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Dieser Band stellt einzelne Lebens- und Lernbereiche rund um Mehrsprachigkeit und Mehrsprachenlernen vor: gesellschaftliche Mehrsprachigkeit sowie schulisches und universitäres Mehrsprachenlernen. Es beleuchtet den Komplex der Herkunftssprachen im Verhältnis zur Umgebungs- und Zielfremdsprache Deutsch, diskutiert Gesamtsprachencurricula, und betrachtet die Sprachenarbeit mit Geflüchteten. Alle Beiträge sind solide wissenschaftlich fundiert, richten sich sprachlich an Studierende und veranschaulichen alle Sachverhalte durch Beispiele, nicht nur aus deutschsprachigen Ländern, sondern auch aus anderen, um zu verdeutlichen, dass Mehrsprachenlernen ein globales Phänomen mit je ähnlichen oder auch ganz unterschiedlichen Herausforderungen und Vorzügen ist, welches es wert ist, sich damit auseinanderzusetzen. Die Aufgaben ermuntern zur Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit bzw. der eigenen Lebens- und Lernsituation im gesellschaftlichen und institutionellen Umfeld.
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Seitenzahl: 628
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Joachim Schlabach / Constanze Bradlaw / Britta Hufeisen (Hrsg.)
Mehrsprachenlernen in gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache im Fokus der Mehrsprachendebatte
DOI: https://doi.org/10.24053/9783823394396
© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 2512-8043
ISBN 978-3-8233-8439-7 (Print)
ISBN 978-3-8233-0527-9 (ePub)
Der Bedarf an solider Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich der Sprachvermittlung hat gerade in Zeiten der Globalisierung ständig zugenommen. Immer stärker treten dabei spezialisierte Anforderungen vor allem in Bezug auf Fach- und Berufssprachen, Kompetenzen oder Zielgruppen in den Vordergrund. Theoretisch fundiert sollten die entsprechenden Angebote sein, aber gleichzeitig praxistauglich und praxiserprobt. Genau diese Ziele verfolgt das Kompendium DaF / DaZ. In mehreren Modulen und Bänden soll hiermit eine umfassende Einführung in die Wissenschaft und in die Kunst des Sprachenlernens und Sprachenlehrens gegeben werden, weit weg von fernen Theorie- oder Praxiskonstruktionen und Lehr-Dogmen. Im Mittelpunkt des hier verfolgten Ansatzes steht das, was in den Köpfen der Lerner geschieht oder geschehen sollte. Sachlich, nüchtern, effizient und nachhaltig. Buchreihe und Online-Module sind eine Einladung zur Professionalität eines Bereichs, der die natürlichste Sache der Welt behandelt: den Sprachenerwerb und die Mehrsprachigkeit. In diesen Materialien und Kursen werden daher Ergebnisse aus verschiedenen Forschungsrichtungen zusammengetragen und der Nutzen ihrer Synthese für die Optimierung des Sprachenerwerbs und Sprachunterrichts aufgezeigt.
Die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen gehört zu einem der wichtigsten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aufgabenbereiche, wenn es darum geht, die Herausforderungen des Zusammenlebens auf einer Welt mit begrenzten Ressourcen zu meistern. Die vielen sozialen, ökologischen, politischen, wirtschaftlichen, ethnischen und demographischen Konflikte der Welt zeigen, wie schwierig es ist, unterschiedliche Interessen über Kommunikation auszugleichen und nachhaltige Lösungen zu finden. Die verfügbaren Instrumente, namentlich die zahlreichen Großveranstaltungen und Versammlungen internationaler Organisationen, sind ein bedauerliches und meist teures Zeugnis auch für die mangelnde Fähigkeit der Verantwortlichen und ihrer Institutionen, die Prozesse der Kommunikation zu verstehen, zu beachten und zu fördern. Bereits 1949 hat Erich Kästner diese Unfähigkeiten in „Die Konferenz der Tiere“ plastisch illustriert und einen wirkungsvollen Lösungsweg skizziert, der zwar zur Sprache (in Form eines Vertrags) führt, aber gleichzeitig ihr Scheitern auf dem Weg dorthin abbildet.
Die Herausforderungen bestehen dabei auf verschiedenen Ebenen: lokal innerhalb multikultureller oder multikulturell werdender Gesellschaften, regional in multinationalen Institutionen und international in transkontinentalen Verbünden, Weltorganisationen (unter anderem für Wirtschaft, Gesundheit, Klima, Bildung, Sport, Banken) und im Cyberspace. Der Notwendigkeit, die großen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Probleme wegen der globalen Vernetzung der Ursachen auch global zu lösen, stehen andererseits geradezu reaktionäre Bestrebungen gegenüber, der Gefahr des Verlustes der »kulturellen Identität« vorzubauen. Einerseits verlangt oder erzwingt also eine Reduktion wirklicher und relativer Entfernungen und ein Überschreiten von Grenzen ein Zusammenleben und Kommunizieren von Menschen verschiedener Herkunft in bisher nicht gekannter Intensität, andererseits stehen dem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft, die mehr als ein beliebiges Nebeneinander von Kulturen anstrebt, die gleichen Widerstände entgegen, die mit der Schaffung solcher Gesellschaften als überwunden geglaubt galten. Erzwungene, oft mit großer militärischer Anstrengung zusammengehaltene multikulturelle Gesellschaften haben ohne äußeren Druck keinen Bestand und neigen als Folge des Drucks vielmehr dazu, verschärfte kulturelle Spannungen zu generieren. Auch demokratisch geschaffene multikulturelle Gesellschaften benötigen meist viel Zeit und Energie, um sich aus der Phase der multi-kulturellen Duldung zu inter-kultureller Toleranz und transkulturellem Miteinander zu entwickeln. Die rechts- und linkspopulistischen Bewegungen in der ganzen Welt und die ethnischen Auseinandersetzungen in Afrika, Asien, Amerika und Europa zeigen, dass es zuweilen gewaltig unter der Oberfläche gesellschaftlicher Toleranz- und Internationalisierungspostulate rumort. Ethnozentrismus, Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit, Populismus, Rassismus, Diskriminierung, Terrorismus, Bürgerkrieg, Massen- und Völkermord sind durch politisch und wirtschaftlich bewirkten Multikulturalismus nicht verschwunden. Das verbreitete Scheitern von Multikulturalismus-Modellen zeigt, dass ein verordnetes oder aufgezwungenes Nebeneinander von Kulturen ohne Mediationsbemühungen eher Spannungen verstärkt, als nachhaltig Toleranz, Wertschätzung und gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Es mangelt an effizienten Verfahren der Vermittlung (Mediation) zwischen Kulturen. Den Sprachen kommt in dem Prozess der Mediation deswegen eine besondere Rolle zu, weil er mit der Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg anfängt und er auch nur durch diese am Laufen gehalten wird. Die Sprache kann nicht alle Probleme lösen, aber sie hat eine Schlüsselposition beim Zustandekommen interkulturellen Austauschs inne, die weit über die Beherrschung von Grammatik und Aussprache hinausgeht. Diese Funktion hat mehr mit Kulturvermittlung als mit strukturellen Eigenschaften sprachlicher Systeme zu tun und sie kann kaum durch eine einzige Lingua Franca oder eine anderweitig neutralisierte Sprachvarietät erfüllt werden, schon gar nicht durch eine künstlich genormte. Das Lernen und Lehren von Sprachen ist daher in Wirklichkeit eines der wichtigsten politischen Instrumente im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung und muss daher die Köpfe und Herzen der Menschen erreichen.
Sprachunterricht und Sprachenlernen werden aber von Lehrkräften und Lernern gleichermaßen oft noch als die Domäne des Grammatikerwerbs und nicht als Zugangsvermittler zu anderen Kulturen behandelt. Wenn kulturelle Aspekte im Fremdsprachenerwerb aber auf die Faktenvermittlung reduziert werden und ansonsten vor allem strukturelle Aspekte der Sprachen in den Vordergrund treten, bleiben wichtige Lern- und Kommunikationspotenziale ungenutzt. Dabei bleibt nicht nur der Bereich des landeskundlichen Wissens unterentwickelt, sondern es wird in erster Linie der Erwerb semantischer, pragmatischer und semiotischer Kompetenzen erheblich eingeschränkt, die für die interkulturelle Kommunikation essentiell sind. Wenn in der heutigen Zeit vordringlich interkulturelle Kompetenzen verlangt werden, dann müssen in Sprachenunterricht und Sprachenerwerb im weiteren Sinne also bevorzugt kulturelle Aspekte der Sprachen und der Kommunikation berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer größeren Bewusstheit für die kulturelle Bedingtheit von Sprachen und die sprachliche Bedingtheit von Kulturen. Diese müssen sich in kultursensitiven Lern- und Lehrverfahren manifestieren, die Mehrsprachigkeit nicht nur künstlich rekonstruieren und archivieren wollen, sondern die in Fülle vorhandenen natürlichen Ressourcen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität organisch, dynamisch und effizient zu nutzen wissen. Das Augenmerk der künftigen Lern- und Lehrforschung ist daher verstärkt auf Aspekte der Ökologie und Ökonomie des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements zu richten. Das bedeutet, dass die Spracherwerbs- und die Mehrsprachigkeitsforschung sich nicht nur eklektisch wie bisher, sondern systematisch an kognitiven und kultursensitiven Aspekten des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements ausrichten müssen.
Diesen Aufgabenbereich zu skizzieren, indem wichtige, dafür geleistete Vorarbeiten vorgestellt werden, ist Ziel dieser Reihe. Dieser Band, der von einem Team der Technischen Universität Darmstadt herausgeberisch betreut wurde, vertieft, aktualisiert und erweitert wichtige Aspekte der Mehrsprachigkeit, die teilweise mit anderer Perspektivik auch in den vorangehenden Bänden behandelt werden. Das betrifft vor allem Band 4 ‚Mehrsprachigkeit und Sprachenlernen‘, der unter anderem kognitive, historische und sprachenpolitische Aspekte der Mehrsprachigkeit präsentiert und die individuelle und kollektive Modellierung von Mehrsprachigkeit behandelt, zum Beispiel im Kontext der Migration, in der Dynamik ihres Erwerbs sowie in der Vielfalt von Sprachvarietäten vom Codeswitching über die Schriftlichkeit bis hin zu Ethnolekten, Xenolekten, Pidgins und Kreolsprachen. Der vorliegende Band fokussiert gesellschaftliche Aspekte der Mehrsprachigkeit im Kontext von Migration, Sprachwandel, Bildung, Schule und Hochschule sowie Sprachenmanagement. Dabei geht er ausführlich auf die europäischen Mehrsprachigkeitsbedingungen, auf die Sprachmittlung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und das Europäische Interkomprehensionskonzept EuroComGerm sowie den L3-Erwerb ein und beleuchtet sprach- und bildkulturelle sowie semiotische Aspekte multimodaler Kommunikation, unter anderem in Phraseologismen, in der Kulturspezifik von Textsorten, im Bildverstehen und in linguistischen Landschaften. Damit dockt der Band auch an die sprachkulturellen und kognitionslinguistischen Darstellungen zu konzeptuellen Metaphern, zur Bildverarbeitung, zur kulturellen Textsortenspezifik und zur Kulturkontrastivik in der kognitiven Sprachdidaktik in den Bänden 1 und 2 des Kompendiums an. Diese beiden Bände liegen in bearbeiteter Form auch in englischer Sprache vor (Roche/Suñer: Language Learning and Cognition. Münster: Lit, 2023; Roche/Jessen: Applied Cognitive Linguistics for Language Teachers. Münster: Lit, 2023).
Angesichts der Schwierigkeiten im praktischen Umgang mit Mehrsprachigkeit und ihrem Erwerb und angesichts vielversprechender digital-automatisierter Alternativen, die sich an Entwicklungen der künstlichen Intelligenz orientieren, stellt sich die Frage, ob heute und in Zukunft Sprachenerwerb und Mehrsprachigkeit noch nötig seien, oder nicht einfach als Hürde des Alltags maschinell bei Bedarf umgangen werden können. So wie man mit einem Verkehrsmittel von A nach B kommt, ohne unbedingt selbst einen PKW-, LKW-, Bus-Führer- oder einen Pilotenschein zu besitzen. Zweifellos kann die Kommunikation sinnvoll durch digitale Medien unterstützt und in verschiedenen Situationen auch gestaltet werden. Diese Nutzung ist jedoch von dem abhängig, was die menschliche Sprache als Input entwickelt hat und zur Verfügung stellt. Kreativer Sprachgebrauch ist maschinell kaum herzustellen. Vor allem aber bleibt natürlich die Frage nach den Adressaten bestehen: wer rezipiert die automatisierte Sprache im Endeffekt und wie gewinnen menschliche Gehirne – und eben auch Herzen – von den Möglichkeiten mehrsprachiger und mehrkultureller Perspektivierungen? Das sind vermutlich auch weiterhin vor allem menschlich-intelligente Gehirne. Sollen diese grundsätzlich für die Leistungspotentiale von Sprache sensibilisiert und trainiert werden, sollen sie die Möglichkeiten und Mehrwerte mehrsprachiger Kompetenzen erfahren, schätzen und effizient nutzen lernen, und sollen daraus auch die bekannten Transfereffekte auf andere Bereiche der menschlichen Kognition gewonnen werden, dann werden der Gebrauch und Erwerb von Sprachen längst nicht hinfällig, sondern müssten eher eine verstärkte Aufmerksamkeit bekommen. Dies allerdings legt nahe, dass Sprachen in der Gesellschaft eine höhere Wertschätzung erfahren, dass Sprachkultur und Sprachenkulturen im pragmatischen Sinne gepflegt werden und das Sprachlehrmethoden, Curricula und Lehrmaterialien sowie die entsprechende Ausbildung von Lehrkräften eine radikale Modernisierungskur erfahren, deren Ziel nicht das Festhalten an nationalstaatlich geprägten Sprach- und Bildungsideologien und auch nicht medialer und sprachenpolitischer Aktionismus ist, sondern die Erarbeitung und Umsetzung von pragmatischen, funktionalen Mehrsprachigkeitskonzepten, die der dynamischen Entwicklung der menschlichen Kognition ebenso gerecht werden wie den komplexen Anforderungen mehrsprachiger und -kultureller Lebenswelten. Ein friedliches menschliches Miteinander ist das Ergebnis kommunikativer Aushandlungsprozesse. Ohne (Fremd-)Sprachenkenntnisse sind gesellschaftliche Teilhabe sowie politisches Mitgestalten nicht möglich. Zum Aufbau dieses Wissens, zur Bildung schlechthin, beizutragen, ist deshalb grundlegend für den Bestand demokratischer und pluralistischer Systeme. Dazu leisten die Bände des Kompendiums einen wichtigen Beitrag: Sie versammeln die wichtigsten wissenschaftlichen Grundlagen und Forschungsergebnisse für eine praxistaugliche Umsetzung und empirische Lern- und Lehrforschung.
Jörg Roche (aktualisiert 2024)
Mit dem vorliegenden Band ergänzen wir weitere und neue Puzzleteile aus den großen Wissenschafts- und Didaktikgebieten des Mehrsprachenlernens und -lehrens. Derzeitige und ehemalige Mitglieder des Fachgebiets Sprachwissenschaft-Mehrsprachigkeit am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft des Fachbereichs Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt sowie befreundete Kolleginnen und Kollegen tragen dazu bei, aus ihrer eigenen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektive das Thema zu beleuchten bzw. teilweise neu zu betrachten. Zwar gibt es durch die strukturierte Anordnung eine gewisse Progression in dem Band; dennoch stehen die einzelnen Teile auch für sich und können daher nach eigenen Präferenzen und in individueller Reihenfolge bearbeitet werden.
Begonnen wurde das kollaborativ angelegte Publikationsabenteuer, gemeinsam einen Sammelband in der vorliegenden Reihe zu schreiben, durch die ursprünglich geplanten verantwortlichen Herausgeberinnen Lea Luise Kimmerle sowie Maike Schikora, die das Unternehmen jedoch schließlich nicht weiterführen und beenden konnten. Daher übernahmen der jetzt genannte Herausgeber sowie die beiden Herausgeberinnen die Weiterentwicklung, Weiterführung und Beendigung des Bandes. Dabei profitierten wir von der technischen und herausgeberischen Expertise Joachims als einem der Schriftleiter der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht. MehrSprachen Lernen und Lehren, vom untrüglichen Gespür Constanzes für gute Texte und von meiner jahrzehntelangen Erfahrung im Publikationswesen. Ich kümmerte mich oft um Aufträge der beiden, las Korrektur, schrieb die eine oder andere Kapiteleinleitung, arbeitete aber insgesamt deutlich weniger an der Fertigstellung des Bandes als die beiden anderen Joachim Schlabach und Constanze Bradlaw. Ihnen sei an dieser Stelle im Namen aller Beitragenden herzlich für ihre Arbeit, ihre Zeit und ihr Durchhaltevermögen gedankt.
Dank sagen wir alle zusammen für die Geduld des Reihenherausgebers und des Verlags, die beide immer daran geglaubt haben, dass dieser Band (irgendwann) erscheinen wird. Hier ist er nun.
Britta Hufeisen, Technische Universität Darmstadt, im Frühsommer 2024
Im ersten Kapitel des Kompendiumbandes Mehrsprachenlernen in gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten führen wir in das übergeordnete Thema dieses Bandes ein, indem wir zunächst einige historische Gesichtspunkte sowie Aspekte des Sprachwandels in den Blick nehmen. Die Grundthese dieses Bandes lautet: Sprachen sind keine voneinander unabhängigen und starren Gebilde, die auf unerklärliche Weise entstanden sind und die ohne Berührungspunkte nebeneinander (ko)existieren. Sprachen haben eine Geschichte, spiegeln durch ihren Gebrauch gesellschaftliche und politische Verhältnisse wider, beeinflussen sich gegenseitig, entwickeln sich permanent weiter und sind mitunter Objekt teils sehr kontroverser gesellschaftlicher und politischer Debatten – gestern wie heute.
Anhand exemplarischer historischer und gegenwärtiger Geschehnisse und Vorgänge zeigen wir in Lerneinheit 1.1 auf, auf welche Weise Sprach(en)gebrauch und Mehrsprachigkeit Gegenstand kontroverser gesellschaftlicher Debatten waren beziehungsweise sind und wie Sprach(en)konflikte zum Teil Symptome tiefgehender sozialer und politischer Konfrontationen waren und sind. In Lerneinheit 1.2 nehmen wir exemplarisch die deutsche Sprache in den Blick und zeigen auf, dass das aktuell gebräuchliche Deutsch letztlich das Resultat der immerwährenden menschlichen Migrationsbewegungen ist, denn Migrationsphänomene werden stets begleitet von Sprachenkontaktphänomenen. Dieser Sprachwandel durch Migration ist nichts Außergewöhnliches, sondern stellt den Normalfall in der Entwicklungsgeschichte von Sprachen dar. Um das genauer zu erläutern, gehen wir in Lerneinheit 1.3 auf Sprachwandelprozesse ein und zeigen auf, durch welche Mechanismen Sprachen sich – insbesondere durch sich ändernde Kommunikationsbedürfnisse – fortwährend weiterentwickeln.
Wir setzen uns in diesem ersten Kapitel also mit Phänomenen des Sprachwandels auseinander, um eine Grundlage für die weiteren Kapitel dieses Bandes zu schaffen. Dabei beleuchten wir einige Ursachen für mehrsprachige Entwicklungsprozesse sowie die damit verbundenen gesellschaftlichen und politischen Reaktionen und Auswirkungen.
Zur Einführung in den Band nehmen wir in der ersten Lerneinheit das Thema Mehrsprachigkeit aus historischer Perspektive in den Blick. Wir stellen ausgewählte Beispiele von Mehrsprachigkeitsdebatten aus Geschichte und Gegenwart vor, vergleichen diese und zeigen deren politische und gesellschaftliche Auswirkungen auf. Dabei spielt insbesondere der Blick auf die Situation in der ehemaligen kaiserlichen und königlichen (k. u. k.) Doppelmonarchie Österreich-Ungarn eine Rolle, aber auch die laufende (schul)politische Debatte über den Fremdsprachenunterricht. Durch Vergleiche mit gelegentlichen Zeitsprüngen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zeigen wir, dass trotz aller historischer Unterschiede das Thema der Mehrsprachigkeit kein neues Phänomen ist, sondern bereits im Kontext der Geschichte nicht selten von höchster Relevanz war – und zwar auf ganz verschiedenen Ebenen. Wir möchten damit den Blick auf die Multiperspektivität des Themas Mehrsprachigkeit und seiner Entwicklung eröffnen und so einen Rahmen und eine Basis für alle weiteren Inhalte des Bandes schaffen. Wir verstehen Mehrsprachigkeit als ein sich stets weiterentwickelndes Feld, das sich im Fluss befindet und tagesaktuell betrachtet werden kann und muss, bei dem sich aber auch immer ein Blick auf Vergangenes lohnt, um das Verstehen des Gegenwärtigen zu schärfen.
Lernziele
In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie
anhand ausgewählter Beispiele etwas über die historische Relevanz von Mehrsprachigkeit in Politik und Gesellschaft erfahren und diese reflektieren können;
damit verknüpfend Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen historischen und gegenwärtigen politischen Diskussionen rund um das Thema Mehrsprachigkeit aufzeigen können;
dadurch in das Thema des Bandes eingestimmt werden und die Vielfalt und den Facettenreichtum des Themenkomplexes Mehrsprachigkeit erkennen können.
Reflexionsaufgabe
Überlegen Sie, welche Gegebenheiten die Bezeichnung „Vielvölkerstaat“ beinhaltet. Welche Implikationen ergeben sich in (mehr)sprachlicher Hinsicht? Vor welchen sprachenpolitischen Entscheidungen steht die Regierung eines solchen Staates? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen dann die Situation dieses Staates zu einem etwa hundert Jahre zurückliegenden Zeitpunkt mit ein. Inwiefern unterscheiden sich Vergangenheit und Gegenwart in sprachlicher Hinsicht? Inwiefern hilft es, die Vergangenheit zu kennen, um die Gegenwart zu verstehen?
Ein jüdisches Kind mußte schon mit drei Jahren lesen lernen, viele Stunden des Tages unter der Fuchtel der strengen Cheder-Lehrer mit Buchstabieren und bald auch mit Übersetzen schwerer hebräischer Texte zubringen. Die christlichen Kinder aber kamen erst mit sechs oder gar sieben Jahren in die Schule, man lehrte sie allmählich lesen – und nur in der Sprache, die sie schon kannten. […] Und das erklärte zum Beispiel auch, warum wir mit unseren Bediensteten in ihrer Sprache verkehrten, anstatt daß sie die unsere sprachen. Und weil wir Verbannte waren – in der Galuth, mußten wir zwei-, dreimal so viel lernen wie die anderen. Wir klagten zwar über diesen Zwang, wir waren aber deshalb nicht unzufrieden, im Gegenteil. Ihm verdanke ich zum Beispiel, daß ich Sprachen, daß ich jede Sprache liebe, daß der Zauber der Worte auch auf den bejahrten Mann noch so verführerisch wirkt wie auf das Zablotower Kind, das sich immerfort zurecht finden musste zwischen dem Ukrainischen und Polnischen, dem Jiddischen, Hebräischen und Deutschen. Nicht jede Sprache klang mir schön, doch empfand ich sehr früh, daß jede etwas Besonderes an sich hatte und daß die Welt nicht die gleiche wäre, wenn ihr auch nur eine von ihnen fehlte. Wasser, Woda, Majim bedeuten das gleiche, ebenso wie – das lernte ich etwas später – aqua, eau und water. Aber ich ahnte recht bald, daß in jedem dieser Worte etwas mitschwang, das vielleicht nicht wirklich in ihm steckte, aber von ihm angerufen, mitgenannt wurde. Das slawische „Woda“ ist noch heute für mich eine Flüssigkeit, die man aus dem Brunnen schöpft, das hebräische „Majim“ sprudelt aus einer Quelle, das deutsche Wasser kommt aus dem Wasserhahn, den ein kleines Kind beliebig öffnen und schließen kann. (Sperber 1983: 63–64)
In diesem Auszug aus seinen Memoiren beschreibt der 1905 geborene Schriftsteller und Philosoph Manès Sperber eindrucksvoll die mehrsprachige Realität der Gesellschaft seiner Jugendjahre in der jüdischen Gemeinde in Zabłotów im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Galizien. Dieses Beispiel aus einer durch die Shoah fast vollständig in Europa vernichteten Kultur gibt einen anschaulichen Einblick in die Vielschichtigkeit und die variationsreichen Ausprägungen des Themas Mehrsprachigkeit. Drei Dimensionen von Mehrsprachigkeit werden hier bereits deutlich:
Die erste Dimension ist die individuelle Dimension. Sperber beschreibt seinen individuellen Lernprozess, der ihm selbst zunächst als anstrengend, im Nachhinein aber als sehr nützlich zur Herausbildung seines Wissens und seiner Persönlichkeit erschien. Der Schriftsteller legt eindrücklich dar, dass Sprache(n) eben nicht nur eine oder mehrere Sammlung(en) von Wortbedeutungen ist beziehungsweise sind, sondern dass jede Sprache ihre Einzigartigkeiten hat, dass bereits einfache Wörter wie Wasser in einer bestimmten Sprache zwar denotativDenotat übersetzt werden können, häufig aber konnotativKonnotat Bedeutungen mittransportieren, die nicht so einfach übertragen werden können. Sprache trägt so nicht zuletzt durch ihre Vieldeutigkeit dazu bei, eine individuelle Realität für jede einzelne Person zu konstruieren. Das Wissen über verschiedene Deutungsmuster und das Vorhandensein von Interpretationsmöglichkeiten erweitern den Horizont und wirken sich auf die folgende, zweite Dimension aus, in der es um die Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen Menschen geht. (Individuelle Aspekte der Mehrsprachigkeit werden im Kapitel 6 thematisiert.)
Die zweite Dimension ist die gesellschaftliche beziehungsweise soziale Dimension. Sperber beschreibt eine Gesellschaft, in der Mehrsprachigkeit eine Selbstverständlichkeit ist, im Alltag als Normalität betrachtet und aktiv gelebt wird. Es geht hier insbesondere um die Kommunikation zwischen Menschen in einer kulturell heterogenen Gesellschaft (Näheres zu diesen Themen in den Kapiteln 2 und 5). In dem von Sperber beschriebenen Fall erfolgt die Verständigung auf schriftlichem Wege sogar über drei ganz unterschiedliche Schriftsysteme hinweg: das kyrillische (Ukrainisch, Russisch), lateinische (Polnisch, Deutsch) und hebräische (Jiddisch, Hebräisch) Alphabet.
Die dritte Dimension ist schließlich die politische Dimension. Sprache war immer auch ein politisches Gestaltungsinstrument (wie wir in den Lerneinheiten 1.2, 3.1 und 3.2 aufzeigen) und ein Mittel zur Ausübung von Macht (siehe hierzu insbesondere die Lerneinheit 2.1). Wer wessen Sprache zu sprechen beziehungsweise zu erlernen und zu verwenden hat, spiegelte stets gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse wider; auch dies wird im Bericht Sperbers bereits deutlich. Ein Thema, das von Sperber in diesem Kontext gleich zu Anfang genannt wird, und das in der heutigen Diskussion um Mehrsprachigkeit eine große Rolle spielt, ist der Schulunterricht (hierauf wird in den Kapiteln 4 und 7 eingegangen). Gerade daran entzünden sich die mitunter heftigsten und kontroversesten Debatten in der Gegenwart, während es in der Vergangenheit eher Fragen der Sprachen als nationale Unterscheidungsmerkmale waren. Beide Gesichtspunkte sind jedoch, wie wir an den nachfolgend dargestellten Beispielen noch sehen werden, durchaus miteinander verwoben und sowohl in der Vergangenheit wie auch heute nicht immer klar voneinander zu trennen.
Die mehrsprachigen Realitäten sind heute in vielen Ländern – auch innerhalb Europas – durchaus unterschiedlich (was in Kapitel 2 thematisiert wird). Ein Blick beispielsweise auf Indien mit seinen insgesamt mehr als 120 Landessprachen zeigt, dass mehrsprachige Gesellschaften, wie sie auch Sperber beschreibt, keineswegs der Vergangenheit angehören. Dennoch hat sich in vielen Ländern, wie Deutschland oder auch Frankreich (siehe hierzu Lerneinheit 2.2), im Laufe des 20. Jahrhunderts das Bild einer idealerweise einsprachigen Gesellschaft als Normalzustand durchgesetzt, in der Mehrsprachigkeit lange Zeit eher als gesellschaftlich problematische Begleiterscheinung der modernen Einwanderungsgesellschaft wahrgenommen wurde und zum Teil heute noch wird. Sprachen werden, nicht ganz zu Unrecht, auch heute noch mit kulturellen und sozialen Aspekten verknüpft; aus diesen Verknüpfungen werden dann aber – wie im unten dargestellten Interviewbeispiel – häufig fragwürdige Kausalzusammenhänge vom kulturellen Status bestimmter Nationen abgeleitet.
Transferaufgabe 1
Recherchieren Sie zur Sprachensituation in Indien:
Welche Sprachen werden dort gesprochen und wo?
Noch über 70 Jahre nach der Unabhängigkeit von Großbritannien konnte sich Hindi auf gesamtstaatlicher Ebene in Indien nicht als (alleinige) Amts- und Verkehrssprache durchsetzen. Auch die ehemalige Kolonialsprache Englisch ist dort (noch) Verkehrs- und Amtssprache. Welche Gründe könnte dies haben?
Vergleichen Sie die Sprachensituation in Indien mit der in Österreich-Ungarn bzw. der Europäischen Union. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede können Sie entdecken?
Da eine eher defizitorientierte und problemzentrierte Sichtweise auf Mehrsprachigkeit eine lange Tradition hat, wollen wir im Folgenden anhand einiger exemplarischer Beispiele einen Blick auf historische Ausprägungen von Mehrsprachigkeit und Ereignisse, die damit in Bezug stehen, werfen. Anhand dieser Beispiele wollen wir aufzeigen, welche gesellschaftlichen und politischen Diskussionen geführt wurden, und sie Beispielen aus der mehrsprachigen Gegenwart gegenüberstellen. Der vergleichende Blick zwischen Geschichte und Gegenwart zeigt, dass viele Phänomene der und Diskussionen über die Mehrsprachigkeit, die heutzutage oft als vermeintlich neue Erscheinungen der globalisierten Welt oder von Migrationsbewegungen dargestellt werden, nicht neu sind. Zwar wiederholt sich Geschichte nie eins zu eins, aus historischen Ereignissen lassen sich dennoch wiederkehrende Muster ableiten, die für das Lernen aus der Vergangenheit für die Zukunft von besonderer Bedeutung sein können und damit auch für die Weiterentwicklung des persönlichen Verständnisses von Mehrsprachigkeit und unseren Umgang damit.
Als ein historischer Untersuchungsgegenstand bietet sich uns das Geburtsland von Sperber, Österreich-Ungarn, an. Die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe dieses Staates bedürfen für Leserinnen und Leser im 21. Jahrhundert allerdings einer näheren Erklärung: Die sogenannte Donaumonarchie, deren Nationalitätenkonflikte letztlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, und die schließlich selbst zu Kriegsende auseinanderbrach, galt lange Zeit in der historischen Forschung als das, was wir heute als failed state bezeichnen würden: ein Staatengebilde, das aufgrund innenpolitischer Entwicklungen und Gegebenheiten auseinanderbrechen musste. Im konkreten Fall Österreich-Ungarns war der ausschlaggebende Faktor, der den Staat hat implodieren lassen, dass er dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Ideal des ethnisch, kulturell und sprachlich homogenen Nationalstaats in keiner Weise entsprach. Die neuere Forschung betrachtet diesen Umstand allerdings differenzierter. So sieht man im historischen Österreich-Ungarn – wenn auch fehlgeschlagene, aber immerhin unternommene – Ansätze für die gesteuerte Organisation eines staatlichen Gebildes, in dem Menschen verschiedener Kulturen unter Bewahrung der eigenen Sprachen miteinander leben können. Unter diesen gescheiterten Ansätzen finden sich auch solche, aus denen das sich aktuell einigende Europa, als mitunter fragiles Staatengebilde, lernen könnte (vergleiche hierzu beispielsweise Burger 1994). Heute kann es uns sogar „als ein Laboratorium für den innovativen Umgang mit sprachlicher Vielfalt in einem mehrsprachigen Staatswesen“ (Haslinger 2008: 109) erscheinen. In Österreich-Ungarn jedoch, das Anfang des 20. Jahrhunderts nach Russland der zweitgrößte Flächenstaat in Europa war, hatte bereits 20 Jahre vor seinem endgültigen Auseinanderbrechen im Ersten Weltkrieg ein Sprachenstreit zu einer existenzbedrohenden Staatskrise geführt. Dabei ging es um die aus heutiger Sicht sehr modern wirkenden Badeni-Sprachenverordnungen, die das Verhältnis der Sprachen Deutsch und Tschechisch in den damals gemischt bevölkerten Gebieten Böhmen und Mähren (der heutigen Tschechischen Republik) regeln sollten. Auf diese Krise werden wir noch zu sprechen kommen.
Auch die Gegenwart zeigt, dass politische Eingriffe in den Sprachengebrauch und starke Reaktionen darauf keinesfalls der Vergangenheit angehören. In der Schulpolitik gibt es wenige Themen, die kontroverser diskutiert werden. Selten erhitzen sich die Gemüter in solchem Maße, wie wenn es um Fragen zu mehrsprachigem Aufwachsen von Kindern, Fremdsprachenunterricht, herkunftssprachlichem Unterricht (früher „muttersprachlicher“ Unterricht; siehe hierzu Lerneinheit 7.3.) in der Schule oder gar um eine Pflicht zum Gebrauch der deutschen Sprache auch während der Pausen auf dem Schulhof geht. Gefürchtet wird die sogenannte doppelte Halbsprachigkeitdoppelte Halbsprachigkeit, also die Annahme, dass Menschen, die in früher Kindheit mit „zu vielen“ Sprachen konfrontiert werden, keine dieser Sprachen ausreichend gut erlernen. Hieran anschließend stellt sich die Frage, welche Sprachen wann in der Schulbiografie sinnvoll zu erwerben sind. Dazu liefert uns die Debatte um den Französischunterricht in Baden-Württemberg ein anschauliches zeitgenössisches Beispiel aus dem deutschen Bildungsföderalismus (der auch in Lerneinheit 5.1 thematisiert wird). Im Bundesland Baden-Württemberg ist der Fremdsprachenunterricht aufgrund der geografischen und politischen Eigenarten ein besonders kontrovers diskutierter Gegenstand. 2003 wurde hier der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule eingeführt – und zwar ab der ersten Klasse: Während im größten Teil des Bundeslandes Englisch auf den Stundenplan der Erstklässlerinnen und Erstklässler gesetzt wurde, lernten diese im grenznah zu Frankreich gelegenen Rheintal stattdessen Französisch. Von den Befürworterinnen und Befürwortern als „Pädagogischer Meilenstein“ (Ministerium für Kultus 2003: 3) gefeiert, gab es in den folgenden Jahren immer wieder massive Kritik an dem Projekt und gerichtliche Klagen dagegen. Verwies beispielsweise der Baden-Württembergische Philologenverband auf den vermeintlich „längst als minimal befundenen Nutzen des frühen Fremdsprachenlernens“ (Philologenverband 2017a), kam von Seiten der Eltern und auch der Schülerinnen und Schüler hauptsächlich Kritik an der durch die Politik festgelegten Fremdsprache: im Rheintal Französisch und im übrigen Bundesland Englisch. Der Grundgedanke des Projektes, im Rheintal eine bessere Verständigung mit den Menschen im benachbarten Frankreich zu fördern, sei durch „Zwangsfranzösisch“ (Braun 2011) nicht erreichbar, da das Französische – anders als das Englische – auch im Rheintal nicht alltäglich sei: „Seither büffeln die Sechs- bis Zehnjährigen französische Vokabeln – obwohl sie oft lieber englische Songtexte übersetzen und die Begleittexte ihrer Star-Wars- oder Pokémon-Karten durchschauen würden“ (Braun 2011). Während sich Öffentlichkeit und Wissenschaft nach wie vor über den Nutzen des Projektes streiten (zur Pro-Argumentation vergleiche Maldacker/Ziedler 2017, zur Contra-Argumentation vergleiche Philologenverband 2017a), wurden auf juristischem und politischem Wege Fakten geschaffen. Das Vorhaben, Französisch im Rheintal auch ab Klasse 5 als verbindliche Fremdsprache einzuführen, wurde 2007 gerichtlich gestoppt (vergleiche Schmiedekampf 2007). Zehn Jahre später wurde dann auch in Baden-Württembergs Grundschulen der Beginn des Fremdsprachenunterrichts von der ersten in die dritte Klasse verschoben, was einerseits begrüßt (vergleiche Philologenverband 2017b), andererseits als „falsches Signal“ (Maldacker/Ziedler 2017) kritisiert wurde. Begründet wurde dieser Schritt allerdings nicht mit sprachlichen Beweggründen, sondern mit Lehrkräftemangel. Da auch die Interpretationen der herangezogenen Studien über den frühen Fremdsprachenunterricht sehr unterschiedlich ausfallen (vergleiche Völzing 2017), bleibt abzuwarten, wie endgültig dieser Schlussstrich des Herbstes 2017 tatsächlich sein wird. Mehrsprachigkeit bleibt ein Politikum mit dem Potenzial, allseits die Gemüter auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu erhitzen – wenngleich es glücklicherweise kaum mehr zu erwarten sein dürfte, dass ein Baden-Württembergischer Ministerpräsident von Abgeordneten aus dem Rheintal wegen solcherlei Angelegenheiten zum Zweikampf gefordert werden würde. Mit dieser Erkenntnis kehren wir fast exakt 120 Jahre zurück in die Geschichte der k. u. k.-Monarchie, wo genau so etwas passiert ist. Hier zeigt sich ein anderes als das von Sperber gezeichnete Bild einer vergleichsweise friedlichen mehrsprachigen Koexistenz.
Am 25. September 1897 fand in Wien ein Pistolenduell statt. Die Duellanten waren Graf Kasimir Felix Badeni, der amtierende Ministerpräsident Cisleithaniens (der Name der westlichen Reichshälfte Österreich-Ungarns) und der Parlamentsabgeordnete Karl Hermann Wolf, welcher das Duell letztlich für sich entscheiden konnte. Ursache für diesen Tiefpunkt europäischer Parlamentsgeschichte waren die Sprachenverordnungen für die Provinzen Böhmen und Mähren, die die Regierung unter Badeni ein knappes halbes Jahr zuvor erlassen hatte. Sie hatten den Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn schon damals an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Was war geschehen?
Die Monarchie der Habsburger war seit dem sogenannten Ausgleich mit Ungarn im Jahr 1867 ein föderales Staatsgebilde, dessen beide Reichsteile Cis- und Transleithanien weitgehende innenpolitische Autonomie genossen, inklusive eigener Regierungen und eigener Parlamente. Beide Reichsteile entwickelten sich seither auseinander: Während die östliche Reichshälfte zunehmend zentralistisch regiert und durch die ungarische Sprache und Kultur dominiert wurde, zerfiel die westliche Reichshälfte in viele kleinere Länder, die ihrerseits eine nicht geringe Autonomie besaßen. Die verschiedenen Nationalitäten – nach offizieller Zählung gab es elf – waren laut Verfassung gleichberechtigt. Deshalb ist es problematisch, in diesem Zusammenhang von Österreich zu sprechen. Diese Bezeichnung wurde in erster Linie von den Deutschösterreicherinnen und Deutschösterreichern gebraucht und von vielen Angehörigen nichtdeutscher Nationalitäten abgelehnt. Da eine allgemein akzeptierte Bezeichnung jedoch nicht gefunden werden konnte, wurde die offizielle Bezeichnung der westlichen Reichshälfte von ihrem Parlament abgeleitet und nannte sich „die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“. Offizielles Kürzel im Verwaltungsverkehr war „k.k.“ – im Gegensatz zu „k.u.k.“, was den österreichisch-ungarischen Gesamtstaat betraf; inoffiziell gebräuchlichste Bezeichnung war Cisleithanien (vergleiche Hamann 2012: 127–135). Schon auf dieser ganz praktischen verwaltungstechnischen Ebene spielen Sprache und Sprach(en)gebrauch eine wichtige Rolle. Dies trifft auf die gesamte cisleithanische Politik zu, denn eine einheitliche offizielle Landessprache gab es hier – anders als im ungarischen Reichsteil – nicht. Die Nationalitäten wurden über ihre Sprachen definiert. So wurden bei Volkszählungen die Menschen entsprechend ihrer Umgangssprache den entsprechenden Nationalitäten zugeordnet. Das Jiddisch Manès Sperbers galt hierbei als Deutsch: grundsätzlich wurde das Judentum zwar nicht als Nationalität anerkannt, besaß allerdings alle bürgerlichen Rechte (vergleiche Hamann 2012: 128).
Die Gleichberechtigung der Nationalitäten war im Artikel 19 des „Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ von 1867 geregelt. Dieser lautet wie folgt:
Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.
Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt.
In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält. (Staatsgrundgesetz 1867)
Der Verfassungsartikel zeigt in Bezug auf Mehrsprachigkeit eine deutliche Ambivalenz auf: Einerseits wird im Absatz 2 die Gleichberechtigung jeder „landesüblichen“ Sprache festgehalten, andererseits wird durch Absatz 1 und insbesondere Absatz 3 bestimmt, dass niemand zum Erlernen einer anderen Landessprache verpflichtet werden kann. Dieses in seiner Intention vielleicht durchaus gut gemeinte „Sprachenzwangsverbot“ (Burger 1994: 80) wirkte sich letztlich verhängnisvoll aus, da es in einem zunehmend nationalistisch aufgeladenen politischen Klima eher eine Abschottung der Nationen gegeneinander denn ihre gegenseitige Verständigung begünstigte. In dieser Gemengelage waren die Sprachenverordnungen der Regierung unter Badeni von 1897 ein Versuch, für die schon lange schwelenden Konflikte in den sowohl von ethnischen Deutschen als auch von Tschechen bewohnten Gebieten Böhmens und Mährens eine für alle Seiten akzeptable und auch für den Verwaltungsapparat handhabbare Kompromisslösung zu finden. Was besagten die Verordnungen? Nachdem bereits 1880 die Sprachen Deutsch und Tschechisch im äußeren Amtsgebrauch gleichgestellt worden waren (was die Behörden dazu verpflichtete, an sie gestellte Anträge in derjenigen Sprache zu beantworten, in der sie gestellt wurden), sollte die Gleichstellung auch auf den inneren und innersten Amtsgebrauch (die Kommunikation zwischen Behörden und innerhalb einer Behörde) und offiziellen Schriftverkehr ausgeweitet werden. Das hätte de facto „die zweisprachige Amtsführung fast aller Zivilbehörden“ (Burger 1994: 79) bedeutet. Hierfür – und das war der eigentliche Auslöser des Konflikts – wurde verfügt, dass alle staatlichen Beamten in Böhmen und Mähren, sofern sie nicht bereits zweisprachig waren, binnen drei Jahren mündliche und schriftliche Kenntnisse in beiden Sprachen nachzuweisen gehabt hätten (vergleiche Burger 1994: 79).
Aufgabe zur Inputverarbeitung
Machen Sie sich Gedanken zum Thema „Sprachenlernen unter Zwang“.
Welche Aspekte werden im Text beschrieben? Welche Effekte (positive? negative?) hat das Lernen unter „Zwang“?
Erscheint es sinnvoll, Menschen zum Lernen anderer Sprachen zu zwingen? Was spricht dafür, was dagegen?
Mit dem Abstand von mehr als einem Jahrhundert betrachtet, fällt es uns heute vielleicht schwer, hier eine besondere Ungerechtigkeit zu erkennen. Durch die Verordnungen sollten die Rechte der deutschsprachigen Bevölkerung in keiner Weise eingeschränkt oder beschnitten werden, die Rechtsgültigkeit der deutschen Sprache wurde nirgendwo reduziert. Es sollten lediglich bis dahin bestehende Einschränkungen für den Gebrauch der tschechischen Sprache beseitigt und durch die Zweisprachigkeit eine echte Gleichstellung zwischen beiden Volksgruppen hergestellt werden. Das erscheint bei einem deutschsprachigen Bevölkerungsanteil von 37 % in Böhmen beziehungsweise 28 % in Mähren (vergleiche Burger 1994: 80) aus heutiger Sicht nachvollziehbar. Im damaligen, durch den nationalistischen Zeitgeist geprägten, politischen und gesellschaftlichen Klima stieß die Regierung mit diesen Verordnungen allerdings regelrecht in ein Wespennest. Ein Sturm der Entrüstung brach gegen die Verordnungen los; der Verlust ihrer bisherigen sprachlichen Privilegien wurde von großen Teilen der deutschsprachigen Bevölkerung als „Vergewaltigung des Deutschtums“ (Jaworski 2009: 3) erachtet. Hier mischte sich der teils über Jahrzehnte aufgebaute Nationalismus mit Ängsten vor dem eigenen sozialen Abstieg (vergleiche Krzoska 2005: 151–154). Schließlich verfügten viele ethnische Deutsche – auch Beamte – in diesen Gebieten nicht über tschechische Sprachkenntnisse, während viele Tschechen (wohl auch aus Gründen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, wie sie auch Sperber beschreibt) zweisprachig waren (vergleiche Burger 1994: 80). Die nationalistische Stimmung wurde angeheizt durch deutschnationale Politiker wie Karl Hermann Wolf, den Duellgegner Badenis. Er hatte im Parlament formuliert, dass das Erlernen des Tschechischen als „Sprache eines solchen culturell minderwertigen Volkes“ (Protokolle 1897: 523; vergleiche auch Burger 1994: 82) den Deutschen in Böhmen nicht zumutbar sei. Auch durch damals neue Medien wie nationalistische Postkarten wurde der Streit weiter transportiert und erlangte eine zuvor kaum gekannte Reichweite. Karikaturen mit markigen Sprüchen wie „Auf, Germanen! Schützet eure Marken!“ (Jaworski 2009: 11) zeigen, dass der Streit längst über einen reinen Sprachenkonflikt hinaus gegangen war. Auch die Tatsache, dass Ministerpräsident Badeni polnischer Abstammung war, wurde von den Deutschnationalen als Argument gegen seine Regierung sowie das gesamte gemischtnationale politische Establishment der Monarchie angeführt (vergleiche Hamann 2012: 379). In den Folgemonaten kam es erst in böhmischen, dann in anderen österreichischen und schließlich auch in deutschen Städten zu Protestdemonstrationen und Tumulten, während das Parlament in Wien durch Obstruktion lahmgelegt wurde: Dauerreden, Störrufe, Beleidigungen bis hin zu Handgreiflichkeiten machten jede politische Arbeit dort unmöglich. Nach dem Duell zwischen Badeni und Wolf sowie einer Massenschlägerei im Parlament, die nur durch das Eingreifen der Polizei beendet werden konnte, war die Regierung Badeni zum Rücktritt gezwungen (vergleiche Hamann 2012: 380). Die Nachfolgeregierung milderte die Sprachenverordnungen zunächst ab und hob sie ein Jahr später ganz auf. Das wiederum löste wütende Proteste von tschechischer Seite und Tumulte in Prag aus. Im deutsch-tschechischen Sprachenstreit konnte bis zum Ende der Donaumonarchie keine Einigung erzielt werden, nicht zuletzt deshalb, weil auf allen Seiten ein enormer politischer Schaden entstanden war. Was von der Badeni-Krise blieb, war die massive Verrohung der politischen Sprache sowie der individuellen und parlamentarischen Umgangsformen (vergleiche Jaworski 2009: 9).
120 Jahre und zwei Weltkriege nach diesem Sprachenstreit sind die expliziten nationalistischen Argumentationen zwar weitgehend aus den Mehrsprachigkeitsdebatten verschwunden. Dennoch tauchen sie mehr oder weniger implizit immer wieder auf. So erschien 2018 ein Interview mit einer Berliner Grundschulrektorin in einer Boulevardzeitung, das über weite Strecken die sozialen Probleme des Stadtteils Neukölln beschreibt: Hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Bildungsstände der vorwiegend eingewanderten Bevölkerung, damit zusammenhängend fehlende Tagesstruktur in den Familien und fehlende Unterstützung der Kinder durch Eltern oder Geschwister. Aufmacher des Interviews waren allerdings keine sozialen Probleme, sondern sprachliche: „Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause Deutsch“ (Bruns 2018). Garniert mit markigen Sprüchen, die sich Vokabeln aus völkischem und militärischem Repertoire („wir sind arabisiert“, „wir stehen an der Front“) (Bruns 2018) bedienen, wird die Ursache der geschilderten Probleme als eine herkunftssprachliche gedeutet, und Mehrsprachigkeit im Kausalzusammenhang mit Herkunft als Grund für die sozialen Probleme beschrieben. Zu der Erkenntnis, dass genau solche Schlüsse jedoch zu kurz gegriffen sind, und dass die Themenvielfalt der Mehrsprachigkeit viel komplexer ist, wollen wir mit den Lerneinheiten des vorliegenden Buches einen Beitrag leisten.
Transferaufgabe 2
Am 21. Februar ist „Internationaler Tag der Muttersprache“.
Recherchieren Sie zu den Hintergründen seiner Entstehung.
Diskutieren Sie: Ist ein solcher Tag in einer globalisierten Welt – in der schon jetzt viele Menschen mehrsprachig sind und perspektivisch noch viel mehr Menschen mehrsprachig sein werden – zeitgemäß? Was spricht dafür, was spricht dagegen? Oder sollte es vielleicht eher „Tag der Muttersprachen“ heißen?…
Diskutieren Sie die Begriffe „Muttersprache“ versus „Erstsprache“, indem Sie für beide Argumente sammeln.
[evtl. Abschlussaufgabe:] Diskutieren Sie anhand des Textes der Lerneinheit und Ihrer Erkenntnisse aus den bereits bearbeiteten Aufgaben das Verhältnis zwischen Sprache, Kultur, nationaler Identität und Politik.
Wie wir gesehen haben, ist Mehrsprachigkeit keinesfalls ein neues Phänomen unserer heutigen globalisierten Gesellschaft. Sie existierte seit jeher und führte auch früher schon zu teils heftigen Kontroversen, insbesondere wenn es um Sprachenpolitik ging. Das zeigt der Vergleich zwischen der Habsburgischen Monarchie und der Europäischen Union. Die europäische Sprachenpolitik unterscheidet sich jedoch deutlich von derjenigen des historischen kaiserlichen Österreich: Anstelle des „Sprachenzwangsverbots“ (Burger 1994: 80) im Habsburgerreich, das letztlich die Entfremdung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen voneinander begünstigte, beschloss der Europäische Rat im März 2002, die Mehrsprachigkeit der EU-Bürgerinnen und -Bürger durch das Barcelona-Ziel 1+2Barcelona-Ziel 1+2 zu fördern. Diese Maßnahme sieht vor, dass jedes Kind in der EU neben seiner/n Erstsprache(n) mindestens Grundkenntnisse zweier Fremdsprachen erlernen sollte (vergleiche Europäischer Rat 2002: 19). Doch auch diese Forderung löst Diskussionen aus, wie wir beispielhaft an der Debatte um das „Zwangsfranzösisch“ (Braun 2011) in Baden-Württemberg gezeigt haben. Dabei ist es mit Sicherheit richtig, dass ein Lernen unter Zwang keinesfalls einen optimalen Zustand darstellt. Ebenso richtig ist allerdings auch, dass sich manche Lerneffekte und Lernerfolge erst retrospektiv angemessen einordnen und beurteilen lassen, wie es der bereits eingangs zitierte Manès Sperber formulierte: „Wir klagten zwar über diesen Zwang, wir waren aber deshalb nicht unzufrieden, im Gegenteil“ (Sperber 1983: 63).
Experiment
Diskutieren Sie die Folgen des „Sprachenzwangsverbots“ Österreich-Ungarns vergleichend mit der 1+2-Formel der EU. Was sind die Intentionen/Ziele, was die Folgen?
[Das könnten Sie auch als Debattier-Experiment gestalten. Bilden Sie dazu im Kurs zwei Gruppen und sammeln Sie Pro- und Contra-Argumente für beide Politiken. Veranstalten Sie anschließend eine Podiumsdiskussion, in der die verschiedenen Standpunkte diskutiert werden. Wählen Sie dazu eine/n neutrale/n Moderator/in und schicken Sie aus jeder Gruppe 2–3 Personen zur Diskussion aufs Podium.]
Die Frage, was und wie aus historischen Begebenheiten und Entwicklungen zu lernen ist, ist so alt wie die Geschichtsschreibung selbst. Die hier dargestellten Beispiele zeigen jedoch, dass sich der historische Vergleich gerade im Bereich der Mehrsprachigkeit lohnt.
Das Beispiel Sperbers und seines Geburtslandes Österreich-Ungarn zeigt eine Gesellschaft, in der Mehrsprachigkeit einerseits zum gelebten Alltag gehörte, andererseits aber zum thematischen Austragungsort politischer und sozialer Konflikte wurde.
Auch in der Gegenwart kann das Thema Mehrsprachigkeit zu Konflikten führen, wie das Beispiel des Fremdsprachenstreits in der Schulpolitik Baden-Württembergs zeigt.
Damals wie heute wurden und werden dabei sprachliche Konflikte mit ethnischen bzw. sozialen vermischt.
Vor diesem Hintergrund ist das Barcelona-Ziel 1+2 der Europäischen Union ein Versuch, durch Mehrsprachigkeit eine Chance zu eröffnen, das gegen- und wechselseitige Verständnis zu fördern.
Maßnahmen – sprachenpolitische auf der institutionellen ebenso wie didaktische auf der unterrichtlichen Ebene – müssen sehr differenziert betrachtet werden, damit sie nicht kontraproduktiv wirken.
Wie wir gezeigt haben, ist das Thema Mehrsprachigkeit in Geschichte und Gegenwart enorm vielfältig und facettenreich. Wir laden alle Leserinnen und Leser dazu ein, mit Hilfe dieses Buches ihr eigenes Wissen über Mehrsprachigkeit zu erweitern, ihre eigenen Erfahrungen, Hintergründe und Einstellungen zu reflektieren und Mehrsprachigkeit so auch als Bereicherung des (eigenen) Lebens wahrzunehmen.
Weshalb ist das Beispiel Österreich-Ungarn geeignet, um einen historischen Bezug zum Themenkomplex Mehrsprachigkeit herzustellen?
Welche drei Dimensionen von Mehrsprachigkeit erfahren wir durch das autobiographische Zitat Sperbers? Veranschaulichen Sie Ihre Antwort unter Angabe eines konkreten Beispiels.
Was wird als „doppelte Halbsprachigkeit“ bezeichnet?
Worin bestand die Krise, die durch die sogenannte „Badeni-Verordnung“ 1897 ausgelöst wurde?
Was ist der grundlegende Unterschied zwischen der Sprachenpolitik Österreich-Ungarns und der der Europäischen Union?
Migrationen und ihre vielschichtigen Einflüsse auf Sprachen bilden seit einigen Jahren verstärkt einen Gegenstand öffentlich und privat geführter Diskurse, auch in Deutschland. Beide sind jedoch keine neuartigen Phänomene unserer gegenwärtigen Zeit, sondern sie bilden Konstanten menschlichen Daseins und menschlicher Lebensgestaltung des homo migrans. Auch sprachlich haben Migrationsbewegungen für alle an ihnen Beteiligten Auswirkungen. Mit Fokus auf die deutsche Sprache beziehen wir Forschungserkenntnisse aus verschiedenen Teildisziplinen der Linguistik ein, die für unser Thema wichtig sind. Das sind zum Beispiel die Migrationslinguistik und die Sprachenkontaktforschung. Wir werden die Begriffe deutsche Sprache und Migration zueinander in Beziehung setzen und sprachliche Abbildungen von Migration, wie beispielsweise Jugendsprachen, mithilfe konkreter Bezüge veranschaulichen. Wir machen deutlich, dass Sprachen in einen (gesellschafts)politischen Zusammenhang zu stellen sind, wenn wir sprachliche Entwicklungen innerhalb von Sprachenräumen oder zwischen diesen fassen und verstehen wollen. Phänomene wie die als Superdiversität (Super-Diversity) bezeichnete urbane Mehrsprachigkeit in den Ballungszentren unserer Welt im 21. Jahrhundert stehen in einer wechselseitigen Bedingtheit mit den komplexen Transformationsprozessen heutiger Gesellschaften. In diesem Zusammenhang erschließt sich, dass individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind.
Lernziele
In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie
ein Verständnis für die Auswirkungen von Migration auf die Entwicklung der deutschen Sprache bekommen und dies in einen historischen Bezug setzen können;
sprachliche Abbildungen von Migration in Deutschland unter linguistischen Gesichtspunkten, insbesondere aus der Sicht der Migrationslinguistik, betrachten und erklären können;
Einflüsse politischer und ökonomischer Entwicklungen und daraus resultierende historische Sprach(en)wandlungsprozesse nachvollziehen und erklären können;
für Mehrsprachigkeit und das Vermischen von Sprachen in Gesellschaften sowie Gemeinschaften in Folge von Sprachenkontakten als Normalfall sensibilisiert werden;
das Phänomen Jugendsprachen als aktuelles Phänomen der deutschen Sprache in den Kontext von Migration einordnen können.
Reflexionsaufgabe
Kennen Sie Menschen, die selbst eine Migrantin oder ein Migrant sind? Gehören Sie selbst oder Familienangehörige zu dieser Personengruppe? Überlegen Sie, vor welchen sprachlichen Herausforderungen Sie oder die Ihnen bekannten Migrantinnen und Migranten standen oder stehen und warum. Reflektieren Sie zudem, welche Auswirkungen diese Situation auf ihren weiteren Lebensweg hatte oder hat, und wie die Herausforderungen bewältigt wurden oder werden. Führen Sie dazu gegebenenfalls ein kurzes Interview.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Sprache als eine solche zu definieren und so zum Beispiel von einer Sprachvarietät abzugrenzen. Aus Gründen der vermeintlichen Eindeutigkeit und Klarheit werden Sprachen häufig über ihr Vorhandensein innerhalb eines bestimmten geografischen Raumes definiert. Ist dieser Raum ein Staat, sprechen wir von NationalsprachenNationalsprachen. Diese stellen jedoch häufig kein homogenes Gebilde dar, sondern bergen viele sprachliche Facetten, die ihrerseits wieder Spiegelbilder sozialer, politischer, gesellschaftlicher und vieler weiterer Gegebenheiten, Bedingungen und Entwicklungen sind. Sprachen können als primär sozial konstruiert betrachtet werden und sind dann immer auch Ausdruck von Machtverhältnissen (vergleiche Blommaert/García/Kress/Larsen-Freeman 2019; García/Wei 2014; Otheguy/García/Reid 2015).
Transferaufgabe 1
Gesellschaftliche Machtverhältnisse bilden sich auch durch den Gebrauch von Sprachenregistern ab, zu denen nicht unbedingt alle Sprecherinnen und Sprecher Zugang haben. So bestehen im Deutschen im medizinischen Bereich parallel zu den lateinischen Fachausdrücken, die in der Regel die Ärztinnen und Ärzte verwenden, vulgärsprachliche deutsche Ausdrücke, die in der Regel die Patientinnen und Patienten verwenden – beispielsweise ‚Gelbsucht‘ für ‚Hepatitis‘, ‚Blinddarm‘ für ‚Appendix‘ oder ‚Schlaganfall‘ für ‚Apoplex‘. Dies kann im Kontext von Migration oder Arbeitsmigration, aber auch im erstsprachlichen Patientinnen- und Patientengespräch durchaus problematisch sein. Überlegen Sie mögliche Implikationen für die Situationen Diagnose und Therapie. Inwiefern kann ein lebensnaher DaF/DaZ-Unterricht diese Implikationen thematisieren? Wie könnten konkrete Unterrichtsideen gestaltet werden?
Selbst wenn wir Sprachen als Nationalsprachen spezifizieren, können diese ein Konglomerat aus mehreren „Sprachsystemen“ (Ammon 2015: 107) bilden. Der Sprachgebrauch innerhalb der einzelnen Sprachsysteme kann unterschiedlichen Konventionen und Regeln folgen. Diese situationsabhängigen Konventionen leiten sich aus ihren jeweiligen komplexen sozialen Kontexten ab. Wir sprechen von Sprachregistern. Als Antwort auf die Frage „Mit wem sprichst du welches Deutsch?“ kann die deutsche Sprache „als eine Menge von Varietäten“ (Ammon 2015: 108) zusammengefasst werden. Der sprachliche Weg von den Anfängen der deutschen Sprache bis zu unserem heute in der Bundesrepublik Deutschland gebräuchlichen Standarddeutsch ist lang. Diese dynamischen Veränderungsprozesse finden kontinuierlich statt und werden mit dem Begriff Sprachwandel gefasst (siehe Lerneinheit 1.3).
Unser Thema verknüpft die beiden Schlüsselbegriffe dieser Lerneinheit, MigrationMigration und Sprachen, miteinander, die in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang vom Menschen als homo migrans (vergleiche Burmeister 2016: 43; Schlaudt 2020: 1). Zahllose wechselseitige, sprachliche und kulturelle Beeinflussungen begleiteten diesen Jahrtausende langen Prozess menschlichen Wanderns. Für die Entwicklung der deutschen Sprache erscheinen uns zwei historische Situationen als besonders entscheidend, nämlich der Sprachenkontakt mit dem Lateinischen und die Reformation. Auf beide wollen wir im Folgenden schlaglichtartig eingehen.
Im Laufe der Entstehung des Imperium Romanum erstreckte sich die römische Expansion auch auf weite Teile des Siedlungsgebiets germanischer Stämme. Die Entsendung römischer Soldaten und ihre oft langjährige Stationierung können wir dabei ebenfalls als eine Form von Migration definieren. In den besetzten Gebieten existierte dann neben den Sprachen der einzelnen Stämme auch die lateinische als Herrschaftssprache. Die Bedeutung des LateinischenLatein gewann im Laufe der Christianisierung noch stärker an Bedeutung, denn sie war die Sprache des Klerus und, neben dem Griechischen, für Jahrhunderte die unangefochtene Bildungs- und Wissenschaftssprache in Europa. Christliche Klöster mit ihren Bibliotheken und Schreibstuben stellten bedeutende kulturelle Zentren dar, die vor allem durch die Anfertigung handschriftlicher Abschriften maßgeblich zur Verbreitung von Schriftzeugnissen beitrugen. Die klösterlichen Übersetzungen in damalige Formen des Deutschen sowie Glossierungen, also Formen der Kommentierung und Erläuterung eines Ursprungstextes, erweiterten den deutschen Wortschatz erheblich. Als das älteste deutsche Buch gilt ein Zeugnis des frühen Sprachenkontakts, nämlich ein lateinisch-deutsches Wörterbuch, der Abrogans, aus der Zeit um 765 (vergleiche Meid 2004: 12). Ein unterschiedlicher Sprachengebrauch im Mündlichen und Schriftlichen begann sich zu etablieren.
Als einen weiteren, für die deutsche Sprache entscheidenden historischen Moment erachten wir die Zeit der ReformationReformation. Luther und seinen Mitstreitern gelang es, die Allmacht des Lateinischen als Schrift-, Bildungs- und Wissenschaftssprache zur säkularen und insbesondere klerikalen Herrschaftssicherung ins Wanken zu bringen. Die Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen und Hebräischen ins („Volks“-)Deutsche sowie die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg führten zu einer massenhaften Verbreitung der neuen Ideen in deutscher Sprache vor allem via Flugschriften. In seinem Sendbrief vom Dolmetschen (1530) formulierte Luther die ihn leitenden Übersetzungsprinzipien. Die poetischen Wortschöpfungen und die bildliche Sprachgewalt seiner Übertragungen ins Deutsche wirken bis heute und trugen maßgeblich zur Prestigesteigerung des Deutschen bei. Das Zeitalter der Reformation markiert in Europa historisch den Beginn der Neuzeit (ab circa 1500) und sprachlich den Beginn des Neuhochdeutschen, zu dem auch unsere heute verwendeten Formen des Deutschen zählen. Eine Periodisierung der deutschen Sprache finden Sie in Lerneinheit 1.3.
Aufgabe zur Inputverarbeitung 1
Lesen Sie den folgenden Auszug aus Martin Luthers Sendbrief vom Dolmetschen (1530).
Jedoch habe ich anderswo „sola fide“ gebraucht und will auch beides, „solum“ und „sola“, haben. Ich hab mich des beflissen im Dolmetschen, daß ich rein und klar Deutsch geben möchte. Und ist uns sehr oft begegnet, daß wir vierzehn Tage, drei, vier Wochen haben ein einziges Wort gesucht und gefragt, haben’s dennoch zuweilen nicht gefunden. Im Hiob arbeiteten wir also, Magister Philips, Aurogallus und ich, daß wir in vier Tagen zuweilen kaum drei Zeilen konnten fertigen. Lieber – nun es verdeutscht und bereit ist, kann’s ein jeder lesen und meistern. Es läuft jetzt einer mit den Augen durch drei, vier Blätter und stößt nicht einmal an, wird aber nicht gewahr, welche Wacken und Klötze da gelegen sind, wo er jetzt drüber hingehet wie über ein gehobelt Brett, wo wir haben müssen schwitzen und uns ängsten, ehe denn wir solche Wacken und Klötze aus dem Wege räumeten, auf daß man könnte so fein dahergehen. Es ist gut pflügen, wenn der Acker gereinigt ist. Aber den Wald und die Stubben ausroden und den Acker zurichten, da will niemand heran.
Quelle: https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/wp-content/uploads/sendbrief.pdf
Können Sie die hier beschriebenen Nöte des Übersetzens nachvollziehen? Welchen Ansprüchen wollten Luther und seine Mitübersetzer genügen?
Im Jahr 2000 wurde die Gute Nachricht Bibel veröffentlicht. Sie stellt eine Übertragung in heute gebräuchliches und verständliches Deutsch aus hebräischen, aramäischen und griechischen Ausgangstexten dar. Auffallend sind eine Fülle an Fußnoten, die den Bibeltext immer wieder kontextualisieren und erläutern. In ihrem Nachwort heißt es:
Neu ins Blickfeld trat bei der Revision von 1997 [der Bibel in heutigem Deutsch] der Gesichtspunkt einer frauengerechten Wiedergabe. Es ging dabei nicht um ein Zugeständnis an den „Zeitgeist“, sondern um das berechtigte Anliegen heutiger Frauen, sich durch die Sprachform der Übersetzung nicht ausgegrenzt zu sehen; außerdem waren traditionelle Fehlübersetzungen aufgrund der früher vorherrschenden männerzentrierten Sichtweise auf den Prüfstand zu stellen. (Deutsche Bibelgesellschaft 2000: 348)
Auch aufgrund dieser Sichtweise gab es viel Kritik an dieser neuen Übersetzung. Überlegen Sie mögliche Gründe hierfür und formulieren Sie Ihren eigenen Standpunkt.
Der Begriff Migration leitet sich aus dem lateinischen Wort migrare ab und bedeutet ‚(aus)wandern‘, ‚aus-, wegziehen‘, ‚übersiedeln‘. Die Geschichte des Menschen als eine des unablässigen Wanderns gestaltet sich analog zu ihrer zeitlichen Dimension sehr vielfältig. Ursprünglich wohl vor allem in Form von Nomadismus, erfolgen Wanderbewegungen vielfach als Reaktion auf äußere Einflüsse, oft als Flucht vor etwas oder jemandem. Als ein historisches Beispiel kann hierfür die als Völkerwanderung bezeichnete massenhafte Migrationsbewegung ganzer Ethnien zwischen etwa 375 und 568 n. Chr. gen Westen dienen. Sie wurde vor allem durch den Einfall der Hunnen in fremde Siedlungsgebiete im Osten Europas ausgelöst und stellt eine Fluchtbewegung dar (vergleiche Historisches Museum der Pfalz Speyer 2007: 39–46). Mit Blick auf die Gegenwart stellen wir fest, dass sich historische und gegenwärtige Migrationsbewegungen zum einen sehr ähneln, zum anderen sind neue Formen hinzugekommen. So spielt Nomadismus sowohl in vergangener als auch in gegenwärtiger Zeit eine Rolle, Arbeits- oder Bildungsmigration sind hingegen zeitgenössische Formen. In dieser Lerneinheit verstehen wir unter Migration in unserer heutigen Zeit Folgendes:
Migration bezeichnet im Allgemeinen die längerfristige Verlegung des Lebensmittelpunkts über eine größere Entfernung und administrative Grenze hinweg: etwa vom Dorf in die Stadt, zwischen Landesteilen oder über Staatsgrenzen hinweg. Damit unterscheidet sich diese Form menschlicher Mobilität von anderen, etwa dem täglichen Pendeln zur Arbeit oder touristischem Reisen, denn eine Verlegung des Lebensmittelpunktes findet bei diesen Mobilitätsformen nicht statt. Darüber, wie groß die Entfernung und wie lange der Zeitraum sein muss, um menschliche Bewegung als Migration bezeichnen zu können, gibt es keine allgemein anerkannte Definition. Einen Richtwert bietet die Definition der Vereinten Nationen, die Migration als Wohnsitznahme in einem anderen Land mit einer Dauer von mehr als drei Monaten (Kurzzeitmigration bzw. temporäre Migration) oder mehr als einem Jahr (Langzeit- bzw. dauerhafte Migration) fasst. (Bundeszentrale für politische Bildung 2018)
Diese „in der Neuzeit [verschiedenen] Erscheinungsformen globaler räumlicher Bevölkerungsbewegungen“ (Oltmer 2016a: 18) lassen sich mit folgender Tabelle unterscheiden:
Formen
Merkmale, Teilphänomene und Beispiele
Arbeitswanderung
Migration zur Aufnahme unselbstständiger Erwerbstätigkeit in Gewerbe, Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungsbereich
Bildungs- und Ausbildungswanderung
Migration zum Erwerb schulischer, akademischer oder beruflicher Qualifikationen (Schülerinnen und Schüler, Studierende, Lehrlinge/Auszubildende)
Dienstmädchen-/
Hausarbeiter- und Hausarbeiterinnenwanderung
Migration im Feld der haushaltsnahen Dienstleistungen, häufig gekennzeichnet durch relativ enge Bindung an eine Arbeitgeberfamilie, ungeregelte Arbeitszeiten und prekäre Lohnverhältnisse
Entsendung
Grenzüberschreitende, temporäre Entsendung im Rahmen und im Auftrag von Organisationen/ Unternehmen:<Expatriats>/<Expats>; Kaufleute und Händlerwanderungen zur Etablierung/Aufrechterhaltung von Handelsfilialen; Migration im Rahmen eines militärischen Apparates (Söldner, Soldaten, Seeleute), von Beamten oder von Missionaren
Gesellenwanderung
Wissens- und Technologietransfer durch Migration im Handwerk, Steuerungsinstrument in gewerblichen Arbeitsmärkten durch Zünfte
Gewaltmigration
Migration, die sich alternativlos aus einer Nötigung zur Abwanderung aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen ergibt (Flucht, Vertreibung, Deportation, Umsiedlung)
Heirats- und Liebeswanderung
Wechsel des geographischen und sozialen Raumes wegen einer Heirat oder einer Liebesbeziehung
Lebensstil-Migration
Migration finanziell weitgehend unabhängiger Personen (nicht selten Senioren) aus vornehmlich kulturellen, klimatischen oder gesundheitlichen Erwägungen
Nomadismus/ Migration als Struktur
Permanente oder wiederholte Bewegung zur Nutzung natürlicher, ökonomischer und sozialer Ressourcen durch Viehzüchter, brandrodende Bauern, Gewerbetreibende oder Dienstleister
Siedlungswanderung
Migration mit dem Ziel des Erwerbs von Bodenbesitz zur landwirtschaftlichen Bearbeitung
Sklaven- und Menschenhandel
Migration (Deportation) zur Realisierung von Zwangsarbeit, d. h. jeder Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendwelcher Strafen verlangt wird
Wanderarbeit
Arbeitswanderung im Umherziehen, ortlose Wanderarbeitskräfte finden sich vor allem im Baugewerbe (Eisenbahnbau, Kanalbau, andere Großbaustellen)
Wanderhandel
Handelstätigkeit im Umherziehen, meist Klein- und Kleinsthandel, z. B. Hausierer
Migrationsformen (Oltmer 2016a: 18–19)
Diese Unterscheidungen sind wesentlich für unseren Kontext Mehrsprachigkeit. Ob ein Mensch freiwillig oder gezwungenermaßen, geplant oder überstürzt seinen Lebensort wechselt, ob er sich darauf lange, auch sprachlich, vorbereiten kann oder in Folge eines ungewollten Gestrandetseins eine neue Sprache erlernen muss – die Frage nach ihrem Flucht- oder Migrationsgrund ist für die ex- und intrinsische Motivation von Lernern von entscheidender Bedeutung und kann für den Lernerfolg maßgeblich sein. Seit den 1990er Jahren hat das Themenfeld Migration vor allem als Gewaltmigration (vergleiche Oltmer 2016b), also als Folge von Krieg, Vertreibung, Verfolgung oder Klimaveränderungen, an Relevanz und auch Brisanz zugenommen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt, dass sich Stand Mai 2024 114 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht befanden (vergleiche UNO Flüchtlingshilfe o. J.). Vermutlich wird diese Zahl weiter anwachsen und die Thematik damit weiterhin aktuell bleiben (vergleiche Oltmer 2018). Flucht wird so zu einer globalen Herausforderung unseres Jahrhunderts.
Experiment 1
Im Laufe der bundesdeutschen Debatte um geflüchtete Menschen wurde die Verwendung des Wortes Flüchtling stark kritisiert. Alternativ wird häufig von Geflüchteten gesprochen. Recherchieren Sie verschiedene Standpunkte dieser Debatte und beziehen Sie Stellung. Konfrontieren Sie dann eine/n Bekannte/n mit Ihrer Stellungnahme. Wie reagiert Ihr Gegenüber?