Mein rebellischer Highlander - Lynsay Sands - E-Book

Mein rebellischer Highlander E-Book

Lynsay Sands

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Beschreibung

Als der kampferprobte Highland-Lord Campbell Sinclair Zeuge eines Überfalls auf einen Reisenden wird, schreitet er sofort ein und bietet diesem an, ihn sicher ins schottische Hochland zu bringen. Doch als Campbell den jungen Mann zufällig beim Baden sieht, wird klar, dass Jo in Wahrheit Joan ist - und ihre Kurven unwiderstehlich sinnlich sind. Inmitten der wilden Highlands weiß Joan der Anziehungskraft des stürmischen Campbell bald nichts mehr entgegenzusetzen ...

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Epilog

Die Autorin

Lynsay Sands bei LYX

Impressum

LYNSAY SANDS

Mein rebellischer

Highlander

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Susanne Gerold

Zu diesem Buch

Als der schottische Lord Campbell Sinclair auf seinem Weg in die Heimat zufällig Zeuge eines Überfalls auf einen Reisenden wird, stürzt er sich ungestüm in den Kampf, um diesem zu helfen, und trägt eine schwere Wunde davon. Dankbar für die Heilkräfte des jungen Mannes, verspricht Campbell ihm sicheres Geleit ins wilde Hochland, damit dieser dort eine geheimnisvolle Schriftrolle abliefern kann. Dabei ist der kampferprobte Campbell auf alles gefasst, doch nicht darauf, dass Jo in Wahrheit Joan ist – und Campbell der Versuchung ihrer sinnlichen Kurven bald nichts mehr entgegenzusetzen hat. Joan hält ihre Verkleidung für sehr gelungen, bis die leidenschaftlichen Küsse ihres Beschützers deutlich machen, dass er sie längst durchschaut hat. Ihr steht der Sinn zwar so gar nicht nach einer Romanze, doch da unterschätzt sie die Beharrlichkeit und den wilden Charme eines Highlanders. Denn Campbell ist entschlossen, sie nicht mehr von seiner Seite zu lassen, ganz gleich, welches Geheimnis ihre Herkunft umgibt oder wer ihr nach dem Leben trachtet …

1

Noch bevor Cam sah, was sich hinter der Wegbiegung abspielte, hörte er die Geräusche eines Tumults. Schreie erklangen und veranlassten ihn instinktiv, sein Pferd langsamer laufen zu lassen. Als er um die Biegung herumkam, sah er, wie ein bulliger Mann einen Jungen am Kragen hielt und zornentbrannt auf ihn einschlug. Ohne zu zögern, trieb Cam sein Pferd an und griff nach seinem Schwert. Und dann war er auch schon bei ihnen.

Das Geräusch, als Cam aus dem Sattel sprang und auf dem Boden aufkam, brachte den Angreifer dazu, sich umzudrehen – gerade rechtzeitig, um den Schwertgriff zu sehen, den Cam ihm gegen den Kopf schlug. Der große Trottel sackte wie ein Stein zu Boden, fiel dabei allerdings unglücklicherweise mit solcher Wucht auf den Jungen, dass dieser vor Schmerz aufschrie und fast besinnungslos wurde.

Campbell zuckte zusammen und stieß den Banditen mit einem Fußtritt von dem Jungen herunter. Kaum war der von seiner Last befreit, öffnete er die geschwollenen, sich bereits verfärbenden Augen und blinzelte unsicher zu ihm hoch.

»Ich tu dir nichts«, sagte Cam und reichte ihm die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen.

Aber der Junge ignorierte die Hand, starrte stattdessen mit vor Entsetzen geweiteten Augen an ihm vorbei. Instinktiv wollte Cam sich aufrichten, geriet aber ins Taumeln, als etwas seinen Rücken traf. Mit Mühe konnte er verhindern, dass er auf den Jungen trat, fand nach einem Moment das Gleichgewicht wieder und drehte sich zu seinem Angreifer um.

Zu den Angreifern, berichtigte Cam sich grimmig, während er die drei Männer musterte, die mit schmutzigen Gesichtern und zerlumpter Kleidung vor ihm standen. Keiner von ihnen war so groß wie der Mann, den er niedergeschlagen hatte, aber klein waren sie auch nicht gerade. Und sie waren bewaffnet: Der Kahlköpfige ganz links hielt einen Knüppel in der Hand, der Kerl mit den langen schwarzen Haaren ganz rechts ein rostiges altes Schwert und der Rothaarige in der Mitte ein Messer, von dem Blut tropfte.

Sein Blut, wie Cam begriff, als er etwas Warmes seinen Rücken und sein Bein hinunterlaufen spürte. Er hatte also keinen Schlag erhalten, sondern einen Stich. Er biss die Zähne zusammen, riss sein Schwert hoch und zog mit der linken Hand eine kleine Klinge aus dem Gürtel. Dann ging er auf die Männer los. Er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb, denn der Blutverlust würde ihn rasch schwächen. Er musste die Männer erledigen, bevor er schlappmachte, sonst würden er und der Junge zweifellos irgendwann tot am Straßenrand aufgefunden werden.

Cam schleuderte zuerst sein Messer auf den Mann mit der blutverschmierten Klinge, wartete gerade lange genug, um sicher zu sein, dass er ihn in die Brust getroffen hatte, und ging dann mit dem Schwert auf den Mann rechts von ihm los.

Der Mann führte sein Schwert besser, als Cam es bei dessen zerschlissener Kleidung und heruntergekommenem Zustand erwartet hatte. Vielleicht waren aber auch einfach nur seine eigenen Fähigkeiten beeinträchtigt, weil er selbst bereits schwächer wurde und ständig damit rechnete, vom dritten Mann einen Schlag von hinten verpasst zu bekommen. Wie auch immer – Cam musste sein Schwert ein halbes Dutzend mal schwingen, bis er seinen Gegner endlich zu Fall bringen konnte.

Er wunderte sich, dass er nicht bereits etliche Schläge auf Kopf und Rücken bekommen hatte, aber als er zu dem dritten Angreifer herumwirbelte, stellte er fest, dass der bereits am Boden lag. Neben ihm stand der Junge, die blutverschmierte Klinge des Rothaarigen in der Hand.

»Er wollte auf Euch losgehen«, sagte der Junge zu seiner Verteidigung und ließ die Klinge fallen, als Cam ihn anstarrte.

Cam wollte sich bei dem Jungen bedanken, aber noch während er einen Schritt auf ihn zumachte, sank er auf die Knie. Verwirrt blickte er nach unten, als ihm das Schwert aus der Hand glitt, dann sah er benommen zu dem Jungen hoch. Im nächsten Moment verlor er das Bewusstsein.

Joan starrte verblüfft auf den Schotten. Noch wenige Augenblicke zuvor hatte er im Kampf gegen ihre Angreifer stark und außerordentlich fähig gewirkt, und jetzt plötzlich lag er bäuchlings und mit dem Gesicht im Dreck auf dem Weg. Sie hob das Messer auf, reinigte es rasch am Rücken des Toten vom Blut und schob es in ihren Gürtel. Dann stieg sie über die Leiche hinweg und trat zu ihrem Retter.

Sie sah sofort den dunklen Fleck auf seinem Plaid und musste die Stelle auch gar nicht berühren, um zu wissen, dass es sich um Blut handelte. Eine Stichwunde, erkannte Joan, aber es überraschte sie, wie schlimm die Verletzung war. Sie hatte gesehen, wie der Rotblonde von hinten mit erhobener Klinge auf den Schotten losgegangen war, um zuzustechen. Als ihr Retter dann aber so kraftvoll gekämpft hatte, war sie zu der Überzeugung gelangt, dass er nicht schlimm verletzt worden sein konnte. Die Menge an Blut, die sein Plaid nässte, ließ jetzt jedoch vermuten, dass ihm eine ziemlich hässliche Wunde zugefügt worden war.

Seufzend ließ Joan sich auf die Fersen nieder und sah sich um. Sie war sich ziemlich sicher, dass drei der vier Männer tot waren. Der vierte, der sie geschlagen hatte, als ihr Retter aufgetaucht war, war allerdings nur bewusstlos. Für einen Moment erwog Joan, das zu ändern, aber sie war eine Heilerin. Sie konnte keinen bewusstlosen Mann töten, nicht einmal einen, der sie wenige Momente zuvor geschlagen hatte. Es verstieß gegen alles, woran sie glaubte.

Ihr Blick schweifte wieder zu ihrem Retter, und sie hob sein Plaid, um sich die Wunde anzusehen. Das Erste, was sie sah, war sein nackter Hintern, aber da sie schon oft verletzte Männer versorgt hatte, handelte sie mit der Routine der erfahrenen Heilerin. Sie achtete nicht auf seine Blöße, sondern wandte ihre Aufmerksamkeit der Wunde zu, die sich ein Stück oberhalb seines Steißbeines befand.

»Verdammt«, murmelte sie, als sie die ausgefransten Ränder der Wunde sah. Sie wirkte tief und hässlich. Offenbar war das Messer nicht einfach nur eingedrungen und wieder herausgezogen worden; der Rothaarige hatte es auch noch herumgedreht, sodass es sich bei der Verletzung eher um ein Loch handelte als um eine Stichwunde. Fluchend richtete Joan sich auf und ging zu der Stelle, an der sie ihren Beutel fallen gelassen hatte, als Zahnlos – diesen Namen hatte sie dem Mann gegeben – über sie hergefallen war. Während sie darin herumkramte, begann der Mann zu stöhnen und sich zu bewegen.

Joan versteifte sich; ihr Blick schoss zu ihm hin. Zahnlos kam wieder zu Bewusstsein, was das Letzte war, das sie jetzt gebrauchen konnte. Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, sah sie sich suchend um, bis ihr Blick auf einen großen Stein ganz in der Nähe fiel. Sie packte ihn, drehte sich zu Zahnlos um, der gerade dabei war, sich aufzurappeln, und verpasste ihm mit dem Stein einen kräftigen Schlag gegen den Kopf. Der Mann grunzte vor Schmerz, brach wieder zusammen und blieb reglos auf dem Boden liegen.

Joan musterte ihn kurz, bereit, auch ein zweites Mal zuzuschlagen. Es mochte zwar gegen ihre Natur verstoßen, einen hilflosen Mann zu töten, aber sie hatte absolut kein Problem damit, ihn bewusstlos zu schlagen. Und zwar hoffentlich mit so viel Kraft, dass er später ordentliche Kopfschmerzen haben würde. Joan würde ganz sicher eine Weile unter seinem Angriff zu leiden haben, litt bereits jetzt darunter. Als sie sich geweigert hatte, Zahnlos ihren Beutel zu geben, hatte er seine ganze Wut darüber an ihr ausgelassen und mit seinen riesigen Fäusten ihr Gesicht traktiert. Jetzt fühlte es sich an, als würde es in Flammen stehen, und tat überall weh. Sie wusste sehr gut, dass ihr Gesicht bereits anschwoll und sich blaue Flecken bildeten. Sie war sich auch ziemlich sicher, dass ein paar Rippen geprellt waren, wenn nicht sogar angebrochen. Würde sie stehen und nicht knien, hätte sie Zahnlos ein paar kräftige Fußtritte versetzt, sodass er das Gleiche durchmachen würde wie sie, wenn er aufwachte. Wie auch immer, sie musste sich um ihren Retter kümmern, daher ließ Joan den Stein auf den Boden fallen und kramte wieder in ihrem Beutel, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Mit den Gegenständen in der Hand kehrte sie zu dem Schotten zurück.

Obwohl sie sich beeilen musste, nahm sie sich die Zeit, die Wunde vor dem Nähen sorgfältig zu säubern. Nachdem sie einen Verband angelegt hatte, warf sie erneut einen Blick auf Zahnlos. Der Mann schien immer noch bewusstlos zu sein. Sie überlegte, ob sie ihm noch einen Schlag gegen den Kopf verpassen sollte, um sicherzustellen, dass sich dies so schnell nicht ändern würde, aber dann sah sie den Schotten wieder an. Am besten wäre es, ihn möglichst schnell auf sein Pferd zu hieven und zusammen mit ihm so weit weg wie möglich zu kommen – vor allem weg von Zahnlos. Nachdem Joan sich einen kurzen Überblick über das verschafft hatte, was ihr zur Verfügung stand, trat sie zum Pferd ihres Retters. Es war ein wunderschönes Tier. Nur jemand aus dem Adel konnte ein so schönes Pferd besitzen. Sie flüsterte ihm etwas zu und gurrte leise, als sie näher heranging, und dann, als sie bei ihm stand, strich sie ihm über die Nüstern, griff nach seinen Zügeln und führte es neben seinen Besitzer.

Danach begann Joan, den toten Angreifern rasch ihre Kleidung auszuziehen. Die Sachen waren zwar an einigen Stellen fadenscheinig und zum Teil zerrissen, aber das machte es andererseits leichter, den Stoff in Streifen zu reißen und daraus ein Seil zu knoten. Sie konnte nur hoffen, dass der Stoff das Gewicht des Schotten tragen würde.

Zahnlos rührte sich jetzt wieder, und Joan unterbrach ihre Arbeit, um ihm noch einmal einen Schlag auf den Kopf zu geben. Zufrieden, dass er abermals das Bewusstsein verlor, schlang sie das behelfsmäßige Seil unter den Armen des Schotten hindurch um seine Brust. Das freie Ende warf sie über den Sattel, lief dann auf die andere Seite des Pferdes und griff nach dem Seil. Sie stemmte die Füße gegen den Boden und begann zu ziehen.

Der Mann war schwer. Joan musste in die Knie gehen und sich mit ihrem ganzen Gewicht an das Seil hängen, um den Schotten auf das Pferd zu ziehen. Schließlich hatte sie es geschafft, und er lag bäuchlings quer auf seinem Pferd, die Arme baumelten auf der einen, die Beine auf der anderen Seite herunter.

Joan seufzte vor Erleichterung und ließ das Seil los, dann lief sie wieder zur anderen Seite des Pferdes, griff unter dem Bauch des Tiers hindurch, zog das herunterhängende Stoffseil zu sich und band es um die Knöchel des Mannes. Es war das Einzige, das ihr einfiel, um dafür zu sorgen, dass er nicht herunterfiel und sie noch mal von vorn anfangen musste. So war es zwar möglich, dass er verrutschen konnte, aber selbst wenn er unter dem Bauch des Tieres hinge, bliebe er doch immer noch mit dem Pferd verbunden. Und dass er verrutschen könnte, hoffte sie zu verhindern, indem sie hinter ihm saß. Sie holte ihren Beutel und sammelte auch die Waffen ein, die die Männer benutzt hatten.

In den Sattel zu steigen war eine Herausforderung für sich, aber schließlich meisterte Joan sie. Als sie saß, griff sie sofort nach den Zügeln, hielt dann jedoch einen Moment inne. Ihr war heiß und sie schwitzte, ihr Gesicht und ihr Kopf schmerzten, und ihr war etwas schwindelig. Um nicht zu riskieren, dass sie ohnmächtig wurde und vom Pferd fiel, wartete Joan, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte und ihr Kopf wieder klarer wurde. Währenddessen ließ sie Zahnlos nicht aus den Augen, aus Angst, er könnte sich wie ein Ungeheuer aus irgendeinem Albtraum plötzlich erheben und sie daran hindern, zu entkommen. Aber das tat er nicht; vielmehr lag er noch immer reglos auf der Straße, während sie dem Pferd die Fersen in die Seiten drückte, damit es sich in Bewegung setzte. Drei Mal versuchte Joan es, bevor sie sich eingestand, dass mit dem Tier etwas nicht stimmte … oder sie etwas nicht richtig machte. Schließlich hatte sie noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen und keine Ahnung, wie man ritt. Seufzend rutschte sie wieder herunter, ging um das Tier herum, nahm die Zügel und führte es den Weg entlang.

Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte, aber es schien ihr das Sinnvollste zu sein, Abstand zu diesem Ort hier zu gewinnen. Sie nahm sich vor, eine Wegstrecke von etwa einer Stunde zurückzulegen und dann nach einer geschützten Stelle Ausschau zu halten, an der sie verweilen konnten. Einen Ort, an dem Zahnlos sie nicht finden würde. Und danach … Nun, sie beschloss, so lange bei dem Schotten zu bleiben, bis es ihm gut genug ging, dass er sich wieder selbst um sich kümmern konnte. Das war sie ihm schuldig, hatte er ihr doch das Leben gerettet.

Cam fühlte sich absolut furchtbar. Das war das Erste, was er wahrnahm, als er aufwachte. Sein Rücken schmerzte, sein Mund war staubtrocken, und – wie er plötzlich begriff – er lag auf dem Bauch, und sein nackter Arsch ragte in die Luft. Was zum Teufel …? Er versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, aber jemand drückte ihn mit der Hand nach unten und verhinderte es.

»Nein, nicht bewegen.«

Cam warf einen misstrauischen Blick über die Schulter und atmete erleichtert aus, als er den Jungen erkannte, den er gerettet hatte. Genau genommen konnte er nur vermuten, dass er es war, denn sein Gesicht sah schrecklich aus. Der arme Kerl hatte wirklich üble Prügel bezogen. Sein Gesicht war so geschwollen, dass es unter der Wollmütze, die er trug, regelrecht deformiert aussah. Der Junge musste mindestens genauso starke Schmerzen haben wie er selbst, wenn nicht sogar noch schlimmere.

»Was zum Teufel tust du da, Junge?«

»Ich säubere Eure Wunde, bevor ich einen neuen Verband anlege.« Die Worte klangen verschwommen, was zweifellos damit zu tun hatte, dass auch sein Mund geschwollen war. »Das brennt jetzt teuflisch, ich weiß, aber es geht nicht anders.«

Cam grunzte als Antwort, dann steckte er sich die Faust in den Mund, um nicht laut aufzuschreien, als etwas über seine Wunde gegossen wurde und es sich plötzlich so anfühlte, als würde sein ganzer unterer Rücken in Flammen stehen.

»Atmet weiter«, empfahl der Junge. »Ihr haltet die Luft an, aber es wird leichter für Euch sein, wenn Ihr trotz des Schmerzes weiteratmet.«

Cam stieß den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte, und bemühte sich, tief durchzuatmen. Seltsamerweise half das. Zwar konnte es den Schmerz nicht ganz nehmen, machte ihn aber erträglicher. Er atmete jetzt gleichmäßig ein und aus, bis das Brennen verschwand und nur ein bohrender Schmerz übrig blieb.

»Ihr müsst Euch aufsetzen, damit ich die Wunde verbinden kann.«

Cam nahm die Faust vom Mund und kämpfte sich vorsichtig auf alle viere, hockte sich auf die Fersen und hob die Arme. Er scherte sich nicht darum, dass er vollkommen nackt war. Der Junge gab etwas auf die Wunde, das Cam als lindernd empfand, dann wickelte er ihm einen langen Stoffstreifen um den Unterkörper, wobei er immer wieder um seinen Bauch herumgriff. Als der Junge das dreimal getan hatte, stopfte er das Stoffende seitlich in den Verband.

»Das war’s.«

Cam warf einen Blick über die Schulter und sah, dass der Junge seine Heilmittel und Instrumente in einen Stoffbeutel packte.

»Ihr solltet Euch jetzt anziehen«, empfahl der Junge und deutete mit einem Nicken an ihm vorbei. »Es ist heute kühl.«

Cam sah wieder nach vorn und stellte fest, dass er auf seinem Plaid gelegen hatte. Er hob es hoch, schüttelte es rasch aus und breitete es auf dem Boden aus, um die Falten zu legen. Zwischendurch schaute er nach oben. Die Sonne stand hoch am Himmel, was bedeutete, dass es ungefähr Mittag sein musste. Er erinnerte sich, dass es später Nachmittag gewesen war, als er das letzte Mal bei Bewusstsein gewesen war. Er musste also mindestens einen Tag lang bewusstlos gewesen sein. Daraufhin sah er sich um und stellte fest, dass er diese Gegend nicht kannte.

»Wie viel Zeit ist seit dem Angriff vergangen?«, fragte Cam, als er das Plaid fertig gefaltet hatte. Beim Aufrichten sah er seinen Gürtel, nahm ihn und schob ihn unter den gefalteten Stoff. Dann legte er sich rücklings darauf. Zum ersten Mal bemerkte er, wie viele Bewegungen mit dem Anlegen des Plaids verbunden waren, spürte er doch jede einzelne Positionsverlagerung als Schmerz in seinem Rücken. Als hätte es nicht gereicht, dass er auf der verletzten Stelle liegen musste.

Cam zog das eine Ende des Plaids um seinen Körper, dann fiel ihm auf, dass der Junge ihm nicht geantwortet hatte. Er sah ihn an und stellte fest, dass der Bursche ihm auf die Lenden starrte – mit weit aufgerissenen Augen und einer Mischung aus Faszination und Schrecken. Cam konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und schüttelte leicht den Kopf. »Keine Sorge, du bist noch ein Grünschnabel. Deiner wird im Laufe der Zeit auch noch größer.«

Der Junge blinzelte ihn an. »Was wird größer …« Die Worte verkümmerten in seiner Kehle, dafür schoss sein Blick, in dem jetzt Erkenntnis dämmerte, wieder zu Cams Lenden. Errötend wandte der Junge sich ab und widmete sich ganz und gar dem Packen seines Stoffbeutels.

Kichernd legte Cam sein Plaid fertig an und stand dann vorsichtig auf. »Du hast noch nicht geantwortet … Wie lang ist der Angriff her?«

»Ihr seid drei Tage ohnmächtig gewesen«, antwortete der Junge, schloss den Beutel und zog das Band oben fest zusammen.

»Drei Tage?«, fragte Cam ungläubig. Er machte ein finsteres Gesicht. »Und ich bin nicht ohnmächtig gewesen.«

»Na schön, dann habt Ihr drei Tage lang geschlafen«, sagte der Junge mit einem Schulterzucken. Nach einem Moment fügte er widerwillig hinzu: »Ihr hattet fast die ganze Zeit hohes Fieber. Es ist erst heute Morgen deutlich gesunken.«

Cam verzog das Gesicht und sah sich um. Sie befanden sich auf einer Lichtung an einem Fluss. Eine Straße schien nicht in der Nähe zu sein. »Wo sind wir?«

»Ich hielt es für am besten, Euch irgendwo hinzuschaffen, wo Ihr in Ruhe genesen konntet«, sagte der Junge ruhig und richtete sich mit dem Beutel in der Hand auf. »Da dies jetzt der Fall ist, vermute ich, dass Ihr auf Euer Pferd steigen und Euch wieder auf den Weg machen werdet, also …« Der Junge nickte ihm zu. »Danke, dass Ihr mir das Leben gerettet habt. Es tut mir leid, dass Ihr dabei verletzt worden seid. Ich wünsche Euch eine sichere Reise.«

Cam wölbte unwillkürlich die Brauen, als der Junge zum Fluss ging und sich auf einen Felsbrocken setzte. Offenbar glaubte er wirklich, dass er, Cam, sich einfach auf sein Pferd setzen und davonreiten würde, kaum dass er wieder auf den Beinen war. Wobei dieses »auf den Beinen sein« schon sehr großzügig ausgelegt werden musste. Er stand zwar, aber seine Beine zitterten, und er fühlte sich außerordentlich schwach. Er war noch nicht so weit, weiterzureisen, aber selbst wenn er es gewesen wäre, hätte er den Jungen ganz gewiss nicht allein zurückgelassen, nachdem er ihn drei Tage lang gesund gepflegt hatte.

Cam sah sein Schwert und sein Messer am Boden liegen und hob die Waffen auf. Nur mit Mühe konnte er einen Schrei unterdrücken, als sich dabei die Wunde in seinem Rücken spannte. Verflucht. Vielleicht war es ganz gut, dass er die letzten drei Tage durchgeschlafen hatte. Wenn er sich selbst jetzt, nach vier Tagen, noch so fühlte, machte es ihm nicht das Geringste aus, dass er die ersten drei verpasst hatte.

Er richtete sich mit einer Grimasse wieder auf, schob sein Schwert und sein Messer in den Gürtel und ließ sich auf einem anderen Felsbrocken neben dem Jungen nieder. Einen Moment betrachtete er das langsam vorbeifließende Wasser, dann räusperte er sich. »Danke, dass du dich um mich gekümmert und mich gesund gepflegt hast.«

»Das war das Mindeste, das ich tun konnte«, erwiderte der Junge mit einem Schulterzucken. »Ihr seid verletzt worden, weil Ihr mich vor diesen Dieben gerettet habt … und dafür danke ich Euch.«

Cam musterte ihn schweigend mit einer hochgezogenen Braue. Der Junge war ein englisches Bauernkind und offensichtlich arm, denn seine Kleidung war fadenscheinig und schmutzig, und die Mütze sah nicht viel besser aus. Sein einziger Besitz schien der Beutel mit den Heilmitteln zu sein. »Was wollten sie dir eigentlich stehlen?«

»Meinen Beutel«, antwortete der Junge und strich mit den Fingern über den Beutel, den er zwischen seinen Füßen auf den Boden gestellt hatte.

»Deswegen haben sie dich geschlagen?«, vergewisserte sich Cam ungläubig und fragte sich, wieso diese Männer sich die Zeit genommen hatten, einen kleinen schwachen Kerl zusammenzuschlagen, wenn sie sich den Beutel doch einfach auch hätten nehmen und damit verschwinden können.

»Nein. Geschlagen haben sie mich, weil ich mich geweigert habe, ihnen den Beutel zu geben, und als sie ihn mir mit Gewalt weggenommen haben, hinter ihnen hergerannt bin, um ihn mir zurückzuholen«, gestand der Junge.

»Du hast dein Leben für einen Beutel mit Unkräutern riskiert?«, fragte Cam jetzt noch ungläubiger.

»Das ist kein Unkraut. Unkraut hätte Euch nicht das Leben gerettet. Es sind Kräuter«, sagte der Junge steif, dann seufzte er und hob einen Ast auf, der neben dem Felsbrocken lag. Geistesabwesend entfernte er die kleineren seitlichen Zweige. »Abgesehen davon ging es mir gar nicht um die Kräuter, sondern um eine Schriftrolle, die ich jemandem überbringen soll.«

»Eine Schriftrolle?«, fragte Cam neugierig.

Der Junge nickte und bohrte mit dem Stock in der Erde vor sich herum. »Meine Mutter hat mich auf dem Sterbebett gebeten, sie jemandem zu überbringen.«

»Oh«, sagte Cam voller Verständnis. »Es ist schwer, eine Bitte abzulehnen, die auf dem Sterbebett ausgesprochen wurde.«

»Oder sie nicht zu erfüllen«, fügte der Junge grimmig hinzu. »Ich muss die Schriftrolle überbringen. Meine Mutter sagte, sie würde in ihrem Grab nie Frieden finden, wenn ich es nicht täte.«

»Verstehe«, murmelte Cam. Sein Respekt vor dem Jungen wurde noch größer. Er hatte die Schläge nicht auf sich genommen, um irgendwelches Zeug zu retten, sondern weil er die Bitte einer Sterbenden erfüllen wollte. Er besaß also Ehre, und er hatte seine Mutter offenbar sehr geliebt. Als er von ihr gesprochen hatte, war seine Stimme deutlich tiefer geworden – ein Gedanke, der Cam bewusst machte, dass sie ansonsten ziemlich hoch klang. Und das bedeutete, dass der Junge noch jünger sein musste, als er ursprünglich gedacht hatte.

Cams Blick fiel auf den Beutel, und er schüttelte den Kopf. Die Diebe hatten ganz sicher kein Interesse an einer Schriftrolle oder irgendwelchem Unkraut gehabt, das sich in dem Beutel befand. Hätte der Junge ihn den Banditen einfach überlassen, wäre wahrscheinlich nichts weiter passiert, als dass sie ihn ausgeschüttet und – da sie nichts Wertvolles gefunden hätten – sich einfach wieder auf den Weg gemacht hätten, ohne ihm etwas zu tun. Aber er hatte sich so standhaft geweigert, den Beutel aufzugeben, und war so entschlossen gewesen, ihn sich zurückzuholen, dass die Männer zweifellos gedacht haben mussten, es würde sich ein kleines Vermögen darin befinden.

»Wie heißt du, Junge?«

»Joan-Joan-as«, antwortete der Junge.

»Jonas?«, fragte Cam und fragte sich, ob er stotterte oder einen anderen Sprachfehler hatte. Vielleicht lag es aber auch nur an seinem geschwollenen Gesicht, dass er so sprach.

»Aye, Jonas«, murmelte der Junge und senkte den Kopf.

»Nun, Jonas, ich bin Campbell Sinclair. Für meine Freunde Cam.«

»Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Campbell Sinclair«, murmelte Jonas und senkte den Kopf für einen Moment noch ein wenig tiefer.

»Wie ich schon sagte, meine Freunde nennen mich Cam, und sie sagen du zu mir, und da du mir das Leben gerettet hast, denke ich, dass ich dich auch als einen Freund betrachten kann«, sagte er und lächelte.

»Cam«, murmelte Jonas, dann räusperte er sich und sagte: »Du kannst mich Jo nennen. So nennen meine Freunde mich.«

»Also Jo«, sagte Cam ungezwungen.

Sie schwiegen beide einen Moment, dann fragte Jo: »Ist Campbell nicht ein Clan-Name?«

»Aye. Es war der Clan meiner Mutter. Sie hat mir ihren Nachnamen als Vornamen gegeben«, erklärte er.

»Oh.« Jonas nickte und fing an, wieder mit seinem Stock im Boden zu graben.

»Ich würde gern die Schriftrolle sehen«, sagte Cam plötzlich. Augenblick schoss Jonas’ Kopf hoch, und er zog die Augen zusammen. Cam schüttelte den Kopf. »Ich will sie dir nicht wegnehmen. Ich muss sie nicht einmal anfassen. Ich würde sie einfach gern sehen.«

Jonas zögerte, aber dann legte er den Stock beiseite und öffnete den Beutel. Nachdem er einen Moment darin herumgewühlt hatte, zog er eine kleine, aber dicke Schriftrolle heraus. Cam konnte das Wachs sehen, mit dem sie versiegelt war und das von einer Kerze zu stammen schien. Es trug keine Prägung, wie es bei der Nachricht einer Adeligen der Fall gewesen wäre. Aber in aller Regel besaß ein Bauer auch keinen Siegelring, und ebenso wenig zählten Schriftrollen zu seinem Besitz.

»Steck die Schriftrolle in dein Hemd«, sagte Cam schließlich. »Dort ist sie geschützter. Wenn das nächste Mal jemand versucht, deinen Beutel zu stehlen, musst du nicht dein Leben riskieren, um sie zu behalten.«

Jonas zog die Brauen hoch, aber dann nickte er und schob die Schriftrolle von oben ins Hemd. Sie zeichnete sich unter dem locker darüberfallenden Stoff ab, aber das würde man nur erkennen, wenn man danach suchte. Cam nickte zufrieden.

»Du reibst dir den Bauch. Tut er weh, oder hast du Hunger?«, fragte Jonas plötzlich.

»Ich habe Hunger«, gestand Cam und verzog das Gesicht. Sein Magen fühlte sich vollständig leer an. Wenn er eine Münze verschlucken würde, würden sie bestimmt hören, wie sie sich in seinem leeren Magen hin und her bewegte, dessen war er sich sicher.

Jonas nickte und stand auf. »Ich fange ein Kaninchen und besorge ein paar Beeren.«

»Ich kann dir helfen«, sagte Cam und stand auf.

Jonas unterließ es, ihn durch den Hinweis darauf zu demütigen, dass er schwankte wie ein Schössling in einer steifen Brise. Er schüttelte einfach nur den Kopf. »Allein bin ich schneller. Abgesehen davon wirst du noch eine ganze Weile schnell müde werden. Du solltest hier warten und dich ausruhen.«

Bevor Cam darauf antworten konnte, war der Junge zwischen den Bäumen verschwunden. Seinen Beutel hatte er zurückgelassen. Cam hätte gern geglaubt, dass es ein Zeichen seines Vertrauens war, aber er wusste, dass es einen anderen Grund gab. Der Junge trug jetzt das Einzige, das ihm wichtig war, am eigenen Körper. Nichtsdestotrotz hatte sich das Unkraut als sehr nützlich erwiesen und könnte es wieder sein. Cam bückte sich und griff nach dem Beutel. Er presste die Zähne gegen den heftigen Schmerz zusammen, den die Bewegung verursachte. Vorsichtig richtete er sich wieder auf und trug den Beutel zu seinen eigenen Sachen, dann legte er sich auf den Boden und drehte sich auf die Seite. Es war eine gute Idee, sich ein bisschen auszuruhen.

Joan war nicht überrascht, dass Cam schlief, als sie zum Lager zurückkehrte. Sie hatte genügend verletzte Männer gesehen, um zu wissen, dass er auch die nächsten ein oder zwei Tage noch viel schlafen würde. Vielleicht sogar noch länger. Für sie war das in Ordnung. Sie hatte in den letzten paar Tagen ganz bestimmt nicht viel Schlaf bekommen, da sie die ganze Zeit über ihn gewacht hatte. Sie hatte sich nicht getraut zu schlafen, während er Fieber gehabt hatte. Stattdessen war sie immer wieder mit seinem Plaid zum Fluss gegangen und hatte es in das kalte Wasser getaucht, ehe sie es wieder auf seinen Körper gelegt hatte, um ihn abzukühlen. Es war das Einzige, was ihr eingefallen war, um sein Fieber zu senken. Joan hatte nicht gezählt, wie oft sie zwischen dem Fluss und dem Bewusstlosen hin und her gelaufen war. Er war so heiß gewesen, dass der Stoff binnen weniger Minuten warm geworden war und angefangen hatte zu trocknen. Ansonsten war ihr nur noch geblieben, ihm Weidenrindentee einzuflößen, zusammen mit anderen Tinkturen, die vielleicht helfen mochten … Und dann hatte sie warten müssen. Seit das Fieber endlich gesunken war, musste sie nicht mehr ständig auf ihn achtgeben. Es bedeutete, dass auch sie sich endlich ausruhen und schlafen konnte.

Sie hockte sich neben die Feuerstelle und widmete sich dem Kaninchen. Es war nicht das erste Mal, dass sie eines ausweidete, daher dauerte es nicht lange. Als sie fertig war, brachte sie ein Feuer in Gang, suchte einen passenden dicken Zweig und spießte das Tier darauf auf. Als sie es über das Feuer hängte, musste sie daran denken, dass ein Topf sehr praktisch gewesen wäre. Suppe hätte Cam weit besser getan als gebratenes Fleisch. Abgesehen davon war sie auch auf wilde Zwiebeln und Karotten gestoßen, während sie das Kaninchen gefangen hatte. Wie auch immer, sie hatte keinen Topf, also würden sie mit gebratenem Kaninchen vorliebnehmen müssen und dem Gemüse, das sie in große Blätter eingewickelt hatte und in den heißen Kohlen briet.

Seufzend nahm Joan ihre Mütze ab und fuhr sich müde mit einer Hand durch die langen Haare, die ihr jetzt über die Schultern fielen. Sie war erschöpft und schmutzig. Sie hatte nicht mehr gebadet, seit sie sich vor zwei Wochen auf den Weg gemacht hatte, und ihr ganzer Körper juckte. Zwei Wochen, und noch immer war sie in England und hatte Schottland nicht erreicht, dachte sie mit einem Kopfschütteln. Sicher, ihre Reise war das eine oder andere Mal unterbrochen worden, als sie einem Kranken hatte helfen müssen, einem verletzten Reisenden, aber trotzdem hatte sie damit gerechnet, inzwischen schon sehr viel weiter gekommen zu sein.

Seufzend setzte sie sich die Mütze wieder auf und sah zu Cam hin. Für einen Schotten schien er ganz in Ordnung zu sein. Immerhin hatte er sich die Mühe gemacht, anzuhalten und sie aus einer üblen Situation zu retten. Das hätten nicht viele Menschen getan. Er hatte sich sogar bei ihr bedankt, weil sie sich um ihn gekümmert hatte – etwas, das sie von Adeligen nicht gewohnt war. Gewöhnlich nahmen sich Adelige einfach, was sie wollten, ohne Rücksicht zu nehmen, oder sie betrachteten eine freundliche Geste als etwas, auf das sie Anspruch hatten. Aber er hatte sich bei ihr bedankt.

Nun, er hielt sie ja auch für einen Jungen, rief Joan sich in Erinnerung. Sie wusste nicht, ob es einen Unterschied machte oder nicht. Vielleicht hätte er sich trotzdem bei ihr bedankt, auch wenn er gewusst hätte, dass sie eine Frau war. Sie würde es also nie wissen, denn er würde nie erfahren, dass sie kein Junge war. Joan hatte die Wahrheit gesagt, als sie ihm erzählt hatte, dass sie einen Auftrag ausführte, den ihre Mutter ihr auf dem Sterbebett gegeben hatte. Aber ihre Mutter hatte ihr noch etwas aufgetragen, nämlich dass sie sich für die Reise als Junge verkleiden sollte. Es war eine kluge Idee gewesen. Nach allem, was bisher geschehen war, glaubte Joan nicht, dass sie es auch nur bis hierher geschafft hätte, wäre sie als die Frau losgezogen, die sie in Wirklichkeit war. Selbst als Junge war sie einigen ziemlich verabscheuungswürdigen Gestalten begegnet, deren Absichten weniger als unehrenhaft waren. Einige Male war sie nur knapp davongekommen. Diese letzte Situation war allerdings die schlimmste gewesen.

Joan warf Cam wieder einen Blick zu, wie sie es in den letzten Tagen immer wieder getan hatte. Sie konnte nicht anders; er sah gut aus mit den blonden Haaren, die ihm um das hübsche Gesicht fielen. Er war auch gut gebaut. Der Mann hatte unglaublich viele Muskeln. Und sein Hintern? Joan schüttelte leicht den Kopf, versuchte, die Erinnerung daran zu vertreiben. Als sie ihn die ersten Male versorgt hatte, war es ihr gelungen, seinen Po nicht weiter zu beachten, aber die Versuchung oder vielleicht auch die Erschöpfung hatten sie am Ende geschwächt, und schließlich hatte sie angefangen, immer wieder auf seinen Hintern zu starren, während sie seine Wunde versorgt hatte … Und es war ein wirklich schöner Hintern. So schön, dass sie begonnen hatte sich zu fragen, ob er eine Frau hatte. Wahrscheinlich war das so … Und falls nicht, hatte er ganz sicher eine Verlobte. Solche Dinge wurden bei Adeligen bereits arrangiert, wenn sie Kinder waren.

Joan wusste nicht, warum sie sich überhaupt darüber Gedanken machte. Ein Lord würde sich nie für ein Dorfmädchen interessieren, zumindest nicht ernsthaft, und mehr als eine bloße Tändelei in ihr sehen. Und Joan hatte keinerlei Absicht, die Tändelei von irgendwem zu werden. Genau genommen glaubte sie auch nicht, dass sie die Ehefrau von irgendwem sein wollte. Seit ihrer Geburt war sie von ihrer Mutter mitgenommen worden, wenn jemand ein Kind geboren hatte oder geheilt werden musste. Joans erste Erinnerung war die an eine Geburt, die schiefging. Sie hatte nichts als undeutliche, verschwommene Erinnerungen an Blut und Geschrei, aber das genügte. Seither hatte sie bei vielen anderen Vorfällen erlebt, was bei der Geburt so alles passieren konnte. Sie hatte Frauen gesehen, die dort unten so aufgerissen waren, dass ihr Blut schwarz wurde. Sie hatte Frauen sterben sehen, deren Kind noch immer in ihrem Leib gewesen war. Sie hatte auch alles andere gesehen, das es bei Geburten zwischen diesen beiden Extremen gab, und es genügte, um ihr jeden Wunsch nach eigenen Kindern auszutreiben.

Nein, Kinder waren nichts für sie. Joan fühlte sich zufrieden als Heilerin und Geburtshelferin, und sie versorgte die Kranken gern. Sie hegte keinerlei Wunsch, sich an einen Mann zu binden und Kinder zu bekommen. Egal, wie attraktiv der Hintern dieses Mannes auch sein mochte.

2

»Hmmm. Wirklich lecker.«

Joan warf Cam einen Blick von der Seite zu und nickte schweigend. Sie saßen nebeneinander auf einem kleinen Baumstamm bei dem Feuer, das sie entfacht hatte, und aßen das Kaninchen und Gemüse. Dafür, dass sie so wenig damit getan hatte, hatte sich die Mahlzeit als erstaunlich schmackhaft herausgestellt. Aber vielleicht schmeckte ihr das Essen auch nur deshalb so gut, weil sie kein Fleisch mehr gegessen hatte, seit sie zu dieser Reise aufgebrochen war. Da sie allein gereist war, hatte Joan keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder Zeit verschwenden wollen, indem sie ein Feuer machte, und so hatte sie sich auf Beeren und irgendwelches wildes Gemüse beschränkt, das sie unterwegs gefunden hatte. Sie hatte auch zwei Laibe Brot in ihrem Beutel gehabt, als sie aufgebrochen war, hatte allerdings das letzte Stück gegessen, während sie über Cam gewacht hatte.

Natürlich fand er auch, dass es schmeckte. Aber andererseits war es für ihn der erste Bissen, den er seit drei Tagen zu sich genommen hatte. Ganz sicher beeinflusste dies seine Meinung.

»Also, Jo«, sagte Cam plötzlich, einen Bissen Kaninchenfleisch noch im Mund. »Wie alt bist du?«

»Zwanzig«, antwortete Joan ohne nachzudenken. Als der Schotte in lautes Lachen ausbrach, sah sie ihn überrascht an.

»Entschuldige, Junge, aber du reichst mir gerade mal bis zur Brust, du hast noch keinen Bartwuchs, deine Stimme muss sich noch verändern, und du hast noch keinerlei Muskeln.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du mehr als zwölf oder dreizehn Jahre gesehen hast, ess ich mein Pferd.«

Joan zog den Kopf ein und stach in ihr Fleisch, aber ihre Gedanken wirbelten. Für einen kurzen Moment hatte sie vergessen, dass sie sich als Junge ausgab. Ein gefährlicher Ausrutscher. Nicht, dass sie glaubte, Cam würde ihr etwas tun, wenn er wusste, dass sie eine Frau war. Sie hatte ihm immerhin das Leben gerettet, und das, nachdem er sie gerettet hatte. Es deutete nichts darauf hin, dass er jemand war, der eine allein reisende Frau überfiel. Abgesehen davon gab es nicht viel, das er von ihr wollen konnte. Sie besaß kein Geld, und nach dem, was sie im Spiegelbild des Flusses von ihrem Gesicht gesehen hatte, als sie das Kaninchen gewaschen hatte, sah sie furchtbar aus. Joan hatte sich kaum wiedererkannt. Ihr Gesicht war fast überall geschwollen. Ihre Augen hatten schwarze Ringe, die gerade erst angefangen hatten, sich an den Rändern, wo die Prellungen allmählich abklangen, grün zu färben. Ihre Oberlippe war geschwollen und aufgeplatzt, und an ihrem Kinn befand sich ein weiterer dunkler Fleck. Sie war alles andere als attraktiv genug, um einen Mann dazu zu bringen, über sie herzufallen. Trotzdem hatte sie sich nicht ohne Grund für diese Verkleidung entschieden. Vorsicht war besser als Nachsicht. Abgesehen davon wollte sie nicht, dass Cam gezwungen war, sein Pferd zu essen.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln, was wiederum dazu führte, dass sie zusammenzuckte, weil das der aufgeplatzten Lippe gar nicht guttat.

»Für wen ist der Brief, den du nach Schottland bringst?«, fragte Cam plötzlich.

Joan zögerte mit der Antwort. Die Schotten waren bekannt für ihre Clan-Fehden. Würde er versuchen, sie daran zu hindern, ihre Aufgabe zu erfüllen, wenn die MacKays Feinde der Sinclairs waren? Sie runzelte nachdenklich die Stirn.

»Du willst es mir nicht sagen?«, fragte er überrascht, als sie immer noch nicht antwortete.

Joan zuckte mit den Schultern. »Wieso interessiert dich das?«

Statt darauf zu reagieren, lenkte er ab. »Dann erzähl mir etwas über deine Mutter.«

Jetzt schossen ihre Brauen überrascht hoch. »Warum?«

»Warum nicht?«, fragte Cam mit einem Schulterzucken. »Wir sind beide nicht in der Verfassung, weiterzureisen, und wir haben auch nichts Besseres zu tun, als zu reden. Abgesehen davon bin ich neugierig, was es für eine Art Frau ist, die einen Jungen auf eine solche Reise schickt. Es ist schließlich keine Kleinigkeit für einen Jungen, zu Fuß und ohne eine Münze diese lange Strecke zu bewältigen. Sie muss gewusst haben, dass sie dir eine schwierige und gefährliche Aufgabe stellt, und trotzdem hat sie es getan.«

Joan senkte wieder den Kopf. Die Tatsache, dass sie eine Frau war, machte diese Aufgabe für sie sogar noch gefährlicher, als Cam ahnte, und ihre Mutter war sich dessen nur zu bewusst gewesen. Sie hatte sich immer wieder darüber Sorgen gemacht und sie vor den vielen verschiedenen Gefahren gewarnt. Sie hatte darauf bestanden, dass Joan jede Vorsichtsmaßnahme ergriff, und war wütend auf sich selbst gewesen, weil sie die Sache nicht in die Hand genommen hatte, als sie dazu noch gesund genug gewesen war. Schließlich hatte sie sich bei Joan entschuldigt und ihr gesagt, dass sie sie liebte und dass sie hoffte, dass Joan das nie vergessen und ihr vergeben würde.

Joan dachte jetzt darüber nach, fragte sich wie schon so oft, was wohl in der Schriftrolle stand. Sie fragte sich auch, wer die MacKays waren und für was ihre Mutter glaubte Vergebung brauchen zu müssen.

»War deine Mutter Schottin?«, fragte Cam plötzlich.

Joan verscheuchte ihre Gedanken mit einem Augenblinzeln und schüttelte den Kopf. »Engländerin.«

»Bist du dir sicher?«, fragte er. »Vielleicht war ihre Mutter eine Schottin und …«

»Nein«, unterbrach Joan ihn. »Sie hat oft von meinen Großeltern gesprochen. Sie waren beide Engländer. Er war ein Schmied und ist gestorben, als sie noch ein Kind war, und ihre Mutter war eine Heilerin und Geburtshelferin wie sie. Sie hat meine Mutter im Heilen ausgebildet, bis sie an einem Lungenleiden gestorben ist. Genauso, wie meine Mutter mich ausgebildet hat, bis sie krank wurde.«

»Ah«, murmelte Cam, und als Joan ihn fragend ansah, sagte er: »Ich hatte mich schon gefragt, woher du so viel über das Heilen weißt.«

Joan nickte. »Ich war ihr Lehrling. Sie hat mir alles beigebracht, was sie wusste.«

»Dann habt ihr euch sehr nahegestanden«, murmelte Cam.

»Aye«, flüsterte Joan und spähte ins Feuer, als sie von Erinnerungen überwältigt wurde. Maggie Chartres war eine gute Frau gewesen, klug, tüchtig und liebevoll. Sie war die beste Mutter, die Joan sich hätte wünschen können … und sie vermisste sie schrecklich. Ihr Verlust hatte sich angefühlt, als wäre das Ende der Welt gekommen. Ihre Großeltern waren bereits tot gewesen, als Joan geboren worden war, und ihre Mutter war die einzige Familie, die sie gehabt hatte. Jetzt war sie ganz allein, ohne Familie, ohne Heim, und sie hatte kein anderes Ziel, als ihrer Mutter diesen letzten Wunsch zu erfüllen.

»Könnte dein Vater Schotte gewesen sein?«, fragte Cam.

Joan lächelte schwach, aber sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Zumindest hat sie das nie gesagt. Er ist gestorben, bevor ich geboren wurde«, erklärte sie und fügte hinzu: »Soweit ich weiß, war er ein einfacher englischer Stalljunge.«

Cam nickte. Sie schwiegen beide einen Moment, bis er wieder sprach. »Was hast du vor, wenn du die Nachricht deiner Mutter übergeben hast?«

Joan lächelte schief; sie fragte sich, ob er hellsehen konnte. Seine Gedanken schienen genau in die gleiche Richtung zu gehen wie ihre. Sie seufzte und zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, gestand sie dann.

»Wirst du in dein Dorf zurückkehren?«, fragte Cam.

»Nein«, sagte sie mit rauer Stimme. »Das Zuhause, in dem ich aufgewachsen bin, gehört dem Augustiner-Kloster. Als Gegenleistung für ihre Fähigkeiten als Heilerin haben sie meiner Mutter gestattet, dort zu leben. Sie hat dem Kloster gedient, der Abtei und dem Dorf. Jetzt, da sie tot ist …« Sie schüttelte müde den Kopf, und er beendete den Satz für sie.

»Sie haben dir dein Zuhause wieder weggenommen.«

Sie nickte. »Ich hatte gehofft, ich könnte die Stelle meiner Mutter übernehmen und als Heiler für das Dorf und die Abtei und das Kloster arbeiten.« Joan hatte es nicht nur gehofft, sie hatte Bruder Wendell regelrecht angefleht, ihr zu erlauben, die Position zu übernehmen.

»Aber sie haben es abgelehnt?«, sagte Cam ruhig.

»Sie fanden, dass ich noch zu jung bin und noch weiter ausgebildet werden müsste«, sagte Joan verbittert. »Ich habe ihnen erklärt, dass meine Mutter mir alles beigebracht hat, was sie wusste, aber er hat nur den Kopf geschüttelt und gesagt, dass Gott andere Pläne für mich hätte und dass er bereits einen Ersatz für meine Mutter gefunden hätte. Er würde die Hütte für den neuen Heiler brauchen. Abgesehen davon, meinte er, hätte ich doch ohnehin noch etwas für meine Mutter zu erledigen.«

»Er wusste von der Nachricht deiner Mutter?«, fragte Cam überrascht.

»Aye. Als meine Mutter krank wurde, hat er uns täglich besucht. Seine Anwesenheit hat sie getröstet.« Joan lächelte schwach bei der Erinnerung. Häufig, wenn sie zur Hütte zurückgekehrt war, hatte sie die beiden in ernsten Gesprächen vorgefunden, die abrupt geendet hatten, wenn sie eingetreten war. Es hatte fast verstohlen gewirkt. Einmal war sie von einem Auftrag früher als erwartet zurückgekommen und hatte den Mönch dabei überrascht, wie er ein Pergament beschrieben hatte. Er hatte es rasch zusammengerollt und in seinen Ärmel geschoben, bevor er gegangen war, aber Joan vermutete, dass es genau die Schriftrolle war, die sich jetzt im Innern ihres Hemdes befand. Sie berührte die Schriftrolle unbewusst mit einer Hand durch den Stoff hindurch, während sie zugab: »Ich denke, er hat für sie die Nachricht geschrieben. Mutter war am Ende zu schwach, um noch schreiben zu können.«

»Deine Mutter konnte schreiben?« Cam verbarg seine Überraschung über diese Neuigkeit nicht, und Joan vermutete, dass sie sich durch seine Verblüffung nicht gekränkt fühlen sollte. Es kam nicht oft vor, dass jemand außerhalb des Adels lesen oder schreiben konnte.

»Aye, sie hat es noch vor meiner Geburt von einer der Nonnen in einem Kloster gelernt, in dem sie gearbeitet hat.«

»Hat sie es dir auch beigebracht?«, fragte er neugierig.

Joan nickte nur.

»Das ist eine wertvolle Fähigkeit, Junge«, sagte Cam ernst. »Damit und mit deinen Heilfähigkeiten dürftest du keine Probleme haben, eine Position zu finden, wenn du deine Aufgabe in Schottland erledigt hast.«

Joan sagte dazu nichts. Was er sagte, mochte durchaus zutreffen, zumindest, wenn sie ein Mann gewesen wäre. Aber sie war keiner, und das würde alles deutlich schwieriger machen. Ihre Mutter war nur deshalb so gut zurechtgekommen, weil sie die Gunst der Äbtissin errungen hatte, die das Kloster leitete, in dem sie aufgewachsen war. Joan war davon ausgegangen, dass sie ebenfalls die Zuneigung und Gunst der Äbtissin von Wellow Abbey besaß und auch die der Mönche des Augustiner-Klosters. Beide hatten sie jedoch sanft, aber freundlich abgewiesen, als sie zu ihnen gegangen war.

»Vielleicht handelt es sich bei dieser Nachricht, die deine Mutter hinterlassen hat, um die Bitte um eine Position für dich«, sagte Cam nachdenklich. »Sie war zwar vielleicht keine Schottin, aber das heißt nicht, dass sie keine schottischen Bekannten gehabt haben kann. Vielleicht hat sie diesen Schotten einmal das Leben gerettet und hoffte, sie würden sich aus Dankbarkeit veranlasst fühlen, dir eine Position anzubieten.«

Joan runzelte bei dem Vorschlag die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Das glaube ich nicht. Sie hat so etwas nie erwähnt, nicht einmal den Namen genannt. Genau genommen habe ich ihn vorher noch nie gehört.«

»Welchen Namen?«

»Mac …« Joan unterbrach sich selbst und sah ihn finster an. Er hatte sie fast dazu verleitet, den Empfänger der Nachricht preiszugeben.

»Warum willst du mir den Namen nicht sagen?«, fragte Cam.

Joans Brauen wölbten sich, nicht wegen der Frage, sondern wegen der Miene, mit der er gefragt hatte. Er wirkte beinahe misstrauisch. Sie verstand, warum, als er weitersprach. »Sind es Feinde von meinem Clan?«

»Ich weiß nicht, wen die Sinclairs zu ihren Feinden zählen«, sagte sie aufrichtig und fragte dann: »Aber wenn es ein Feind wäre, würdest du dann versuchen, mich daran zu hindern, die Nachricht zu überbringen?«

»Nein, natürlich nicht«, versicherte er ihr. Dann grinste er. »Aber ich würde dir auch nicht dabei helfen«, räumte er ein.

Wider Willen musste Joan bei seinen Worten lächeln, und dann zuckte sie erneut zusammen, als ihre Lippe sich schmerzhaft bemerkbar machte.

»Komm schon, erzähl mir, für wen die Nachricht ist«, drängte Cam. »Die Sinclairs haben nicht viele Feinde. Viel wahrscheinlicher ist, dass es sich um Freunde von uns handelt. Das würde bedeuten, dass ich mich dafür bedanken könnte, dass du so nett warst, mir das Leben zu retten, indem ich dich dorthin begleite … oder zumindest ein gutes Stück dorthin, sofern es mich nicht allzu weit von meinem Weg wegführt.«

Joan musterte ihn schweigend. Sie war zu stolz, um ihn um Hilfe zu bitten, aber auch nicht so stolz, dass sie sein Angebot nicht annehmen würde. Es wäre eindeutig sicherer für sie, nicht allein reisen zu müssen. Sie dachte kurz nach, atmete dann tief ein und aus und sagte es ihm. »Lord und Lady MacKay.«

Cam strahlte, und dann versetzte er ihr einen Stups gegen den Oberarm. »Du hast Glück, Junge. Die MacKays sind mit den Sinclairs gut befreundet. Sogar sehr gut.« Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Und was noch besser ist, sie sind unsere Nachbarn. Ich kann dich also direkt zu ihnen bringen.«

Joan richtete sich langsam auf. Sein freundlicher Stupser hätte sie fast vom Baumstamm gestoßen. Sie schaffte es zu lächeln, ohne dass ihre Lippe zu sehr schmerzte, und nickte. »Danke.«

Eine Weile aßen sie schweigend weiter. »Du hast also keine Familie, abgesehen von deiner Mutter?«, fragte Cam schließlich.

Joan schüttelte den Kopf und schluckte das Stückchen Fleisch hinunter, das sie gerade abgebissen hatte. »Mein Vater ist noch vor meiner Geburt gestorben, ebenso wie meine Großeltern. Geschwister hatte ich nie.« Sie sah ihn neugierig an. »Und wie ist es bei dir?«

»Meine Eltern leben beide noch, und ich habe zwei Brüder und eine Schwester und mehr Tanten, Onkel und Vettern und Kusinen, als ich zählen kann«, sagte er mit einem Stück Zwiebel im Mund. Er verzog das Gesicht und fügte hinzu: »Meine Familie ist so groß, dass sie einem aus den Ohren wieder rauskommt. Größer, als man es brauchen oder wollen könnte.«

Joan zog die Augenbrauen hoch. Sie hätte gern eine so große Familie gehabt. Aber sie war allein. »Kommst du mit deinen Verwandten nicht gut klar?«

»Oh, aye«, versicherte er. »Meine Familie scheint allerdings zu denken, dass sie sich ständig in mein Leben einmischen darf, weil wir das gleiche Blut haben. Manchmal genügt es, um deswegen wahnsinnig zu werden.«

Joan nickte, auch wenn sie es nicht ganz nachvollziehen konnte. Sie selbst hatte ein solches Problem nie gehabt.

»Genau genommen ist diese Einmischung schuld, dass wir uns überhaupt begegnet sind«, sagte Cam plötzlich mit einem schiefen Lächeln.

»Wieso?«, fragte Joan.

»Meine Familie ist der Meinung, dass ich wieder heiraten sollte«, erklärte er grimmig.

»Und das willst du nicht?«, hakte Joan nach.

»Aye. Ich meine, aye, du hast recht, und nein, ich will es nicht«, fügte er hinzu und rutschte dann auf dem Stamm erst nach vorn und dann nach unten auf den Boden, sodass er sich bequem mit dem Rücken anlehnen konnte. Sein Blick richtete sich auf die Flammen vor ihm, und er seufzte und sagte: »Nachdem meine erste Frau …« Er schüttelte den Kopf. »Ich will so etwas nicht noch einmal durchmachen.«

»War deine erste Ehe denn so schlimm?«, fragte Joan in dem Versuch, ihn zu verstehen.

»Nein«, antwortete er sofort. »Meine Frau war hübsch und klug, eine gute Frau. Es war keine schlimme Ehe.«

Joan wölbte die Brauen. »Und warum willst du dann nicht wieder heiraten?«

Unwille flackerte in seinem Gesicht auf. Er starrte so lange ins Feuer, dass sie schon glaubte, er wollte gar nicht mehr antworten. Dann sprach er plötzlich doch. »Wir waren ein Jahr verheiratet. Es war ein gutes Jahr. Es ging uns gut, und es war eine gute Verbindung. Aber dann wurde sie schwanger, und ein Jahr und einen Tag nach unserer Hochzeit setzten die Wehen ein.«

»Sie ist bei der Geburt gestorben«, vermutete Joan. Jetzt verstand sie plötzlich.

»Aye«, murmelte Cam. Bedauern stand in seinem Gesicht.

Joan nickte schweigend.

»Sie war so klein, und das Baby war so groß«, sagte er grimmig. »Die Hebamme sagte, das Kind würde quer liegen.«

»Hat die Hebamme versucht, das Kind zu wenden und …«

»Aye«, unterbrach er sie. »Sie hat es wieder und wieder versucht, aber sie sagte, es wäre unmöglich, es zu wenden.«

Joan schwieg jetzt. Was hätte sie auch darauf sagen können? Sie hatte selbst ein- oder zweimal mit solchen Fällen zu tun gehabt. Gewöhnlich konnte sie das Baby wenden, aber manchmal war es einfach so, als hätte sich das Kind irgendwo verkeilt und …

»Sie hat drei Tage gebraucht, um zu sterben«, sagte Cam grimmig. »Drei Tage lang haben alle in der Burg ihre Schreie gehört, während sie darum gekämpft hat, unser Kind in die Welt zu pressen. Am dritten Tag waren ihre Schreie so schwach geworden … Ich wusste, dass sie sterben würde. Meine Familie hat versucht, mich nicht ins Zimmer zu lassen, aber ich habe mir mit Gewalt Zutritt verschafft und …« Er wurde blass und schloss die Augen. »Alles war voller Blut.«

Joan wartete eine Minute und fragte dann: »Und das Kind?«

»Wir haben beide zusammen begraben«, sagte er mit schwerer Stimme. Sie starrten eine Weile ins Feuer, dann richtete er sich wieder auf und sagte entschlossen: »Ich will nie wieder dafür verantwortlich sein, dass eine Frau so etwas durchmachen muss.«

Joan sagte nichts dazu. Sie verstand ihn. So etwas mitzuerleben war … Nun, es hatte sie zu der Entscheidung geführt, niemals Kinder haben zu wollen. Sie konnte verstehen, dass er nicht zusehen wollte, wie eine andere Frau das Gleiche durchmachte wie seine erste Frau.

»Meine Familie ist allerdings fest entschlossen, dass ich heiraten und ihnen die Erben schenken soll, die sie alle haben wollen«, fügte er hinzu und verzog das Gesicht. »Besonders meine Mutter. Kaum war der Schnee geschmolzen, hat sie angefangen, jede unverheiratete oder verwitwete Frau, die sie finden konnte, nach Burg Sinclair zu schaffen, in der Hoffnung, dass mich eine von ihnen verführen könnte. Gegen Ende des Frühjahrs konnte ich nirgendwo mehr hingehen, ohne über eine dieser Frauen zu stolpern. Meine Mutter hat mir das Leben zur Hölle gemacht«, sagte er voller Empörung und schüttelte den Kopf. »Um Ruhe davor zu bekommen, blieb mir schließlich gar nichts anderes übrig, als wegzugehen und in eine Schlacht zu ziehen. Das habe ich den ganzen Sommer lang gemacht. Habe meine Dienste jedem angeboten, der eine gute Schwerthand gebrauchen konnte. Nun, nicht nur meine, sondern auch die von zwei Vettern von mir, die mich begleitet haben.«

»Wo sind deine Vettern jetzt?«, fragte Joan.

»Wir sind eigentlich zusammen losgezogen, haben aber in Nottingham haltgemacht, um etwas zu essen. Die Schankmaid dort war nicht nur ein hübsches kleines Ding, sondern auch sehr entgegenkommend.« Er grinste, als er das sagte. »Ich habe meinen Vettern erklärt, dass sie ohne mich weiterziehen sollen. Ich wollte ihnen später folgen.«

»Ja, klar«, sagte Joan und zuckte fast zusammen, als sie die Missbilligung in ihrer Stimme hörte. Es war ihre Aufgabe, wie ein Junge zu klingen, und ein Junge würde auf so etwas wohl eher mit eifriger Fröhlichkeit reagieren als mit Missbilligung. Aber Cam kicherte nur über ihren Tadel.

»Oh, komm schon, Junge. Du wärst sicher auch dageblieben, wenn sie mit ihren Brüsten vor deinem Gesicht gewackelt hätte und auf deinem Schoß hin und her gerutscht wäre.«

Joan brachte ein Lächeln zustande und sagte nur: »Aye, na ja, es ist Glück für mich, dass sie so freundlich war und dich aufgehalten hat. Ich hätte die Begegnung mit Zahnlos und seinen Freunden sonst vielleicht nicht überlebt.«

»Zahnlos?«, fragte Cam verwirrt.

»Der große Mann, der mich geschlagen hat, als du auf uns gestoßen bist«, erklärte sie.

»Oh.« Cam nickte und zuckte dann mit den Schultern. »Ich habe sein Gesicht nicht gesehen. Ich habe ihn von hinten angegriffen.«

»Oh, aye«, murmelte sie und stand auf, um zum Fluss zu gehen und sich am Rand hinzuknien. Sie streckte ihre Hände ins Wasser und wusch sich das Fett vom Kaninchenfleisch ab. Als Cam ihr einen Herzschlag später folgte, fragte sie: »Sind deine Brüder jünger als du?«

Cam sah sie überrascht an. »Aye. Woher weißt du das?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wären sie älter, würden deine Eltern nicht so besorgt sein, ob du ein Kind hast oder nicht. Als Ältester allerdings erbst du das Land und den Titel … da ist es wichtig, dass du eins hast. Einen Erben.«

»Aye. Es sei denn, ich würde alles meinen Brüdern und ihren Erben übertragen«, sagt er und reckte sich. Er schüttelte den größten Teil des Wassers mit einer raschen Handbewegung ab, während er sich weiter beklagte. »Ich bin müder, als ich eigentlich sein dürfte.«

»Du bist noch nicht ganz geheilt«, sagte sie ruhig. »Du wirst noch eine Weile schnell müde werden.«

»Aye, nun, dann schlafe ich besser noch ein bisschen. Wir brechen morgen bei Tagesanbruch auf.«

Joan murmelte zustimmend und sah zu, wie er zum Feuer zurückkehrte. Er löste unterwegs sein Plaid, wickelte es wie eine Decke um sich, bevor er sich auf den Boden legte, das Gesicht dem Feuer zugewandt. Bei seinem Anblick wünschte sie sich, sie hätte selbst ein Plaid. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und obwohl es tagsüber noch warm war, wurde es nachts bereits kühler. Es musste schön sein, sich zum Schlafen in einen schweren Wollstoff wickeln zu können.

Sie richtete sich auf und schüttelte ebenfalls das Wasser von ihren Händen, aber dann verzog sie das Gesicht. Jetzt, da ihre Hände sauber waren, fiel ihr der Dreck, der von den Handgelenken aufwärts auf ihrer Haut war, noch stärker auf … und morgen würden sie wieder unterwegs sein und vom Staub der Straße noch schmutziger werden. Ihr Blick glitt beinahe sehnsüchtig zum Wasser. Ein kurzes Bad wäre schön. Die Nachtluft war kalt genug, um das Flusswasser fast warm wirken zu lassen, das hatte sie beim Händewaschen gemerkt. Wenn sie ein Stück den Fluss entlangging und sich beeilte …

Joan warf einen Blick zurück zu Cam und machte sich lautlos auf den Weg.

Cam drehte sich unruhig herum, öffnete die Augen und sah ins Feuer. Er war müde, doch obwohl er lag, konnte er einfach nicht einschlafen. Er war körperlich erschöpft, aber sein Geist schien unaufhörlich um das Gespräch mit Jonas zu kreisen. Er mochte den Jungen. Eine so gewaltige Aufgabe auf sich zu nehmen war klug und mutig; damit hatte er sich seinen Respekt verdient. Und Cam zollte niemandem Respekt, der es nicht verdient hatte.

Jonas hatte außerdem bewiesen, dass er Ehre besaß. Der Junge hätte ihn auch einfach auf der Straße liegen lassen können. Es hätte ihm sicher eine Menge Arbeit und Mühe erspart. Er hätte auch sein Pferd und den schweren Sack mit den Münzen stehlen können, die Cam sich im Laufe des Sommers als Söldner verdient hatte. Den Beutel hatte der Junge zwar zusammen mit dem Sattel vom Pferd genommen, aber beides befand sich ganz in seiner Nähe unter einem dichten Gebüsch, wo es geschützt vor den Blicken von irgendwelchen Dieben war.