Mein schöner Mörder - Christa Jekoff - E-Book

Mein schöner Mörder E-Book

Christa Jekoff

4,7

Beschreibung

Die Ermittlungsakte im »Fall Wilke« ist geschlossen. Keine Beweise, keine Leichen, kein Täter. Doch der Frankfurter Polizeipsychologe Max Singer ist überzeugt, dass der junge Jan Wilke für das mysteriöse Verschwinden seiner millionenschweren Eltern verantwortlich ist. Er hält ihn für einen skrupellosen Mörder und Psychopathen. Raffiniert genug, seine Mitmenschen immer wieder zu täuschen und in seinen Bann zu ziehen. Max bittet seine Studienfreundin Lea Loos um Hilfe. Die erfolgreiche Professorin für Verhaltenspsychologie soll sich den wundersamen Knaben näher ansehen. Doch auch Lea ist von dem 19jährigen Schüler fasziniert. Es gelingt ihr nicht, in Jan Wilke einen gefährlichen Verbrecher und perfiden Psychopathen zu sehen. Sie beginnt im Umfeld des Jungen zu recherchieren.

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Inhalt
Cover
Christa Jekoff - Mein schöner Mörder
Du sollst …
Prolog
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Epilog
Die Autorin
Impressum

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

Das vierte Gebot

Prolog (am Abend)

Max: So, nun weißt du alles, was ich weiß. Was glaubst du: Hat der Junge etwas mit dem Verschwinden seiner Eltern zu tun? Wäre er fähig, einen Mord zu begehen?

Lea: Bevor ich dazu etwas sagen kann, müsste ich ihn persönlich kennen lernen.

Max: Darum wollte ich dich bitten. Du wirst überrascht sein. Ein solcher Junge ist mir noch nie begegnet. Er entzieht sich jeder Festlegung.

Lea: In unserem Beruf kann mich so leicht nichts mehr überraschen.

Max: Das dachte ich auch, aber warte, bis du Jan triffst. Meine Erfahrung sagt mir, dass er schuldig ist, doch die Ermittlungen gegen ihn sind eingestellt worden – ohne Beweise und ohne Leichen kein Täter. Aber es lässt mich nicht los. Ich werde ihm die Tat nachweisen, Mord verjährt nicht.

1

Max hatte mich neugierig gemacht. So ratlos hatte ich ihn noch nie erlebt. Wir kennen uns seit unserer Studienzeit und gelegentlich tauschen wir bei einem Glas Wein unsere beruflichen Erfahrungen aus. Daher weiß ich, dass ihm als langjährigem Polizeipsychologen in Frankfurt am Main nichts Menschliches fremd ist, eine Eigenschaft, dank derer er normalerweise zu den unzugänglichsten Seelen vordringen kann. Wenn er diesmal mit seinem Latein am Ende war, dann musste es sich tatsächlich um einen außergewöhnlichen Fall handeln. Ich sah ihm an, wie ihn seine Ohnmacht zermürbte. Er wirkte nervös und angespannt, und natürlich wollte ich ihm helfen. Zudem kam mir Max’ Bitte gelegen. Gerade war mir von der Universität ein Forschungssemester bewilligt worden, das ich dazu nutzen wollte, ein Buch über nicht alltägliche Fälle aus der verhaltenstherapeutischen Praxis zu schreiben. Also beschloss ich, mir den wundersamen Knaben gleich am nächsten Tag einmal anzusehen.

Er hieß Jan Wilke, war 19 Jahre alt und besuchte die zwölfte Klasse eines Gymnasiums. Ich würde ihn also kaum vor der Mittagszeit zu Hause antreffen. Der Information, dass die Eltern des Jungen reich waren, hätte es nicht bedurft. Die Wilkes wohnten in einer der Villen, die eine kleine Seitenstraße am Holzhausenpark säumten, eine stille, grüne Oase, die vergessen ließ, dass man sich inmitten der Metropole mit der höchsten Verbrechensquote des Landes befand. Es war ein feuchtkalter Tag im April, und ich war froh, einen Parkplatz nur wenige Schritte vom Haus des Jungen entfernt zu finden. Das schmiedeeiserne Tor zum Wilkeschen Grundstück war verschlossen. Um sicher zu gehen, dass niemand zu Hause war, drückte ich auf die Klingel unterhalb der Sprechanlage. Da keine Reaktion erfolgte, schlug ich den Kragen meines Trenchcoats hoch und begann langsam auf und ab zu gehen. Die Straße schien wie ausgestorben. Auch an den Fenstern der benachbarten Häuser war niemand zu sehen. In dieser Gegend war man wohl zu vornehm, um seine Neugier zu zeigen.

Trotzdem hatten aber Nachbarn, nachdem sie die Eltern des Jungen über zwei Monate hinweg nicht gesehen hatten, die Polizei informiert. Sie gaben sich mit seiner Auskunft, seine Eltern befänden sich noch immer auf einer Kreuzfahrt, nicht länger zufrieden. Ermittlungen ergaben, dass die Jacht in ihrem Heimathafen in Südfrankreich lag, die Eltern jedoch verschwunden und vermutlich nie dort angekommen waren. Der Junge versicherte, über ihren Aufenthaltsort nicht im Bilde zu sein. Ein Verdachtsmoment gegen ihn war, dass er seine Eltern nicht als vermisst gemeldet hatte. Befremdlich war außerdem, dass er sich keinerlei Sorgen zu machen schien. Max fand, er wirkte sogar auffallend ungezwungen und entspannt. Umsichtig versorgte er Haus und Garten, ging zur Schule und schien mit seinem Leben rundum zufrieden zu sein. Ja, er machte auf Max den Eindruck, als rechne er fest mit der Rückkehr seiner Eltern.

Endlich tauchte am Ende der Straße ein Junge auf, der bis auf den Umstand, dass er hinkte, Max’ Beschreibung entsprach. Ich wartete, bis er das Tor aufschloss und sprach ihn an.

»Mein Name ist Lea Loos«, stellte ich mich vor, »ich hätte Sie gern gesprochen, Sie sind doch Jan Wilke?«

Der Junge musterte mich interessiert und nickte.

»Der bin ich, aber kommen Sie doch mit ins Haus, hier draußen ist es ungemütlich.«

Damit hielt er mir das Tor auf, was ihm nicht leicht zu fallen schien, denn neben einer Umhängetasche trug er zwei volle Einkaufstüten. Offenbar bereitete es ihm Schwierigkeiten, sein Gewicht auf das gesunde Bein zu verlagern.

Max hatte nicht übertrieben, als er ihn mir als einen »hübschen Jungen« schilderte, eher im Gegenteil. Ich sah mich einem ungewöhnlich gutaussehenden jungen Mann gegenüber, mit weichfallendem dunklen Haar, dunklen Augen mit langen Wimpern und ein wenig schweren Lidern. Die Augen eines Träumers, in einem schmalen Gesicht mit blassem Teint. Dazu war er groß und schlank, und wäre das Hinken nicht gewesen, ich hätte seine Erscheinung als vollkommen bezeichnet.

»Kann ich Ihnen etwas abnehmen?«, fragte ich spontan und griff nach den Tüten.

»Das geschieht selten«, murmelte er mit einem erfreuten, aber gleichzeitig wehmütigen Lächeln.

Er humpelte die Sandsteinstufen zur Haustür hinauf, einer schweren Flügeltür mit Bleiverglasung. Ich folgte ihm in eine Eingangshalle, die von dicken Teppichen und einem großen antiken Schrank beherrscht wurde. Er nahm mir den Mantel ab.

»Sie sehen ganz durchgefroren aus«, sagte er warmherzig, »mögen Sie eine Tasse Tee?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, bat er mich in eine geräumige Küche mit Blick in einen parkähnlichen Garten, stellte den Wasserkocher an, hinkte zu dem altmodischen Heizkörper unter dem Fenster und stellte die Temperatur höher.

»Ich drehe sie immer herunter, wenn ich aus dem Haus gehe«, erklärte er, »ein völlig veraltetes Heizungssystem, man sollte es erneuern lassen. Schauen Sie sich nur die Raumhöhe an, die Heizkosten machen einen arm.«

Angesichts des Stucks an der Zimmerdecke, der Tassen aus Meißener Porzellan und der silbernen Teekanne schien die Erwähnung drohender Armut ziemlich kokett, dennoch wirkte Jan Wilke trotz seiner Jugend als Hausherr seltsam authentisch.

Er bot mir einen Stuhl an dem langen Eichentisch an. Auf dem Sitz hatte eine kleine Katze geschlafen. Jetzt gähnte sie und streckte sich.

»Du schon wieder!«, rief er aus, nahm sie auf und sie begann laut zu schnurren.

Einen Moment lang behielt er sie im Arm und streichelte sie. Fasziniert betrachtete ich seine Hände, schlank, gepflegt, zärtlich. Waren das die Hände eines Mörders? Ich rief mich zur Ordnung, gewiss waren die Hände eines Menschen kein Kriterium für das, wozu er fähig war.

»Jetzt aber nach Hause«, sagte er und öffnete die Tür zum Garten. »Sie gehört der Nachbarin und findet immer einen Weg hier ins Haus.«

Er schenkte Tee ein, nahm eine Tiefkühlpizza aus der Einkaufstüte und stellte den Backofen an.

»Mögen Sie auch?«, fragte er.

Dankend lehnte ich ab.

»Ich habe nämlich noch nichts gegessen und gleich einen Termin«, erklärte er. »Worüber möchten Sie mit mir sprechen?«

»Ich arbeite an einem Buch über Verhaltenspsychologie und interessiere mich für Ihre Geschichte. Max Singer hat mir von Ihnen erzählt«, antwortete ich so allgemein wie möglich, »aber wenn es Ihnen jetzt nicht passt …«

Weder wirkte er beeindruckt, noch waren ihm Zeichen von Gereiztheit oder Ungeduld anzumerken. Wahrscheinlich hatte er schon mit so vielen Leuten über »seine Geschichte« reden müssen, dass es für ihn zur Routine geworden war. Er schaute auf seine Armbanduhr, ein teures mechanisches Werk.

»Ich gebe gleich eine Nachhilfestunde in Mathematik«, sagte er entschuldigend.

Ein Mathematiker also. Hatte ich ihn doch für einen Träumer gehalten. Er bemerkte mein Erstaunen, und zuckte lässig mit den Achseln.

»Es ist lediglich eine Frage der Logik … Kommen Sie doch morgen um fünf Uhr zum Tee, dann können wir uns in Ruhe unterhalten.«

Ich war einverstanden.

Auf der Straße kam mir ein Mädchen in einem schwarzen Mantel entgegen. Auch die Haare waren schwarz, das Gesicht leuchtete dadurch fast weiß. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie das Mädchen das Grundstück der Wilkes betrat. An einem Fenster der Nachbarvilla bewegte sich jetzt ein Vorhang. Also doch jemand auf Beobachtungsposten!

Am Abend rief Max an. Er wollte wissen, wie es gelaufen war. Ich sagte ihm lediglich, dass ich mit Jan Wilke einen Termin für den nächsten Tag vereinbart hatte. Ich mochte nicht zugeben, wie mühelos es dem Jungen gelungen war, mich für sich einzunehmen.

2

Gut gewappnet stand ich am nächsten Tag pünktlich um 17 Uhr wieder vor der Villa am Holzhausenpark. Ich hatte mir eine Gesprächsstrategie zurechtgelegt und war entschlossen, mich durch keinerlei Charmeoffensive davon abbringen zu lassen. Seltsamerweise öffnete auf mein Klingeln hin niemand. Ich probierte es noch einmal erfolglos. Jan konnte unsere Verabredung unmöglich vergessen haben. Versuchsweise drückte ich die Klinke des Tores herunter. Es war tatsächlich unverschlossen. Ebenso die Haustür. Möglicherweise hatte er ja die Klingel nicht gehört. Zögernd trat ich ein und rief seinen Namen, doch er antwortete nicht. Ich fühlte mich unbehaglich in der Rolle eines Eindringlings und wollte gerade wieder gehen, da hörte ich plötzlich über mir ein Geräusch.

In die erste Etage führte eine breite Marmortreppe. Noch einmal rief ich den Namen des Jungen, doch alles war wieder gespenstisch still. Trotzdem sagte mir mein Gefühl, dass außer mir noch jemand im Haus war. Um mir Gewissheit zu verschaffen, stieg ich die Treppe hinauf.

Auch auf dem oberen Flur war jetzt kein Laut zu hören, und es widerstrebte mir, noch weiter vorzudringen. Vielleicht hatte ich mich ja verhört. Gerade wollte ich meine Expedition in dem fremden Haus abbrechen, da sah ich, dass eine der Türen einen Spalt breit offenstand. Ich konnte nicht widerstehen, klopfte und nachdem keine Antwort erfolgte, öffnete ich die Tür ganz. Aus dem Zimmer herausgeschossen kam das Kätzchen, das ich bereits von meinem ersten Besuch her kannte, und raste die Treppe hinunter. Sonst war niemand im Raum. Vermutlich hatte ich das Rumoren der Katze gehört. Auf dem Teppich lag eine kleine ramponierte Strohpuppe.

Auf den ersten Blick war es das ganz normale Zimmer eines Schülers mit Bett, Bücherregal, Schreibtisch, PC und Poster. Da man einiges über die Persönlichkeit eines Menschen erfahren kann, wenn man weiß, was er liest, richtete sich mein Interesse zunächst auf das Regal. Zu meiner Verwunderung standen dort, von diversen Gedichtsammlungen abgesehen, hauptsächlich Kinderbücher, die Jugendliche in Jans Alter normalerweise längst aussortiert haben.

Auffällig waren außerdem Lesezeichen aus schwarzem Lackleder zwischen etlichen Seiten der Gedichtbände. Ihr makabrer Sinn erschloss sich mir, als ich in den Büchern blätterte: Sie kennzeichneten ausschließlich Gedichte, die mit dem Tod zu tun hatten. Die Neugier führte mich an den Schreibtisch. Hier stapelten sich Bücher über Informatik und Mathematik, die mir weit über den Schulstoff hinaus zu gehen schienen.

Da stand ich nun in diesem Zimmer und fragte mich, wer dieser Jan Wilke eigentlich war. Ein infantiles Genie mit Todessehnsucht? Ein Psychopath, der seine Eltern umgebracht hatte und jetzt ein perverses Vergnügen daran fand, sich im Haus zu verstecken, um zu testen, wie ich mich verhielt? Es gelang mir einfach nicht, dieses Gefühl, nicht allein zu sein, abzuschütteln. Nein, der umsichtige junge Mann, den ich am Tag zuvor kennen gelernt hatte, würde niemals das Haus verlassen, ohne abzuschließen! Dessen jedenfalls war ich mir sicher.

Verärgert wandte ich mich diesmal endgültig zum Gehen. Auf dem oberen Treppenabsatz jedoch erfasste mich ein derart heftiger Schwindel, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

Das war das Letzte, woran ich mich erinnerte, bevor ich mich irgendwann in meinem parkenden Wagen wiederfand, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war.

»Versuchen wir, die Ereignisse noch einmal zu rekapitulieren«, sagte Max, der sich wegen meines Schweigens Sorgen gemacht hatte und am nächsten Morgen mit Brötchen zum Frühstück erschienen war. »Du bist also in der Villa gewesen und hast dich umgesehen.«

Er sprach mit der ruhigen Beiläufigkeit, mit der man die haarstäubende Geschichte eines verstörten Kindes auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen möchte. So verfuhr er vermutlich mit seinen Verdächtigen. Ich sog hörbar Luft ein.

»Nur in Jan Wilkes Zimmer.«

»Und du weißt nicht, ob Wilke im Haus war?«

»Ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen, auch nicht, wenn du mich noch einmal fragst.«

Doch Max ging darüber hinweg. »Aber sicher bist du nicht. Vielleicht bist du ihm in die Falle gegangen. Er hat dich erst heimtückisch ins Haus gelockt und dann hat er dich die Treppe hinuntergestoßen.«

»Unsinn, warum hätte er das tun sollen? Am Tag zuvor hat er sich ausgesprochen zuvorkommend verhalten.«

»Das gehörte zum Plan. Vielleicht denkt er, du könntest ihm gefährlich werden.«

»Ach, hör doch auf! Du bist voreingenommen. Außerdem hat mich niemand gestoßen, mir war schwindlig!«

»Hattest du solche Schwindelanfälle schon öfter?«

»Nein.«

»Hm. Und was passierte dann? Bist du gestürzt? An irgendetwas musst du dich doch erinnern.«

Ich schwieg.

»Und wie fühlst du dich jetzt?«

»Etwas Kopfschmerzen, nicht der Rede wert. Alles in allem hatte ich wohl Glück.«

Max sah mich prüfend an und schaute dann bekümmert auf das unberührte Brötchen auf meinem Teller.

»Bist du vielleicht mit dem Kopf aufgeschlagen? Wenn du wirklich nicht mehr weißt, wie du zu deinem Auto gekommen bist, musst du unbedingt sofort zu einem Arzt gehen, versprich mir das!«

»Hältst du mich jetzt für unzurechnungsfähig?«, brauste ich auf, wohl um meine eigenen Ängste diesbezüglich zu überspielen.

»Nein, aber ich fühle mich verantwortlich«, sprach Max schnell weiter, »immerhin habe ich dich zu dem vielleicht raffiniertesten und gefährlichsten Psychopathen geschickt, der mir in meiner beruflichen Laufbahn begegnet ist.«

»Du übertreibst.«

»Ach ja? Und wie ist deine Einschätzung?«

»Ich hatte zwar noch keine Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch, aber auf mich hat der junge Mann einen ausgeglichenen und kultivierten Eindruck gemacht.«

Meine Zweifel verschwieg ich. Sie wären Wasser auf Max’ Mühle gewesen. Stattdessen machte ich ihm Vorwürfe.

»Ich habe das Gefühl, ich soll mir keine Meinung bilden, sondern dir helfen, deine zu rechtfertigen. Aber bisher konnte ich den Mörder in ihm nicht erkennen.«

»Sondern? Was hast du erkennen können?«

»Er scheint ein junger Mann mit vielseitigen Interessen zu sein, der sich mit Mathematik beschäftigt und Gedichte liest«, sagte ich vorsichtig. »In ihm vereinen sich logisches Denken und Sensibilität. Das zeugt zumindest von einem interessanten Charakter.«

»Na ja, Logik ist die Voraussetzung für ein perfektes Verbrechen, und die Kriminalgeschichte strotzt geradezu vor feinsinnigen Mördern mit einem Hang zu den schönen Künsten. Das eine schließt das andere also nicht aus, und für den Psychologen sind die meisten Verbrecher interessante Charaktere.«

Ich ärgerte mich, Max diese Argumente geliefert zu haben. Dabei hatte ich die brisanten Details noch verschwiegen.

»Kann es sein, dass du es nicht erwarten kannst, Jan Wilke vor Gericht zu sehen?«, griff ich ihn an.

Das machte meinen Freund wütend: »Ich verstehe nicht, wie dieser Kerl es schafft, jeden für sich zu gewinnen. Liegt es an seinem hübschen Gesicht? Sag du es mir!«

Fast fürchtete ich, rot zu werden, denn in diesem Punkt hatte Max nicht ganz unrecht.

»Du hast seine Behinderung vergessen«, sagte ich kühl, »vielleicht haben alle bloß Mitleid mit ihm.«

Max runzelte die Stirn. »Von welcher Behinderung sprichst du?«

»Ich vermute, er hatte früher einmal Kinderlähmung. Oder gibt es einen anderen Grund für sein Hinken?«

»Kinderlähmung? Jan Wilke, das Sportass? Niemals!«, schnaubte Max. »Das ist eine neue Masche.«

Ich schwieg beschämt. Max war einer der Besten auf seinem Gebiet, und was er sagte, auch wenn es mir nicht gefiel, war nie aus der Luft gegriffen. Befangen wie ich war, hatte ich es für einen Moment vergessen.

»Darf ich einen Blick in die Ermittlungsakte werfen?«, fragte ich kleinlaut.

Max nickte. »Natürlich, jetzt wo ich deine unvoreingenommene Meinung kenne. Vielleicht wird ja eine produktive Zusammenarbeit daraus, wenn ich versuche, seine Schuld zu beweisen und du seine Unschuld.«

Schwang da ein ironischer Unterton mit? Doch seine Miene war vollkommen ernst.

»Soll ich dich zum Arzt fahren?«, fragte er

»Lieb von dir, aber das schaffe ich allein.«

3

Ich brauchte keinen Arzt, was ich brauchte, war Klarheit. Deshalb fuhr ich unverzüglich wieder zum Haus der Wilkes. Mir ging das Bild des sich bewegenden Vorhangs am Fenster des Nachbarhauses nicht aus dem Sinn. Vielleicht hatte jemand während meines Blackouts etwas Ungewöhnliches beobachtet. Später dann würde ich Jan zur Rede stellen.

Was ich Max unter anderem verschwiegen hatte, war ein Phänomen, das auf seriöse Weise zu erklären mir die Worte fehlten, und es wäre mir im höchsten Grade peinlich gewesen, hätte ich in etwa gesagt, dieser Schwindelanfall sei wie von einer fremden Kraft in mich hineinprojiziert worden. So allerdings hatte ich es empfunden. Dies jedoch als Realität anzuerkennen, hätte im Widerspruch zu allem gestanden, woraus ich meine Identität als Wissenschaftlerin bezog. Genaugenommen ging es mir also nicht nur um Max’ Mordtheorie, sondern mindestens in gleichem Maß um meine geistige Gesundheit.

Ich fürchtete schon, in der Nachbarvilla niemanden anzutreffen, als auf mein mehrfaches Läuten hin jener Vorhang tatsächlich ein wenig zur Seite geschoben und ein Stück Gesicht hinter der Scheibe sichtbar wurde. Mit Gesten versuchte ich deutlich zu machen, dass ich jemanden zu sprechen wünschte, und nachdem ich einer eingehenden Musterung unterzogen worden war, wurde das Fenster ein wenig geöffnet.

Das Gesicht gehörte einer alten Dame, die, runzlig und weißhaarig, gut und gerne achtzig Jahre alt sein mochte.

»Ja?«, kam es misstrauisch.

»Ich würde Sie gern etwas fragen.«

Sie setzte umständlich einen altmodischen Kneifer auf, und nach einer weiteren Begutachtung meiner Person rief sie unfreundlich mit einer für ihr Alter kräftigen Stimme: »Moment!«

Der Moment zog sich über mehrere Minuten, bis sie dann endlich an der Haustür erschien, gestützt auf einen Stock. In der anderen Hand hielt sie eine brennende Zigarette. Es dauerte noch einen langen Zug, bis sie sich endgültig entschloss, den Türdrücker zu betätigen, um mir das Tor zu öffnen.

Obwohl klein und schmächtig in einem viel zu weiten Hausanzug, verstand sie es, mit ihrer Persönlichkeit den Eingang auszufüllen, und wahrscheinlich hätte sie nicht gezögert, wehrhaft von ihrem Stock Gebrauch zu machen, hätte ich Unlauteres im Schilde geführt. Baronin Mathilde Freifrau von Wahlheim-Fürth las ich auf dem Namensschild neben der Tür. Wie um alles in der Welt sprach man eine Baronin an? Doch sie kam mir zuvor.

»Wer sind Sie und was wollen Sie wissen«, fragte sie barsch und hüllte mich in eine Rauchwolke.

Ich stellte mich vor und überlegte, wie ich mein Anliegen am besten vorbringen sollte, doch sie schaltete erstaunlich schnell und hakte ein: »Wenn Sie wegen des jungen Wilke gekommen sind, dann muss ich Sie enttäuschen und Ihnen sagen, was ich allen sage: Über meine Nachbarn rede ich nicht.«

Soviel war klar, leicht würde ich es mit ihr nicht haben.

»Darum geht es nicht«, sagte ich.

In diesem Moment erschien die kleine Katze, die ich schon aus der Nachbarvilla kannte, und strich mir um die Beine.

»Moses scheint Sie zu mögen, also kommen Sie schon herein«, entschied sie eine Spur freundlicher, »ich kann nicht solange stehen.«

Sie führte mich in einen düsteren Salon mit schweren alten Möbeln und ließ sich ächzend in einen der beiden Ohrensessel fallen, die vor einem altmodischen Kachelofen standen, von dem eine wohlige Wärme ausging. Mir bot sie den anderen Sessel an. Neben dem Ofen hing ein Portrait in Öl, das einen achtbaren Herrn in Uniform zeigte, darunter zwei gekreuzte Pistolen, die recht antiquiert aussahen.

»Mein verstorbener Gatte«, erläuterte die Baronin. »So ist das eben, seit ich alleine lebe, bin ich Fremden gegenüber vorsichtig.«

Und verlässt sich dabei auf ihre Katze, dachte ich. Wie um ihren Worten Gewicht zu verleihen, unterzog mich die Baronin durch ihren Kneifer hindurch noch einmal einer ausführlichen Gesichtskontrolle. Offenbar mit positivem Ergebnis, denn sie zündete sich eine neue Zigarette an und hielt mir ihre Packung hin.

»Bedienen Sie sich.«

Ich hielt es für ein Friedensangebot und nahm eine. Die alte Dame hatte sich zurückgelehnt und sah mich erwartungsvoll an. Ich räusperte mich.

»Es ist so«, begann ich, »ich habe eine Gedächtnislücke. Ich weiß nicht, wie ich gestern am frühen Abend von dieser Straße aus zu meinem Wagen am Park gelangt bin. Ich möchte herausfinden, was mit mir passiert ist. Haben Sie vielleicht etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen, das mir weiterhelfen könnte?«

Ich merkte selbst, wie fragwürdig sich meine Geschichte anhörte, aber die alte Dame machte ein äußerst interessiertes Gesicht.

»Leider nicht. Das tut mir wirklich leid, denn wenn man ein so zurückgezogenes Leben führt wie ich, ist man für jedes Ereignis dankbar. Aber warum kommen Sie damit ausgerechnet zu mir?«

Mit dieser Frage hatte ich gerechnet.

»Sie waren die einzige, die auf mein Klingeln reagiert hat«, log ich.

»Da habe ich ja Glück gehabt«, sagte sie, zündete sich eine neue Zigarette an und beugte sich gespannt vor: »Was glauben Sie denn, was geschehen ist? Sind Sie vielleicht überfallen worden? Was wollten Sie überhaupt in dieser Straße?«

Ich hatte das Gefühl, von ihrem Kneifer geradezu durchleuchtet zu werden.

»Das habe ich auch vergessen.«

»Leiden Sie häufiger unter solchen Ausfällen?«

Die Frage hörte sich weniger teilnahmsvoll als neugierig an. Mein Problem schien für sie wirklich nur eine Art Unterhaltungswert zu haben.

Resigniert schüttelte ich den Kopf.

»Ich würde ja gerne helfen«, beteuerte sie, »aber sehen Sie, ohne mein Hörgerät bin ich fast taub und ohne Brille nahezu blind. Das habe ich damals auch der Polizei gesagt, als sie wegen der Wilkes hier war.«

Sie zog heftig an ihrer Zigarette und sah wie gedankenverloren an mir vorbei, doch ich hatte den Eindruck, dass sie mich aus den Augenwinkeln beobachtete. Glaubte sie mir nicht? Hatte sie nur zum Schein mitgespielt, um mich auszuhorchen? Damit, dass sie die Wilkes von sich aus erwähnen würde, hatte ich nicht gerechnet. Ich gab mir Mühe, meine Überraschung zu verbergen und schwieg.

»Der Fall ging ja lange durch die Medien«, legte sie nach und seufzte erinnerungsschwer. »Damals habe ich wirklich bedauert, dass ich so eingeschränkt bin. Der arme Junge hätte meine Hilfe so dringend gebraucht, genau wie Sie, aber ich gehöre nun mal nicht zu den Leuten, die am Fenster stehen und ihre Nachbarn ausspionieren.«

Doch, genau das tust du, dachte ich. Sie hatte mir mehr verraten, als sie wollte. Ich war mir plötzlich sicher, dass ihr hinter ihrem Vorhang nichts entging. Vermutlich wusste sie über meine beiden Besuche in der Nachbarvilla bestens Bescheid. Vielleicht sogar, dass ich sie belogen hatte. Dann wären wir immerhin quitt. Was den »armen Jungen« betraf, darüber würde ich von ihr heute wohl nichts erfahren. Denn dazu hatte ich eingangs zu sehr Desinteresse am »Fall Wilke« bekundet. Ich erhob mich aus meinem Sessel.

»Dann will ich nicht weiter stören«, sagte ich höflich. »Bitte bemühen Sie sich nicht.«

Auf der Straße verbot ich mir den Blick zu ihrem Fenster, aber ich war überzeugt, dass sie wieder auf Beobachtungsposten war.

4

Dann entging ihr auch nicht, wie ich gleich darauf bei Jan Wilke klingelte und ins Haus gelassen wurde. Er schien gerade aus der Schule gekommen zu sein, war noch im Mantel, einem dunkelblauen Kaschmirmantel, und begrüßte mich völlig unbefangen.

»Sorry, wegen gestern, ich hoffe, Sie sind mir nicht böse. Pater Finn hatte unseren Termin verschoben, und ich konnte Sie nicht mehr rechtzeitig informieren.«

Während er sprach, lief er geschäftig hin und her, drehte die Heizung hoch, stellte den Wasserkocher an und Teetassen auf den Tisch. Dann humpelte er zum Flur und zog seinen Mantel aus. Hatte er schon die ganze Zeit gehinkt? Warum fiel es mir erst jetzt wieder auf? Vergaß man über sein gutes Aussehen, dass er hinkte, oder war es tatsächlich gespielt und er hatte es für einen Augenblick vergessen?

Wenn das überhaupt möglich war, wirkte er noch hübscher als bei unserem ersten Zusammentreffen. Seine Haare waren ein wenig zerzaust und sein Gesicht hatte eine frische Farbe. Ich merkte, wie ich ihn anstarrte, und er hatte es sicher auch bemerkt.

»Pater Finn?«, fragte ich schnell, indem ich meine Verlegenheit überspielte. Eigentlich hatte ich sauer sein wollen, aber mir war der Wind bereits aus den Segeln genommen.

»Der Vertrauenslehrer an unserer Schule«, gab er bereitwillig Auskunft. »Eigentlich ist er mein Ethiklehrer, aber seit meine Eltern verreist sind, möchte er, dass wir uns einmal pro Woche unterhalten. Meistens reden wir über Philosophie und spielen hinterher noch eine Partie Schach. Dabei vergisst man eben die Zeit«, er schenkte mir ein entwaffnendes Lächeln, »wie auch gestern wieder, aber es ist schön, dass Sie jetzt da sind und wir unsere Verabredung nachholen können. Einverstanden? Mögen Sie lieber Darjeeling, Assam oder Earl Grey?«

Hätte ich mich jetzt noch über den nicht eingehaltenen Termin mokieren sollen? Meinen Einsatz hatte ich eindeutig verpasst. Ich kapitulierte endgültig.

»Darjeeling«, antwortete ich matt.

Inzwischen hatte er mir meinen Trenchcoat abgenommen und mich sanft am Arm zum Tisch geführt.

»Und Kekse dazu«, entschied er sichtlich vergnügt. »Meine Nachbarin backt ganz wunderbare Kekse. Eine ganz liebe alte Dame. Die mit der Katze, wissen Sie. Am besten sind die Schokoladenkekse, probieren Sie mal.«

Er sah mich erwartungsvoll an. Hatte er eben »meine« Nachbarin gesagt? Musste es nicht »unsere« heißen, falls er seine Eltern irgendwann zurückerwartete? Zweifelte Max nicht daran, dass er das wirklich tat? Mein Kopf begann wieder etwas zu schmerzen, der Keks klebte mir am Gaumen, und ich nahm einen Schluck Tee, um ihn hinunterzukriegen. Dabei zitterte meine Hand.

Das Gesicht des Jungen wurde ernst.

»Ist Ihnen nicht gut?«

»Es ist nichts weiter. Hätten Sie vielleicht ein Aspirin?«

Er zog eine Schublade auf.

»Bedaure«, sagte er, »aber«, ein Lächeln erhellte seine Züge, »ich kann Sie ein wenig massieren. So wie die Schamanen es machen. Es wirkt Wunder, eine Freundin hat es mir beigebracht.«

Eilfertig hinkte er um den Tisch herum.

»Nein!«

Im selben Moment wurde mir bewusst, dass ich viel zu heftig reagiert hatte. Jan sah mich mit großen Augen an.

Was war los mit mir? Warum spielten meine Nerven verrückt?

Wo war meine Professionalität geblieben? Wenn man sich einem Klienten nicht gewachsen fühlte, musste man ihn abgeben. Das war die Regel. Jan schaute mich noch immer forschend an. Ließ ich zu, dass er mich ergründete anstatt ich ihn? Ich riss mich zusammen.

»Wenn Sie das Haus verlassen, kommt es dann häufiger vor, dass Sie nicht abschließen?«, fragte ich übergangslos.

Wenn ich erwartet hatte, ihn damit aus dem Konzept zu bringen, hatte ich mich getäuscht. Seine Überraschung schien echt.

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte er halb belustigt, halb entrüstet. »Natürlich schließe ich ab, immer.«

»Und wie kommt es dann, dass gestern um 17 Uhr weder das Hoftor noch die Haustür abgeschlossen waren?«

»Das ist doch … das ist völlig unmöglich!«

Dass er einfach dreist leugnen würde, überraschte mich. Doch bevor ich etwas entgegnen konnte, wechselte er die Strategie.

»Das Haus war also offen«, sagte er sanft wie ein Therapeut, der zum Schein den Ansichten seines paranoiden Patienten folgt. »Und was haben Sie getan? Sind Sie hineingegangen?«

Er sah mich herausfordernd an. »Sie sind nicht hineingegangen? Ich hätte doch zu Hause sein können und die Klingel überhört haben. Sie hätten nach mir rufen können. Haben Sie? Nein, denn es gibt nur einen Schlüssel, den ausschließlich ich benutze, und als ich nach Hause kam, war alles sorgsam verschlossen.«

Ich war fassungslos. Er hatte den Spieß umgedreht. Ich war die Lügnerin, die Psychopathin. Er war der Normale.

Natürlich hätte ich über die Bücher, die Strohpuppe und die Katze sprechen können. Über mein Erlebnis auf der Treppe und das Gefühl, dass außer mir noch jemand im Haus gewesen war. Was aber, wenn er wirklich gefährlich war, mich tatsächlich in die Villa gelockt hatte, und der Anschlag lediglich fehlgeschlagen war? Jetzt in diesem Moment war ich ihm völlig ausgeliefert. Hatte er mir deshalb eine Massage angeboten? Um mir dann sanft die Hände um den Hals zu legen …? Wieder überkam mich ein nervöses Zittern.

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte ich lahm.

Das Schlimmste war, dass es ihm gelungen war, Selbstzweifel in mir zu schüren. Aus meiner Praxis wusste ich, dass ein unglücklicher Sturz Zwangsvorstellungen nach sich ziehen kann. Vielleicht litt ich gar an Halluzinationen, bildete mir nur ein, in dem Haus gewesen zu sein. Gern wäre ich in das obere Stockwerk gegangen … Als könne Jan Wilke Gedanken lesen, sagte er: »Manchmal weiß man eben nicht mehr, was wahr ist und was nicht.«

»Ich muss gehen«, sagte ich und beeilte mich, in die Eingangshalle zu meinem Mantel zu gelangen, halbwegs damit rechnend, dass er mich daran hindern würde. Doch er machte keinerlei Anstalten.

»Schade«, sagte er nur.

Es klang deprimiert.

Ich hatte meinen Wagen an derselben Stelle geparkt wie am Tag zuvor, direkt am Park, gegenüber eines luxuriösen Appartementhauses. Bevor ich losfuhr, ordnete ich im Rückspiegel meine Haare, und war im ersten Augenblick fast erstaunt, mein Gesicht zu erblicken. War tatsächlich ich es, die solch seltsame Dinge erlebte?

Eine Frau an einem der Fenster in der unteren Etage des Appartementhauses lenkte mich ab. Sie trug einen weißen Kittel, und es schien mir, als nickte und winkte sie mir zu. Verwundert sah ich mich um, wer außer mir gemeint sein konnte, doch es war niemand da. Das Fenster, an dem sie stand, gehörte zu der Praxis eines Schönheitschirurgen. Da ich bisher noch keine Dienste eines Schönheitschirurgen in Anspruch genommen hatte, musste es sich wohl um eine Verwechslung handeln. Darauf, dass dieser Frau am Tag zuvor etwas aufgefallen sein könnte, das etwas Licht in das Geheimnis meines Blackouts bringen konnte, kam ich nicht. Denn ich wollte so schnell wie möglich zu Jans Schule fahren, um dort vielleicht Pater Finn anzutreffen.

5

Nicht alle Priester sehen aus wie Pater Brown. Den hageren Mann in Jeans und Pullover jedenfalls hätte ich kaum für einen Geistlichen gehalten. So leicht gerät man in die Falle seiner Vorurteile.

Pater Finn quittierte mein zugegebenes Erstaunen mit einem jungenhaften Lachen.

»Die Kids sollen mir schließlich vertrauen.«

»Und tun sie das?«

»Ich denke schon.«

»Jan Wilke auch?«

Sein Gesicht wurde ernst. Er griff nach einer Zigarette und bot mir auch eine an. Wir waren allein im Lehrerzimmer. Vermutlich war Rauchen hier verboten.

»Mein Laster«, entschuldigte er sich, »ich habe noch einige Unterrichtsvorbereitungen zu erledigen. Anschließend werde ich gründlich lüften. Aber was führt Sie zu mir?«

Ich erklärte, warum ich mich für Jan Wilke interessierte. Er runzelte die Stirn.

»Geht das jetzt wieder los?«

Der gequälte Ton in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Verraten Sie mir, was genau Sie meinen?«