Mehr als alles - Niklaus Brantschen SJ - E-Book

Mehr als alles E-Book

Niklaus Brantschen SJ

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Augenzwinkernd, aber stets mit philosophischem Tiefgang sind die Betrachtungen des Jesuiten und Zen-Meisters Niklaus Brantschen. Ein heiter-besinnliches Buch über Feste, Essen und Trinken, Geld und Gott, Alter und Jugend, Hören und Sehen.

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Seitenzahl: 90

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Niklaus Brantschen

Mehralsalles

Denkanstöße aus Zen und Christentum

Kösel

Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: fuchs_design, München

Umschlagmotiv und Fotos im Innenteil: Jost von Allmen, Unterseen/Schweiz

ISBN 978-3-641-08839-2

Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter

www.koesel.de

Liebe Leserinnen und Leser,

in der vorliegenden Schrift finden Sie in Kurzform, beinahe verdichtet, jene Themen wieder, die mich seit Jahrzehnten beschäftigen und die ich bereits in anderen Büchern und Schriften behandelt habe: Fasten und Ernährung, Zen und interreligiöser Dialog, Tugend als Grundlage ethischen Handelns, Stille als Voraussetzung für ein Engagement im Kleinen wie im Großen.

Die Texte dieses Buches sind nicht am grünen Tisch und nicht in einem von der Welt abgeschiedenen Raum entstanden. Eine Zugfahrt, ein Museums- oder Konzertbesuch, aber auch der Blick auf einen Früchtestand gaben Anlass dazu. Es versteht sich, dass auch Themen des Lassalle-Instituts, das im Lassalle-Haus beheimatet ist, in die Schrift eingeflossen sind. Namentlich das Thema von der Einheit, Verschiedenheit und Einzigartigkeit des Seins. Wir sind alle eins, sehr verschieden und einmalig.

Ursprünglich als Sonntagskolumnen für die Südostschweiz geschrieben, verlangten die Texte für diese Edition verschiedene Anpassungen. Dabei habe ich Beiträge mit schweizerischen Themen stehen lassen. Nicht weil ich meine, die Schweiz sei ein Musterland, von dem andere lernen sollten. Wohl aber weil ich der Ansicht bin, das kleine Land in den Bergen kenne Probleme, wie Migration und nationalistische Tendenzen, die auch für das deutschsprachige Ausland von Interesse sein könnten.

Die Gliederung in drei Teile hat System – und eine kleine Geschichte. Michaela Breit vom Kösel-Verlag und ich saßen in der Augustiner-Brauerei in München und nahmen eine Aufteilung der Beiträge vor. Wir hielten uns an die Stichworte: Ich – Du – Wir, und ließen uns leiten von Pierre Teilhard de Chardin. Er spricht von Zentrierung, bei sich sein, Dezentrierung, zu den andern gehen, Überzentrierung, uns in einem Größeren finden. Und siehe da: Wir stellten mit Erstaunen fest, dass wir beide mit einer Ausnahme die gleiche Gruppierung vornahmen und je zehn Texte den drei Bereichen zuordneten. Die Gliederung ist also nicht zufällig. Dabei ist zu betonen, dass die drei Teile sich zwar unterscheiden, aber nicht zu trennen sind. Wenn das »Mehr als alles« besonders im dritten Teil zu finden ist, leuchtet es immer wieder in den anderen Teilen des Buches auf.

Die Bilder stammen vom Künstler Jost von Allmen. Das Foto auf dem Umschlag mit dem in die Jahre gekommenen Baum mag uns daran erinnern, wie begrenzt unser Leben ist. Die Wasserbilder im Buch ermutigen uns, lebendig und frisch zu bleiben, solange es uns gegeben ist.

Viel Freude beim Lesen und ein erfülltes Leben wünscht Ihnen

Niklaus Brantschen

Lassalle-Haus Bad Schönbrunn

Edlibach/Zug

Teil I

Stille werden und sich finden

Kennen Sie die Geschichte vom Mann, der Angst hatte, sich zu verlieren? Ein Mann, so heißt es, kam in eine große Stadt. Er war verwirrt wegen der vielen Menschen in den Straßen und bekam Angst, dass er sich, wenn er einschlafen würde, beim Erwachen nicht mehr wiederfände. So band er sich abends einen Kürbis ans Fußgelenk, um sich am Morgen wiedererkennen zu können. Ein Spaßmacher, der dies bemerkte, nahm den Kürbis in der Nacht weg und band ihn an sein eigenes Bein. Als unser Mann am Morgen erwachte und den anderen mit dem Kürbis daliegen sah, geriet er in große Verwirrung. Er dachte, er selbst müsse nun der andere sein. Entsetzt rief er aus: »Wenn du ich bist, wer, um Himmels willen, bin dann ich?»

Wer bin ich? Und wie kann ich verhindern, dass ich mir abhandenkomme, mich selbst verliere? Was kann ich tun, dass ich mir und den andern nicht fremd werde? Die Gefahr ist real. Bei vielen Menschen, nicht nur bei Managern, bleibt das bessere Ich oder das, was wir Seele nennen und was im Zen »wahres Selbst« heißt, irgendwo auf der Strecke. Der Verlust schmerzt, und so beginnt die Suche nach Erfüllung, nach mehr Lebensqualität. Und da wir Teil einer »Erlebnisgesellschaft« sind, neigen wir dazu, Qualität mit Quantität zu verwechseln. Wir suchen im Neuen und Neuesten, im Vielen und Vielerlei nach der verlorenen Lebendigkeit. Oder wir bemühen uns, dank einem raffinierten Anti-Aging-Programm ein paar Jahre zusätzlich zu erhaschen, in der Hoffnung, dass sie erfüllter sind als die bisherigen. Doch im Anhäufen von Erlebnissen, die nicht verarbeitet sind, und von Jahren, die nicht gefüllt sind, gewinnen wir das Leben nicht. »Das ist doch kein Leben!«, sagen wir dann, und die Suche beginnt von Neuem. Und falls unser Suchen weiter in die Breite und Länge geht, schließt sich der Kreis. Es ist ein Teufelskreis.

Markus hat im achten Kapitel seines Evangeliums dieses Dilemma auf den Punkt gebracht, wenn er Jesus sagen lässt: »Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis könnte ein Mensch sein Leben zurückkaufen?« Ein verlorenes Leben kann um keinen Preis der Welt zurückgewonnen werden. Der Ansatz muss ein anderer sein. Der Weg zum Leben führt vom Haben zum Sein. Von der Breite und Länge in die Tiefe. Vom Vielen zum Einen und Einmaligen. Dabei gilt: Was mehr ist als alles, finden wir in allem, vorausgesetzt wir suchen und lieben die Stille.

Und damit sind wir präzise beim Thema dieses ersten Teiles. Die folgenden zehn Texte laden ein zur Stille und zur Einkehr. Sie verlocken zum Staunen und zum achtsamen Umgang mit sich, den Dingen und den Menschen. Sie stiften zur Freiheit an und machen Mut, uns zu verändern. Sie zeigen Wege auf, wie wir Ferien gestalten, Brach- und Auszeiten in unser Leben einbauen und in Ehren alt werden können.

Dem Wunder leise die Hand hinhalten

Für eine Kultur der Stille

»Die Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler.« Dieses Wort von Johann Wolfgang von Goethe aus Wilhelm Meisters Wanderjahre sind mir aus dem Herzen gesprochen. Sie decken sich präzise mit der Erfahrung, die ich im Laufe meines Lebens immer wieder machen durfte. Es müssen nicht hohe Berge sein. Auch das Zugerland, meine Wahlheimat, ist wie geschaffen für besinnliche Spaziergänge. Sooft ich in der voralpinen Moränenlandschaft, am Ägerisee oder im Lorzentobel unterwegs bin, stelle ich bereits nach wenigen Schritten fest, dass mein Getue, mein Gehabe, mein Gerede, kurz: meine ganze Geschäftigkeit, von mir abfallen und ich stiller werde.

So ist es auch heute an diesem milden Mainachmittag. Ich steige von der Tobelbrücke in das tief eingeschnittene Tal der Lorze, schlendere dem Wasserlauf nach, halte bei einem Wasserfall, klettere die Böschung hinunter und setze mich auf einen mit dichtem Moos bedeckten Stein. Ich sitze und lausche dem Rauschen des fallenden Wassers. Der Bach singt. Sein Lied dringt an mein Ohr. Oder umgekehrt, mein Ohr gelangt zur Quelle des Rauschens. Nicht zwei, sondern eins. Nicht draußen oder drinnen, sondern draußen und drinnen. Ich bin ganz still, stelle mich der Stille, setze mich ihr aus. Sie umfängt und durchdringt mich wie die kühle Brise über dem Bach. Die Zeit tritt zurück, und doch ist sie da. Sie dehnt sich aus in einen unermesslichen Raum. In ihm hat alles Platz. Nichts und niemand ist ausgeschlossen, alles ist mit allem verbunden.

Stille verbindet. Das erfahren Menschen, die zu uns in das Lassalle-Haus kommen und etwa Zen praktizieren, auf eindrückliche Weise. Bereits nach wenigen Stunden oder Tagen nehmen sie wahr, wie sie durchdrungen werden von der gemeinschaftsfördernden, alles verbindenden Kraft der Stille. Sie begegnen Dingen und anderen Menschen auf Du und Du, als wären sie mit allen verwandt – und sie sind es auch. Das im Zen übliche Wort für die Gemeinschaft derer, die miteinander auf dem Weg der Stille sind, lautet Sangha. Es bezeichnet nicht zufällig die Verwandtschaft aller Dinge und aller Wesen untereinander, nicht nur der gegenwärtigen, sondern auch der vergangenen und zukünftigen. Das Wort Familie gibt gut wieder, was mit Sangha gemeint ist, vorausgesetzt, wir verstehen darunter eine Schicksalsgemeinschaft, die trägt, wenn einzelne Mitglieder auf Nähe und Solidarität besonders angewiesen sind.

Sei es ein Spaziergang, sei es diese oder jene Form der Meditation: Es führen verschiedene Wege zur Stille, aber keiner führt an mir selbst vorbei, und keiner kommt ohne geduldige achtsame Wahrnehmung aus. Denn die Pflege der Stille braucht Zeit. Und sie braucht einen Rhythmus: Womöglich eine Woche im Jahr, einen Tag jeden Monat, eine Stunde in der Woche, ein paar Minuten am Tag. Nicht wenige Menschen gönnen sich regelmäßig einen ›Wüstentag‹, einen ganzen Tag mit sich allein in der Stille.

Was tun an einem solchen Tag? Jemand sagte mir: Ich habe an meinem letzten Wüstentag eine Bestandsaufnahme gemacht, eine Art ›Hochrechnung‹, und festgestellt: Wenn es so weitergeht wie im letzten halben Jahr, dann kann ich ausrechnen, wie bald mir die Puste ausgehen wird.

Nicht müde werden lautet der Titel eines Gedichtes von Hilde Domin. Dieser Titel und die kurzen Verse sind wie ein Programm für die Kultur der Stille:

Nicht müde werden

sondern dem Wunder

leise

wie einem Vogel

die Hand hinhalten.1

Halten wir dem Wunder der Stille leise die Hand hin wie einem Vogel. Er wird sich an uns gewöhnen, und wir werden sein Lied, den ›Klang des Schweigens‹ vernehmen – auch mitten auf dem Marktplatz des Lebens.

1 Hilde Domin, aus: dies., Gesammelte Gedichte © Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/Main 1987

Homo Faber lässt grüßen

Wie finde ich mich selbst?

Da sitze ich in der Bahn von Zürich nach Zug und versuche abzuschalten. Fetzen von Telefongesprächen dringen an mein Ohr. »Es geht mir gut«, höre ich da sagen, »nur ist im Moment gerade sehr viel los.«

Im Moment ist viel los. So höre ich oft klagen. Und, um ehrlich zu sein, im Moment muss auch ich schauen, wie ich über die Runden komme. Die Termine häufen sich, der Kalender ist voll – und ich bin noch stolz darauf. Was macht uns so arbeitsfreudig, um nicht zu sagen arbeitssüchtig? Was bringt uns dazu, uns über die Arbeit zu definieren: Ich arbeite, also bin ich. Ich arbeite mehr, also bin ich mehr?

Arbeit hat einen hohen Stellenwert. Im Beruf aufzugehen, sich ganz damit zu identifizieren, ist vorübergehend und in einer bestimmten Lebensphase stimmig. In einer gut begleiteten Berufsausbildung finden Jugendliche nicht selten zu sich selbst. Was aber, wenn ich in der Arbeit nicht mehr auf-, sondern untergehe, wenn die Arbeit zum Lebensinhalt Nummer eins wird, wenn sich mein Leben ganz auf die Arbeit zentriert?

›Laborzentrismus‹ nenne ich den Versuch, die Arbeit (labor) ins Zentrum zu stellen und alles andere darum herumzuarrangieren: Familie, Freunde, Freizeit, Fun. Alles dreht sich um die Arbeit. Sie ist alles. Der Rest kann warten. Und mein Menschsein geht vor die Hunde. Was ist zu tun? Jammern hilft wenig. Die Arbeitswut verdammen noch weniger. Was nottut, ist eine Besinnung auf das Wesen Mensch. Mit dieser Besinnung mute ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine Portion Philosophie zu – und etwas Latein: Homo, das ist der Mensch.