Jedenfalls ist Sven krank. Krebs. Er kämpft dagegen an, aber es sieht nicht gut aus. Lucky wollte für ihn da sein. Aber Sven wünschte sich, dass Lucky diese Chance wahrnahm. Es brach Lucky das Herz, ihn so oft allein zu lassen. Zu wissen, dass Sven im Krankenhaus liegt, während er selbst auf der Bühne steht und Applaus kassiert.“ Joshuas Augen wirkten traurig. Empathisch, wie er war, nahmen ihn solche Geschichten immer sehr mit. Ich legte den Kopf schief und beschloss, ihn nicht zu unterbrechen. Was Luckys Freund mit unserer Geschichte zu tun hatte, war mir allerdings noch schleierhaft.