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Thomas Thwaites, freier Designer und fest angestellter Dogsitter, ist Anfang Dreißig und steckt in der Krise. Seine Freunde benehmen sich zunehmend wie Erwachsene, während Thwaites immer noch zu Hause seinem Vater auf der Tasche sitzt. Glücklicherweise bietet ein Forschungsstipendium den perfekten Ausweg: die Chance, sich von den Komplikationen des Menschseins zu erholen. Alles was er dafür tun muss: sich in eine Ziege verwandeln. Was folgt, ist eine urkomische und surreale Reise durch Technik, Design und Psychologie, bei der Thwaites Neurowissenschaftler, Tierverhaltensforscher, Prothetiker, Mitarbeiter von Ziegenheimen und Ziegenhirten interviewt. Auf dieser Grundlage baut er sein perfektes Ziegenkostüm - künstliche Beine, einen Helm, einen Brustschutz, einen Regenmantel von seiner Mutter und einen prothetischen Ziegenmagen, um Gras zu verdauen (mit Hilfe eines Schnellkochtopfs und eines Lagerfeuers) - bevor er sich mit einer Herde seiner Artgenossen auf vier Beinen auf den Weg über die Alpen macht. Wird er es schaffen? Werden Thwaites und seine Leser entdecken, was es wirklich bedeutet, ein Mensch zu sein?
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Seitenzahl: 204
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Die Originalausgabe ist 2016 unter dem Titel „GoatMan. How I Took a Holiday from Being Human“ bei Princeton Architectural Press erschienen, eine Abteilung von Chronicle Books LLC, San Francisco.
© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Film, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeglicher Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Redaktion und Projektmanagement: Wilhelm Klemm, Susanne Kronester-Ritter
Lektorat: Renate Nöldeke
Schlusskorrektur: Ulla Thomsen
Übersetzung: Heide Horn, Christa Prummer-Lehmair
Covergestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln
eBook-Herstellung: Pia Schwarzmann
ISBN 978-3-8464-0981-7
1. Auflage 2023
GuU 4-0981 06_2023_02
Bildnachweis
Coverabbildung: Tim Bowditch
Fotos: Tim Bowditch; © Brooks Kraft/Corbis; Mark Nunnely; Jenny Paton, Wellcome Trust; Richard Erdoes, Hirschtanz der Tewa im Ohkay Owingeh Pueblo, ca. 1977. Mit freundlicher Genehmigung der Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University; Thomas Thwaites; Benjamin Waterhouse Hawkins, Man, and the elephant, aus: Benjamin Waterhouse Hawkins, A comparative view of the human and animal frame (1860), Tafel sechs. Mit freundlicher Genehmigung des University of Wisconsin Digital Collections Center; Frank Stuart, Nellie, ca. 1950. Mit freundlicher Genehmigung von Reuben Hoggett, cyberneticzoo.com; Kybernetische anthropomorphe Maschine, entwickelt von General Electric in den 1960er-Jahren. Mit freundlicher Genehmigung des miSci, Museum of Innovation & Science, Schenectady, New York; Guilhem Vellut, Les Machines de l’Ile @ Nantes, 2012. flickr.com/photos/ o_0/7936101566. Creative Commons BY 2.0. Bild zugeschnitten; Nicolaas Witsen, Een Schaman ofte Duyvel-priester. From Noord en Oost Tartaryen: Behelzende eene beschryving van verschiedene Tartersche en nabuurige gewesten (M. Schalekamp, 1705), S. 662. Universität Gent, digitalisiert von Google Books; Alphonso Roybal, Jäger- oder Hirschtanz, ca. 1932, aus: C. Szwedzicki, Pueblo Indian Painting; 50 reproductions of watercolor paintings (Nizza, Frankreich, 1932). Mit freundlicher Genehmigung der University of Cincinnati Libraries, Archives and Rare Books Library; Richard Erdoes, Hirschtanz der Tewa im Ohkay Owingeh Pueblo, ca. 1977. Mit freundlicher Genehmigung der Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University; Der Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel. Foto: © Sabrina Stoppe. Mit freundlicher Genehmigung des Museums Ulm, Deutschland;Pendant du Sorcier, Salle du Fond in der Höhle Chauvet-Pont d’Arc (Ardèche, Frankreich). Foto: J.-M. Geneste © MCC/Centre National de Préhistoire; Die Speerszene in der Höhle von Lascaux (Dordogne,Frankreich). Foto: N. Aujoulat © MCC/ Centre National de Préhistoire; Henri Breuil, Le sorcier dansant, Ariège, Frankreich, ca. 1920, aus: H. Bégouën and H. Breuil, Un dessin relevé dans la Caverne des Trois Frères à Montesquieu-Avantès (Ariège), in: Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 64. Jahrgang, Nr. 4, 1920, S. 305. Mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Library, London. Creative Commons BY 4.0; Henri Breuil, Homme masqué en Bison jouant de la flûte, Ariège, Frankreich, ca. 1930, aus: Un dessin de la grotte des Trois frères (Montesquieu-Avantès) Ariège, in: Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, 74. Jahrgang, Nr. 3, 1930, S. 262. Mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Library, London. Creative Commons BY 4.0; Sioban Imms; Vera Marin; © Araldo de Luca/Corbis; Ein Baby, das direkt aus der Zitze einer Ziege gefüttert wird, Postkarte, Havanna, Kuba (Havanna: C. Jordi, ca. 1930). Mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Library, London. Creative Commons BY 4.0; Liberia Official Scott O48, 5-Cent-Briefmarke, Schimpanse, 1906, bigblue1840-1940.blogspot.com/2013/07/ClassicStampsofLiberia1860-1914.html; © Fahad Shadeed/Reuters/Corbis; Austin Houldsworth; Daniel Alexander; Gerard de Lairesse, Kupferstich eines sezierten menschlichen Arms, 1685. Tafel aus der Anatomia Humani Corporis (Bidloo, 1685). Mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Library, London. Creative Commons BY 4.0; Liam Finn McGarry; YiWen Tseng; Dr. Glynn Heath; Eadweard Muybridge, Gehende Ziege, 1887 (Philadelphia: University of Pennsylvania, 1887). Mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Library, London. Creative Commons BY 4.0
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Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur ihre eigene Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.
John Stuart Mill,
Der Utilitarismus (1863)
Gewidmet meinen Eltern
Lyndsay Thwaites und Philip Thwaites
Die Erde dreht sich, der morgendliche Berufsverkehr ist in vollem Gange. Tripp-trapp, hasten die Menschen vorüber, klipp-klapp, die Treppe hoch, auf die Brücke, über die Themse, in die Londoner City zur Arbeit. Männer und Frauen streben entschlossen in dieselbe Richtung. Leute aus der Finanzbranche in Anzug und Krawatte, Kreative in Jackett und Jeans, IT-Typen und all jene, die nicht den kompetenten Powertypen herauskehren wollen, in Jeans und T-Shirt. Mit dem beruflichen Dresscode bei Frauen bin ich nicht so vertraut, aber ich denke, dass es etwas Ähnliches gibt, vielleicht feinere Unterscheidungsmerkmale, die mir nicht auffallen, jedenfalls nicht bewusst (eine Freundin, die mal in einem Louis-Vuitton-Geschäft gearbeitet hat, hat mir erzählt, dass die Verkäuferinnen darauf trainiert waren, eine Frau, die den Laden betrat, nach ihren Haaren zu beurteilen, nicht nach ihrem Outfit. Tadellos sitzende Frisur mit abgerissener Kleidung = exzentrische Aristokratin. Nur abgerissene Kleidung = Obdachlose).
Wie dem auch sei, ich jedenfalls gehöre nicht zu denen, die sich fröhlich auf den Weg ins Büro machen, in Jeans und T-Shirt (oder in meinem Fall eher Jackett und Jeans). Warum nicht? Weil ich eine Woche lang auf den Hund meiner Nichte aufpasse. Weil ich es zeitlich einrichten kann. Weil ich keinen (richtigen) Job habe. Und somit auch kein Büro, in das ich gehen könnte. Meine Freundin hat einen richtigen Job und steigt gerade mit klappernden Absätzen die Treppe hoch, um über die Brücke zur Arbeit zu gehen, aber ich bin vorher abgebogen, sitze vor der Filiale einer Café-Kette, den Hund zu meinen Füßen, und sehe zu, wie der Rest der Welt an mir vorbeiströmt.
Diese Szene fasst mein derzeitiges Dasein ganz gut zusammen. Andere marschieren zielstrebig vorbei, kommen weiter auf dem Weg zu ihrem Job, ihrer Karriere und was sonst noch zu ihrem Erwachsenenleben gehört, während ich vor meinem Kaffee sitze und die wichtigste Aufgabe meines Tages darin besteht, Noggin (den Hund) davon abzuhalten, dass er etwas Ekelerregendes vom Gehweg frisst. Ich bin jetzt dreiunddreißig Jahre alt, und allmählich macht es mir ein bisschen Sorgen, dass ich keinen (richtigen) Job habe – naja, wegen der Zukunft. Klar, von meiner Arbeit als freiberuflicher Designer kann ich im Moment leben, doch vielleicht muss ich ja in absehbarer Zeit eine Familie ernähren. Ich bin ein erwachsener Mann, lebe aber (de facto) noch bei meinem Vater (mein Einstieg in den hochpreisigen Londoner Immobilienmarkt steht aus). Gestern wurde mein Antrag auf Eröffnung eines Bankkontos abgelehnt (heute Morgen in einem Brief bestätigt). Und ich warte weiter auf die Antwort von diesem Personalvermittler, dem ich vor zwei Wochen meine Bewerbung geschickt habe.
Okay, okay – schon klar, verglichen mit vielen anderen bin ich ein reiches Söhnchen mit einem weitgespannten Sicherungsnetz (schließlich könnte ich ja auch für immer und ewig bei meinem Vater wohnen bleiben), was mir meine Freundin in unserem Streit gestern Abend ausführlich dargelegt hat. Allerdings hilft es mir in meiner derzeitigen Misere auch nicht weiter, als Scheckbuchhippie bezeichnet zu werden. Auf einem Sicherungsnetz kann man zwar wunderbar ein Weilchen herumhüpfen, aber wenn man im großen Zirkuszelt des Lebens ein sicheres Podest erreichen will, führt nur eine Leiter zum Ziel. Ich sollte inzwischen viel weiter oben sein, wenn ich jemals ein aufstrebender Mann mittleren Alters in komfortablen, gesicherten Verhältnissen sein will. Zumindest sollte ich das Nest verlassen haben und über eine Art geregeltes Einkommen verfügen. Ich bin dreiunddreißig, Mann! Stattdessen … nichts. Und von nichts kommt nichts. Meine Selbstachtung ist auf dem Tiefpunkt.
Ach komm, Thomas, hattest du nicht bereits Erfolg? Eines deiner Projekte (das Toaster-Projekt) wurde vom Victoria and Albert Museum erworben – für unser Land, für die Nachwelt. Um Himmels willen, das ist doch ein Plus! Und für dein Buch über das Toaster-Projekt hast du positives Feedback aus aller Welt erhalten. Noch ein Plus! Du hast eine darauf basierende, vierteilige Fernsehserie moderiert. Ein Plus mehr! Aber: Die Serie war total peinlich und wurde (zum Glück) nur in Vietnam, Australien und Korea (Südkorea, glaube ich) ausgestrahlt. Ein Minus. Das Buch muss ein Glückstreffer, ein Ausreißer gewesen sein, und du bist eine Eintagsfliege (5 × minus). Zudem ist das Toaster-Projekt vier Jahre her! Und jetzt? Du warst oben, jetzt bist du auf dem absteigenden Ast. Während du dich im Erfolg deiner Toastergeschichte gesonnt hast, haben deine Altersgenossen promoviert, Provisionen kassiert, Karriere gemacht, es nach oben geschafft. Dein ältester Freund ist inzwischen (richtiger) Doktor! Neulich musste er beim heldenhaften Versuch, einem Mann das Leben zu retten, mit bloßen Händen in dessen Brustkorb greifen und sein Herz massieren. Leider ist der Mann gestorben, aber trotzdem. Und was machst du, Thomas? Du trinkst Kaffee, wirst alt (1 × minus) und grau (10 × minus) und rettest niemandem das Leben. Es ist, als wäre ich vorn dabei gewesen, dann aber vom Gas gegangen, um anzuhalten und am Begleitgrün zu schnuppern. Nun schaue ich mich um und stelle fest: Jeder, den ich kenne, ist mit irgendwas beschäftigt, mit irgendwas Wichtigem, ist mir weit voraus, und mein Auto springt nicht mehr an. Ich stecke fest. Ich stecke fest in einem großen schwarzen Loch.
Ach Thomas, du Armer. Ich merke, wie selbstbezogen solche Gedanken sind und wie bedeutungslos angesichts der Probleme, mit denen andere kämpfen. Gott sei Dank muss ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, wo meine nächste Mahlzeit herkommt. Aber das sind nun mal meine Sorgen, und sie machen mir gerade zu schaffen.
Haben eigentlich alle Menschen auf der Welt ihre eigene Konstellation von Sorgen, die wie Ebbe und Flut kommen und gehen, die davontreiben, nur um mit aller Macht zurückzukehren? Mein Neffe ist vierdreiviertel Jahre alt und macht sich Sorgen über das Sterben – nicht nur darüber, dass er sterben wird, sondern dass der Tod überhaupt existiert. Dass eines Tages seine Mutter, sein Vater, er und alle anderen unweigerlich sterben werden (eine schockierende Tatsache, wenn man es gerade erst herausgefunden hat). Ja, selbst die Queen hatte zu Lebzeiten Sorgen. Sie wurde in ein äußerst privilegiertes Leben hineingeboren. Was bereitete ihr Unbehagen? Die Bürde der Tradition? Oder die Aussichten ihres Thronerben? Mensch zu sein bedeutet Sorgen zu haben.
Noggin dagegen. Ich vermute mal, dass er Vorlieben (Essensreste auf dem Boden), Abneigungen (allein gelassen zu werden) und vielleicht sogar Wünsche für die unmittelbare Zukunft hat (könnte ich doch diesen Essensrest da drüben fressen), glaube jedoch nicht, dass er sich Sorgen macht. In allen anderen wesentlichen Aspekten gleichen sich Noggin und die inzwischen verstorbene Queen: Essen, Schlafen, Verdauung, Kommunikation, Benutzen von Werkzeugen (Noggin kann das zwar nicht, dazu ist er nicht schlau genug, aber man hat einen Verwandten von ihm, einen Dingo, beobachtet, wie er einen Tisch herumschob, um ihn als Trittleiter zu benutzen). Doch Sorgen?
Um sich über etwas Sorgen zu machen, muss man sich vorstellen können, dass es passieren wird oder nicht. Man muss einen Begriff von der Zukunft haben. Im Moment beschäftige ich mich viel mit der Zukunft und empfinde es als schwierig, mir meine eigene vorzustellen. Aber nicht nur meine mangelnden Aussichten sind bedrückend – dasselbe gilt für die Zukunft der Welt an sich. Wenn man die Nachrichten liest, wird klar, dass wir alle ziemlich in der Scheiße stecken. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird sich zu einer gähnenden Schlucht ausweiten (wobei ich hoffentlich auf Seite der Reichen lande), wir befinden uns mitten im sechsten großen Massenaussterben der Arten (verursacht von uns allen), Ökosysteme werden bis an die Belastungsgrenze strapaziert, dazu noch die Terroristen – grausame Verbrecher, die trotzdem immer mehr Zulauf haben! Der Klimawandel wird die Probleme verschlimmern, sodass wir alle dem Untergang geweiht sind. Dem Untergang! Oh ja, es gibt genug Grund zur Sorge.
Queen: besorgt
Noggin: ohne Sorgen
Wäre es nicht schön, diese speziell menschliche Fähigkeit mal zu vergessen? Ganz im Augenblick zu leben, ohne Gedanken daran, was man getan hat, gerade tut oder tun sollte? Wäre es nicht schön, den Zwängen und Erwartungen nicht nur der Gesellschaft, Kultur und Herkunft, sondern der eigenen Biologie zu entkommen? Den Sorgen zu entfliehen, die mit dem Menschsein verbunden sind? Die komplexe Welt hinter sich zu lassen und Urlaub zu machen, nicht nur von Alltag und Job (wenn man einen hat), sondern vom eigenen Selbst? Eine Auszeit vom Menschsein zu nehmen? Den Ballast abzuwerfen und nur die absoluten Grundbedürfnisse zu befriedigen? Ohne die Annehmlichkeiten der Zivilisation, aber auch ohne alles, was das Leben so kompliziert macht. Leichtfüßig auf der Erde zu wandeln, kein blutiges Leiden zu verursachen, zufrieden von Pflanzen zu leben. Von der unmittelbaren Umgebung völlig in Anspruch genommen zu grasen, auf dem Boden zu schlafen – mehr nicht? Frei und ungebunden durch die Landschaft zu streifen! Wäre es nicht schön, eine Weile lang ein Tier zu sein?
Ach herrje. Erwartungsfroh hatte ich die Betreffzeile gelesen, nach den üblichen Floskeln einer Absage gesucht – wie »nach sorgfältiger Prüfung« –, kurz ein Hochgefühl gehabt, ehe ich mir die Bewerbung, die ich einige Wochen zuvor als Ausweg aus meiner Misere eingereicht hatte, nochmal durchlas. Was stand da? Ach. Ach herrje.
Da stand, dass ich vorhatte, ein Exoskelett zu bauen, das fünf Millionen Jahre menschlicher Evolution rückgängig machen und meine Anatomie als Zweibeiner der eines Vierbeiners anpassen würde. Und einen künstlichen Magen entwickeln würde, um Gras zu essen und zu verdauen. Dass ich meine Augen und Ohren anpassen und meine Sinne trainieren würde. Mithilfe transkranieller Magnetstimulation das Planungs- und Sprachzentrum meines Gehirns ausschalten würde, um das Leben aus der Perspektive eines Elefanten zu erfahren. Und schließlich in diesem Exoskelett als Elefant die Alpen überqueren würde.
Oh Mann, ich bin ein Idiot und habe viel zu viel versprochen. Sie werden merken, dass ich geblufft habe (minus). Mir fehlt die Kraft (noch ein Minus). Es ist lächerlich, sinnlos und gar kein richtiges Designprojekt (minus). Es ist eine Verschwendung von Geld, das man für die Entwicklung eines Krebsmedikaments nutzen könnte (minus). Niemals schaffe ich es vor Wintereinbruch über die Alpen. Ich hätte verdammt noch mal dabeibleiben sollen, Küchengeräte zu fabrizieren.
Es wäre allerdings gut, wenn es funktionieren würde …
The Wellcome Trust
Streng vertraulich
Sehr geehrter Mr. Thwaites,
Kunststipendium
Danke für Ihre Bewerbung im Rahmen unseres Kunstförderprogramms. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihr Antrag auf Finanzierung des Projekts »Ich möchte ein Elefant sein« erfolgreich war. Nach Ansicht des Förderausschusses handelt es sich um die äußerst reizvolle Idee eines vielversprechenden experimentellen Designers. Der Ausschuss ist zuversichtlich, dass der Antragsteller eine qualitativ hochwertige und interessante Arbeit vorlegen wird. Einige Mitglieder wiesen darauf hin, dass der Zeitplan ziemlich eng zu sein scheint, und empfehlen, ihn noch einmal zu überdenken.
Sollten Sie das Stipendium aus irgendeinem Grund nicht annehmen können, kontaktieren Sie uns bitte so bald wie möglich.
Mit freundlichen Grüßen
Jenny Paton
Kunstberaterin
Public Engagement
Stipendien Medical Humanities und Public Engagement
Wellcome Trust
Yep, ich bin definitiv in Kopenhagen. Während ich darauf warte, die Straße überqueren zu können, saust ein durchtrainierter, in Lycra gekleideter Däne auf Rollskiern an mir vorbei (die Rollen machen den fehlenden Schnee wett).
Ich wurde nach Dänemark eingeladen, um eine »Masterclass« (so meine Gastgeber) zu geben, und ich reise über Kopenhagen, weil ich hier jemanden treffen will, der mir hoffentlich bei meinem Elefantenprojekt weiterhelfen kann. Deswegen bin ich jetzt auf der Suche nach einer Adresse namens Ballonparken: ein Viertel im Zentrum Kopenhagens mit einhundert kleinen Holzhäuschen, die im Zweiten Weltkrieg zur Lagerung von Sperrballons errichtet wurden. Inzwischen lebt hier eine »unabhängige, selbstverwaltete Gemeinschaft«; die Häuschen sind zur Heimat für Individualisten geworden, die dem Mainstream etwas entgegensetzen wollen. Unter diesen Individualisten befindet sich auch eine Schamanin, und zu ihr möchte ich.
Meine Sicht auf das Leben hat sich verändert, die in der Einleitung geschilderte melancholische Stimmung ist verflogen. Meine Lebensangst hat sich gelegt, der Streit mit meiner Freundin ist Schnee von gestern, und auch mein selbstbezogenes Kreisen um die eigenen Probleme ist überwunden. Dass ich hier auf eine Einleitung Bezug nehme, bedeutet, dass ich das Manuskript an die Princeton Architectural Press geschickt habe und man wahrscheinlich ein Buch daraus machen will. Wenn ich es denn schaffe, das vermaledeite Ding fertigzustellen. Und falls ja, nun, dann also: »Hallo, geneigter Leser!«
Auch wenn es vielleicht nur daran liegt, dass mein Handy kaputt ist und ich nicht mehr alle fünf Minuten die Nachrichten checken kann – sogar mein Gefühl, dass die Welt am Abgrund steht, ist passé. Natürlich läuft da draußen eine Menge schief, aber vieles geht auch in die richtige Richtung. Die Kluft zwischen Arm und Reich mag wachsen, aber die extreme Armut sinkt. Die Weltbevölkerung wird in ein paar Jahren ihren Höhepunkt erreicht haben und dann abnehmen, und dank technischer Fortschritte werden wir alle ein angenehmes und erfülltes Leben führen, ohne das Klima zu sehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Hurra! (Und die Terroristen? Welche Terroristen? Das sind doch nur die total durchgeknallten Idioten der aktuellen Saison, und jede Generation bringt ihren eigenen Haufen Verrückter hervor.)
Kurzum, mit der Welt und mir geht es aufwärts! Doch während ich richtig gut drauf bin, ist das grandiose Projekt, ein Elefant zu werden, ganz leise zum Stillstand gekommen. Bitte stecken Sie es nicht dem Wellcome Trust, aber ich habe mich um das Thema herumgedrückt, weil ich mit anderen netten Dingen beschäftigt war (wie dieser, äh, Masterclass). Es hat sich nämlich ein grundsätzliches Problem bei meinem Ich-möchte-ein-Elefant-sein-Projekt aufgetan: Ich möchte gar kein Elefant mehr sein.
Für das Elefantendasein hatte ich mich hauptsächlich aus praktischen Gründen entschieden. Als ich dem Wellcome Trust meinen Vorschlag unterbreitete, erschien es mir vom Gestalterischen her eher machbar, ein Elefant zu werden als ein anderes nichtmenschliches Tier, das, wie ich es mir vorstelle, frei durch die Landschaft streift.
Die Evolution: purer Zufall! – Also zufällige Mutation, gefolgt von natürlicher Auslese!
Dabei ging ich von folgenden Annahmen aus: Erstens, der Körper eines Elefanten ist ziemlich groß, sodass ich ausreichend Platz im Innern hätte und keine knifflige Feinmechanik benötigen würde. Zweitens sind Elefanten aufgrund ihrer Größe eher langsam und schwerfällig, oder? Sollte sich also mein Exoskelett als langsam und schwerfällig herausstellen, was ich befürchtete, würde das nichts ausmachen. Und drittens war da noch die Sache mit der Länge des Halses. Für mich der entscheidende Punkt.
Die Halslänge hielt ich deswegen für so wichtig, weil ich mir zwar problemlos vorstellen konnte, meine Arme zu verlängern, um zum Vierfüßer zu werden, mir aber die Fantasie dafür fehlte, wie ich analog dazu meinen Hals verlängern sollte. Elefanten sind also ziemlich einzigartig, da sie grasfressende Tiere sind, obwohl ihr Hals im Verhältnis zu den Beinen recht kurz ist.
Das Wichtigste im Leben eines Tieres ist es, nicht als Futter für andere Tiere zu enden. Um nicht bei lebendigem Leib verschlungen zu werden, können lange Beine und Schnelligkeit entscheidende Vorteile sein. Aber ebenso wichtig ist es natürlich, selbst zu fressen. Pflanzenfressende Vierbeiner ernähren sich hauptsächlich von Gras und Blättern, Futter mit niedriger Energiedichte, was bedeutet, dass sie große Mengen davon zu sich nehmen müssen. Tatsächlich müssen sie etwa 60 Prozent ihrer wachen Zeit mit Fressen verbringen. Und weil sich ihr Futter häufig zu ihren Füßen befindet, ist ein Hals, der lang genug ist, um den Kopf mit möglichst wenig Aufwand nach unten zu neigen, eindeutig von Vorteil.
Bei Elefanten und uns der gleiche kurze Hals. Tafel 6 aus:
A Comparative View of the Human and Animal Frame (1860) von Benjamin Waterhouse Hawkins.
Um also die beiden vorteilhaften Eigenschaften der Schnelligkeit und Effizienz beim Grasen zu optimieren, hat die Evolution dadurch, dass schlechter angepasste Tiere gefressen werden oder verhungern (oder eine grausige Kombination aus beidem), dafür gesorgt, dass die Hälse aller vierbeinigen Pflanzenfresser ungefähr so lang sind wie ihre Beine.1 Nur nicht beim Elefanten.
Beim Elefanten hat die Evolution einen radikal anderen Weg eingeschlagen: die Beine wachsen lassen (und das ganze Tier dazu! – abgesehen vom Hals). Dann muss eben das Futter zum Gesicht und nicht umgekehrt. Und wie? Mit der Nase! So hatte mich unser gemeinsames Merkmal, der (relativ) kurze Hals, auf den Elefanten gebracht.
Doch nun hatte ich kürzlich die Gelegenheit gehabt, nach Südafrika zu reisen (wie gesagt, es ging aufwärts), und natürlich hatte ich an einer Safari teilgenommen, in der Hoffnung, Elefanten zu sehen. Was auch geschah. Aber ihnen in der Wildnis zu begegnen – und dabei beängstigend nahe zu kommen – machte mir klar, dass die meisten Vorteile, die ich Elefanten im Hinblick auf mein Projekt zugeschrieben hatte, nur eine Illusion waren. Der »Vorteil« der imposanten Körpergröße löste sich in Luft auf, als ich sah, wie riesig Elefanten sind. Um wirklich zu fühlen, wie das Leben als Elefant wäre, müsste mein Exoskelett mindestens die Größe eines Familienkombis haben und mir genug Kraft verleihen, einen Baum mühelos umstoßen zu können. Das wäre nur mit eingebautem Motor möglich, und dann hätte ich mehr oder weniger ein Auto mit Beinen. Das ist zwar ein lobenswertes und nicht gänzlich unerforschtes Ziel, aber doch nicht das, worauf ich eigentlich hinauswill.
Und ja, Elefanten haben den so wichtigen kurzen Hals, aber dafür auch den so wichtigen Rüssel. Je mehr ich darüber nachgrübelte, wie ich einen funktionierenden Rüssel zuwege bringen sollte, desto unmöglicher erschien es mir. Das Massachusetts Institute of Technology hat einen künstlichen Rüssel entwickelt, aber erstens bin ich nicht das MIT, und zweitens arbeitet er mit Druckluft. Man müsste einen Kompressor mit sich herumtragen, der wiederum einen Motor benötigen würde, und schon hat man wieder ein Auto mit Beinen. Autos verheißen Freiheit – freie Fahrt für freie Bürger und so –, aber das ist nur eine Freiheit innerhalb des Systems. Ich dagegen wollte mich vom System selbst befreien! Einen brummenden (oder heulenden) Motor mit mir herumzuschleppen (und Benzin nachzufüllen oder Batterien aufzuladen) fühlte sich falsch an. Mir schwebte ein Exoskelett vor, das ich ohne fremde Hilfe bewegen konnte.
Mechanische Elefanten, erstaunlich weit verbreitet.
Auch wenn sich die mechanischen Probleme lösen ließen und man ein Exoskelett bauen könnte, in dem ich mich ebenso groß und stark fühlen würde wie ein Elefant, wurde mir klar, dass es noch ein anderes, tiefgreifenderes Problem mit den Elefanten gab: Ich glaube, sie sind uns Menschen einfach zu ähnlich.
Ziel des Projekts war es, den Sorgen und existenziellen Nöten des Menschseins zu entfliehen, aber allmählich hatte ich den Eindruck, dass es aus psychologischer Sicht gar nicht so erstrebenswert war, ein Elefant zu werden.
Zum einen glaubt man, dass die Elefanten das Prinzip der Sterblichkeit verstehen. Genau wie Menschen kümmern sie sich um ihre im Sterben liegenden Artgenossen. So hat man beispielsweise beobachtet, wie zwei Elefanten sich bemühten, einen anderen todkranken Elefanten aufrecht zu halten. Als er sich dann zum Sterben hinlegte, versuchten sie ihn zu füttern, indem sie ihm mit dem Rüssel Gras ins Maul schoben. Und nachdem der kranke Elefant schließlich gestorben war, wachten sie tagelang bei ihm. Es ist dokumentiert, dass Elefantenfamilien über mehrere Tage hinweg immer wieder die Leiche einer kürzlich verstorbenen Leitkuh besuchten. Elefanten scheinen wirklich um ihre Toten zu trauern. Und wenn sie verendete Artgenossen letztendlich verlassen, bedecken sie den Kadaver manchmal mit Blättern oder Zweigen. Nach einem gewaltsamen Todesfall in der Gruppe, sei es durch Wilderer oder einen gezielten legalen Abschuss, kann es Jahre dauern, bis sich die Verhaltensmuster innerhalb einer Elefantenfamilie wieder normalisiert haben – ein Hinweis darauf, dass sie unter einer Art posttraumatischem Stress leiden. Nur bei wenigen Tierarten, darunter Delfinen, Schimpansen und Gorillas, hat man beobachtet, dass sie die Leiche eines Artgenossen mit Ehrfurcht behandeln.
Doch Elefanten sind die einzige andere Spezies außer uns (und den ausgestorbenen Neandertalern), die eine belegte ritualisierte Reaktion auf die Knochen eines Angehörigen ihrer Spezies zeigen. Finden Elefanten die sonnengebleichten Knochen und Stoßzähne eines Artgenossen, untersuchen sie diese mit dem Rüssel auf gänzlich andere Weise als sonstige sie interessierende Objekte (inklusive Knochen von anderen Tieren).
Mir wurde klar, dass mein Bild der Elefanten stark von den liebevollen Gefühlen beeinflusst war, die ich als Kind für Disneys Dumbo