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Niklaus Brantschen und Pia Gyger gehen seit Jahren ihren eigenen Weg im Spannungsfeld zwischen Zen und Christentum. Um die Gemeinsamkeit und die Einzigartigkeit beider Religionen bewusst zu machen, entwickelten sie die Via-Integralis: In Theorie und Praxis wird christliche Mystik mit Zen-Meditation verbunden für ein Leben in den Kirchen und in der Welt.
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Seitenzahl: 173
Das Buch, das Sie in Händen halten, ist nicht nur am Schreibtisch entstanden. Es ist auch nicht das Produkt weniger Monate. Eine lange, lebendige Geschichte, die viele Menschen mitgeprägt haben, ist dem Buch vorausgegangen. Diese Geschichte begann in den Jahren, da wir in Kamakura Zen geübt und uns die Frage gestellt haben, was diese Meditationspraxis auf lange Sicht für Menschen im Westen, namentlich für Christinnen und Christen, bedeuten könnte. Angeregt dazu wurden wir durch unseren Meister Yamada Rôshi, der zu sagen pflegte, er könne uns zur Zen-Erfahrung führen; was dies für uns als Christen bedeute, könne er uns nicht sagen, das müssten wir schon selbst herausfinden.
Wir haben es mit der Zeit herausgefunden. Zunächst aber galt es, die Zen-Meditation im Lassalle-Haus zu etablieren und zu konsolidieren. In der Folge gründeten wir (nachdem wir 1999 von Bernie Tetsugen Glassman das »Inka Shômei« – Titel eines Zen-Meisters – erhalten hatten) die Glassman-Lassalle-Zen-Linie. Diese weiß sich dem Zen verpflichtet, wie es im ersten Teil dieses Buches dargestellt wird. In dieser Linie sind inzwischen sieben von uns ernannte Zen-Lehrerinnen und -Lehrer engagiert. Gleichzeitig und von Jahr zu Jahr intensiver haben wir uns auf den interreligiösen Dialog eingelassen. Gelegenheit dazu boten uns die internationalen buddhistisch-christlichen Tagungen, die wir seit den frühen 1990er-Jahren im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn durchführten. Wir lernten, den eigenen Standpunkt klar zu formulieren, andere Positionen zu achten und uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Parallel zu den Tagungen haben wir eine christlich-buddhistische Arbeitsgruppe gebildet und mit ihr Kriterien für den Aufbau einer interreligiösen Dialog-Kultur erarbeitet. Uns wurde klar, dass gerade in den Unterschieden der Erfahrung ein großes Ergänzungspotenzial verborgen liegt. So lernten wir voneinander und haben folgende Leitlinien formuliert:
Interreligiöser Dialog bedeutet keine Auflösung der Unterschiede, weder inhaltlicher noch institutioneller Art.
Interreligiöser Dialog heißt, die Gemeinsamkeit zu entdecken, die Verschiedenheit herauszuarbeiten und die Einzigartigkeit zu feiern.
Interreligiöser Dialog ist gekennzeichnet von Offenheit der eigenen und der fremden Tradition gegenüber.
Was wir in jahrelanger Suche erspürt, was wir in verschiedenen Kontemplationskursen erarbeitet, was wir erprobt und reflektiert haben, ergab den Stoff für die Via Integralis. In ihr verbindet sich christliche Mystik mit der Zen-Meditation zu einem qualifizierten Weg für die Gestaltung des Lebens in den Kirchen und in der Welt. Unterstützt durch ein Assistententeam starteten wir mit mehr als zwei Dutzend Personen 2003 den ersten dreijährigen Lehrgang. Zugelassen wurden Menschen, die jahrelang Zen praktiziert, Kenntnisse in mystischer Theologie haben und die Fähigkeit besitzen, andere zu begleiten.
Inzwischen vermitteln Lehrerinnen und Lehrer Kontemplation im Sinne der Via Integralis an verschiedenen Orten in der Schweiz, in Österreich und Deutschland. Ihnen allen ist dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet. Herzlich danken wir Bernhard Stappel, Hildegard Schmittfull und Marcel Steiner. Sie haben durch ihr andauerndes Engagement wesentlich den Lehrgang der Via Integralis mit gestaltet und zum Entstehen dieses Buches beigetragen.
Bernhard Stappel, der durch die Arbeit an diesem Buch unser Freund geworden ist, danken wir ganz besonders. Er hat nicht nur die meisten Textentwürfe geschrieben, sondern war auch unsere rechte Hand bei der Redaktionsarbeit.
Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden bald merken, dass Sie nicht ein Buch mit sieben Siegeln in den Händen halten, das nur Berufschristen offen steht. Die Schrift weist all jenen einen Weg, die nach einem erfüllteren Leben dürsten, das aus den reichen Quellen des Zen und der christlichen Spiritualität schöpft.
Neujahr 2011 Niklaus Brantschen & Pia Gyger
Kein Zweifel: Die Welt wächst zusammen. Das ist zunächst ein Faktum, eine Gegebenheit. Der Zusammenhang ist kurz gesagt dieser: Die Erde ist begrenzt. Die Menschheit wächst. Sie hat voraussichtlich in wenigen Jahrzehnten die Zehn-Milliarden-Grenze erreicht. Durch diese Bevölkerungsdichte entsteht schon rein physisch eine größere Nähe. Der globale Druck nimmt zu, und dies bedeutet, sich zu arrangieren, das Zusammenleben im globalen Dorf zu proben.
Eine solche Situation ruft nationalistisch gesinnte Populisten auf den Plan, die versuchen, die Globalisierung auf ihre Weise zu stoppen, indem sie den Fremdenhass schüren, zur Abschottung aufrufen und den interkulturellen und interreligiösen Dialog verhindern.
Was tun? Jammern hilft wenig, die Globalisierung pauschal verdammen, noch weniger. Was nottut, ist die Gabe der Unterscheidung, und diese beginnt mit der Frage: Wie begegnen wir dem »Geist des Ostens«, von dem bereits C.G. Jung sagte, er stehe vor der Tür. Was da auf uns zukomme, so Jung weiter, könne eine Infektion auslösen. Es könne aber auch ein Heilmittel sein.
Hier setzt die Via Integralis ein. Sie öffnet sich, ohne zu zögern und ohne unkritisch zu sein, dem »Geist des Ostens«, der übrigens inzwischen nicht mehr nur vor der Tür steht, sondern unser Haus betreten hat. Menschen anderer Kulturen und Religionen leben heute mitten unter uns und nicht mehr nur in anderen Ländern und Kontinenten. Was den Zen-Weg betrifft, so gibt es in unseren Breitengraden viele Menschen, die diesen Weg ernsthaft gehen. Der interreligiöse Dialog zwischen Christentum und Zen ist in vollem Gange.
Mit der Gründung der Via Integralis folgten wir demnach nicht einer momentanen Laune. Wir wollten auch nicht nur etwas Sinnvolles tun, sondern das Richtige. Ganz im Sinne des Bibelwortes: »Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten. Warum könnt ihr die Zeichen der Zeit nicht deuten? Warum versteht ihr nicht, das Rechte zu tun?« Wenn Menschen heute entschieden die Stille, wie sie das Zen vermittelt, suchen, wollen sie nicht nur Stress abbauen oder kreativer werden. Es ist ein spiritueller Hunger, der sie treibt. Dieser Hunger und nicht böser Wille lässt sie nicht selten den Kirchen den Rücken kehren. Dabei verfügen die Kirchen über einen kostbaren kontemplativen Schatz, der allerdings in ihrem eigenen Garten vergraben liegt. Mitzuhelfen, diesen Schatz zu heben, ist nicht zuletzt Aufgabe der Via Integralis.
Die römisch-katholische Kirche – wie wohl auch andere Kirchen – verhält sich dem Dialog mit dem Osten gegenüber ambivalent. So behandelt beispielsweise ein »Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über einige Aspekte der christlichen Meditation« vom Jahr 1989 östliche Meditationsweisen, namentlich Yoga und Zen, als wären sie bloß eine oberflächliche Technik, derer sich Christen bedienen können, wenn sie es wünschen, vor deren Gefahren sie aber gleichzeitig gewarnt werden müssen. Dagegen ist zu sagen, dass Zen nicht eine »Technik« und mehr als nur eine methodische Hilfe ist. Für die Via Integralis ist Zen ein genuiner WEG, der den Übenden hilft, zu ihrem wahren Wesen zu erwachen und die Einheit allen Lebens zu erfahren.
Zukunftweisender als das genannte Papier ist ein Schreiben des römischen Sekretariates für die Nichtchristen aus dem Jahre 1984 mit dem Titel Dialog und Mission. Es charakterisiert den interreligiösen Dialog nicht nur als Gespräch, sondern auch als das Ganze der positiven und konstruktiven Beziehungen zwischen den Religionen, mit Personen und Gemeinschaften anderen Glaubens, um sich gegenseitig kennenzulernen und einander zu bereichern.
Was das Christentum oder besser: das Christsein betrifft, so dürfte der ernsthaften Auseinandersetzung und Begegnung mit dem Zen-Buddhismus heute eine ähnliche Rolle zukommen, wie der Begegnung der christlichen Botschaft mit dem griechischen Denken, dem byzantinischen Hofzeremoniell und der römischen Verwaltungsstruktur zu Beginn unserer Zeitrechnung. Dabei birgt die anstehende Begegnung die Chance in sich, die durch die damalige Verbindung entstandene Einseitigkeit zu korrigieren.
Das Via-Integralis-Buch lehrt eine Kontemplationsweise, die einerseits ohne Worte und Begriffe, ohne Bilder und Gedanken auskommt und die anderseits in der Unterweisung auf den ebenso reichen wie verborgenen Erfahrungsschatz der christlichen Mystik zurückgreift. Das vorliegende Buch
stellt knapp und klar dar, was Zen ist und was es will (Teil I);umreißt die traditionsreiche Kultur der christlichen Kontemplation und Mystik (Teil II); zeigt einen Weg auf, der beide Traditionen systematisch und konsequent verbindet, ohne Abstriche zu machen und Verwässerungen Vorschub zu leisten (Teil III);lädt Leserinnen und Leser ein, sich mit namhaften Mystikerinnen und Mystikern in Geschichte und Gegenwart vertraut zu machen (Teil IV).Als eigenständiger Weg ermutigt die Via Integralis alle, die den Weg des Zen gehen, diesen Weg nicht halbherzig, sondern entschieden und mit ganzem Herzen zu beschreiten und gleichzeitig ihre Identität als Christinnen und Christen, so sie welche sind, zu pflegen. So verbindet sich in ihnen nach einem Grundsatz, den wir das Via-Integralis-Prinzip nennen, Zen mit christlicher Mystik zu einem Weg. Das vorliegende Buch entwickelt dieses Prinzip als Via-Integralis-Modell, kurz: VIM-Modell®.
Zen ist ebenso reizvoll wie ärgerlich, lohnend wie frustrierend, vernünftig wie schwer zu verstehen. Wer es schon einmal mit der Praxis des Zen versucht hat, kann dies bestätigen. Wir werden angezogen von der klaren, fordernden Übung und schrecken doch wieder vor ihr zurück. Wir glauben zu verstehen, was mit »Sitzen in Stille« gemeint ist, und doch rückt das, was uns so nahe und vertraut scheint, unversehens in die Ferne und wird uns fremd.
Was die Praxis des Zen betrifft, so lässt sich bereits an dieser Stelle zusammenfassend sagen: Zen ist im heutigen Verständnis von Meditation eine Übung,
die von der Zerstreuung zur Sammlung, von außen nach innen, von der Oberfläche in die Tiefe führt. Deshalb heißt sie auch Tiefenmeditation;die ohne »Worte und Begriffe« zu gebrauchen, mit offenen Augen auf keine bestimmten Gegenstände achtet. Deshalb heißt sie auch übergegenständliche Meditation;die – ohne vor der Welt zu fliehen – in der Stille vollzogen wird. Deshalb heißt sie auch Schweigemeditation;die das aufrechte Sitzen praktiziert. Deshalb heißt sie auch Sitzmeditation, Zazen.Zen ist nichts Exotisches, sondern eine schlichte Übung mit Bodenhaftung. Es ist eine entscheidende Hilfe in der Schulung der Präsenz. Es hilft uns, alles Konkrete, Alltägliche, das Mess- und Greifbare und also auch die Uhr und die von ihr gemessene Zeit ernst zu nehmen. Zugleich lässt sie uns an jenem »Ort« zu Hause sein, wo es kein Kommen und Gehen, kein Vorher und Nachher gibt, wo also vollkommene Freiheit und damit auch Zeitfreiheit waltet.
Zen ist, kurz gesagt, ein WEG – »Weg« großgeschrieben –, denn er führt uns nicht irgendwohin, sondern zu unserem ursprünglichen Wesen. Zen als WEG verstehen heißt aber auch erfahren, wie Zen geworden ist. Es ist deshalb angebracht, seine geschichtliche Entwicklung nachzuzeichnen: von der Verwurzelung in Indien, über das Wachsen in China, bis hin zur Entfaltung in Japan.1
Dem Wortklang nach lässt sich das japanische »Zen« – es bedeutet Meditation – auf das chinesische »Ch’an-na« oder abgekürzt »ch’an« zurückführen und schließlich auf das indische Sanskritwort »dhyana«. So ist schon aus dem Wort der Weg des Zen abzulesen.
Zu der Zeit, da in China Konfuzius lehrte und Laotse das Tao-te-king, die Buddhistische Bibel, verfasste, da in Griechenland die Männer lebten, in deren Köpfen die europäische Philosophie entstand, und da in Israel die großen Propheten auftraten, nämlich im 6. vorchristlichen Jahrhundert, genauer um das Jahr 563 v.Chr., wurde im heutigen Nepal, nahe der indischen Grenze Siddhartha Gautama Shakyamuni geboren, eine der größten religiösen Gestalten der Menschheit. Die Daten seines Lebens sind von vielen Legenden umwoben und man sollte nicht zu schnell über diese Ausschmückungen, die ja einen tieferen Wahrheitsgehalt haben, hinweggehen. Hier wollen wir uns aber auf den geschichtlichen Kern seiner Biografie beschränken.
Der Prinzensohn – er besaß drei Paläste: einen für den Sommer, einen für den Herbst und einen für den Winter –, wird des Lebens in Luxus und des häuslichen Glücks überdrüssig, nachdem er in einer Fahrt über das Land menschliches Leid in der dreifachen Gestalt von Krankheit, Alter und Tod, aber auch das Glück eines wandernden Hindu-Mönchs kennengelernt hatte. Kaum 30-jährig bricht er auf, verlässt den Palast und beginnt mit fünf Asketen zusammen ein Leben der Entsagung und Buße. Ein angestrengtes Bemühen nach dem Vorbild der Yogi bringt ihn auf dem inneren Weg nicht weiter – wohl aber an den Rand des Todes. Schließlich gibt er zum Entsetzen seiner Freunde das Fasten auf und kommt dank einer Schale Milch, die ihm eine barmherzige Frau reicht, wieder zu Kräften. Er entschließt sich, so lange im Sitzen zu meditieren, bis er die Lösung des Welträtsels findet. Schließlich erfährt er am 8. Dezember in der Frühe, als eben der Morgenstern am Himmel erscheint, die große Erleuchtung. Dem Kegon-Sutra zufolge soll er dabei ausgerufen haben:
Wunder über Wunder: Ihrem innersten Wesen nach sind alle Geschöpfe Buddhas (Erleuchtete), begabt mit Weisheit und Vollkommenheit; da aber ihr Geist von verblendeter Unwissenheit verkehrt ist, können sie dessen nicht innewerden.
Damit wird Siddhartha Gautama zum Erleuchteten, zum Buddha. 45 Jahre lang zieht er predigend durch Nordindien, ausgehend bei Sarnat in der Nähe von Benares.
Die Predigten und Gespräche Buddhas wurden nach seinem Tode und erst nach und nach niedergeschrieben. So entstanden die Sutren, die in ihrer Verschiedenheit die Grundlage bilden für die Richtungen innerhalb des Buddhismus. Das Bild von der Quelle und den Strömen drängt sich auf. Wir können zwei Hauptströme unterscheiden:
Der Theravada-Buddhismus ist in Ceylon, Burma, Thailand, Laos, Kambodscha und Vietnam, also eher im südlichen Teil Ostasiens, verbreitet. Er ist, kurz gesagt, der strengeren, weniger flexiblen Richtung zuzuordnen und orientiert sich vor allem an den alten Texten des Buddhismus wie dem Pali-Kanon.
Der Mahajana-Buddhismus oder das »Große Fahrzeug« hat sich in Nord- und Ostasien verbreitet, also in Tibet, in China und von dort aus über Korea nach Japan. Diese Richtung unterscheidet sich vom Theravada unter anderem dadurch, dass sie neben dem eigenen Heil auch das Wohl der anderen, ja, aller Lebewesen zum Ziel hat. Das Zen gehört zu dieser Richtung, wobei es sich freilich auf eine ganz besonders direkte Art auf Buddha bezieht.
Geschichtlich gesehen ist der Zen-Buddhismus also ein Zweig des Mahajana-Buddhismus. Dabei ist festzuhalten: Das Zen strebt direkt die ursprüngliche Erfahrung Buddhas an und kümmert sich erst in zweiter Linie um die spätere Deutung und Ausfaltung dieser Erfahrung, wie sie in den Sutren ihren Niederschlag gefunden hat. Daher darf man in einem gewissen Sinne sagen, Zen sei der Kern aller buddhistischen Schulen. Ein zeitgenössischer Zen-Meister, Zenkei Shibayama, geht noch weiter, wenn er sagt, Zen sei insofern Grundlage aller Religionen und Philosophien, als es dazu beitrage, »jede Religion oder Philosophie zu vertiefen und mit neuem Leben zu erfüllen«2.
Zen leitet sich also von Buddha ab und seine Vermittlung geschieht außerhalb der Schriften. Es zeigt sich darin ein Wesenselement des Zen: die Bedeutung der unmittelbaren Erfahrung und die Vermittlung »ohne Worte«.
Die wortlose Übertragung des Zen-Geistes von Buddha auf seinen ersten Nachfolger in der Reihe der Zen-Patriarchen wird in einem Zen-Kôan3 wie folgt erzählt: Buddha hebt eine Blume auf und zeigt sie der versammelten Jüngerschar. Nur einer der Jünger, Kashyapa, versteht. Er lächelt. Buddha übergibt ihm das Dharma, den kostbaren Schatz seiner Lehre. Diese Begebenheit bringt den Geist des Zen treffend zum Ausdruck. Es wird kein Wort gesprochen. Der Buddha zeigt die Blume, Kashyapa lächelt. Das ist alles, und das ist Zen. Es gibt ein nichtssagendes Reden, das die Erfahrung verunmöglicht. Es gibt ein vielsagendes Schweigen, das alles sagt und mit einer Geste oder einem Wort die eigene Einsicht bezeugt.
Zen hat seine Wurzeln in Indien. Groß geworden ist es in China, in dessen kulturell und religiös reichen Boden es eingepflanzt wurde.
Es waren, wie so oft in der Religionsgeschichte, Handelsleute, die dem Buddhismus den Weg bereiteten. Sie erzählten als Erste im Reich der Mitte von der Lehre des Buddha. Auf ihren Wegen über die Himalaja-Pässe trafen sie einerseits buddhistische Mönche aus Indien; anderseits begegneten sie neugierigen chinesischen Pilgern, die an den Stätten des Buddhismus in Indien beten wollten. So gelangt in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten der Buddhismus in der Form des flexibleren »Großen Fahrzeugs« nach China. Was ihm im chinesischen Denken besonders entgegenkam, war die kosmische Dimension der Lehre, also das Gespür für das Heilige in allen Dingen, auch in den kleinsten und alltäglichsten. Diese Seite des Buddhismus wird namentlich im Zen entfaltet, und zwar besonders in Japan, wie wir noch sehen werden.
Kaum weniger als der chinesisch gefärbte Buddhismus haben die ureigenen chinesischen Traditionen des Konfuzianismus und besonders der Taoismus das Zen mitgeprägt.
Man sagt, die Chinesen seien Konfuzianisten, wenn es ihnen gut gehe, und Taoisten, wenn es ihnen schlecht gehe. Laotse und Konfuzius sind in der Tat sehr verschieden, wiewohl sie Zeitgenossen waren (6. Jahrhundert v.Chr.). Konfuzius war eher pragmatisch. Auf die Frage eines Schülers nach dem jenseitigen Leben soll er gesagt haben: Wie sollten wir etwas vom Tode wissen, wenn wir nicht einmal das Leben kennen?
Konfuzius ging es vor allem um die Beziehungen von Mensch zu Mensch und um die Regelung der Beziehungen im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Die nach seinem Tod niedergeschriebenen Verhaltensregeln haben heute noch ihren Wert. Sie haben auch das langsam sich bildende Zen in ethischer Hinsicht mitgeprägt, besonders in der Form des Neo-Konfuzianismus zu der Zeit, da Zen in Japan heimisch wurde.
Mehr noch als der Konfuzianismus hat der Taoismus den Zen-Weg beeinflusst. Laotses Tao-Te-King liest sich auf weite Strecken wie ein Zen-Buch. Ein Auszug aus dem 16. Kapitel mag genügen, um dies zu verdeutlichen:
Schaffe Leere bis zum Höchsten! Wahre die Stille bis zum Völligsten! Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben. Ich schaue, wie sie sich wenden. Die Dinge in all ihrer Menge, ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel. Rückkehr zur Wurzel heißt Stille. Stille heißt Wendung zum Schicksal. Wendung zum Schicksal heißt Ewigkeit. Erkenntnis der Ewigkeit heißt Klarheit.
Bei so viel Verwandtschaft überrascht es nicht, dass die chinesische Zen-Literatur Buddhas Erleuchtung nicht selten als »Erwachen zum Tao« bezeichnet. Im Taoismus wie im Zen wird die Erfahrung der Einheit allen Seins angestrebt. Der Einfluss des Taoismus auf das Zen liegt also auf der Hand. Der Einfluss ist freilich auch umgekehrt gelaufen: Das sich zur Blüte entwickelnde Zen hat seinerseits auf den Taoismus zurückgewirkt. Dies zeigt noch einmal, wie sehr der Buddhismus in die chinesische Geisteswelt eingeschmolzen wurde. Ein Prozess, aus dem das Zen als eine besondere Form der Meditation hervorgegangen ist.
Der Weg des Zen von seinen wurzelhaften Anfängen in Indien bis zur Entfaltung in China wird exemplarisch ablesbar an der legendären Gestalt des Bodhidharma. Als Spross eines südindischen Brahmanengeschlechts kam er um das Jahr 520 n.Chr. nach China und soll dort die Zen-Meditation begründet haben. Die Legende bringt dies so zum Ausdruck: Neun Jahre hat er mit dem Gesicht zur Wand gesessen und unermüdlich meditiert, bis er zur großen Erleuchtung gelangte. Das Besondere an seinem Zen (man spricht von Bodhidharma-Zen) ist die Plötzlichkeit der Erleuchtung.
Als 28. indischer Patriarch und erster chinesischer schlägt Bodhidharma die Brücke zwischen Zen und Buddha. Legendär ist auch die Übermittlung des Dharma an Hui-kyo. Dieser Zen-Kandidat wurde von Bodhidharma so lange abgewiesen, bis er seinen Willen, ernst zu meditieren, damit bekräftigte, dass er sich einen Arm abschlug (in Wirklichkeit haben ihm Räuber einen Arm abgeschlagen). So wurde Hui-kyo schließlich als Schüler angenommen, gelangte zu tiefer Erfahrung und wurde der zweite chinesische Zen-Patriarch. 4
Aus der frühen Geschichte des Zen in China soll der 6. Nachfolger Bodhidharmas nicht unerwähnt bleiben: Hui-neng (638 – 713). Alle späteren Zen-Richtungen gehen auf ihn zurück. Sein Zen ist gekennzeichnet durch die Erfahrung der Leere-Unendlichkeit im ganz Konkreten und Alltäglichen. Hui-neng kann neben Bodhidharma als Begründer des chinesischen Zen angesehen werden.
Man hat gesagt, mit dem Zen sei das »Chinesischste des chinesischen Buddhismus nach Japan überführt« worden5. Das mag stimmen. Zen ist chinesisch, d.h. es hat sich in China entfaltet. Die Vollendung erreichte es allerdings in Japan. Und wenn wir heute von Zen-Meditation sprechen, dann denken wir mit Recht an Japan. Von dort her kommend ist es in den vergangenen Jahrzehnten im Westen bekannt geworden.
Japan orientierte sich von jeher nach dem Reich der Mitte. Die sprachlichen, kulturellen und religiösen Einflüsse sind entsprechend unübersehbar. So gelangte der Buddhismus früh schon in der Gestalt des »Großen Fahrzeuges« nach Japan. Der Zen-Buddhismus fand dagegen relativ spät, d.h. erst im 12. und 13. Jahrhundert Eingang ins Land der Aufgehenden Sonne, also zu einer Zeit, da er in China schon den Höhepunkt erreicht hatte. Als Begründer des japanischen Zen kann Eisai (1141 – 1215) angesehen werden. Von seinen Aufenthalten in Zen-Klöstern Chinas brachte er übrigens nicht nur Zen mit, sondern auch Tee. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Japan durch China bereichert und geprägt wurde. [Ref 3]
Dôgen (1200 – 1253) verlor früh seine Eltern. Ein Onkel nahm ihn auf, aber er verlässt bald dessen Haus, um in einem Tempel der Tendai-Sekte zu studieren. Später lernt er das eben in Japan eingeführte Zen kennen und entschließt sich, zur Quelle dieser Strömung zu gehen, nach China. Mit großer Entschiedenheit lässt er sich auf die Übung des Zazen ein:
»Als ich in China in der Gemeinschaft unter Ju-ching weilte, ... übte ich Tag und Nacht Zazen. Viele Mönche gaben auf, wenn es sehr kalt oder sehr heiß war, weil sie fürchteten, krank zu werden. Ich dachte in solchen Zeiten bei mir selbst: Auch wenn ich erkranke und sterbe, so muss ich doch nur Zazen üben. Was nützt mir mein Leib, wenn ich nicht, solange ich gesund bin, übe.«6
Nach vier Jahren intensivster Übung erlangt er eine große Erleuchtung und kommt 1227 nach Japan zurück. Er entfaltet in einem von ihm gegründeten Tempelkloster eine äußerst segensreiche Tätigkeit. Seinen Forderungen an die Mönche fehlt es nicht an Klarheit und Entschiedenheit:
»Da ihr nun in die Hauslosigkeit gegangen, ins Buddha-Haus eingetreten und Mönche geworden seid, sollt ihr die Werke, die ihr zu tun habt, erlernen. Die Werke erlernen und die Regel beobachten heißt, das Haften am Ich aufgeben und der Lehre eines Meisters folgen. Der Hauptgrundsatz lautet, die Habgier zunichte machen. Um die Habgier zu vernichten, müsst ihr euch vom kleinen Ich losmachen. Um vom kleinen Ich frei zu werden, ist das Anschauen der Vergänglichkeit die erste Bemühung. Wenn einer dem zustimmt, aber bestimmte Dinge nicht lassen zu können meint und von Anhänglichkeit behaftet ist, so verfällt er in Täuschung. Gleich welcher Begabung einer ist, wenn er Zazen übt, wird er von selbst voranschreiten.«7
Dank seiner beispielhaft spirituellen Haltung ist Dôgen, der Begründer des Soto-Zen, heute noch in Japan – und nicht nur dort – hoch angesehen. Ähnlich wie Meister Hakuin.
Hakuin (1685 – 1768) lebte zu einer Zeit, da »das innere Leben des Zen, das auf unmittelbarer Erfahrung beruht, erstarrte, wenn auch die sozialen Funktionen der Zen-Organisationen in Japan an der Oberfläche aktiv blieben und ihr kultureller Einfluss bemerkenswert war«8. Indem er bei seinen Schülern mit allem Nachdruck die Grundlage des Zen, die Erfahrung, betonte, gelang es Hakuin, das Zen zu erneuern. Seine großen künstlerischen Fähigkeiten erlaubten es ihm auch, das kulturelle Leben zu einer neuen Blüte zu bringen. Er verdient den Titel, den man ihm gegeben hat: »Der Patriarch, der Zen neu belebte«. Mit dem ersten chinesischen Zen-Patriarchen Bodhidharma verband ihn über Jahrhunderte hinweg ein stilles Einvernehmen. Hakuin hat ein Bild von Bodhidharma geschaffen, charakterisiert durch die weit offenen großen Augen. Es stellt eine Persönlichkeit dar, die das Wesen des Zen, das Schauen der Wirklichkeit, symbolisiert. Unter das Bild hat er die Worte gesetzt: »Ich freue mich sehr, dich zu sehen, und habe nichts zu sagen.«
Hakuin verkörpert exemplarisch das »Japanische Zen«, das durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: Da ist einmal die vom Konfuzianismus herkommende ethische Haltung. Wir sahen bereits, welchen Einfluss Konfuzius auf das Zen in China hatte. Dieser Einfluss hörte in der japanischen Zeit des Zen nicht auf – im Gegenteil. An Zen-Klöster waren Schulen angegliedert, die die ethischen Grundregeln des Konfuzianismus lehrten. Viele Zen-Mönche kannten die Lehren des Konfuzius ebenso wie die Sutren des Buddhismus, sodass man sie »buddhistische Konfuzianer« oder auch »konfuzianische Buddhisten« 9 genannt hat.
Das andere, typisch japanische Element, das das Zen im Land der Kirschblüten mitgeprägt hat, ist die Liebe zur Natur. Um der Schönheit und Herbheit der Natur – und des Zen – innezuwerden, besuche man etwa die Tempelgärten von Kyoto oder die Nationalparks von Hakone und Nikko und betrachte den unvergleichlichen Fuji-Berg, den Hakuin zu besingen nicht müde wurde, zum Beispiel:
Meine Liebe ist Fuji über den Wolken. An einem klaren Tag seh’ ich Deine schneeweiße Haut.
Wie die Liebe zur Natur und das Gespür für die konkreten Dinge das Zen geprägt haben, so gilt auch umgekehrt: Aus dem Geist des Zen (und aus der Zen-Übung heraus) erwachsen Werke der Kunst wie Gartenanlagen, Blumengestecke, Kalligrafien, Tusch-Malereien usw. Es ist oft auf den Einfluss hingewiesen worden, den das Zen auf die japanische Kultur und Geisteshaltung ausgeübt hat. Man darf in der Tat sagen: Will man Japan und die Japaner verstehen, muss man auch den Geist des Zen zu verstehen suchen.
Es gibt – etwas pointiert gesagt – zwei Japan: Das Japan mit den superschnellen Zügen, der hoch entwickelten Technologie, den Riesenstädten voll pulsierenden Lebens. Ein Japan also, das »westlicher ist als der Westen«. Es gibt aber auch das andere Japan, das von Zen mitgeprägte, das uns in Tempeln, Gärten und in Menschen auf dem Lande, aber nicht nur auf dem Lande, begegnet.
Wir haben bisher den Weg des Zen verfolgt von seiner Verwurzelung in Indien über das Wachsen in China bis hin zur Entfaltung in Japan. Die Zen-Meditation ist also im Osten groß geworden. Daraus schließt man oft, sie eigne sich nur für den östlichen Menschen, sie bleibe dem westlichen Denken fremd und sei auch unserer körperlichen Konstitution nicht zuzumuten. D.T. Suzuki, wohl der bedeutendste Vertreter des Zen im Westen, meint dazu: »Oberflächlich betrachtet, mag dies vernünftig klingen. Aber tatsächlich ist Zen für den östlichen Menschen genauso fremd wie für den westlichen, wenn es uns auffordert, unsere übliche Art des Erkennens zu ändern oder umzukehren.«10 [Ref 4]
Was unsere physische Konstitution betrifft, so ist zu sagen, dass die Zen-Meditation auf der psychosomatischen Technik des indischen Yoga beruht und somit auch den Chinesen und Japanern bis zu einem gewissen Grad fremd war. Wir können also nicht sagen, Zen sei nichts für uns, bloß weil wir Menschen aus dem Westen sind. Zen ist für alle da. Oder, mit einem Buchtitel von Fumon S. Nakagawa formuliert: »Zen, weil wir Menschen sind«11.
»Warum benutzt man gerade das Sitzen in der Form des Zazen? Es gibt doch noch andere Haltungen wie Stehen, Gehen, Liegen, um den Weg der Erleuchtung zu betreten?« Als diese Frage Meister Dôgen, dem wir schon begegnet sind, gestellt wurde, antwortete er ganz einfach: weil es seit Generationen so gemacht wird. Das aufrechte Sitzen ist tatsächlich eine bewährte Haltung und charakterisiert die Zen-Übung, das Zazen.
»Za« heißt sitzen, »Zazen« sitzende Meditation. Üblich ist, neben dem vollen, der halbe Lotussitz. Für Menschen, die etwa aus gesundheitlichen Gründen diese Sitzweise sowie den Fersensitz oder den Sattelsitz, bei dem man ein Kissen zur Entlastung der Fersen zwischen die Füße legt, nicht praktizieren können, besteht die Möglichkeit, auf einem Schemel zu sitzen. Der Körper aber sollte in jedem Fall aufrecht sein, gespannt und gelöst zugleich.
Neben dem richtigen Im-Leibe-Sein in einer aufrechten Haltung ist das natürliche, ruhige Atmen eine entscheidende Übungshilfe.
Alle spirituellen Traditionen wissen um die Bedeutung des Atems. Das ruhige Atmen führt ganz allmählich zu Einkehr und Versenkung.
Achten Sie auf Ihren Atem: Wenn Sie erschrecken, halten Sie die Luft an.
Wie ruhig ist dagegen der Atem eines schlafenden Kindes, das sich ganz geborgen weiß.
Atmen Sie also natürlich, tief und ruhig. »Naturally and quietly«, wie Yamada Rôshi zu sagen pflegte.
Aber so einfach dies klingt, so schwierig ist es. Dazu kommt noch, dass wir im Bemühen, richtig zu atmen, den natürlichen Lauf des Atems stören.
Mit der Zeit sollten wir mit dem Atem gleichsam eins werden, ihn nicht als Objekt betrachten.
Das stört ihn.
Wir sollten so auf den Atem achten, »als wär’s ein Stück von mir« – und das ist er ja auch.
Mehr noch: er ist mein Leben.
Eine andere Hilfe ist die Übung mit einem Kôan12. Die Kôan werden vor allem in der Rinzai-Sekte geübt und müssen von einem Meister gegeben werden, weil nur er die Richtigkeit der Antwort überprüfen kann. Die Antwort ist nicht auf intellektuellem, logischem Weg zu finden, sondern nur durch die tiefere Einsicht und die Erfahrung der Einheit. Ein bekanntes Kôan lautet: »Stoppe den Klang der weit entfernten Tempelglocke.«
Die Übung mit einem Kôan macht deutlich: Das Denken ist nicht das Letzte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Gedanken in der Übung beiseite geschoben, verdrängt werden. Die Regel lautet vielmehr: Die Gedanken kommen und gehen lassen. Es geht nicht darum, die »guten« (wir haben – ach – so viele gute Gedanken) festzuhalten und die anderen wegzuschieben. Demnach dürfen wir die Wirksamkeit der Übung nicht nach der größeren oder kleineren Anzahl der Gedanken einschätzen. »Gedanken« stören in der Übung erst dann, wenn sie uns etwa von unserem Zählen der Atemzüge abbringen. Zen-Meditation ist auch nicht eine Frage des Gefühls. Es geht um mehr, nämlich um eine tiefe Wirklichkeitserfahrung, die sich dann einstellt, wenn alle Vor-Stellungen wegfallen.
Man müsste Motivforscher sein, denn das Erforschen der Motive für das menschliche Tun und Lassen ist faszinierend. Etwas davon erleben wir jeweils bei Kursbeginn, wenn wir die Teilnehmenden nach dem Grund des Interesses an der Meditation fragen. Die Erwartungen sind Legion und reichen vom »Besser-schlafen-Können« bis hin zum »Überirdisches-Wissen-Erlangen«. Dazwischen wird so ziemlich alles genannt, was Menschen sich wünschen können:
Ruhe finden, gelassen und schöpferisch werden, einfach wieder Mensch sein. Das sind Erwartungen, die im leiblich-geistigen Bereich liegen.Offener werden, den Mitarbeitenden, dem Partner, der Partnerin neu begegnen können. Das sind Erfahrungen, die im ethisch-sozialen Bereich liegen.Eine Antwort finden auf die Frage: Wer bin ich? Warum bin ich so? Und vor allem: Was ist der Sinn meines Lebens? Das sind Erwartungen spiritueller Art.Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, sei festgehalten: Die verschiedenen Erwartungen lassen sich zwar methodisch unterscheiden und verschiedenen Ebenen zuteilen, im konkreten Menschen sind sie aber meist vermischt, ungetrennt, ineinander überfließend und nicht selten vage und verschwommen. Es ist auch nicht immer nötig auseinanderzunehmen, was zusammengehört. Ein Gliederungsversuch kann trotzdem hilfreich sein, um die eigenen Erwartungen und Motive zu klären. Dass aber Erwartungen in die Zen-Meditation gesetzt werden, ist nicht nur richtig, sondern sehr wichtig. Die Meinung, man solle nichts wollen und wünschen, sondern völlig unmotiviert »sitzen«, ist ebenso verbreitet wie falsch. Die Frage ist höchstens, ob wir uns an unsere Wünsche klammern und gerade so eine Erfüllung der Wünsche verhindern. Ein Vergleich mit Olympischen Spielen drängt sich auf: Oft bekommen gerade jene die Medaille, die sie zwar erhofft, aber ihr nicht mit heraushängender Zunge nachgejagt sind.
Dies vorausgeschickt, können wir uns nun fragen, was uns die Zen-Meditation bringt, auch wenn uns die Erleuchtung oder Wesensschau nicht zuteilwerden sollte.
Leib und Seele bilden bekanntlich eine Einheit. Die äußere gelöste Haltung wirkt nach innen und umgekehrt. Das aufrechte, ruhige Sitzen – so anstrengend es am Anfang sein mag – führt mit der Zeit zu einer tiefen, ganzheitlichen, also leiblich-geistigen Entspannung. Die Übenden werden bald schon die heilsamen Wirkungen erfahren, wie sie etwa Meister Yasutani Rôshi beschreibt:
»Energien, die bisher durch zwanghafte Triebe und ziellose Tätigkeit vergeudet wurden, werden nun durch richtiges Zen-Sitzen bewahrt und zur Einheit geleitet. Und in dem Maße, in dem man durch Zazen den Geist in einen Punkt sammeln lernt, hört man auf, geistige Kraft auf die unbeherrschte Vermehrung müßiger Gedanken zu verschwenden. Das gesamte Nervensystem entspannt sich und kommt zur Ruhe, innere Spannungen werden aufgehoben, und der Tonus aller Organe kräftigt sich. Kurz, indem Zazen durch richtige Atmung, durch Konzentration und rechtes Sitzen die körperlichen, verstandesmäßigen und seelischen Energien wieder in Reih und Glied bringt, stellt es ein neues Körper-Geist-Gleichgewicht her, dessen Schwerpunkt im vitalen ›hara‹ liegt.«13
Zazen bildet damit gleichsam das Gegenstück zur sogenannten Entspannung und Zerstreuung der Vergnügungsindustrie. Diese bringen den Nerven keine Erholung – im Gegenteil, die Nerven werden oft genug durch die »Zerstreuung« neu belastet und strapaziert. An Zerstreuung fehlt es uns nicht; was wir brauchen, ist echte Sammlung. Zazen macht es möglich.
Die Entfaltung der schöpferischen Fähigkeiten kann als weitere Wirkung der Zen-Praxis angeführt werden. Zazen macht nicht dumm und stumpf. Wer es praktiziert, wird es erfahren. Es ist vielmehr so, dass sich unsere Sinne und unsere Geistesfähigkeiten für die schöpferischen Ruhepausen, die wir ihnen gewähren, mit größerer Intensität und Tiefe bedanken. Wer regelmäßig übt, wird feinfühliger, offener, ansprechbarer. Damit kommen wir zu den Wirkungen, die auf der sozialen Ebene liegen.
Durch das fortgesetzte Üben wächst auch die Fähigkeit, von innen her, von der Mitte her, zu entscheiden und nachhaltig zu handeln, also zu agieren, statt nur zu reagieren. Wer nur reagiert, wenn möglich »empfindlich«, wie wir sagen, der oder die wirkt buchstäblich reaktionär. Eine neue, ursprüngliche, aus der Mitte kommende und weiterführende Tat, ist von ihnen nicht zu erwarten. Ein Vater oder eine Mutter etwa, die regelmäßig Zen praktizieren, sind in der Lage, auf den aufdringlichen Ton des pubertierenden Sohnes oder der pubertierenden Tochter einzugehen – jedenfalls besser, als wenn sie schon zu Beginn der Auseinandersetzung nicht bei sich, sondern außer sich sind. Zazen hilft uns also zu agieren, wo wir sonst in der Gefahr wären, nur zu reagieren, reaktionär zu werden. Freilich ist es oft genug so, dass wir gerade dann, wenn wir sie am nötigsten hätten, die Übung weglassen – und damit beginnt der Teufelskreis: Weil ich mir keine Zeit zur Stille und Sammlung nehme, komme ich nicht zur Ruhe und hetze durch den Tag; und weil ich hetze, finde ich keine Zeit für die Übung. [Ref 1]
Wer aber den Teufelskreis durchbricht und neu mit der Praxis des Zen beginnt, wird dessen Wirkungen erfahren: Wirkungen, die Hugo Enomiya-Lassalle wie folgt beschreibt:
»Man wundert sich über sich selbst und fragt sich vielleicht: Bin ich denn ein anderer Mensch geworden? Und gelingt es nicht gleich, mit einer Situation fertig zu werden, so gelingt es doch viel schneller als zuvor. Unsere Mitmenschen werden uns kaum noch oder gar nicht mehr Anlass zu Ärger und, was nicht weniger wichtig ist, wir werden für die anderen angenehmere Menschen. Wir brausen nicht mehr auf, sind nicht mehr so launenhaft oder melancholisch oder was sonst einen Menschen zur Plage seines Mitmenschen machen kann.«14
Jedes Zen, das den Namen verdient, übersteigt die psychologischen Kategorien und darf als »spirituell« bezeichnet werden. Trotzdem ist es angebracht, in spezifischer Hinsicht eigens von einem »spirituellen Zen« zu sprechen. Es geht im Zen um ein radikales Loslassen aller (egoistischen) Pläne, Vorstellungen und Gedanken. Es geht um den Einsatz des Lebens und um ein Sterben.
Menschen, die mit ganzer Hingabe Zen praktizieren, können die Erfahrung machen, die man als Schauen des eigenen Wesens, »Ken-sho«, bezeichnet. Diese Erfahrung – sie ist das erklärte Ziel des Zen – ist die Erfahrung des Nichts, der Leere-Unendlichkeit. Was aber besagt in diesem Zusammenhang das Wort »Nichts« und »Leere«? Shizuteru Ueda, ein Philosoph der zen-buddhistisch geprägten Kyoto-Schule, hat es auf einen Nenner gebracht: »Wenn die buddhistische Lehre vom Nichts spricht, bezieht sie es direkt auf das Selbst des Menschen. Wenn die buddhistische Lehre vom Selbst spricht, so spricht sie zugleich vom Nichts.«15 Ueda charakterisiert damit das »Nicht-Erlebnis« als Selbsterfahrung. [Ref 2]
Die Leere realisieren bedeutet nämlich, in einer bis auf den Grund reichenden Erfahrung alle Begierden, alle Einsichten und Vorstellungen, auch die religiösen, zu lassen und gleichsam ins Nichts hineinzuspringen. So vollzieht sich das Sterben des »kleinen Ich« (shoga). »Sterben« ist übrigens ein Wort, das man nicht selten in japanischen Zen-Hallen als Ansporn hören kann: »Hier wird nicht geschlafen, hier wird gestorben.« Wo der Zen-Tod gestorben wird, ereignet sich die Wende hin zur Erfahrung und Verwirklichung des »großen Ich« (daigo), des wahren Selbst.
Es fehlt in der Zen-Literatur nicht an Zeugnissen, die diese tiefe Wirklichkeitserfahrung zum Ausdruck bringen. Charakteristisch scheint uns die Schilderung, die wir Kosen Imakita verdanken:
»Ich geriet plötzlich in einen ganz merkwürdigen Zustand. Ich war wie tot. Alles war wie abgeschnitten. Es gab kein Vorher und kein Nachher mehr. Der Gegenstand (meiner Betrachtung) und mein Selbst waren verschwunden. Das Einzige, das ich fühlte, war, dass das Innere meines Selbst vollkommen geeint war und erfüllt von allem, was oben und unten und ringsum ist. Ein grenzenloses Licht strahlte in mir. Nach einer Weile kam ich wieder zu mir wie einer, der von den Toten auferstanden ist. Mein Sehen, Hören, Reden, meine Bewegungen und meine Gedanken waren ganz verschieden von dem, was sie bis dahin gewesen waren. Als ich tastend versuchte, an die Wahrheiten der Welt zu denken und den Sinn des Unbegreiflichen zu erfassen, verstand ich alles. Es erschien mir klar und wirklich. Ohne es zu wollen, begann ich, in übergroßer Freude meine Hände hochzuwerfen und mit den Füßen zu tanzen. Und plötzlich rief ich aus: ›Eine Million Sutra sind nur wie eine Kerze vor der Sonne. Wunderbar, wirklich wunderbar!‹«16
»Leere« ist nicht ein vages Etwas; es ist eine Haltung. »Leere« realisieren heißt, radikal frei werden, frei auch für den ganz konkreten Einsatz in der Welt. Was gemeint ist, verdeutlicht das 46. Beispiel aus der Kôan-Sammlung Mumonkan. Es trägt die Überschrift: Vorwärtsgehen von der Spitze einer Stange. Meister Sekisô sagte: »Wie willst du von der Spitze einer hundert Fuß hohen Stange vorwärtsgehen?« Ein anderer berühmter Altmeister sagte: »Auch wenn einer sitzend auf einem hundert Fuß hohen Mast Erleuchtung erfahren hat, ist es noch nicht die vollständige Sache. Er muss von der Spitze des Mastes vorwärtsgehen und seinen ganzen Körper in den zehn Richtungen des Weltalls deutlich zeigen.«
Meister Sekisô (986 – 1040) hat seinerzeit das Zen in China stark geprägt und dazu beigetragen, dass Zen zu dem geworden ist, was es ist: Ein Weg, der nicht in der Stille verharrt, in der Innerlichkeit stecken oder an der Erleuchtungserfahrung hängen bleibt, sondern sich der Welt stellt. Im Bild des genannten Kôan heißt dies, von der Höhe herunterzusteigen. Wer in der lichten, beglückenden Erfahrung der Leere, die zugleich grenzenlose Fülle besagt, verweilt, verfällt der »Zen-Krankheit«. Das heißt: er oder sie bleibt befangen und unfrei, und kann sich nicht ungehindert »in den zehn Richtungen« bewegen und die gestellten Aufgaben in großer Freiheit auf unkonventionelle schöpferische Weise angehen.
So dürfen wir mit Zenkei Shibayama sagen: Zen besitzt »eine einzigartige geistige Kultur, in hohem Maße geläutert durch seine lange Geschichte und Tradition. Ich glaube, dass Zen allgemeingültige und grundlegende Werte besitzt, sodass es zur Schaffung einer neuen geistigen Kultur in unserer Zeit beitragen kann. Der wichtigste Punkt ist aber, dass wir Zen verstehen, erfahren und es unter den verschiedensten Umständen des täglichen Daseins leben können«17.
Zen hat im Bildungshaus Bad Schönbrunn eine lange Tradition. Bereits in den 1980er-Jahren kam Hugo E. Lassalle jährlich zu zwei Sesshin ins Haus. 1993 hat Niklaus Brantschen die traditionelle Bildungsstätte als Zentrum für Spiritualität, Dialog und Verantwortung neu positioniert und gab ihm den Namen Lassalle-Haus. Seit nunmehr bald 20 Jahren bildet Zen einen Grundpfeiler des Programms. Die Kultur der Stille, die das Lassalle-Haus auszeichnet, wird nicht zuletzt durch die Zen-Kurse – es sind über 50 im Jahr – geprägt.
Zen-Übungs-raum, Zendo, imLassalle-HausBad Schönbrunn,Edlibach,Schweiz(Foto: Jakob Thür)
1999 erhielten Niklaus Brantschen und Pia Gyger von Bernie Glassman Rôshi Inka Shômei. Als Rôshi sind sie ihrerseits autorisiert, Zen-Lehrer und -Lehrerinnen zu ernennen. Doch Lehrerinnen und Lehrer zu ernennen ist das eine; eine Linie zu bilden und damit eine Spur zu legen ist das andere. Mit der Erteilung der Lehrbefugnis an Anna Gamma 2003 und später an Erwin Egloff und Peter Widmer gründeten Pia Gyger und Niklaus Brantschen eine eigene Linie, die Glassman-Lassalle-Zen-Linie. Die Lehrer und Lehrerinnen dieser Linie treffen sich jährlich zweimal. Auf dem Programm stehen einerseits Fragen der authentischen Vermittlung des Zen, anderseits geht es um den besonderen Charakter der Linie: Offenheit für die Probleme der Welt durch die systematische Verbindung von »Weg nach innen, Weg nach außen« sowie die Bereitschaft zur interkulturellen und interreligiösen Begegnung. In dieser zweifachen Besonderheit wird die Glassman-Lassalle-Zen-Linie geprägt durch zeitgenössische Persönlichkeiten wie Yamada Rôshi, Aitken Rôshi und Glassman Rôshi sowie Pater Lassalle.
Yamada Rôshi (1907 – 1989) hat als Laie (also als Nicht-Mönch), unterstützt durch seine Frau Kazue Yamada, während Jahrzehnten »nebenamtlich« im San Un Zendo in Kamakura unzählige Menschen aus Ost und West, darunter auch Pater Lassalle, auf dem Zen-Weg geführt. Dabei machte er durch seine Unterweisung und seine Haltung stets deutlich, dass Zen kein System von Sätzen, Begriffen und Übungen ist, das unter Ausschluss aller anderen spirituellen Wege befolgt werden müsste. Der Generalobere der Jesuiten, Pater Peter Hans Kolvenbach, dankte ihm in einem Brief vom Dezember 1986 für seine großherzige und offene Haltung sowie für seinen unermüdlichen Einsatz: »Ihre (Yamada) erleuchtete Führung hat vielen Menschen geholfen, ihre religiöse Erfahrung zu vertiefen und ihr Leben der Kontemplation und des Gebetes zu festigen. Sie haben auch wesentlich den Dialog zwischen Buddhismus und Christentum angeregt und den Aufbau einer friedvolleren und geeinten Welt gefördert.«
Lebhaft in Erinnerung blieben den Teilnehmenden die Tee-Gespräche nach dem abendlichen Zazen, bei denen Yamada Rôshi öfter über die Weltsituation gesprochen und sich Gedanken gemacht hat über die Zukunft der Menschheit. Er verfolgte zum Beispiel mit regem Interesse die Geschehnisse auf den Philippinen und reiste mehr als einmal dorthin, um eine Zen-Gruppe in ihrem Engagement für mehr Gerechtigkeit und Frieden zu unterstützen.
Für Yamada Rôshi war das größte Menschheitsproblem die Armut. Dieses Problem könne nicht von den Vereinten Nationen oder den christlichen Kirchen allein gelöst werden. »Wir alle müssen uns in gemeinsamer Anstrengung die Hände reichen. Könnten nicht Zen und Christenheit in dieser gemeinsamen Zielsetzung zusammenarbeiten?«, fragte Yamada gelegentlich.
Yamada Rôshi, der langjährige Lehrer von Niklaus Brantschen und Pia Gyger, hat mit seiner Bereitschaft zum interreligiösen Dialog und seiner Offenheit gegenüber der Not der Welt die Glassman-Lassalle-Linie wesentlich mitgeprägt. Brantschen konnte alle Kôan, inklusive die Fünf Grade, die Drei Schätze und die Zehn Großen Gebote, bei ihm lösen. Pia Gyger hatte die Möglichkeit, nach dem Tode Yamadas bei Aitken Rôshi die Kôan-Schulung zu beenden.
Robert Aitken (1917 – 2010) aus Hawaii war ein Nachfolger von Yamada Rôshi. Er hat Pia Gyger bei der Transmissions-Zeremonie 1996 im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn die folgenden Worte, die er mit Das Lichtseil überschrieb, auf den Weg gegeben.
»Wo das Licht herkommt, weiß niemand. In der Diamond Sangha wird das Licht durch Kôanprüfungen überliefert und direkt persönlich durch die Generationen weitergegeben. Es ist überbracht durch den Shãkyamuni Buddha und seine indischen Nachfolger, durch die Generationen in China, Ma-tsu und Lin-chi. Es gelangt zu Yang-Chi, dann in Japan zu Nampõ Jõmyõ und zu Hakuin Ekaku.
Hakuin entwickelte das Kôansystem in seiner jetzigen Form. Das Seil aus Licht kommt von Hakuin durch Takujú Kosen zu Dokutan Sõsan, von da zu Daiún Sogaku, der, wie vor ihm Hakuin, alte Kôan erneuerte und diese in die Ts›ao-tung Tradition eingliederte.
Diese Linie setzte sich fort zu Hakuún Ryõkõ und Kõun Zenshin und gelangte ostwärts zum alten Laien Robert Aitken in Hawaii, Gyõun Chõtan. Und hier erscheint jetzt Pia Gyger, eine Braut Christi, aus der Familie des Apostels Paulus, der Hildegard von Bingen und des Meister Eckhart. Gefestigt in ihrer eigenen Tradition, öffnete sie sich dem Licht, das über Kôanstudium und Erleuchtung der alten buddhistischen Lehrer überliefert wurde, ein Licht, das ihrem christlichen Verstehen und Lehren Tiefe und Perspektive gibt, indem es das Mysterium offenbart, das allen Religionen zugrunde liegt. Sie trägt dieses Licht in sich und erhellt damit ihre Gemeinschaft und die Welt. Sie ist an der Reihe, Täuschungen in Brand zu setzen und die alten Lehrer beider Traditionen zu verbinden. Sie ist an der Reihe, sich zu engagieren, mitten in den Geburtswehen der Welt.«
Aitken Rôshi war nicht zuletzt dank der Auseinandersetzungen mit Pia Gyger offener geworden für die interreligiösen Begegnungen. Und was sein Engagement für die Welt betrifft, so sei daran erinnert, dass er Mitbegründer des Social Engaged Buddhism war und ein Buch über die Ethik des Zen geschrieben hat.18
Bernie Glassman (*1939) ist ein Musterbeispiel des interkulturellen und sozialpolitischen Engagements. Die Berufung von Menschen, die Zen praktizieren, umschreibt er wie folgt:
»Unsere Aufgabe ist es, dem Leben zu dienen. Die Basis eines solchen Handelns liegt in der Erfahrung der Einheit und inneren Verbundenheit allen Lebens. Diese Erfahrung nennt man auch ›Erleuchtung‹. ›Dienen‹ ist ihr zentrales Element.
Wir können die Tiefe der Erleuchtung eines Menschen daran ablesen, wie er oder sie anderen dient. Anders gesagt: an unseren Handlungen lässt sich die Tiefe der Erleuchtung erkennen. Oft machen wir uns Gedanken darüber, was man in einer bestimmten Situation denn tun könnte. Wenn wir aus der Erfahrung der Einheit des Lebens agieren, handeln wir richtig. Wenn wir aus der Einheitserfahrung heraus hungrig sind, dann essen wir, wir denken nicht: ›Ich bin hungrig, sollte ich vielleicht etwas essen?‹ Wenn wir unsere Familie als Einheit erfahren und unser Kind weint, dann kümmern wir uns um unser Kind, wir denken nicht: ›O, das Kind weint, ich sollte da etwas ändern.‹ Und wenn wir uns aus der Erfahrung der Einheit heraus um die Welt kümmern, dann handeln wir einfach, und zwar angemessen.« »Zen ist Dienst am Leben. Dieser Dienst ist in der Einheit allen Lebens verwurzelt. Als ich 1980 von Los Angeles wegzog, um die Zen Community von New York zu gründen, ging es mir nicht darum, einen rein buddhistischen Ort zu schaffen ... Da waren auch Rabbis, Priester, Sufis, Buddhisten und Atheisten. Wir praktizierten Zen und teilten unsere jeweiligen Feste miteinander. Das war der Anfang meiner interreligiösen Arbeit. Doch nicht nur das Zendo, die Welt sollte unser Arbeitsplatz sein. Wir gingen zu den Obdachlosen, nach Auschwitz, in Gefängnisse, wir gingen in alle Lebensbereiche. Nichts war uns fremd.«19
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Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
eISBN 978-3-641-06299-6
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