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Wer einmal einer Horde 7-jähriger beim Kicken im Verein zugesehen hat, weiß: die Kleinen sind laut, aber noch viel lauter sind die Väter. Einer davon ist Lüder Wohlenberg. Und weil die Regel gilt, wer sein Kind am Spielfeldrand anfeuert, kann kein schlechter Trainer sein, ist Lüder nach wenigen Wochen genau das: der Dompteur kickender Kinder, die mit viel Ehrgeiz und wenig Disziplin um die Meisterschaft in der F3 in der Kreisliga C kämpfen. Was er seitdem auf, um und hinter dem Spielfeld erlebt hat, erzählt er mit viel Humor und Empathie in seinem Buch.
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Seitenzahl: 213
Lüder Wohlenberg ist von Beruf Arzt. Seit 2003 ist er Facharzt für Radiologie und war auch einige Jahre als Notarzt tätig. Seine eigentliche Berufung ist aber das Kabarett. Mit seinen Bühnenprogrammen ist er deutschlandweit auf Tour. Er moderiert zum Beispiel auf Kongressen und ist mit seiner Kunstfigur, dem liebenswerten Profipatienten Herrn Raderscheid, im Radio zu hören. Wohlenberg ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seit Jahren engagiert er sich in seiner Freizeit u. a. als Trainer für den Kinderfußball und ist auch dort bereits als »Der Pep von Nippes« eine echte Institution.
www.luederwohlenberg.de
LÜDER WOHLENBERGER
Als Fussballvater am Spielfeldrand
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Stefan Lutterbüse
Umschlaggestaltung: ZERO, Werbeagentur
Copyright © [Foto Celia Sasic] Dennis Grombkowski, Getty Images
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-2380-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
13. Juli 2014, Brasilien, Rio de Janeiro, Maracana-Stadion, 113. Spielminute: André Schürrle läuft mit Ball auf dem linken Flügel Richtung Eckfahne. Durch zwei Argentinier hindurch segelt seine Flanke in den Strafraum, in dem ein von seinem Gegenspieler seltsam allein gelassener Mario Götze den Ball nicht nur mit der Brust annimmt, sondern ihn nach Körperdrehung volley mit links auch noch am Torhüter vorbei ins Tornetz katapultiert. Wenige Minuten später ist Deutschland Weltmeister!
Durch eine einzige spektakuläre Aktion. Spektakulär, weil sie mit den körperlichen Möglichkeiten eines normalen Menschen eigentlich nicht durchführbar ist.
Nur wenige Tage später melden Tausende von fußballverrückten Familienvätern ihre Söhne und Töchter im nächsten Fußballverein an. Und jeder ist der Überzeugung, auch in seinem Sprössling steckt ein Messi, ein di Maria oder wenigstens ein Messias. Und selbst, wenn es nur zu einem Höwedes reichen würde, man wäre zufrieden.
Mein Kind will Fußball spielen. Oder will ich, dass mein Kind Fußball spielt? Ist das ein Unterschied? Was ist jetzt zu tun? Mit was muss man rechnen? Wo ist das nächste DFB-Leistungszentrum? Wie lautet die Telefonnummer von Jogi Löw?
Dieses Buch wird Antworten geben. Nur die Telefonnummer von Jogi Löw kennt auch der Autor nicht.
Dies ist ein Fußballbuch. Selbstverständlich kein normales. Auf den folgenden Seiten geht es nicht um Spielsysteme, Trainingsmethoden und die taktischen Finessen der »flachen Raute«. Dies ist kein Expertenschmöker über bekannte Spielerpersönlichkeiten. Kein Rückblick auf glorreiche Teams, vergangene Epochen und die verschwitzten Helden der großen Endspiele.
In diesem Buch geht es um fußballvernarrte Kinder und vor allem um ihre Eltern. Es geht also um Sie.
Vielleicht haben Sie dieses Buch von Menschen geschenkt bekommen, die es gut mit Ihnen meinen. Vielleicht ist Ihnen dieses Werk auch unter der Hand zugesteckt worden, weil Sie in der Kantine nicht leise genug verlauten ließen, dass Sie gerade dabei sind, Ihren minderjährigen Flankengott in einem Verein unterzubringen. Möglicherweise haben Sie sich sogar selbst zum Kauf dieses Buchs entschlossen, weil Sie mehr über den Sport wissen wollen, den Ihr Kind bevorzugt ausübt. Aber eines sei vorweggesagt: Das betreute Kicken Ihrer Kinder hat mit der im TV-Gerät nahezu täglich zu bewundernden Ballkunst eines Toni Kroos oder Marco Reus nur sehr wenig zu tun. Was die kleinen kurzbeinigen Steppkes in den viel zu großen Trikots auf dem Feld tun, ist etwas ganz anderes. Willkommen also in einer Parallelwelt, willkommen im Universum des Kinderfußballs.
Mehr als zwei Millionen Kinder spielen in Deutschland organisiert im Verein Fußball. Das ergibt bei zwei Erziehungsberechtigten vier Millionen Mütter oder Väter von Minidribbelkünstlern. Da es immer noch Familien mit mehr als einem Kind gibt, müssten wir die Zahl selbstverständlich noch um die Geburtenrate bereinigen. Es bleiben trotzdem Millionen Menschen, die sich aus direkter Betroffenheit mit dem Phänomen Kinderfußball auseinandersetzen müssen. Millionen Menschen, die ihre Kleinsten zum Training begleiten, stundenlang am Spielfeldrand verharren und am Wochenende mit einer aufwendigen Logistik zu entfernten Sportstätten kutschieren, die an abseitigen Orten liegen, an denen man sonst nichts zu suchen hat.
Dies ist ein Buch voller Leidenschaft für den Kinderfußball, und es ist der Versuch einer distanzierten und ironischen Betrachtung eines Massenphänomens, das sich jedes Wochenende in Deutschland abspielt, wenn Millionen von kickenden Knirpsen und Knirpsinnen zu sportlichen Auseinandersetzungen gebracht werden.
Und wenn Sie sich dann als engagierte Eltern beim Anfeuern Ihrer Kinder vor Begeisterung am kalten Metall der Spielfeldumrandung festklammern, wird Ihnen hoffentlich klar: Bei einer WM, einer EM oder im Alltag einer Bundesligasaison wird ein anderer Fußball gespielt als bei einem F-Jugendspiel auf den Ascheplätzen von SC Auweiler-Esch, SC Weiler-Volkhoven oder DJK Roland West. Von diesen Clubs haben Sie vielleicht noch nie gehört, aber sie gehören zu den 230.000 Vereinen, die jungen Fußballern die Möglichkeit geben, diesen Sport auszuüben.
Selbstverständlich speisen sich die Energie und der Enthusiasmus der Kinder aus der Betrachtung der großen Spiele. Im WM-Finale im Maracana-Stadion spielten die Vorbilder. Bis auf Ángel Di Maria. Einer der unterschätztesten Spieler der Fußballgeschichte. Der spielte nicht, weil er verletzt war. Aber die Namen der meisten deutschen Spieler und der von Leo Messi finden sich auf den Trikots, mit denen die Kinder in die Schule gehen. Viele Mädchen und Jungen träumen davon, auf dem Rasen eines ausverkauften Stadions zu stehen, und sie malen sich aus, wie es ist, im entscheidenden Moment den Siegtreffer zu erzielen. Und manche Erwachsene träumen, wie ihr Kind den Pokal in die Luft reckt.
Die letzte WM zeigte die verschiedenen Facetten dieses Sports in besonderer Weise. Ich möchte hier zum Verständnis ein paar Punkte herausgreifen:
1. Fußball ist ein Mannschaftssport.
Die Mannschaften mit den herausragenden Einzelspielern haben sich bei der letzten Weltmeisterschaft nicht durchsetzen können. Teamgeist und die größtmögliche Synergie aller Spielerkompetenzen gaben den Ausschlag über Sieg und Niederlage. Aus dem Gemeinsinn schöpften vor allem Mannschaften wie Chile und Algerien ihre Kraft und Stärke.
2. Fußball bietet Überraschungen.
Costa Rica schaffte es bis ins Viertelfinale. Sensationell. Die Gründe dafür sind unter Punkt 1 zu finden.
3. Fußball ist Kommerz.
Das Trikot mit dem vierten Stern verkaufte sich nach dem Finale wie Bolle. Die Fußballschuhe werden immer ausgefallener. Weil alle Kinder diese hässlichen Schuhe haben wollen. An dieser Stelle ein Dankeschön an Franck Ribéry, der es möglich gemacht hat, dass heute Jungs mit rosafarbenen Fußballschuhen auflaufen.
4. Fußball ist ungesund.
Die Verletzung von Neymar. Der Schulterbiss von Suárez. Die Leiden des Schweinsteiger im Finale. Und Christoph Kramer konnte sich nach dem Knock-out nicht mehr an viel erinnern. Das sind nur ein paar Beispiele und es finden sich mehr. Man muss ja nicht gleich an die offene Fleischwunde am Oberschenkel von Ewald Lienen denken, die dieser 1981 in einem Bundesligaspiel erlitten hat, aber Fußball ist sicher nicht gesund.
5. Fußball ist politisch.
In Brasilien gab es Proteste, weil in einem armen Land eine Menge Geld für Fußball ausgegeben wurde, anstatt es in die dringenden Aufgaben Bildung und Infrastruktur zu stecken. Die kleinen Andenken-Händler und Brötchenverkäufer wurden aus der Stadionnähe gedrängt und mussten für die großen, lizenzierten Firmen Platz machen.
So wichtig diese Erkenntnisse auch für die Diskussion unter den Fans sein mögen, für den Kinderfußball sind sie nicht relevant. Kinderfußball ist etwas anderes.
Juni 2015. Sommerfest des TuS Liedberg. Liedberg ist ein kleiner Ort am Niederrhein. Warum Liedberg? Weil ich den Ort kenne. Er liegt gemütlich zwischen den Städten Neuss und Mönchengladbach. Auf der einzigen Anhöhe der Umgebung steht ein Schloss. Der Ortskern wird durch alte Fachwerkhäuser geprägt. Früher lebten die Menschen hier vom Sandsteinabbau, heute von der Apfelernte, wenn sie nicht in Düsseldorf irgendwelchen Bürojobs nachgehen. Nicht weit von hier wurde Hans-Hubert Vogts geboren, in den 70igern ein überragender Verteidiger, Spitzname »Terrier«, später als Nationaltrainer unser »Bundes-Berti«, heute Berater von Jürgen Klinsmann bei der Nationalmannschaft der USA. Den Namen »Vogts« liest man heute auf keinem Kindertrikot.
Ich kenne den TuS Liedberg seit einigen Jahren. Ein paar wenige, aber engagierte Trainer kümmern sich um den sportlichen Nachwuchs. Ich bin mit meiner D-Jugend an diesem Frühsommertag vor Ort. Später wird es im Rahmen des Sommerfestes zu einem Freundschaftsspiel kommen.
Aber jetzt, unter der angenehm wärmenden Sonne, sind erst mal Hüpfburg, Torwandschießen, Tombola, Kinderschminken, Fritten, Bratwurst und Cola angesagt. Das ganze Dorf ist da. Die Spielermütter haben Kuchen gebacken. So viel, dass er gar nicht alle werden will.
Ein erster Wettbewerb beginnt. Der unter den Müttern. Der Kuchen, der am schnellsten verkauft wird, muss der leckerste gewesen sein. Und schon nach wenigen Minuten gibt es einen Favoriten – die Riemchentorte, eine regionale Variante des Apfelkuchens.
Die erste Mannschaft vom TuS Liedberg kämpft auswärts zeitgleich mit der Riemchentorte um den Aufstieg in die Kreisliga B. Über das Mikrofon der Beschallungsanlage werden Zwischenstände durchgegeben. Der Moderator ist per SMS informiert. Zwischen den Zwischenständen tönen Helene Fischer und Herbert Grönemeyer. Ein Unentschieden würde reichen. Es steht 0:1. Trotzdem ist die Stimmung gut bei Jung und Alt. Alt beim Alt, Jung auf dem Naturrasen. Hier in Liedberg könnte man tatsächlich dem Rasen beim Wachsen zusehen. Wenn genug Zeit wäre.
Denn jetzt kommt es zum Höhepunkt des Tages. Es startet das Kindergarten-Turnier. Angetreten sind das »Team KITA Brausewind«, die »Rumpelstilzchen-Allstars« und »Borussia Kunterbunt«. Die Eltern haben Trikots genäht, die Kinder haben sie bemalt. Dafür gab es eine Projektwoche »Fußball«. Borussia Kunterbunt tritt in einem psychedelisch geklecksten Farbengemisch aus Grün- und Ockertönen an, die Brausewinder haben einen blauen Grundton im Hemd mit getupften Akzenten aus dem kompletten Malkasten und bei den Allstars überwiegt ein rotes Wischtechnik-Design in großen und kleinen Kreisen. Hier könnten sich die Sportartikelhersteller noch mal Ideen für neue Trikot-Kollektionen holen.
Beim Kindergartenturnier wird fünf gegen fünf gespielt. Der Ball ist »extraleicht«. Aber trotzdem zu groß, weil er fast bis ans Knie reicht. Ein richtiger Schuss mit dem Fuß ist gar nicht möglich. Der Ball wird eher mit dem Schienbein getroffen. Auch die nur 5 Meter breiten Jugendtore sind für diese Kleinen immer noch viel zu groß. Mit einem Absperrband wurde die Höhe noch um die Hälfte verringert.
Es fallen eine Menge Tore. Lust und Frust wechseln ständig:
Lea fängt einen Ball ab. Mit der Hand. Dabei ist sie gar nicht die Torhüterin. Es interessiert niemanden. Wer will hier auf Strafstoß entscheiden? Nur Bruno hat es gesehen. Er ruft »Das war Hand«. Dass man das nicht darf, weiß er noch aus der Projektwoche. Sein Rufen bleibt unbeachtet. Aus Verzweiflung wirft er sich auf den Boden. Alle anderen laufen weiter. Also steht Bruno wieder auf. Der Ball rollt auf ihn zu. Na also. Jetzt mit dem Ding am Bein Richtung Tor. Lauf, Bruno, lauf. Das Tor liegt vor ihm, leider ist es das falsche. Bruno merkt das nicht. Volle Kraft voraus. Die Eltern wedeln hilflos mit den Armen. Sie rufen, zeigen, springen hoch. Einmal das Ziel vor Augen gibt es für Bruno kein Halten mehr. Nur noch wenige Meter. Dann den Ball über die Linie schießen. Der Ball rollt ins Netz. Das Tor zählt, für wen auch immer. Und der Erfolg wird bejubelt. Von allen. Die Eltern winken mit Fähnchen und beschrifteten Betttüchern.
Und schon macht sich Karla auf den Weg. Es war noch gar nicht angepfiffen, aber auch das ist nur eine unbedeutende Kleinlichkeit. Karla wird von Yannick unsanft gebremst. Beide kullern übereinander. Yannick hat sich wehgetan und Karla auch. Das Spiel wird unterbrochen, die Eltern dürfen auf den Platz, Yannick und Karla werden getröstet.
Und schon rollt der Ball wieder. Alle wollen den Ball haben. Die Spieler knubbeln sich im Mittelfeld. Aus der Traube löst sich ein Schuss, der knallhart Richtung Tor kullert. Berkay stolpert hinterher und kann mit einem famosen Sprung den Ball noch ins Toraus retten. Wieder Jubel, Fähnchen, Betttücher.
Es folgen noch zwei Spiele. Danach Siegerehrung. Die ersten drei Mannschaften bekommen tolle Preise. Gut, dass nur drei Mannschaften angetreten sind. Jede Spielerin, jeder Spieler darf eine Urkunde mit nach Hause nehmen. Und die schönsten Trikots werden auch noch prämiert. In die Gesichter der Kleinsten legt sich ein zufriedenes Lächeln.
Wenn Fünfjährige einem Ball hinterherrennen, dann hat das mit dem Spiel der Ronaldos und Messis nichts zu tun, auch wenn diese Namen hinten auf den Trikots stehen. Viele haben das inzwischen begriffen, die Verbände, die Vereine, die Trainer und sogar manche Eltern. Kinder haben kurze Beine. Man kann froh sein, dass sie sich damit überhaupt so schnell fortbewegen können.
Das aufrechte Gehen ist gelernt, das Laufen vielleicht auch. Aber das schnelle Laufen ähnelt noch einem wackeligen Eiern. Hindernisse, die für uns kaum merklich sind, können für Kinder unüberwindbar sein. Kinder stolpern, weil der Körper sich bei ungewohnten Bewegungen noch justieren muss. Der nötige Krafteinsatz für Bewegungen ist noch nicht im Gehirn eingespeichert. Jede neue Bewegung muss eingeübt und dann im Kopf verdrahtet werden. Die koordinativen Fähigkeiten sind noch nicht ausgebildet. Wie halte ich die Balance? Wie setze ich zum Sprung an? Wie drehe ich mich um die eigene Achse? All das muss ausprobiert werden. Kinder haben Schwierigkeiten, auf einem Bein zu stehen oder rückwärts zu laufen. Ein einfacher Übersteiger ist für Kinder eine nicht zu beherrschende Turnübung.
Laufen mit dem Ball am Fuß, »Dribbeln« genannt, und Tore schießen – das geht. Das ist der Kern des Kinderfußballs. Das können schon die Allerkleinsten.
Alle anderen Mannschaftssportarten wie Handball, Volleyball und Basketball erfordern schon am Anfang mehr koordinative Fähigkeiten und werden deswegen erst sehr viel später richtig erlernt.
Dazu sind die Regeln beim Fußball gnadenlos einfach. Fußball ist sofort zu verstehen. Es braucht nur etwas Bewegliches, das man mit dem Fuß irgendwohin schießen kann. Zwei Bäume ein Tor. Sind keine Bäume da, nimmt man zwei Jacken. Da muss das Bewegliche zwischendurch. Das sind die Regeln.
Versuchen Sie mal, die Regularien des Cricket-Spiels zu verstehen. Das schaffen noch nicht mal die Engländer selbst. Auf der Insel ist Cricket der Grund für eine dreitägige Gartenparty, bei der man die neuen Hunde, Männer und Sommerkleider vorführen kann.
Unseren Jüngsten fehlen beim Fußball zudem noch die Übersicht und das Spielverständnis. Raumaufteilung, Gegenpressing, Pässe in die Schnittstellen – das sind Vokabeln, die für Kinder keinen Inhalt besitzen. Auch das Einnehmen und Halten von Positionen ist noch schwer durchführbar. Sie schauen noch sehr auf sich selbst. Und warum soll ich jetzt hier hinten stehen, wenn mein Ball doch da vorne ist? Kinder freuen sich über das »Zusammensein«, haben aber kein gruppentaktisches Verständnis.
Man kann als Trainer gerade noch in Abwehr und Angriff aufteilen und einen Torwart bestimmen. Auch die Konzentration auf das Spiel reicht oft nur für ein paar Minuten. Und manchmal ist plötzlich ein Gänseblümchen am Spielfeldrand interessanter als der weitere Spielverlauf.
Was brummt denn da oben im Himmel?
»Schau mal der Hubschrauber. Toll.«
Das Spiel wird zweitrangig, weil Bruno in diesem Moment gerade Pilot werden will.
Kinder lassen sich leicht ablenken. Das hat auch Vorteile. Erfolge und Niederlagen haben in den ganz jungen Jahren eine kurze Halbwertzeit. Schon fünf Minuten nach einer bitteren Niederlage können sich Kinder in ihrem Interesse wieder auf das Abendessen, die Playmobil-Ritterburg oder ihr Lieblingslied fokussieren, während die Eltern noch die fehlerhafte Raumaufteilung analysieren.
Kinder haben Spaß an der Bewegung, Spaß am Spiel. Das ist schon sehr viel in einer Ära, in der elektronische Unterhaltungsmedien immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit auf sich ziehen und dafür Sitzplatz beanspruchen. Beim Fußball der fünfjährigen, auch Bambini genannt, dagegen ist das unbeschwerte Spiel noch möglich. Und es fordert den ganzen Körper. Bambini brauchen nur wenig Anleitung. Techniktraining ist nur begrenzt sinnvoll, auf Taktik kann man ganz verzichten. Hier geht es um das Erlebnis.
Aus all den genannten Gründen wird in diesem Alter auf kleinen Feldern mit kleinen Toren gespielt. Immer mehr setzen sich sogenannte Spielefeste durch. Auf Meisterschaften wird zunehmend verzichtet. So ein Spielefest kann von einem Verein einmal pro Halbjahr ausgerichtet werden. Man lädt zwei bis drei Vereine aus der Umgebung ein. Auf zwei oder drei Spielfeldern wird vier gegen vier oder fünf gegen fünf gespielt. Durch die kleinen Mannschaftsgrößen kommen die Kinder oft an den Ball und sind dauernd in Bewegung. Dazu fallen viele Tore. Und das macht Spaß. In den Pausen der Spielefeste werden Bewegungs- und Geschicklichkeitsspiele angeboten. Und mit dem Verkauf von Kaffee und Riemchentorte kann der Verein noch etwas für die Kasse tun.
Eine zweite neue Spielform ist das »Funino«. Der Begriff bildet sich aus dem englischen Wort Fun (Spaß) und dem spanischen Wort Niño (Kind). Es wird auf vier kleine Tore gespielt. Es stehen auf den Grundlinien jeweils zwei Tore einige Meter voneinander entfernt. Jede Mannschaft hat zwei Tore für den Torerfolg und zwei Tore zu verteidigen. Bei dieser Form werden Übersicht, Freilaufen und Passgenauigkeit bei Ballbesitz sowie das »Verschieben« in der Abwehr mehr oder weniger nebenbei gelernt. Das ist zumindest als Trainingsvariante interessant.
»Vielleicht wird dann auch irgendwann mit zwei Bällen gespielt. Das macht den Torerfolg noch leichter.« Diese Bemerkung könnte jetzt direkt vom Balkon der Gaststätte an unserer Sportanlage kommen. Dort sitzen die Veteranen. Die haben noch mit richtigen Lederbällen gespielt. Und mit Eisenstollen. Und natürlich auch als Kinder »Elf gegen elf« auf dem großen Platz auf große Tore. Und das hat ihnen ja auch nicht geschadet. Jedenfalls nicht so, dass man es direkt merkt.
Für die Kinder von heute ist es aber ein Gewinn, dass über altersgerechte Strukturen nicht nur nachgedacht wird.
Man darf dabei nur nicht vergessen, dass Fußball ein Wettkampfspiel ist. Es geht ums Gewinnen und das drückt sich im Ergebnis aus. So ein Ergebnis kann schon mal die schmerzhafte Erkenntnis mit sich bringen, dass der Gegner besser war oder einfach mehr Glück hatte.
Auch wenn die Kinder auf ihren Trikots die großen Namen stehen haben, dürfen wir nicht erwarten, dass sie nach Erwachsenenkriterien Fußball spielen.
Gestatten Sie sich und mir mal ein kleines Gedankenspiel. Seien wir mal der Fußballreporter bei einem Bambini-Fußballspiel. Und nehmen wir die Namen, die hinten auf den Trikots draufstehen. Dann würde sich das wie folgt anhören:
Meine Damen und Herren, wir befinden uns live auf dem Sportplatz des TuS Liedberg. Es läuft bereits die siebzehnte Spielminute. Götze erobert den Ball im Mittelfeld. Er hat Probleme, den Ball unter Kontrolle zu bekommen. Er wirkt unsicher, kommt ins Stolpern. Da fällt er auf den Ball. Ein Ronaldo und zwei Robben stehen daneben und was machen sie jetzt? Sie warten! Bis Götze wieder aufgestanden ist. Jetzt kommt Ronaldo dazu. Alle sind in Ballnähe. Das ist ballorientiertes Verschieben in seiner Grundform. Hier wird der Raum konsequent zugestellt. Und zwar von der gesamten Mannschaft. Schweinsteiger und Ronaldo liegen jetzt auf dem Ball. Da es hier noch einen Moment dauern kann, gebe ich ab an das nächste Kapitel.
Was Erwachsene können
Was Kinder können
Passen, freilaufen, abspielen
Mit dem Ball am Fuß aufs Tor laufen und schießen
Positionen halten
Da sein, wo der Ball ist
Vierer-Kette, flache Raute, falsche 9
Da sein, wo der Ball ist
Ergebnis, Aufstieg, Abstieg
Erlebnis, Begeisterung, Freude
Taktik, System
Eigene Fähigkeiten frei entwickeln
Die ersten Worte meines Sohnes Hannes waren nicht »Mama« oder »Papa«, schon gar nicht »Einzelfallkostenerstattungsantrag«, ein Wort, das in familieninternen Gesprächen durchaus vorkommt. Hannes erstes Wort war »Ball«. Der Junge konnte sich gerade am Stuhlbein festhalten, da musste schon alles mit den Füßen weggekickt werden, was nur wegzukicken war. Dosen, Schuhe, Puppen. Alles mobile Material wurde zuerst mit den Füßen getestet.
Wir hatten mit unserem Sohn alles unternommen, was man so unternehmen muss, um das Kind durch die ersten Jahre seines Lebens zu bringen. Regelmäßige Vorsorge bei zwei verschiedenen Kinderärzten, um ja nichts zu verpassen. Wir haben den Embryo noch im Mutterbauch mit Mozart beschallt. Einige Studien mogelten sich in die Fachliteratur für werdende Eltern und versprachen durch Mozartbeschallung Intelligenzaktivierung beim noch nicht Neugeborenen. Es stellte sich heraus, dass in dieser Studie nur mit Mozart getestet worden war. Aber vielleicht hätte Zwölftonmusik oder Fusion-Jazz noch bessere Ergebnisse gebracht. Und hatte nicht letztens ein Hühnerfarmer festgestellt, dass seine Vögel unter Dauerbeschallung von Ed-Sheeran-Songs deutlich produktiver sind? Aus diesen Gründen versorgten wir das Kind akustisch auch mit The Clash, einem von Günter Grass selbst gebrummten Hörbuch und der Vereinshymne des FC Liverpool. Ich hielt »You’ll never walk alone« für ein gutes Stück Willkommenskultur für Fruchtwasserflüchtlinge.
Es gibt so viele gute Ratschläge auf der Basis schlecht abgesicherter Studien, die man als junge Eltern in sich aufsaugt und dann meint, auf den Nachwuchs anwenden zu müssen. Selbst das hilflose Umhängen einer Bernsteinkette gegen Zahnungsschmerzen wurde gegen alle wissenschaftlich begründete Überzeugung nicht ausgelassen. Originalton der als Medizinerin mit der wissenschaftlichen Methode vertrauten Mutter: »Schaden kann es ja nicht.«
Zu seinem ersten Geburtstag bekam der Junge einen Rubik-Würfel, diese in allen Raumebenen drehbaren Gebilde mit den vielen Farben. Der Würfel soll angeblich das räumliche und logische Denken fördern, ist somit eine konsequente Fortsetzung der Mozartbeschallung.
Aber dieser Rubik-Würfel förderte nichts, verursachte dafür Schmerzen, vor allem bei der Babysitterin. Das Eckige muss ins Runde. Die Babysitterin erlitt einen Bluterguss im Unterbauch. Hannes zeigte schon am Würfel eine gewaltige Schusskraft. Das war festzustellen. Ob es an Mozart, der Vereinshymne oder der Bernsteinkette lag, kann im Nachhinein nicht geklärt werden. Die Babysitterin verlangte Gefahrenzulage.
Im Kindergarten war Hannes nur mit Ball glücklich. Bälle waren vorhanden. Hannes war beschäftigt und die Erzieherinnen zufrieden. Wir meldeten Hannes beim Kinderturnen an. Bei jeder Übung wollte er einen Ball haben, sogar beim Seilchenspringen. Die Übungsleiterinnen verzweifelten.
Ich wusste nun, dass ich die weitere fußballerische Bildung meines Sohnes selbst in die Hand nehmen musste. Zusammen mit anderen Vätern aus der Kita wurde regelmäßig auf einer kleinen mit spärlichem Rasen bewachsenen Verkehrsinsel trainiert. Ich war verantwortlich für die Zukunft meines Sohns. Und so wurde ich Fußballvater.
Bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland fanden auch Spiele in Köln statt. Mit etwas Glück konnte ich vier Karten für das Spiel Schweden – England bekommen. Es war klar, dass Hannes mitmusste.
Hannes war jetzt vier Jahre alt, und er war in den Tagen vor dem Spiel sehr aufgeregt. Er begriff, dass eine Weltmeisterschaft etwas Besonderes war. Und dass sie in Deutschland stattfand, war noch mehr besonders. Überall hingen schwarz-rot-gelbe Fähnchen. Ein ganzes Land war guter Stimmung. Sommermärchen. Hannes fing an, Fußballerbilder zu sammeln. Er kannte auf einmal Namen und Länder. Fußball bildet.
Jeden Tag vor dem großen Spiel überlegte er, für wen er sein wollte. England? Wir haben Verwandte in der Nähe von London und waren schon öfter auf der Insel. Schweden? Ich hatte kürzlich Hannes von einer aufregenden Fahrradtour durch Schweden erzählt. Es war diese eine Geschichte, die ich immer wieder erzählen musste. Die Geschichte von einer spannenden direkten Begegnung mit einem Elch. Genauer gesagt, mit einer Elchkuh. Ihr Elchjunges stand so niedlich am Rand eines skandinavischen Waldwegs herum. Es musste einfach gestreichelt werden. Ich hielt an und streckte hingebungsvoll die Arme aus. Plötzlich einsetzendes lautes Knacken brechender Äste im Unterholz ließen zusammen mit wütendem Schnauben eine zur Rettung der Art heranstürmende Elchkuh ahnen. Ich bin auch danach noch nie in meinem Leben so schnell auf einem Fahrrad gefahren.
Aus Sympathie für das Elchkind entschied sich Hannes für Schweden, wollte aber wegen seiner Cousins auch für England sein. So fuhr ich mit ihm auf dem Rad zum Stadion. Hannes hatte ein Englandtrikot an und eine Schwedenfahne um den Hals und saß fröhlich winkend im Kindersitz. Vor dem großen Ereignis hatte ich ihm noch die Sitzplatznummer auf den Arm geschrieben.
Unsere zwei Jahre jüngere Tochter fragte: »Wofür ist das denn?«
»Falls Hannes verloren geht, weiß derjenige, der ihn findet, wo er ihn hinbringen soll.«
»Toll, Papa, kannst du mir bitte ›Zoo‹ auf den Arm schreiben.«
Ob es das durchaus lebendige Spiel war, bei dem es aber kaum noch um etwas ging, oder die drei Eis zwischendurch? Hannes jedenfalls war nun komplett infiziert. Trikots mussten her, Sporthosen und richtige Fußballschuhe. Also das ganze Zeug, das Poldi und Schweini durch den Sommer tanzen ließ.
Aber noch etwas anderes trat ein. Er wechselte den Lieblingsverein. Wir wohnen in Köln. Also ist der FC Köln für junge Fußballfreunde eine naheliegende und in seiner damaligen Fähigkeit, von einem Chaos ins nächste zu stürzen, auch sympathische Lösung. Inzwischen ist leider auch der FC Köln ein sorgsam und damit langweilig geführter Club.
Dafür haben wir Kölner immer noch die Verehrung für Prinz Poldi, unsere lokale Identifikationsfigur, die eine ganze Stadt nur dadurch elektrisieren kann, dass sie Werbung für ein Brausegetränk macht. Und die Fanhymnen des FC sind unerreicht. Kein anderer Club hat durch die ihm verbundenen Musiker ein derart vielfältiges Liedgut aus geklauten schottischen Volksweisen hervorgebracht. »Mer stonn zu dir, FC Kölle« ist ursprünglich das Klagelied eines politischen Gefangenen in einem englischen Zuchthaus kurz vor der Hinrichtung. Wie passend für eine Fußballhymne. Im Original heißt das Lied »Loch Lomond«.
Hannes war bis kurz nach der Weltmeisterschaft Bayern-Fan. Bayern-Fan ist man außerhalb von Bayern aus Bequemlichkeit und mangelnder Leidensfähigkeit. »Für Bayern sein« ist kein Statement, »Bayern« ist etwas für den einfachen Erfolg, für den schnellen Pokal. »Bayern«, das kann jeder. Aber Union Berlin oder SV Meppen. Mit solchen Vereinen wählt man nicht nur eine Identität, sondern auch ein Schicksal.