Mein Leben war nicht, wie es war - Jutta Reichelt - E-Book

Mein Leben war nicht, wie es war E-Book

Jutta Reichelt

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Beschreibung

Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt.« Obwohl sie in ihrer Kindheit sexuellen Übergriffen und emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt war, glaubt Jutta Reichelt jahrzehntelang, das halbwegs normale Kind halbwegs normaler Eltern zu sein. Erst als sie mit Mitte Vierzig in eine existentielle Krise gerät, wird ihr klar, wie wenig mit ihrem Leben stimmt, und sie macht sich auf die Suche – danach, wie es wirklich war und wie sie davon erzählen kann. Viele der Fragen, die sie dabei für sich klären muss, stellen sich nicht erst angesichts einer traumatischen Vergangenheit: Was können wir über uns wissen? Wie weit können wir unseren Erinnerungen trauen? Wo kollidiert unser Recht zu erzählen mit dem Recht anderer, ›unerzählt‹ zu bleiben? Klug und zugleich tief berührend verwebt Jutta Reichelt in diesem essayistischen Text das konkrete Material ihres eigenen Lebens mit den grundlegenden Themen und Fragen, die es aufwirft. Ein hochspannender, schön zu lesender Text, der vorführt, wie wichtig es ist, Auskunft über sich geben zu können. Ein ganz anderer Essay über Traumata und MeToo, über das Schreiben und Erzählen, der inspiriert und ermutigt, über die eigene Lebensgeschichte nachzudenken.

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Seitenzahl: 268

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Jutta Reichelt, 1967, lebt als Schriftstellerin und Geschichtenanstifterin in Bremen. Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet, bereits 2001 erhielt sie den Würth-Preis, zu dem Herta Müller die Laudatio hielt. 2015 erschien der Roman Wiederholte Verdächtigungen, 2020 der literarische Porträtband Blaumeier oder der Möglichkeitssinn. Jutta Reichelt leitet und entwickelt Schreibworkshops und -projekte und bloggt Über das Schreiben von Geschichten. Für die Arbeit am vorliegenden Text erhielt sie 2020 das Literatur-Projektstipendium des Bremer Senators für Kultur.

JUTTA REICHELT

MEIN LEBEN WAR NICHT, WIE ES WAR

Ein autobiografischer Essay über das Erzählen, Traumata und die Überwindung der Sprachlosigkeit

KRÖNER

Jutta Reichelt

Mein Leben war nicht, wie es war

Ein autobiografischer Essay über das Erzählen,

Traumata und die Überwindung der Sprachlosigkeit

1. Auflage

Stuttgart, Kröner 2024

ISBNDRUCK: 978-3-520-91301-2

ISBNE-BOOK: 978-3-520-91391-3

Die Autorin dankt dem Bremer Senator für Kultur für die Unterstützung ihrer schriftstellerischen Arbeit, insbesondere für das Autorenstipendium 2020 und den Aufenthalt im Gästehaus der Bremer Landesvertretung in Berlin.

Umschlaggestaltung: Denis Krnjaic´

Unter Verwendung eines Fotos der Caligari Halle, Babelsberg,

von Panther Media GmbH/Alamy Stock Foto

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© Jutta Reichelt 2024 und © 2024 Alfred Kröner Verlag Stuttgart

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Dieser Text gehört Ulrike Krettmann

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Über die Expedition, die dieser Text unternimmt

Das Murmeln der Phantome

Ein Zusammenbruch – so unverständlich wie absehbar

Ein Trauma hätte die Sache leichter gemacht

Die Entdeckung der Notwendigkeit: Schreiben, als ginge es ums Leben

Und nun doch – eine Schlüsselszene?!

Meine Angst vor falschen Erinnerungen

Es sich nicht vorstellen können

Kinder sind Kollaborateure oder Die Schuld der Opfer

Das Schiff über den Berg ziehen

Ungeplanter Perspektivenwechsel oder Die Geschichte meiner Mutter

Den Monstern geht die Luft aus

Von der Unlust, Opfer zu sein

Meine Geschichte schreibe ich selbst

Darf ich das? oder Wem gehört diese Geschichte?

Wie gut kann diese Geschichte enden?

Literatur

ÜBER DIE EXPEDITION, DIE DIESER TEXT UNTERNIMMT

Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt. Ich habe mich auch über die Sprachlosigkeit geirrt, in der ich mich fast mein ganzes Leben lang befunden habe. Zunächst habe ich sie kaum einmal bemerkt. Und wenn ich sie bemerkte, dann war ich überzeugt, dass ich selbst daran schuld war. Weil es so vieles gab, für das ich mich schämte. Wenn die Scham nicht wäre, habe ich gedacht, dann könnte ich auch von mir erzählen. Von dem, was mich ausmacht. Und als ich dann der Scham allmählich Paroli bieten konnte (nicht zuletzt dank einer langen Therapie, für die ich mich ebenfalls lange geschämt habe) und es mit dem Erzählen noch immer nicht klappte, da war ich mir sicher: Wenn ich mich nur besser erinnern könnte, wenn ich mehr wüsste, dann würden sich meine ›Erzählprobleme‹ auflösen. Aber so war es nicht. Auch als ich endlich genug über das wusste, was mir widerfahren war, verknoteten sich meine Gedanken, sobald ich an mich und meine Vergangenheit nur dachte. Jeder erste Satz brachte mich in Erklärungsnot. Und mit jedem weiteren Satz wurde es nicht klarer, sondern komplizierter. Immer weniger stimmte, je mehr ich erzählte. Und was vielleicht noch seltsamer war: Ich verstand nicht, wie das sein konnte. Was machte das Erzählen noch immer so kompliziert? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass es mir nicht möglich war.

Ich suchte nach Literatur – so wie ich immer nach Literatur suche, wenn mich etwas beschäftigt, wenn ich von einer Frage umgetrieben werde. Ich suchte nach Literatur und war verblüfft, wo ich sie fand: Ich besaß sie längst. Ich fand unzählige Texte, die sich mit Fragen autobiografischen Erzählens beschäftigten, mit Problemen der Erinnerung. Mit der Unmöglichkeit des Erzählens als Traumafolge. Texte über Spaltung. Über Schreiben und Scham. Ich hatte das alles in den vergangenen Jahrzehnten gelesen oder überflogen oder zumindest gesammelt, »einfach so, weil es mich interessierte«, oft ohne dass ich einen Bezug zu mir, zu meinem eigenen Leben gesehen hätte oder auch nur ein verbindendes Thema. Und nun entdeckte ich, dass all die Kopien und Bücher, die sich in meinen Regalen stapelten, einen bislang übersehenen Zusammenhang besaßen: die Bedeutung, die das Erzählen für unser Leben besitzt, und in welche Schwierigkeiten wir geraten können, wenn es uns nicht möglich ist.

Ich fand nicht nur ›fremde‹ Texte. Ich staunte auch, wie oft ich schon versucht hatte, über mich zu schreiben. Versucht hatte, mir selbst oder anderen etwas zu erklären. Es ging in diesen Texten doch um mich? Oder nicht? Manchmal konnte ich mich weder an den Text erinnern noch daran, von wem da überhaupt die Rede war:

Ich soll es aufschreiben. Angeblich spielt es keine Rolle, wo ich beginne – ich könne auch mit der Beschreibung des Zimmers anfangen, in dem ich mich gerade aufhalte. Wenn es keine Rolle spielt, kann ich auch so anfangen: Ich soll es aufschreiben. Es. Was mit ›es‹ gemeint ist, weiß ich und weiß ich nicht. Würde ich nachfragen, wäre es ein weiterer Beleg dafür, dass ich zu viel nachdenke. Oder über die falschen Dinge. Es. Schreiben Sie es auf.

Erst nach mehrmaliger Lektüre dieser handschriftlichen Notiz erinnerte ich mich, dass hier nicht von mir die Rede ist, sondern von Thomas Hellweg, dem Protagonisten meines ersten Romans Nebenfolgen, den ich nach der Fertigstellung des Romans noch eine Zeitlang nicht losgeworden war, weshalb ich ihn kurzerhand in einer psychosomatischen Klinik untergebracht hatte, wo er von der zuständigen Psychotherapeutin aufgefordert wurde: »Schreiben Sie es auf!«

Texte, Notizen, Literaturangaben. Ich war beeindruckt von der Fülle des Materials, das ich angehäuft hatte, und von dem ›geheimen Plan‹, den ich offenbar verfolgt hatte, ohne ihn zu durchschauen: Schließlich war ich – für mich selbst kaum weniger überraschend als für mein soziales Umfeld, und noch dazu reichlich spät – Schriftstellerin geworden. Ich bloggte Über das Schreiben von Geschichten und hatte einen Geschichten-Generator erfunden. Wie oft schon hatte ich andere Menschen ermutigt, ihr Leben aufzuschreiben, in Workshops, die den Titel trugen: Meine Geschichte schreibe ich selbst? Wie oft hatte ich andere in dem Recht bestärkt, ihre Version der Geschichte zu erzählen? Sich selbst und anderen. So sehr mich die Hartnäckigkeit meiner Sprachlosigkeit überraschte, so sehr überraschte es mich nun, was ich alles schon unternommen hatte, um sie zu überwinden. War das alles eine Vorbereitung gewesen, um wiederzugewinnen, was mir im Laufe meines Lebens abhandengekommen war – meine eigene Geschichte?

Ich war mit meinen ersten autobiografischen Versuchen beschäftigt, da traf ich M., eine befreundete Buchhändlerin. Wir hatten uns einige Monate nicht gesehen. Sie fragte mich nach den Kollaborateuren, einem Romanprojekt, an dem ich zuletzt gearbeitet hatte. Ich druckste herum und freute mich, als das Essen kam. Vielleicht würde M. ihre Frage darüber vergessen. Sie sah mich auffordernd an, kaum dass der Kellner den Tisch verlassen hatte.

»Mir ist was dazwischengekommen«, sagte ich.

»Ach nein.« M. schüttelte den Kopf.

»Diesmal ist es etwas anderes.«

»Ach ja?« Es war ein fester Bestandteil unserer Treffen, dass M. mir vorwarf, ich sei zu viel mit Schulprojekten, mit Schreibwerkstätten, mit dem Schreiben anderer beschäftigt. Normalerweise freute ich mich darüber.

»Ich muss meine Geschichte aufschreiben«, sagte ich. »Oder richtiger: warum ich nicht über eine Lebensgeschichte verfüge. Nicht so wie andere.«

Ich stocherte in meinem Essen herum, dann schaute ich hoch. Und sah verblüfft, dass M. Tränen in den Augen hatte.

»Kannst du das nochmal sagen?«, fragte sie.

»Was?«

»Diesen Satz, den du gerade gesagt hast. Mit der Geschichte.«

»Dass ich nicht über eine Lebensgeschichte verfüge?«

M. nickte. Dann kramte sie in ihrer Jacke, anschließend in ihrer Tasche und notierte sich die Formulierung schließlich auf der Serviette, die vor ihr lag. Sie musste lachen, als sie bemerkte, dass sie die Serviette nun nicht mehr benutzen konnte, um ihre Tränen abzuwischen. Ich reichte ihr meine.

»Du musst dieses Buch schreiben«, sagte sie.

Ich fand auch, dass ich dieses Buch schreiben musste, und angesichts meiner umfangreichen Vorarbeiten war ich auch zuversichtlich, dass es ›irgendwie‹ gehen würde: Wenn ich meine mittlerweile erworbene Kreativität und Schreiberfahrung nutzen würde, wenn ich all die neuen Informationen, Erkenntnisse und Erinnerungen, die ich in den Jahren zuvor gesammelt hatte, richtig anordnen und sortieren würde, würde ich dem widerspenstigen Stoff, dem chaotischen Material meines Lebens, eine überzeugende Form geben können, dann würde sich, wie bei einem Puzzle, eins ins andere fügen.

Aber es fügte sich nicht. Es gelang mir nicht, die Tatsachen meines Lebens in einer halbwegs verständlichen, halbwegs glaubwürdigen Geschichte unterzubringen. Es gelang mir nicht, die Fragen zu beantworten, die mich so umtrieben: Wie hatte ich mich so irren können? Wie hatte ich ›übersehen‹ können, dass es in meiner Familie sexuelle Übergriffe und emotionale Vernachlässigung gegeben hatte? Wie hatte ich dennoch fast mein ganzes Leben lang überzeugt sein können, das halbwegs normale Kind einer halbwegs normalen Familie zu sein? Und meine Eltern! Wieso hatten sie sich wie Monster verhalten? Monster, die sie nicht gewesen waren – ich kannte sie doch, ich hatte 20 Jahre mit ihnen gelebt! Sie waren keine guten Eltern gewesen, aber die Menschen, von denen ich durch die Erzählungen meiner Geschwister erfahren hatte, mit ihrer sadistischen Bosheit und Gefühlskälte, ihrem Zynismus und ihrer Gemeinheit – das konnten unmöglich meine Eltern sein. Und gleichzeitig wusste ich, dass sie mit ihnen identisch waren. Irgendwie.

Zehn Jahre hatte es gedauert, bis ich die Aufforderung »Schreiben Sie es auf!« auch als an mich selbst gerichtet lesen konnte, fast zehn weitere Jahre hat es gedauert, um der Mensch zu werden, der den Text schreiben kann, den er schreiben muss (Jonathan Franzen: 154). Ich halte die Geschichte, die ich jetzt erzähle, nicht für ›die Wahrheit‹. Ich bin, auch wenn sich das vielleicht komisch anhört, noch nicht einmal mehr auf der Suche nach der Wahrheit. Mein Problem ist nicht die Wahrheit, mein Problem ist, dass die Wahrheit unmöglich der Fall sein konnte. Dass sie keinen Sinn ergab. Was mir fehlte, war nicht die wahre Geschichte meines Lebens, sondern eine mögliche Geschichte. Eine halbwegs plausible, verständliche, glaubwürdige Geschichte, die das enthielt, was ohne jeden Zweifel feststand. Das ist es, worum es mir mit diesem Text geht: mit meiner Vergangenheit, mit meinem Leben wieder in den Kosmos möglicher Geschichten einzutreten.

Dieser Text enthält nun, was ich verstehen, was ich lernen musste, um ›meine Geschichte‹ oder ›Geschichten wie meine‹ verstehen zu können. ›Geschichten wie meine‹ sind dabei keineswegs nur solche, in denen sexualisierte Gewalt eine Rolle spielt, sondern alle Geschichten, in denen etwas ›verquer‹ (oft queer) ist, weil es den gesellschaftlich verbreiteten Vorstellungen von Glaubwürdigkeit oder Vorstellbarkeit widerspricht. »Wer erzählt, begibt sich in Gefahr. Wer schweigt, isoliert sich«, schreibt Boris Cyrulnik (2014: 143), von dem ich so viel gelernt habe, über die Sprachlosigkeit und die Scham, über das Erinnern und die besondere Bedeutung, die das Erzählen hat. Die größte Gefahr, in die ich mich mit diesem Text begebe, hängt zweifellos an den sexuellen Übergriffen meines Vaters. Wie Gespenster wanderten sie viele Jahre durch diesen Text. Lange Zeit tauchten sie erst relativ spät auf, so wie sie ja auch in meinem Leben erst relativ spät aufgetaucht waren. Also unübersehbar aufgetaucht waren. Ich wollte nicht die Autorin einer Geschichte sein, die niemand würde lesen wollen. Nicht noch eine Missbrauchsgeschichte, hatte ich ja lange genug selbst oft gedacht. Oder jedenfalls dann, wenn es vorkam, dass ich eine hörte. Also eigentlich fast nie. Aber wenn es vorkam, hatte ich fast mein ganzes Leben lang gedacht: Nicht schon wieder. Als würde ich ständig damit ›belästigt‹, so fühlte es sich an. Die, die davon redeten, sollten doch lieber ihren Mund halten. Oder es denen erzählen, die es hören wollten. Fast mein ganzes Leben lang hatte ich diese Geschichten nicht hören wollen – und jetzt sollte ich selbst so eine erzählen?

Und dann kam MeToo … und ich hockte mal wieder in einer Sackgasse mit dem Text und begriff allmählich, wie sehr der Gedanke »Was könnte das für ein schöner Text werden, wenn nur dieser blöde Missbrauch nicht wäre«, Teil des Irrsinns war, von dem ich doch erzählen wollte. »Meine Geschichte schreibe ich selbst« bedeutet für mich mittlerweile, die sexuellen Übergriffe nicht mehr an den äußersten Rand zu drängen, mich aber zugleich gegen die verbreitete Erwartung zu wehren, sie wären das dominierende Thema meines Lebens – oder dieses Textes. Das sind sie nicht.

Es ist mir ein großes Anliegen, von den verstörenden Erfahrungen meines Lebens auf eine sachliche, ruhige Weise zu erzählen. Ich finde es vollkommen legitim, verstörende Texte zu schreiben, aber ich will es nicht, jedenfalls nicht mit diesem Text. Ich würde in diesem Text von den sexuellen Übergriffen meines Vaters auch dann nicht im Detail erzählen, wenn ich es könnte – aber ich kann es nicht, weil ich keine Details kenne. Warum ich trotzdem davon wissen kann, ist Teil der Geschichte, die ich erzähle.

Vom Unglück erzählen, ohne es zu verlängern – das ist es, worum es mir geht: Ich möchte dazu beitragen, dass das Erzählen von schwierigen, von verstörenden Erfahrungen möglich(er) wird. Ich habe nicht das Gefühl, ein besonderes Schicksal zu haben, im Gegenteil: Ich habe in vielfacher Hinsicht Glück gehabt. Immer wieder bin ich Menschen begegnet (ganz real oder durch ihre Texte), die mir entscheidend weitergeholfen haben – und nun hoffe ich, dass dieser Text womöglich anderen weiterhilft.

Als ich ihn zu schreiben begann, war MeToo noch kein Thema, und nun kann dieser Text hoffentlich einen Beitrag dazu leisten, verständlicher zu machen, was im gesellschaftlichen Diskurs oft noch unverstanden scheint: warum die Opfer so lange geschwiegen haben; wie es sein kann, dass sie noch nicht einmal selbst ihren Erinnerungen trauen; warum sie sich keine Hilfe holen; warum sie sich selbst so oft die Schuld geben … Von all dem handelt nun dieser Text. Auch davon. Und von vielen anderen Fragen, die sich angesichts eines jeden Lebens stellen: Was wissen wir eigentlich über unser Leben? Was wissen wir mit Gewissheit über die Zusammenhänge, über das Gewicht der einzelnen Ereignisse? Was wissen wir darüber, was uns zu denen gemacht hat, die wir heute sind?

Es war eine bestürzende Erkenntnis, nicht nur im Rahmen von MeToo, wie lange viele Frauen, wie lange überhaupt viele Menschen keine Chance sahen (und weiterhin sehen), ihre Lebensgeschichte (vollständig) zu erzählen und für das von ihnen erlebte Unrecht Gehör zu finden. In den Jahren, in denen ich diesen Text geschrieben habe, ist das Bewusstsein darüber gewachsen, wie wichtig es ist, auch denjenigen Stimmen Resonanz zu verschaffen, die lange überhört wurden, all jenen, die tatsächlich oder scheinbar ›anders‹ sind, die anders leben oder lieben oder aussehen, die sich anders bewegen oder denken oder reden oder deren zentrale Lebens-Erfahrungen nicht in die bereitstehenden Narrative passen. Eine Gruppe vollkommen unterschiedlicher Menschen wird dabei noch immer übersehen. Sie scheinen nicht zu existieren. Sie melden sich nicht zu Wort und reklamieren nicht ihr Recht, endlich auch gehört zu werden. Sie können es nicht. Sie können ihre Geschichte nicht erzählen. Noch nicht einmal sich selbst. Weil da nichts ist, außer einer großen Sprach- und Ratlosigkeit. All diesen Menschen ist dieser Text gewidmet.

DAS MURMELN DER PHANTOME

Ich bin mit der Überzeugung aufgewachsen, dass ich nicht nur das halbwegs normale Kind halbwegs normaler Eltern war, sondern dass ich es sogar gut hatte. Viel besser als viele andere. Besser nicht nur als die hungernden Kinder in Afrika (von deren Existenz ich durch die sonntäglichen Gottesdienstbesuche erfuhr), ich hatte es auch besser als die meisten Kinder, die ich kannte: Ich hatte gute Noten, war eine gute Sportlerin, ich war Klassensprecherin, später Schulsprecherin, ich hatte immer Freund:innen und war beliebt. Auch mit meiner Familie schien alles in Ordnung. Mein Vater war Referatsleiter einer Bundesbehörde und saß als Lektor im Gottesdienst der katholischen Kirchengemeinde während des Gottesdienstes neben dem Pfarrer, meine Mutter engagierte sich in der Elternvertretung, es gab mehrere ›Freundeskreise‹, denen meine Eltern angehörten, und meine Freunde kamen gerne zu mir nach Hause. Bis heute erzählen mir ehemalige Schulfreund:innen, wie wohl sie sich bei uns gefühlt hätten. Alles war gut. Oder, sagen wir, fast alles.

Das Einzige, was meine Erzählung von mir selbst als einer beneidenswerten Person mit einer enervierenden Hartnäckigkeit schon in meinen Kinder- und Jugendjahren attackierte, waren meine Selbstgespräche. Ich weiß nicht, wann ich damit angefangen habe, aber es kommt mir so vor, als wären die Selbstgespräche immer da gewesen. Ich erinnere mich jedenfalls, dass ich im Alter von sieben oder acht Jahren nach dem Mittagessen regelmäßig in das kleine, eiskalte Gästeklo ging, um dort in Ruhe und unentdeckt laut vor mich hin reden zu können. Schon in diesem Alter war es mir peinlich und ich wollte auf keinen Fall von irgendjemandem dabei ertappt werden. Also suchte ich nach ›sicheren Orten‹, also redete ich nur leise, also versuchte ich, dieses blöde Geplappere zu unterdrücken, es bleiben zu lassen. Aber es gelang mir nicht nur nicht – es wurde immer schlimmer. Ich versuchte es als eine überaus lästige Angewohnheit zu betrachten, als eine Art Spleen, aber das änderte nichts daran, dass es mich die meiste Zeit ernsthaft beschämte. So sehr beschämte, dass ich bis vor wenigen Jahren allein deswegen schon ›mein Leben‹ nicht hätte erzählen können, weil ich nicht von den Selbstgesprächen erzählen konnte. Ich konnte es gleich doppelt nicht: einerseits, weil es mir ungeheuer peinlich war – und andererseits, weil ich den Eindruck hatte, dass es unmöglich war, anderen Menschen ein realistisches Bild von dem zu vermitteln, was ich tat, wenn ich mit mir redete. Was ja in den Zigtausenden Minuten, in denen ich mit mir redete, nicht immer das Gleiche war. Es war nicht immer redundant, es war nicht immer eine Belastung, manchmal war es schön, machte es mir Spaß, genoss ich es. Schon diese Unterschiedlichkeit konnte ich anderen in den seltenen Situationen, in denen ich es überhaupt versuchte, nicht vermitteln. Aber vor allem glaubte mir niemand, dass ich ein ernsthaftes Problem hatte, so vernünftig und klug, ausgeglichen und freundlich, wie ich doch war. Und ›Selbstgespräche‹ hörte sich ja auch wirklich nach einer eher harmlosen Marotte an. Sicherlich waren sie gut gemeint, die Versuche der Beschwichtigung und Beruhigung – aber sie verstärkten mein Gefühl der Isolation. Auch bei meinen endlosen Recherchen in den unvorstellbaren Zeiten, als es das Internet noch nicht gab, stieß ich immer wieder auf den Hinweis, wie verbreitet das Phänomen der Selbstgespräche war, wie wenig es eine/n beunruhigen sollte. Und obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass es sich bei ›meinen‹ Selbstgesprächen in ihrer Zwanghaftigkeit, in der ›Sinnlosigkeit‹ der ständigen Wiederholungen, in die ich oft geriet, um etwas irgendwie anderes handelte als um die ›harmlosen‹ Selbstgespräche, die viele andere auch führten, las ich in den gedruckten wie in den ausgesprochenen Hinweisen immer auch den Vorwurf, dass ich übertrieb, dass ich mich in etwas hineinsteigerte, dass ich mich nur wichtigmachen wollte …

Dann machte ich Abitur. Ich arbeitete einige Wochen in einer Fabrik, unternahm eine Reise nach Griechenland und wollte anschließend für ein Jahr als Au-pair nach Paris. Aber dieser Aufenthalt, den die Tochter von Freunden meiner Eltern vermittelt hatte, zerschlug sich kurzfristig. Es war also keine offizielle Vermittlungsstelle beteiligt und es war viel zu spät, um eine Alternative zu finden, es war auch zu spät, um sich an der Uni einzuschreiben. Auf einmal hatte ich sehr viel Zeit. Solange ich zur Schule gegangen war, war ich ständig unterwegs gewesen. Ich war nicht nur Schülersprecherin und hatte vier-, fünfmal die Woche Volleyball-Training, ich ruderte und bereitete die Schulgottesdienste mit vor. Ich hatte alles Mögliche unternommen, um eins zu vermeiden: allein zu sein.

Auf einmal existierten diese Termine nicht mehr. Und die meisten meiner Freund:innen waren weg: beim Bund oder zum Studium oder eben als Au-pairs unterwegs. Ich fand einen Job, bei dem ich zwei- oder dreimal die Woche ein paar Stunden Schmuck sortierte. Und was tat ich in der übrigen Zeit? Ich plapperte vor mich hin. Es wurde immer schlimmer. Noch schlimmer wurde es, als meine Eltern für drei Wochen nach Italien verreisten und auch dem Geplapper zu Hause überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt waren, denn andere Menschen waren für mich ja immer auch das: ein willkommener Hinderungsgrund, laut vor mich hin zu reden. Vor allem abends konnte ich mich und mein ständiges Gerede nicht mehr ertragen. Vor dem Fernseher gelang es mir überhaupt nicht mehr, mich auf den Film, das Geschehen auf dem Bildschirm zu konzentrieren. Das Einzige, was half, das Einzige, was diesem nervtötenden Plappern zwar keinen Einhalt gebot, es mich aber besser ertragen ließ, war Alkohol. Ich hatte schon weit früher damit begonnen, mich zu betrinken, aber nun trank ich mich jeden Abend in den Schlaf.

Mein Drang, laut zu reden, war in dieser Zeit oft so groß, dass ich, einer Bauchrednerin ähnlich, mit möglichst unbeweglichem Mund redete, wenn ich draußen unterwegs war. Manchmal saß ich mit Freund:innen in einer Kneipe und hatte ein derartiges Bedürfnis, statt mit ihnen mit mir selbst ›zu reden‹, dass ich dafür aufs Klo ging. Als würde ich mir dort die ersehnte Dosis eines Suchtmittels verabreichen müssen. Das war auch deswegen absurd, weil ich ja im Grunde noch nicht einmal mit mir selbst, sondern immer mit nicht anwesenden Anderen redete. Offenbar ging ich aufs Klo, weil ich statt mit realen Anderen lieber mit erfundenen Anderen reden wollte – wie absurd war das? Wie beschämend? War ich verrückt geworden? Aber nein, natürlich war ich nicht verrückt. Ausgeschlossen. So normal, wie ich war, konnte ich nicht verrückt sein. Das war keine Hoffnung oder Spekulation, es war eine unumstößliche Gewissheit. Ich wusste, dass es so war. Und dann gab es wieder Momente, in denen ich mit der gleichen absoluten Gewissheit wusste, dass ich verrückt war. Dieses pausenlose Gerede! Und wenn ich nicht reden konnte, dann pfiff ich. Ich geriet in Panik bei der Vorstellung, in den Knast zu kommen, weil ich dort, allein in einer Zelle, hundertprozentig durchdrehen würde. Aber warum sollte ich in den Knast kommen? Egal, aber wenn, dann würde ich durchdrehen. Waren das nicht die Gedanken einer Verrückten?!

Dr. G. war zunächst nur vorübergehend und als Vertretungsarzt in der naturheilkundlichen Praxis, die mir in diesem Herbst nach dem Abitur wegen meiner ständigen Rückenschmerzen empfohlen worden war. In dieser Praxis wurde von einem älteren Arzt, den ich als medizinischen Haudegen vor mir sehe, geschröpft, gequaddelt und vor allem ›eingerenkt‹. Diese Praxis war kein Ort, an dem man die Gelegenheit zum therapeutischen Gespräch gesucht oder auch nur vermutet hätte. Dr. G. zeigte sich ratlos angesichts der Hartnäckigkeit meiner Schmerzen. Eines Tages legte er meine Patientenkarte zur Seite und sah mich an: »Wie geht es Ihnen denn eigentlich?« Ohne dass ich danach gesucht hätte, bot sich mir die Möglichkeit einer Psychotherapie, und ich ergriff sie. Irgendwie stolperte ich in diese Therapie hinein, wie ich schon in die sie auslösende Krise hineingestolpert war.

Etwa drei Jahre lang ging ich also zwei-, manchmal dreimal die Woche zu Dr. G. und tat, was man in einer Therapie so macht: Ich erzählte von meinen Eltern, meinen Geschwistern, von den Erlebnissen meiner Kindheit, und auch wenn mir nach einiger Zeit die Vorstellung von der ›glücklichen Kindheit‹, die ich zu Beginn der Therapie noch gehabt zu haben behauptet hatte, etwas übertrieben vorkam, fand ich noch immer nicht wirklich besonders, was mir zunehmend klarer vor Augen stand: eine mit vier Kindern vollkommen überforderte, emotional meist unbeteiligte, lieblose und gelegentlich auch irgendwie gemeine Mutter und ein Vater, der sich ebenfalls die allermeiste Zeit um sich selbst drehte, um seine nicht realisierte »künstlerische Berufung«, der zu viel trank und nicht nur dann feuchte Küsse verteilte. Aber das war es nicht, was ich ihm zum Vorwurf machte. Wie meine Mutter auch, hatte sich mein Vater während meiner Kindheit nicht oder jedenfalls nur sehr ausnahmsweise für mich interessiert. Und auch wenn meine Mutter mich nie etwas gefragt hatte, wenn ich nie den Eindruck gehabt hatte, dass sie eine Vorstellung davon hatte, was mich umtrieb oder mir wichtig war, oder dass sie eine Wahrnehmung dafür hatte, ob es mir gut ging oder nicht, auch wenn meine Mutter sich mir nie freundlich zugewandt hatte (oder ich mich zumindest nicht daran erinnern konnte), wusste meine Mutter immerhin ein paar Dinge über mich, die mein Vater nicht wusste, zum Beispiel dass ich Volleyball spielte und nicht Basketball oder dass ich Schülersprecherin war – solche Sachen. Mein Vater wusste das alles nicht nur nicht, er kokettierte auch noch mit dieser Unwissenheit, erzählte immer mal wieder, als wäre es eine wirklich komische Geschichte, von den Fragen eines Kollegen oder Freundes, die mich betrafen und die er alle nicht beantworten konnte. Das war es, was ich ihm übelnahm.

Mir sind die Termine bei Dr. G., vor allem aus der Anfangszeit, als ein zähes Ringen in Erinnerung: Ich wollte Hilfe, wollte, dass ›es‹ aufhörte, Dr. G. wollte, dass ich die Selbstgespräche akzeptierte. Akzeptieren? Ausgeschlossen! Warum verstand er nicht die Unmöglichkeit meiner Situation? Warum half er mir nicht? Warum gelang es mir nicht, ihm ein realistisches Bild von der Angst, ja Panik zu vermitteln, die dieser ›Redezwang‹ oft in mir auslöste? Würde man einen Alkoholiker oder jemanden, der sich selbst verletzte, auffordern, sein schädliches, ja gefährliches Verhalten zu akzeptieren? Warum begriff Dr. G. nicht, wie verheerend, wie gefährlich diese Plapperei für mich war? Dass sie drohte, mich um den Verstand zu bringen? Ich erinnere mich sehr gut, wie unverstanden und einsam ich mich oft fühlte und wie ausgeschlossen. Mit mir stimmte etwas auf eine substantielle Weise nicht und es gab – so empfand ich es damals – offenbar niemanden, mit dem ich diese Erfahrungen und Gefühle auch nur ansatzweise teilen, dem ich sie mitteilen konnte.

Und dann wurde es irgendwann besser. Vermutlich halfen mir die neuen Erkenntnisse über die von mir bis dahin nicht realisierten Herausforderungen meiner Kindheit und ganz sicher die erstaunlicherweise nicht irritierbare Sympathie, die Dr. G. mir entgegenzubringen schien, dabei, eine freundlichere und damit auch etwas gelassenere Haltung mir selbst und dem Geplapper gegenüber zu entwickeln. Und tatsächlich behielt Dr. G. auch mit seiner Prognose Recht: Wenn es mir gelänge, den »Kampf« gegen die Selbstgespräche zu beenden, würde es mir schon (deutlich) besser gehen. Ich erinnere mich, dass ich schon während der Therapie eine Übung als Durchbruch empfand, die »der leere Stuhl« genannt wird. Auf dem »leeren Stuhl« sollte ich die Selbstgespräche platzieren, und ich sollte mit ihnen reden. Ich weiß nicht mehr, ob die Aufforderung spezifischer war, ich weiß aber, dass ich diese Vorstellung unendlich peinlich fand. Es war ein großer Kampf in mir. Ich konnte nicht mit diesem »leeren Stuhl« reden! Die Vorstellung, laut vor mich hinredend durch die Fußgängerzone zu laufen, wäre kaum beschämender gewesen. Andererseits hatte ich es bereits abgelehnt, »meine Mutter« dort zu platzieren, und ich hatte es auch abgelehnt, »vorzumachen«, was ich tat, wenn ich mit mir selbst redete, es war mir absolut unmöglich gewesen. Ich hatte daher das Gefühl, dass meine Glaubwürdigkeit und die Ernsthaftigkeit meiner Bereitschaft, alles nur irgend Mögliche zu unternehmen, um eine Verbesserung meiner Lage zu erreichen, auf dem Spiel standen. Ich bin mir nicht sicher, was ich schließlich sagte. So ungefähr, dass sie mich in Ruhe lassen sollten. Ich bilde mir ein, dass es nicht viel mehr war und ich das Unbehagen dabei nicht für einen Moment loswurde. Ob Dr. G. noch Unterlagen darüber hat? Ich weiß noch nicht einmal mehr, ob er sich während unserer Gespräche Notizen gemacht hat. Es kommt mir vage so vor. Aber ich erinnere mich sehr gut an das Gefühl, das ich auf einmal hatte. Zum ersten Mal. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass dieses verdammte Geplapper zwar ein TEIL von mir ist, aber dass es nicht identisch ist mit mir, dass ich mehr bin als nur meine Selbstgespräche. Vor allem hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich ›der Chef‹ bin, dass ich das Sagen habe …

Das Sagen haben. Wie allgegenwärtig in meiner Vergangenheit die Worte und das Reden waren! Sie umgaben die Sprachlosigkeit, in der ich mich fast mein ganzes Leben lang befand, wie eine Hülle. So viele Worte, so viel Gerede und so wenig wirkliche Kommunikation, so wenig Inhalt, so wenig Erzählung von Wesentlichem. Wo Rauch ist, da ist auch Feuer, sagt man. Wo Worte sind, da ist auch eine Erzählung, könnte man denken. Aber so war es nicht. Wenn ich an die Selbstgespräche denke, die mich so lange begleitet, verfolgt und, wie ich irgendwann begriffen habe, auch beschützt haben, dann waren sie nicht nur kein Erzählen, sondern sie waren sogar gegen das Erzählen gerichtet, sie verhinderten es. Sie markierten den Riss, der durch mein Leben ging, und verbargen ihn zugleich.

Doch auch wenn dieses innere (und oft äußere) Geplapper nicht vollständig verstummte, wenn das »Murmeln der Phantome« (Boris Cyrulnik 2014: 54) nicht versiegte, ließ es nach zwei, drei Jahren der Therapie endlich nach und dominierte mein Leben nicht mehr so, wie es zuvor der Fall gewesen war. Ich dachte, ich hätte es geschafft. Vielleicht hatte ich in der Therapie noch nicht alles Wichtige geklärt, aber noch wichtiger als die Therapie fortzusetzen, noch wichtiger als eine weitere Klärung zu betreiben, war es, auszuziehen und aus Bonn, der Stadt, in der ich aufgewachsen war, wegzugehen. So empfand ich es, und Dr. G. sah es nicht anders. Ich hatte keine schlüssige Diagnose, keine Erzählung, die mir erklärt hätte, was mit mir losgewesen war, aber das schien mir auch nicht so wichtig, denn ich war überzeugt, dass es mit mir und meinem Leben wieder aufwärts ging, dass ich die Talsohle durchschritten hatte. In den ersten Bremer Jahren, die sich an die Therapie anschlossen, schien mir die (scheinbar) überwundene Krise wie eine etwas rätselhafte Unterbrechung der Erfolgsgeschichte, als die ich mein Leben ja eigentlich sah. Sehen wollte. Unbedingt sehen wollte. Und jetzt würde sie wieder Fahrt aufnehmen, meine Erfolgsgeschichte. Das Studienfach hatte ich schon in Bonn gewechselt, von Jura zu Soziologie. Ich würde also weder Richterin noch Rechtsanwältin werden, aber vielleicht Kriminologin? Wissenschaftlerin? Oder vielleicht würde ich für einen großen Sozialverband arbeiten oder für eine Partei? Noch immer war ich mir ganz sicher, dass aus mir etwas werden würde. Noch immer dachten das, erwarteten das auch die Menschen, die mich kannten. Noch immer spielte ich keinen Moment lang mit dem Gedanken, Schriftstellerin zu werden.

Als ich aus Bonn wegging, galt meine einzige bewusste, ernsthafte Sorge den Selbstgesprächen. Allein in der fremden Stadt, würden sie vielleicht wieder extreme Ausmaße annehmen, wäre die mühsam erworbene Gelassenheit vielleicht erneut gefährdet? Eine glückliche Fügung erleichterte den Übergang: Freund:innen aus der Schulzeit beschlossen zufällig, ebenfalls nach Bremen zu ziehen, und so gründeten wir eine gemeinsame WG. Es folgten gute, zuversichtliche Jahre: Mein Konzentrationsvermögen reichte für die ersten, noch nicht sehr umfangreichen Hausarbeiten und Prüfungen aus, im kleinen soziologischen Studiengang galt ich als vielversprechende Studentin, die sich aussuchen konnte, in welchem Institut sie als studentische Hilfskraft arbeitete, und dann begegnete ich auch noch Ulrike und genoss es sehr, erstmals in einer Beziehung zu leben. Zu meinen Eltern, meiner Familie hatte ich Kontakt, ich fuhr auch gelegentlich nach Bonn, aber wir telefonierten nur sporadisch und ich hatte das gute Gefühl, auf eigenen Beinen zu stehen und ihnen nichts schuldig zu sein. Das hatte ich meinen Eltern auch mitgeteilt. Schon als ich mich ein Jahr zuvor dazu entschlossen hatte, das Studienfach zu wechseln, fand ich nicht, dass sie noch irgendeinen Anspruch auf eine Erklärung oder Begründung hätten. Meine Eltern, die sich während meiner gesamten Kindheit nicht um mich gekümmert, sich nicht für mich interessiert hatten, hatten kein Recht mehr, irgendetwas von mir zu fordern. So empfand ich es. Dass sie mich nicht geliebt hatten, nun ja, das machte ich ihnen nicht zum Vorwurf, die Vorstellung, dass Eltern ihre Kinder lieben müssten, kam mir übertrieben oder pathetisch oder utopisch vor … Aber ich war mittlerweile überzeugt, dass Eltern verpflichtet waren, ihren Kindern ein gewisses Mindestmaß an Interesse und Aufmerksamkeit entgegenzubringen – und noch nicht einmal das hatten meine Eltern getan. Weil sie ihre Pflichten nicht erfüllt hatten, musste ich meine nun auch nicht mehr erfüllen … Ich verhielt mich ihnen gegenüber distanziert. Freundlich distanziert meiner Mutter gegenüber und meinem Vater gegenüber so distanziert, wie es möglich war, ohne ihn offen zu brüskieren. Ich grüßte ihn – das war alles.